Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Kreatives Schreiben, Figurenentwicklung und Synchronisation.
www.gabrielakasperski.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Bim; shutterstock.com/David M. Schrader
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-667-8
Originalausgabe
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Für meine Mutter
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!
Friedrich Nietzsche
Dezember 1983
Das Kind stand wie ein Schatten neben der Säule. Es war ganz weiss, trug ein bodenlanges Mäntelchen und eine Mütze.
«Hallo.» Philos Herz pochte, ihr Atem ging stossweise, sie war gerannt. «Wie heisst du?»
Das Kind blieb vollkommen reglos.
Philo fühlte sich unsicher. Träumte sie? Das Kind sah ein wenig aus wie die Puppe. Die lebensgrosse Porzellanpuppe mit Echthaar, die ihr Papà als Geschenk mitgebracht hatte. Jedes Mal, wenn Philo sie wegschmiss, tauchte sie später wieder auf.
«Hei, lebst du noch? Wenn das ein Scherz sein soll, ist er nicht famos.»
Das Kind bewegte sich.
«Pass auf. Da ist die verbotene Treppe. Die führt in den Abgrund.»
Keine Reaktion auf die Drohung. Philos Augen huschten zur Villa Riesbach. Selbst aus dieser versteckten Ecke des Parks sah sie den Lichtschein, der aus den Flügelfenstern auf die Terrasse fiel. Papà hatte zum Geburtstagsfest geladen.
«Haben dich deine Eltern mitgeschleppt? Und jetzt stinkt es dir? Verstehe ich gut. Da drin sind alles Erwachsene. Öde.» Schritt für Schritt ging Philo auf das Kind zu, das unverändert in ihre Richtung starrte. «Ich bin heute fünfzehn geworden, das weisst du ja sicher. Gleich flitze ich zum Discoraum im Jugendhaus, da feiere ich mit meinen Freunden.» Philo biss sich auf die Lippen. Vielleicht war das Kind ein Spion.
«Nein, natürlich nicht. Ich geh wieder rein.»
Der Himmel riss auf, und der Strahl des Mondes vermischte sich mit dem Licht der Gaslaterne. Philo blinzelte.
«Hei, wo bist du hin?»
Das Kind war weg und Philos Neugier geweckt. Sie fand ihren Weg auch im Dunkeln, rannte durchs Gebüsch zur Rosenpergola und zur verbotenen Treppe, die zu einem winzigen Platz hinabführte. Niemand wusste, dass im Boden eine Falltür versteckt war. Papà hatte Philo bei Todesstrafe verboten, sich da unten aufzuhalten. Die Treppe war leer. Das trockene Laub auf den Stufen war von einer Schicht Schnee bedeckt. Waren das zwei Fussabdrücke oder nur die Pfoten eines Igels?
«Hei, Kind. Hast du Flügel?»
In dem Moment hörte Philo ein Bellen. Es musste der kleine Hund der Spaziergängerin sein. Sie führte ihn gerne im öffentlichen Teil des Parks Gassi.
«Sherlock, Fuss», gellte ihre Stimme.
Philo kicherte. Wie üblich gehorchte der Wuschel der Frau nicht. Philo griff in ihre Fransentasche, die sie von Mama geerbt hatte, und ging zurück auf den Weg.
«Komm, Sherlock, Weihnachtskekse», lockte sie ihn.
Ein Knall liess Philo erstarren. Die Flügeltür war aufgeflogen, klirrend stand der Ton in der Nacht. Nun kam Papà herausgestürmt, gefolgt von einer Dame. Philo versteckte sich hinter dem Stamm des Blutahorns einige Meter von der Terrasse entfernt. War ihr Fluchtweg entdeckt worden? Mit dem Warenaufzug vom dritten Stock runter in den Keller, raus durch das Oberlicht des Gärtnerinnenzimmers. In der Villa Riesbach hausten die Dienstboten im Untergeschoss. Wie in England, die oben, die unten. Philo fand es beschissen. Darum sprach sie kein Wort mehr mit Papà. Dass er ein Fest für sie veranstaltete, war ein fieser Trick. Sie wollte mit ihren Freunden feiern, und das wollte er verhindern.
Er schien jedoch Philo gar nicht zu suchen, seine Aufmerksamkeit lag bei der Dame, die ein Stück von ihm entfernt stand. Sie war kleiner als er, mit ganz hellem Haar. Oder war es grau? Philo kannte sie nicht. Die beiden flüsterten, es sah nach Streit aus. Philo schlich sich so nah heran, dass sie durch die grossen Fenster das Gewimmel der Gäste, den Weihnachtsbaum und das Jesuskind in der Krippe sehen konnte. Nun hob die Dame beide Fäuste, als wollte sie Papà verprügeln. Er wehrte mit dem Ellbogen ab.
«Maud, was soll das?»
«Du schuldest mir das Haus. Es ist meins.»
Ihre Worte schallten durch den Park. Dann holte sie erneut aus. Philo wusste nicht, was tun. Sie hasste ihren Papà zwar, aber diese Dame sollte ihn in Ruhe lassen. Die Küchentür öffnete sich, und Onkel Charles eilte heraus. Als er sich schützend vor Papà stellen wollte, wurde er von einem silbernen Gegenstand getroffen. Onkel Charles krümmte sich und hielt sich das Bein. Die Dame sah beide an, Papà und Onkel Charles. Diesmal verstand Philo nicht, was sie sagte. Es war egal. Ihr Körper sprach von Verachtung und Wut, bevor sie sich umdrehte und über die Vordertreppe und den Gartenweg zum privaten Parkausgang eilte.
Musik ertönte aus dem Haus. «Happy birthday, liebe Philo.» Die Gäste sangen im Chor. Das Zeichen für Papà zum Hineingehen. Er stützte Onkel Charles.
Was war das gewesen? Philo schluckte. Sie sehnte sich nach ihrem Bett im dritten Stock, aber ihre Freunde warteten auf sie, und sie hatte sich auf die heimliche Fete gefreut. An der Hollywoodschaukel vorbei, überquerte Philo die unsichtbare Grenze zur öffentlichen Seite des Parks. Beim schmiedeeisernen Tor angekommen, froren ihre Finger an der Klinke fest. Der Schmerz tat gut. Sie drehte sich um. Durch die Äste der Bäume schimmerte das Gebäude, als ob es von innen heraus pulsierte. Da erblickte Philo das Kind. Wieder stand es im Schatten der Säule auf der Terrasse. In den Armen hielt es einen schlaffen Körper. Er gehörte Sherlock, deutlich konnte Philo den Wuschelkopf erkennen. Es will mich auch töten, dachte Philo. Sie konnte es riechen. Scharf, metallen, schwer.
Donnerstag, 12. Dezember
«Rubis Vintage», prangte auf dem verzierten Schild des Schmuckgeschäfts. Beanie Barras, jüngste Ermittlerin der Kriminalpolizei Zürich, stoppte abrupt, sprang vom Bike und lehnte es an die Wand. Der Himmel war grau, es war frostig und trocken – ideale Trainingsbedingungen für den Silvesterlauf. Der Stadtzürcher Laufwettbewerb war ein Höhepunkt im Advent und fand nicht an Silvester, sondern am zweitletzten Wochenende vor Weihnachten statt.
Beanie schickte ihrer Laufkollegin Zita Schnyder einen Text. «Sorry. Komme später, circa zwanzig Uhr.»
Wäre die Abklärung im Schmuckladen nicht notfallmässig hereingekommen, hätte Beanie bereits jetzt frei. Sie würde das verlängerte Wochenende brauchen. Beanie hatte sich an der Uni Zürich eingeschrieben. Das Germanistikstudium, den Sport und den Job unter einen Hut zu bekommen, war heftig. Zum Glück lag die Beziehung auf Halde, ihr Freund Andi war nach der geplatzten Hochzeit im Frühjahr nach Finnland abgehauen.
Vergeblich suchte Beanie nach dem Schlüssel für die dicke Fahrradkette. Sollte sie das Risiko eingehen und ihr Bike nicht abschliessen? Noch mal ins Büro fahren war keine Option, und die Gegend schien sicher.
Beanie besah sich das weihnachtlich dekorierte Schaufenster voller Armbänder, Halsketten, Ringe und Ohrgehänge. Es gab sogar ein Diadem. Im Innern des Ladens bediente ein Verkäufer, der aussah wie Cary Grant. Beanie kannte den Schauspieler, sie liebte alte Hollywoodfilme. So wie es aussah, hatte Vintage-Cary kurz vor Feierabend einen Kundenansturm zu bewältigen. Sogar hier, am Rand der Enge, dieses eher ruhigen Zürcher Viertels, lief der Weihnachtsverkauf.
In den Laden platzen? Nein, Beanie wollte vermeiden, dass die Kunden den Polizeiauftritt mitbekamen. Sie nutzte die Pause und trank den Spinat-Smoothie aus, mehr hatte es heute noch nicht gegeben. Der Workload bei der Kripo war heftig und Beanie als Teamleiterin gefordert. Nebst den Trickbetrügereien und häuslicher Gewalt hatten sich in dieser Adventszeit vor allem die Vermisstenmeldungen gehäuft, und wegen einer solchen war Beanie hier.
Es ging um Schmuck, der in «Rubis Vintage-Shop» aufgetaucht war. Ein geklauter Ohrring wäre für eine Kripoermittlerin von zero Interesse, gehörte er nicht Philomena Lombardi, die von ihrer Gärtnerin als vermisst gemeldet worden war. Obwohl die polizeilichen Abklärungen bei der Familie nichts ergeben hatten, nervte die Gärtnerin die Kollegen von der Zentrale seit Montag mit täglichen Anrufen.
Beanie sog den letzten Schluck aus dem Strohhalm und verstaute die Trinkflasche im Rucksack. Sie betrat den Laden und stellte sich vor. Als sie den Helm vom Kopf zog, entwich dem Verkäufer ein Laut. Beanie hatte sich selbst noch nicht an ihr Spiegelbild gewöhnt: der Kopf fast kahl, die dunklen Locken auf dem Kamm in Pfeilform geschnitten und nach hinten gegelt. Beanie fixierte Vintage-Cary. Wag es, einen Kommentar abzusondern. Er tat es nicht.
«Ich habe doch schon alles am Telefon erklärt», stammelte er stattdessen.
«Persönlich ist besser.» Beanie nickte ihm zu. «Erzählen Sie, worum es geht.»
Vintage-Carys Augen huschten zum Vorhang, der den Ladenteil offenbar von einem Office abtrennte. «Ist das ein Verhör?» Er schlüpfte aus seiner taillierten Samtjacke, und Schweissgeruch breitete sich aus. Wieder der Blick zum Vorhang. «Wenn Sie sich beeilen könnten – Rubi weiss nicht, dass ich Sie informiert habe.»
«Rubi? Ist das Ihre Chefin?», fragte Beanie.
«Rubi Bachar», sagte Vintage-Cary. Er kniff die Lippen zusammen. «Wissen Sie was: Ich ziehe die Anzeige zurück. Eine Überreaktion. Frau Lombardi wird die Sache mit dem Ohrring erklären können. Gehen Sie bitte wieder.»
«Wenn Sie meinen.» Beanie drehte auf dem Absatz um und sprach leise und scharf: «Sollte sich das Ganze als Verbrechen herausstellen, werden Sie mitschuldig.»
Einundzwanzig, zweiundzwanzig.
«Warten Sie», rief Vintage-Cary.
«Sie haben eine Minute.»
Beanie fixierte den Mann, bis er einen Ohrring aus einer Schublade hob und auf einem weinroten Samtkissen platzierte. «Ein Antikmodell, mit echtem Rubin, Brillanten und Weissgold. Dafür kriegen wir über zwanzigtausend Franken. Wie am Telefon erwähnt, er gehört Philomena Lombardi, einer meiner Stammkundinnen. Das ist sie.»
Cary wischte auf seinem Handy und zeigte Beanie zwei Fotos einer Frau. Zerbrechlich und selbstbewusst sah sie auf dem einen aus, mit schmaler Taille und schwingendem Rock. Das andere war ein Porträt, hohe Wangenknochen, helle Haut, ein dunkles Muttermal über den geschminkten Lippen, pechschwarzes Haar im Pagenschnitt, dazu baumelnde Ohrringe – ein Gesicht wie aus einer anderen Zeit.
«Anna Karenina», murmelte Beanie.
Vintage-Cary verstand die literarische Anspielung nicht.
«Wieso haben Sie ein Foto von ihr?»
«Sie ist eine Lieblingskundin, kommt ab und zu her. Sie kauft nur Echtschmuck.» Er zeigte um sich. «Damit verglichen ist das meiste hier nichts wert.»
Auf Beanies Nachfragen umriss er, wie das Business funktionierte. Cary war eigentlich zuständig für das Vintage-Sortiment, während seine Chefin den Echtschmuck betreute. Allerdings wurde der Handel damit immer mehr zur Nebensache, Geld machten sie mit dem Ramsch, dem Kitsch, dem Billigkram für die gewöhnlichen Leute.
«Bis auf die wenigen Male, wo es wirklich abgeht. Wie dann, wenn die Lombardi etwas kauft.»
«Und woher stammt der Echtschmuck?»
«Aus Nachlässen. Eine Art Internet-Hinterhof An- und Verkauf.»
«Ist der auch so hier gelandet?» Beanie deutete auf den Ohrring.
«In einem Paket. Ohne Absender. Ich habe es aus Versehen geöffnet.»
«Ist die Verpackung noch da?»
«Sorry, nein. Ich konnte ja nicht –»
«Und warum wissen Sie, dass es Lombardis Ohrring ist?»
«Ein Einzelstück. Darum so teuer.»
Vintage-Cary litt Qualen, verwünschte den Moment, als er sich entschieden hatte, die Polizei zu informieren, das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dass Beanie Plastikhandschuhe überstreifte, machte es nicht besser.
Behutsam nahm sie den Ohrring zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Stein fing das Licht der Deckenleuchte auf, es glitzerte.
«Nice», sagte sie.
«Ein Prachtstück. Allein die vier Hängeglieder, alle mit unterschiedlichen Formen. Gewölbt, rund, oval. Und dann der weissgoldene Haken.» Carys Stimme klang ehrfürchtig, für einen Moment schien er seinen Stress zu vergessen. «Eigentlich zu schwer für ihre Ohren.» Er holte das Foto noch mal hervor und zeigte, was er meinte. Philomena Lombardis Ohrläppchen waren deutlich in die Länge gezogen.
«Hier gibt’s offenbar viel Schmuckhandel, dauernd wird ge- und wieder verkauft», sagte Beanie. «Was hat Sie denn so beunruhigt, dass Sie uns angerufen haben?»
«Zuerst schien alles normal. Dann fiel mir ein, dass wir in zwei Wochen eine Verabredung gehabt hätten. Ich habe mich gefragt, warum sie uns den Schmuck davor zum Verkauf schickt. Sie hat nie geantwortet. Nun mache ich mir Sorgen.»
«Haben Sie Ihre Chefin informiert?»
Er druckste herum. «Wie gesagt, ich war nicht autorisiert, das Paket zu öffnen. So was macht Rubi sauer.» Er deutete auf die Vitrine mit dem Echtschmuck. «Ich bin nicht sicher, ob hier alles legal abläuft, wenn Sie wissen, was ich meine. Mit diesen Geschäftsdeals habe ich nichts zu tun. Ich … ich brauche den Job.»
Das klang nach Konflikt.
«Kennen Sie Frau Lombardi auch privat?», fragte Beanie. «Sie sagten, Sie hätten eine Verabredung gehabt.»
«Es ging nur um Schmuck.» Schlucken. Schlucken. Der Adamsapfel hüpfte. «Gut, wir haben einmal einen Aperol Spritz getrunken. Nach Ladenschluss.»
«Sind Sie an ihr interessiert? Erotisch?»
Sein Entsetzen war nicht gespielt. «Ich habe einen Freund. – Menschlich, ich finde sie rein menschlich nett. Falls das auch etwas zählt.»
«Natürlich. – Sind Sie sicher, dass keine anderen Interessen mitspielen?»
Er wurde dunkelrot. «Wir suchen eine Wohnung.»
«Wir?»
«Mein Freund und ich. Es ist nicht leicht … als Paar. Verstehen Sie?»
Und wie. Die Wohnungssuche war für Beanie immer eine Hürde, ihre dunkle Haut kein Türöffner. Darum war ihre Campinglösung im Wehrenbachtobel so ideal.
«Hat Philomena Ihnen eine Wohnung versprochen?»
«Vielleicht. Sie hat gesagt, vielleicht kann sie was für uns tun.»
«Wie viele Häuser besitzt sie denn?»
«Hunderte, soweit ich weiss», sagte Vintage-Cary. «Die ganze Stadt ist voller Lombardi-Häuser. Tolle Wohnungen, viele davon sehr günstig.»
Diese Information war neu für Beanie. Sie hatte die Stiftung eben recherchiert, die Website war unübersichtlich. Auf jeden Fall gab sie keinen Hinweis, dass dahinter ein Imperium steckte, wie es nun schien.
«Und die Immobilien gehören alle ihr?»
«Ihr Vater ist gestorben. Sie hat keine Geschwister.»
Beanies berufliches Gewissen klickte ein. Hatte sie etwas verpennt? Immerhin drängte die Gärtnerin der Lombardi seit Tagen auf eine Untersuchung. Bloss hatte Beanie es nicht ernst genommen. Fuck! Vergiss deinen Feierabend. Anstatt morgen, wie ursprünglich geplant, fragst du sofort bei der Familie nach. Zita und das Lauftraining müssen warten.
Beanie steckte den Ohrring in einen Plastikbeutel und ging zur Tür.
«Wir melden uns. Keine Angst», sie erstickte seinen Protest, «bei Ihnen persönlich.» Sie tippte seine Kontaktdaten ein. «Ihre Chefin informieren wir nur im Notfall. Uns interessiert die vermisste Person und nicht die Schmuckhehlerei. – Eine letzte Frage. Ein Ohrring ist ja selten allein. Wo könnte der zweite sein?»
«Gute Frage. Ich weiss es nicht.»
Beanie verabschiedete sich und trat hinaus. Es war dunkel geworden. Als Beanie zu ihrem Bike blickte, war es weg.
Jessie spuckte die Spitze ihres nassgekauten Pferdeschwanzes aus und klappte das Geometriebuch zu. Gleich würde sie losziehen, Mama war endlich eingeschlafen. Es war siebzehn Uhr, so früh war sie seit Jahren nicht mehr ins Bett gegangen. Jessie packte ihren Stoffigel Petzi in ihr Bag. Dazu Mamas Medikamentenbeutel, sicher war sicher. Mamas Wut konnte Jessie aushalten, eine Überdosis hätte sie nicht ertragen. Ausser Mama hatte Jessie niemanden. Sie war vierzehn Jahre alt. Jetzt gerade fühlte sie sich aber sehr erwachsen. Wenn sie für Mama sorgte, würde alles gut werden.
In sorgfältigen Grossbuchstaben beschrieb Jessie einen neongrünen Notizzettel: «BIN UM 22 UHR WIEDER DA.» Sie platzierte ihn neben Mama auf dem Kissen und ging zur Tür hinaus. Einen Moment überlegte sie, abzuschliessen und den Schlüssel stecken zu lassen, dann käme Mama nicht raus. Er würde leider sofort geklaut, das war Jessie klar. Sie kannte die Mitbewohner im Wohnhaus nicht, dauernd gab es Wechsel, aber die Typen, meist Männer, sahen nicht nett aus. Ausserdem würde Mama, nachdem sie die ganze Nacht und den ganzen Tag unterwegs gewesen war, bestimmt lange schlafen. Sie schnarchte laut.
Im Treppenhaus stank es nach Zigaretten und Bier. Jessie knöpfte die Jeansjacke zu, zog die Röhrenhose hoch, steckte sich die Stöpsel ins Ohr und machte ihren Lieblingssong an, «Hostage» von Billie Eilish. Beim Hinuntergehen bemerkte sie, dass das Licht immer noch nicht funktionierte. Am Briefkasten prangte ein auffallender Kleber. Bestimmt wieder eine Mahnung vom Vermieter, die kamen im Abstand von wenigen Tagen. Jessie würde sie beim Heimkommen verstecken, nicht nötig, dass Mama sie sah.
Wir müssen umziehen, dachte Jessie. Abgesehen von der offenen Miete lag die Wohnung viel zu nah bei der Haltestelle des 31er Busses, der Mama zu ihrer Community brachte: eine Viertelstunde bis Alkohol.
Durch den eisigen Adventsabend rannte Jessie los und drehte die Musik so laut es ging. Sie war zu spät. Was, wenn Malik nicht auf mich wartet? Jessies Herz flatterte. Beim Seeburgpark angekommen, drückte sie das schmiedeeiserne Tor einen Spalt auf und schlüpfte hindurch. Es stand die ganze Nacht offen, obwohl das Schild mit den Öffnungszeiten etwas anderes sagte. In der Villa Riesbach, die vom öffentlichen Teil des Parks durch eine Reihe von Bäumen abgetrennt war, war alles dunkel, bis auf ein Flackern, das Jessie in einem Dachzimmer im obersten Stock zu sehen glaubte.
Bevor Jessie ins Gebüsch abbog, drehte sie die Musik im Ohr noch lauter. Dunkelheit machte ihr Angst. Sie glaubte dann, Geräusche zu hören und Gestalten zu sehen. Mit Billie war die Dunkelheit erträglicher, und die Dornen der Brombeeräste, auch im Winter spitz, schmerzten weniger.
Ausser Atem erreichte Jessie die Rosenpergola und die verbotene Treppe, die zu einem winzigen Platz hinabführte. Beides gehörte zu der alten Villa Seeburg, die hier mal gestanden hatte und von der sonst nichts mehr übrig war. Es raschelte unter Jessies Füssen. Der Sturm von gestern Nacht hatte viel Laub angeweht.
«Malik?»
Ihr Freund war nicht da. So wie er letzte Woche nicht da gewesen war und die Woche davor auch nicht. Er interessierte sich nicht für Jessie.
«Der ist nicht mal mehr auf Social Media», hatte eine Kollegin aus der Klasse gesagt, die Einzige, die ab und zu mit Jessie sprach. «Ein Asylbewerber, was willst du mit dem? Der wird sowieso wieder zurückgeschickt, der hat keine Chance hier. Vergiss den Typen, Jessie.»
Aber Jessie vergass ihn nicht. Malik war ihr Leben. Er nannte sie Afqari. Ein letztes Mal sah sie seine Nachricht an.
«Bis bald, Afqari, in unserem Paradies.»
Er beherrschte Deutsch gut, dafür, dass er erst einige Monate hier war. «Afqari» hiess «Schatz» auf Tigrinya, der Sprache Eritreas. Mein Schatz.
Jessie setzte sich auf den Boden, spürte den kalten Stein unter dem Laub. Hier war ihr Lieblingsort. Im Sommer, wenn die Rosen der verwahrlosten Pergola eine Art Dach über der verbotenen Treppe und dem Plätzchen bildeten, war sie sogar zum Hausaufgabenmachen hergekommen. Jessie nahm es sehr genau damit. Es gab ihr ein gutes Gefühl, alles schnell und richtig zu machen. Am liebsten war ihr das Zeichnen. Seit ihre Klassenlehrerin das entdeckt hatte, gab sie Jessie Zusatzaufgaben. Jessie wollte Architektin werden.
Plötzlich schrak sie zusammen. Ein Schrei. War jemand in dem verschütteten Keller? Mit dem Fuss tastete Jessie nach dem Ring der Falltür, die unter dem Laub in den Boden eingelassen war. Sie fühlte Hoffnung. Malik und sie waren einmal hinabgestiegen, über eine zweite Treppe ging es tief in den Boden. Nach einigen Metern hatte Jessie sich nicht weitergetraut. Der Gang war verfallen, es roch nach Verwesung.
«Die Leute sagen, hier spukt eine Frau in Weiss.»
Obwohl Malik darüber gelacht hatte, hatte er umgedreht und den Plan, den Gang zu erkunden, aufgegeben. Stirn an Stirn, auf ihren Schlafsäcken sitzend, hatte er ihr Geschichten von der Flucht erzählt, gegen die ein kleines weisses Parkgespenst ein Klacks war. Als unbegleiteter jugendlicher Migrant war Malik im Frühsommer über die Grenze gekommen. Jessie hatte ihn zufällig kennengelernt. Die Schreinerei, in der er an einem Einsatzprogramm teilnehmen durfte, lag auf ihrem Heimweg. Beim ersten Blickkontakt war es, als ob Jessie der Blitz getroffen hätte. Seit Malik sie bei der Hand genommen hatte, hatte sie sich sicher gefühlt. Noch sicherer, als sie den Platz hier unten entdeckten. Er war ihr Nest, ihre Heimat. Sie waren immer supervorsichtig gewesen, hatten aufgepasst, dass keiner sie sah.
An einem späten Nachmittag, als Jessie auf Malik wartete, hatte sie Philomena Lombardi kennengelernt. Erst hatte Jessie sich total erschreckt. Bestimmt würde die Villenbesitzerin sie bei der Polizei anzeigen. Sie tat es nicht, stattdessen hatte sie Jessie das Du angeboten und ihr zugehört. Voll geschockt hatte sie reagiert, als Jessie von dem Mietshaus erzählt hatte, in dem sie mit Mama wohnte. Von der kleinen Wohnung, der teuren Miete, vom versifften Treppenhaus, vom kaputten Herd.
«Könnten wir vielleicht bei Ihnen einziehen?», hatte Jessie gefragt. «Die Villa ist so riesig.»
Frau Lombardi hatte gelacht. «Ich habe selbst Kinder, die hier wohnen werden. Aber ich weiss vielleicht von einer Wohnung. Wenn ich wiederkomme, hinterlasse ich dir eine Nachricht. Sieh jeden Tag im Briefkasten nach.» Sie hatte Jessie die geheime Luke in der Mauer beim Plätzchen gezeigt, wo sie auch die Schlafsäcke aufbewahren konnten, damit sie geschützt waren.
«Wollen Sie mir nicht lieber eine WhatsApp schicken?», hatte Jessie gefragt.
«So ist es spannender. Als Kind haben wir uns da Nachrichten hinterlassen. Vertrau mir.»
Es war eisig geworden. Der Himmel, der weit oben durch die Pergola schimmerte, war dunkel. Malik ist nicht hier. Er kommt nicht mehr. Jessie musste weinen. Es überfiel sie und wollte nicht mehr aufhören. Malik, Mama, die Wohnung … ein riesiges Kuddelmuddel. Verzweifelt schaute Jessie nach oben. Sie zuckte zusammen. Jemand stand da, am Ende der verbotenen Treppe. Jessies Herz setzte aus. «Malik?»
Er war es nicht. Es war ein Wesen ganz in Weiss, das sie unbeweglich anstarrte. Jessie schrie auf und schlüpfte in die Luke zu den Schlafsäcken. Sie machte sich ganz winzig, steckte den Daumen in den Mund und konzentrierte sich auf die Musik. Sie schaukelte vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.
Als nichts passierte, regte sie sich. Sie schob den Kopf vor und lugte nach oben. Die Frau war weg. Jessie richtete sich auf und streifte die zusammengerollten Schlafsäcke. Da fiel etwas zu Boden. Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag. Darin war ein Zettel, datiert am 8. Dezember, unterschrieben – mit Hilfe der Taschenlampe konnte sie es deutlich lesen – von Philomena Lombardi. Sie hatte Jessie eine Nachricht hinterlassen.
«Liebe Jessie, entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich bin wieder da. Und ich kann dir eine Wohnung anbieten, ganz in der Nähe. Die Besichtigung ist am Freitag, 13. Dezember. (Kein Scherz.) Acht Uhr. Du musst pünktlich sein.»
«Haben Sie geklingelt? Wir sind gerade heimgekommen.»
Die Frau, die auf den beleuchteten Vorplatz des supermodernen Rohbetonbaus am Ende einer Sackgasse trat, sah Beanie fragend an. Sie war mittelgross, mit Handtasche und Kaschmirmütze, yogaschlank, strahlend auf nordische Weise. Sie war ausser Atem und starrte auf Beanies Ausweis. Konsterniert. «Sind Sie von der Polizei?»
Beanie zog das Cap vom Kopf. Die Augen der Frau weiteten sich.
«Was starren Sie so? Haben Sie ein Problem?»
«Entschuldigung.» Die Frau blinzelte.
Nimm dich zusammen, Barras, die kann nichts dafür. Beanie hatte schlechte Laune. Wegen des geklauten Bikes hatte sie das Tram nehmen müssen. Bei der Rehalp war sie ausgestiegen, genau wie Google Maps vorschlug. Dennoch hatte sie sich auf dem Weg in Richtung Zollikon verlaufen – die Sackgasse war nicht eingetragen –, und gerade eben hatte sie erfahren, dass das FOR, das Forensische Institut Zürich, das Untersuchungsresultat zu Philomena Lombardis Schmuck nicht vor morgen Mittag haben würde.
«Barras, Kripo Zürich. Sorry, dass ich Sie am Abend stören muss. Ich such Johannes Lombardi. Es geht um seine Frau.»
Sie stellte sich als Claire vor. «Vermutlich meinen Sie nicht mich, sondern Johannes’ Ex-Frau.»
Als sie den Mund verzog, sah Beanie kaum Fältchen in dem Gesicht. Sie wirkte jung, etwa Mitte dreissig.
«Wollen Sie hereinkommen? Aber erwarten Sie nicht zu viel.» Claire deutete auf die tiefe Grube vor dem Haus und die Kabel, die aus der Mauer ragten. «Sie haben bestimmt bemerkt, dass wir eine Baustelle haben. Alles etwas karg. Bis auf den da.» Sie zeigte zu einem Baum im Kübel. «Eine Linde. Ich werde sie bald pflanzen.» Claires Blick wanderte zu Beanies Turnschuhen. «Könnten Sie die ausziehen? Ich will nicht noch mehr Schmutz drin haben.»
Beanie tat wie gebeten. Sie folgte Claire in einen Raum von gigantischem Ausmass. Ein Dampfabzug hing von der Decke, in der Mitte stand ein amerikanischer Kühlschrank, die Kochinsel war mit einer Schicht Papier belegt. Tisch oder Stühle fehlten, dafür gab es drei Sofas, eingehüllt in Plastikfolien. Auf einem lag ein Junge mit akkuratem dunkelblondem Scheitel. Er sah aus wie der kleine Prinz George aus England. Aus seinem Mund lief ein Speichelfaden.
«Jan. Er ist mir im Auto eingeschlafen. Ich habe ihn eben hereingetragen.» Claire stellte ihre Handtasche auf die Küchenzeile. «Die Umzugskartons mit den Spielsachen hätten gestern geliefert werden sollen. Jan war sehr traurig.» Im Vorbeigehen stupste sie den Jungen an. «Gell, mein Schatz. – Sie mögen bestimmt keinen Alkohol, wenn Sie im Dienst sind?»
Bevor Beanie sich äussern konnte, hatte sie ein Glas Wasser in der Hand.
Claire goss sich auch eines ein. «Schon Anfang Woche waren zwei Polizeibeamte da. Ich dachte, wir hätten alles geklärt. Wieso soll Philomena vermisst sein, wie kommen Sie darauf?»
«Ich muss mit Ihrem Mann reden», sagte Beanie und stellte das Glas weg.
«Er ist zum Einkaufen gefahren. Sunny ist bei ihm, der andere Teil des Zwillingspaars.»
«Die Kinder von Johannes Lombardi …»
«Und Philomena, korrekt. Ich bin die Stiefmama. Sie sind wie meine eigenen, falls Sie das fragen wollten. – Ist die Aussicht nicht wunderschön?»
Claire zeigte zum Panoramafenster. Man sah das Seebecken und die Lichter der Stadt, gekrönt von den rot glühenden Kranarmen der Baustelle des neuen Kinderspitals.
«Wann sind Sie denn eingezogen?», fragte Beanie.
«Vorgestern. Ich wäre lieber ins Hotel gegangen. Wir haben kein Internet.» Claire entdeckte ein Loch in Beanies Socke. «Ihnen muss kalt sein.» Sie drückte auf einer Fernbedienung herum. «Die Bodenheizung funktioniert leider auch nicht.»
Ungeduldig sah Beanie auf die Uhr. Sie hatte sich doch angemeldet, warum war dieser Lombardi zum Shoppen gefahren? «Können Sie mir in der Zwischenzeit die familiäre Struktur erklären?»
Beanie erfuhr, dass Johannes Lombardi hiess, weil er damals bei der Heirat den Familiennamen seiner Ex-Frau Philomena angenommen hatte.
«Johannes arbeitet seit Jahren in der Geschäftsleitung der Stiftung. Früher waren sie zu viert, er konnte es besonders gut mit dem alten Lombardi. Philomena wohnt in Tel Aviv. Allerdings ist sie kaum da, die meiste Zeit ist sie auf Reisen. An der Schweizer Stiftung zeigt sie wenig Interesse. Nicht mal in der kurzen Zeit, als sie und Johannes verheiratet waren. Das war auch der Grund für die Scheidung. Unter uns gesagt, ich kann sie verstehen. Nicht die Scheidung, aber das mit der Stiftung.» Ein Blick aus blauen Augen. «Vor allem gegenüber Frauen war der alte Lombardi ein Tyrann.»
«… der seit einigen Monaten tot ist.» Beanie zückte ihr kleines Notizbuch. «Frau Lombardi reist viel, haben Sie gesagt. Wann sieht sie denn ihre Kinder?»
«Sie ist keine typische Mutter.» Claire wirkte verlegen. «Vielleicht sollte ich das nicht ausplaudern, andererseits ist alles wichtig für Sie, nehme ich an. – Philomena nimmt die Mutterpflichten eher locker. Dass sie sich einmal über drei Monate nicht gemeldet hat, weil sie durch Israel getrampt ist, gilt als Familiengeheimnis. Den Kindern haben wir gesagt, sie sei krank.» Claire hielt inne. «Ich mag sie trotzdem. Auch wenn ich sie gar nicht kenne.»
«Sie haben die Ex-Frau Ihres Mannes nie gesehen?»
«Beim letzten Kindergeburtstag der Zwillinge hat sie abgesagt. Johannes war … da ist er ja.»
Die Tür ging auf, und Johannes Lombardi kam herein. Er sah anders aus als in Beanies Vorstellung. Ein unscheinbarer Typ, mit zerknautschtem Gesicht und grauem Haar, leicht untersetzt. Er füllte seinen formlosen Jogginganzug gut aus und war beladen mit zwei Tüten. Wie kam einer wie er an solche Frauen?
«Sie ist die von der Kriminalpolizei.»
Lombardis Augen huschten von Claire zu Beanie, wieder zurück. Er ist nervös, dachte Beanie.
«Es geht um Philomena. Sie wird immer noch vermisst.» Wohl im Versuch, Alltagsnormalität herzustellen, sah Claire sich Lombardis Einkäufe an. «Wollten wir das? Jan liebt die gelben», murmelte sie, als sie eine Packung mit roten Cherrytomaten herauszog.
«Entschuldige, es gab keine anderen. Dafür haben wir Brot. – Wieso vermisst?» Letzteres ging an Beanie. «Ich habe Ihren Kollegen bereits gesagt, dass sie erst vor Weihnachten herkommen wollte. – Ist denn in der Zwischenzeit etwas passiert?»
Beanie gab sich bedeckt und fragte, wann Lombardi das letzte Mal von Philomena gehört habe.
Er beschrieb einen Telefonanruf vor zwei Wochen. «Ich habe sie nicht persönlich gesprochen, nur die Kinder.»
«Wo ist Sunny?», fragte Claire.
«Sie spielt draussen», sagte Lombardi.
Das fand Claire keine gute Idee. «Hol sie rein. Du weisst, die Zugänge zum unteren Garten und zum Keller sind noch nicht gesichert.»
«Sunny ist zuverlässig, mach dir keine Sorgen. – War es das, Frau Barras?»
Will er mich abschieben? «Nein. Ich habe noch Fragen. Wann genau wollte Philomena herkommen?»
Lombardi wirkte zunehmend verärgert. «Am 22. Dezember. Zur Jahressitzung des Stiftungsrats.»
«Ich dachte, sie interessiert sich nicht für die Stiftung?»
«Tut sie auch nicht. Aber nun, da Alfredo tot ist, bleibt ihr nichts anderes übrig.»
Beanie machte sich eine Notiz. «Ihre Stiftung vermietet Wohnungen?»
«Suchen Sie eine?», fragte Claire zurück und nahm eine Zeitung aus der Handtasche. «Die freien Wohnungen werden jeden Donnerstag in der Stadtzürcher Zeitung publiziert. Die Rubrik ist beliebt.» Sie deutete auf eine Anzeige. «Diese Besichtigung ist morgen: fünf Zimmer, hundertzwanzig Quadratmeter, ohne Balkon, aber bezahlbar. – Eines eurer besten Häuser, nicht wahr, Schatz?»
«K7», sagte Lombardi.
«K7?», fragte Beanie.
«‹K› steht für die Stadtkreise. K3 ist angesagt, K2 ist jüdisch geprägt, K8 für Neureiche, K4 fürs Vergnügen, K5 gentrifiziert, K6 für die Intellektuellen, K7 für die Kunst. Der teuerste und der begehrteste Kreis.» Lombardis Thema, es war deutlich zu merken.
«Und was ist mit dem anderen Kreisen? K9 bis K13?»
«Das ist die Agglo. Familien. Ausländer.»
Arschloch, dachte Beanie. Sie las die Anzeige durch.
«Eine öffentliche Ausschreibung? Wie viele Leute erwarten Sie?»
«Über hundert», sagte Lombardi.
«Du bist naiv», warf Claire ein. «Wenn ich eine Prognose wagen darf: Es werden tausend sein. Das bedeutet Stress für euch.»
«Was soll ich machen?» Johannes sah zu Beanie. «Der alte Alfredo hat es so gewollt. Darum sind die Wohnungen so beliebt. Preisgünstig, immer öffentlich ausgeschrieben, alle bekommen die gleiche Chance.»
«Wie wählen Sie am Schluss aus?»
«Der Zufall entscheidet.»
Wer’s glaubt, dachte Beanie. «Sie sitzen auf Gold.»
Claire stimmte zu. «Für so eine Wohnung würden manche morden.»
Johannes entwischte ein Lachen. «Claires Sinn für Humor. Sie sehen, es ist eine grosse Verantwortung, und Philomena scheut sich davor. Ich wette mit Ihnen, spätestens an Weihnachten ist sie da. Sie hat Geburtstag.»
«Wie alt wird sie?»
«Genauso alt wie Johannes», sagte Claire. «Einundfünfzig, aber sie sieht viel jünger aus.»
«Wir feiern bei ihr in der Villa Riesbach. Sie hat es den Kindern versprochen», ergänzte Lombardi.
«Sie ist wie Mary Poppins, erscheint dann, wenn man sie nicht erwartet.» Claire streichelte seinen Arm.
«Wer hat Philomena eigentlich als vermisst gemeldet?» Lombardi wirkte plötzlich irritiert.
«Die Gärtnerin», antwortete Beanie.
«Eliane Fischer?» Er war fassungslos. «Sie veranstalten den ganzen Zirkus wegen der Fischer?»
«Und weil ein Schmuckstück aufgetaucht ist, das Philomena Lombardi gehört.»
«Wo?», fragte Lombardi. «Etwa bei Rubi Bachar im Vintage-Shop?»
«Sie kennen sie?»
Lombardi nickte. «Eine alte Freundin von Alfredo. Für ihn gab’s nur Häuser, Schmuck und edle Kleidung. Meine Ex-Frau hat die Leidenschaft von ihm geerbt. Nostalgiesucht. Sie sollten ihre Kleider sehen. Sie lässt sich alles schneidern, kauft nur vom Feinsten.»
«Sie wollte keinen Schmuck kaufen. Sie wollte verkaufen.»
«Verkaufen? Sie scherzen», sagte Claire. «Philomena ist reich.»
Johannes winkte ab. «Alfredo war geizig, all sein Geld steckt in den Immobilien. Bares ist nicht viel da.»
Nicht viel hiess in diesen Kreisen immer noch mehr als bei den meisten, dachte Beanie.
«Dann wäre alles in Ordnung», sagte Claire. «Philomena braucht Geld für ihre Reisen, darum hat sie etwas Schmuck verkauft.»
Beanie kam sich lächerlich vor in ihren Socken.
«Ein Letztes noch.» An der Tür drehte sie sich um. Meiers Methode. War ihr geblieben. «Wem gehört das Ganze?»
«Sie meinen die Stiftung? Das ist kompliziert.» Lombardi vermied Beanies Blick. «Bei mir steht eine Telefonkonferenz an, entschuldigen Sie. Ich muss raus, hier drin ist kein Empfang.»
Ohne Beanies Nicken abzuwarten, verschwand er.
«Er hat Stress», sagte Claire sanft. «Sehr viel Arbeit. Es sind Hunderte von Wohnungen.»
Ehrliche Worte, wie es schien. «Hunderte? Auf der Website gibt es keine Auskünfte über die Immobilien.»
«Der alte Lombardi wollte alles analog behalten. Die Wohnungsbewerber füllen die Formulare immer noch von Hand aus.»
«Rückwärtsorientiert. Passt zur Zeitungsanzeige.»
«Es ist ein ziemliches Chaos. Sie können sich vorstellen, die vielen Entscheide, die täglich anstehen. Johannes und die anderen versuchen ihr Möglichstes, um die Geschäfte reibungslos ablaufen zu lassen.»
«Können Sie mir sagen, wer in der Geschäftsleitung sitzt?»
Claire stutzte. «Sie waren doch auf der Website? Da sind Fotos von allen.»
«Ich hör es gerne von Ihnen.»
«Es sind nur drei Leute. Johannes. Alice Haag, Alfredo Lombardis Mitarbeiterin der ersten Stunde –»
Beanie unterbrach. «Sie muss schon älter sein.»
«Das hält sie geheim. Der Dritte ist Charles Bonvin, Alfredos Freund und Mentor, Philomenas Patenonkel, an die achtzig, denke ich. Dazu kommt Noah Sanders, der Nachwuchs. Er sitzt nicht in der Leitung, ist aber Projektleiter eines ambitionierten Umbauprojekts. Der ‹Giess-Hübel›. Bestimmt haben Sie in den Medien davon gelesen. Es ist die alte Lombardi-Wäscherei in Wiedikon, die in Familienwohnungen umgebaut wird. Noah Sanders soll frischen Wind reinbringen. Unmöglich, wenn Sie mich fragen. Er wirkt wie ein pubertierender Teenager. Johannes und ich hatten seinetwegen Streit. Ich weiss nicht, wie die drei dazu gekommen sind, ihn zu engagieren.»
Noah Sanders stellte den Sound auf laut. Der Elektrobeat fuhr ihm direkt in die Eier. Nun fühlte er sich nicht mehr so unwohl wie eben, als ihm klar geworden war, dass er zum ersten Mal ganz allein in dem Altstadthaus war. Das Lombardi-Büro an der Augustinergasse mochte ehrwürdig sein, innen drin war es veraltet. So veraltet wie die ganze Geschäftsleitung, die ihm nun auch noch den Abend versaut hatte.
Alice Haags Anruf hatte Noah in einem Restaurant erwischt.
«Es gibt Probleme, Herr Sanders. Immense Probleme. Wir berufen eine Notfallsitzung ein. Bereiten Sie alles vor.»
«Heute Abend? Ich kann nicht.»
Die Haag hatte einfach aufgelegt. Kotzkuh!
Trotzdem war Noah sofort hergefahren, keine zehn Minuten hatte er gebraucht. Alles vorbereiten? Noah wusste genau, was Kotzkuh damit meinte. Sie betrachtete ihn als Sekretärin. Sie konnte ihn mal. Er holte weder Wasser noch Gläser, räumte weder Stifte auf den Tisch noch die Kaffeekanne weg. Es stank nach saurer Milch. Pfui Teufel! Noah war Veganer.
Er sah sich die Nachrichten auf dem Handy an. Fünfmal Tine Kohlmann. Anklagend, fordernd, kämpferisch:
«NESTBAU ist bereit für das Projekt ‹Giess-Hübel›. Wann können wir starten?»
Die Frau ging ihm krass auf die Nerven. Dabei war er selbst schuld, er hatte ihr zu viel versprochen. Noah verspürte einen leichten Schmerz hinter den Augen, drückte eine Tablette aus der Packung und schluckte sie ohne Wasser.
Relax, Brudi, sagte er sich. Noch zwei Wochen bis zur grossen Stiftungsratssitzung, danach wäre Noahs Projekt bewilligt, und er konnte Trostpreis Tine endgültig in die Wüste schicken. Bislang war alles smooth gelaufen, es fehlte nur Philomena Lombardis Unterschrift auf dem Vertrag.
Hatten die anderen etwa vor, das Ganze heute Abend abzuwickeln? War dies das Problem?
Das Pochen in Noahs Kopf wurde stärker, er kramte nach einer zweiten Tablette. Wenn er am Anfang nicht gleich draufhaute, würde es schlimm werden. Konnte er sich nicht leisten. Nicht jetzt. Doppelrelax. Kotzkuh meinte garantiert die Wohnungsbesichtigung von morgen. Die Deppen hatten gemerkt, dass Hundertschaften kommen würden, wie Noah das vor Wochen prophezeit hatte.
«Leute», hatte er gesagt. «Fünf grosse Zimmer, K7. Diese Besichtigung wird in die Annalen eingehen, die Medien werden die Menschenschlange filmen. ‹Wohnungsnot in Zürich, der Mittelstand wird in die Agglo gedrängt, Filz bei Wohnungsvergabe.› Wollt ihr das?»
Das Pochen entwickelte sich zu einem Hämmern. Eine weitere Tablette und positive Gedanken. Noah visualisierte die Abrissbirne, sah vor sich, wie sie die alte Lombardi-Wäscherei kaputt schlug. Sah sich selbst, den Daumen hochhaltend, vor dem neu entstandenen Clusterbau, dem «Giess-Hübel». Er stellte sich die Artikel dazu vor, las eine Hymne über seine, Noahs, Antwort auf die gentrifizierten Ghettos, über das Exempel zukunftsorientierter Stadtplanung. Deswegen hatte ihn Philomena Lombardi engagiert, gegen den Willen von Kotzkuh. Wo blieb die überhaupt? Vermutlich hatte sie ihn zu früh bestellt. Um ihn zu ärgern.
Noah schob einen Pfefferminzkaugummi ein und sah die Post durch, die mit Verspätung gekommen war. Er zerriss mehrere Briefe an Kotzkuh und warf die Schnipsel in den Müll. Den gleichen Weg nahmen einige bemalte Umschläge, Bettelbriefe von verzweifelten Wohnungssuchenden, adressiert an das liebe Büro der Lombardi-Stiftung. «Bitte schenkt unseren Kindern eine Wohnung zu Weihnachten.»
Im Takt des Elektrobeats vernichtete Noah einen Brief nach dem anderen. Ein Päckchen fiel ihm ins Auge, an Charles Bonvin adressiert. So eins war schon mal gekommen. Ob wieder ein Schmuckstück darin war? Noah hatte Charles letzte Woche beobachtet, wie er den Ohrring erst ausgepackt und dann – sehr verstohlen – wieder eingepackt hatte. Der Sabber war ihm übers Kinn gelaufen. Charles brauchte Kohle, seine Spielschulden waren ein offenes Geheimnis. Es würde keine Stunde dauern, und er würde auch diesen Ohrring verhökern.
Noah fiel etwas ein. Ein geradezu süsser Gedanke. Das Dossier der Stiftungsräte, alle fünfundzwanzig, mit Namen und Adressen. Es galt als streng, streng, streng geheim, Kotzkuh hütete es wie einen Fladen. Niemand ausser ihr und dem Ratspräsidenten durfte alle Namen kennen. Das war die Gelegenheit, das Ding zu ergattern. In dem Moment setzte ein Rumpeln ein. Scheisse! Oder auch nicht. Der altersschwache Lift würde lange brauchen.
Noah eilte zu Kotzkuhs Büro, Alfredos altem Heiligtum, das sie annektiert hatte, als seine Leiche noch warm war. Blitzschnell durchsuchte Noah den Schreibtisch. Kotzkuh war so ordentlich, wie er sie einschätzte. Trotzdem fand Noah das Dossier nicht. Erst bei der zweiten Runde, als er die Schreibtischunterlage aus miefigem Filz hob, fand er darunter ein platt gepresstes Blatt Papier. Noah machte ein Foto, räumte alles wieder weg und rannte ins Sitzungszimmer. Keine Sekunde zu früh.
«Bonsoir, mon fils», sagte eine Stimme. «Warst du bei Alice im Office? Die Tür steht offen, das tut sie sonst nie.»
Charles Bonvin stand im Rahmen, auf den silbernen Knauf des Spazierstocks gestützt. Er stank wie üblich nach Zigarre.
Noah griff in seine Hosentasche und holte das Schreiben heraus, das er am Nachmittag genau für diese Gelegenheit präpariert hatte.
«Ich habe die Post durchgeschaut, Onkel Charles. Ein weiterer Drohbrief an die Lombardi-Stiftung ist gekommen.»
«Musst du nicht ernst nehmen. Vernichte das Papier.»
Charles griff nach Noahs Hand, der Zeigefingernagel grub sich in die Haut. Der alte Sack liess keine Gelegenheit verstreichen, Noah an seine Abhängigkeit zu erinnern.
Nach dem Tod seines Vaters hatte Charles bei Noah dessen Stelle übernommen. Hatte ihm Geld geliehen, ihm geholfen, als er im Dreck war. Hatte Noah die erste Lombardi-Wohnung verschafft.
«Du hilfst mir, ich helfe dir. Nicht wahr, mein Sohn?»
Der Alte vermied seinen Blick, fuhr mit dem Finger der Wespe nach, die auf dem Knauf seines Stocks eingraviert war.
Noah steckte das Erpresserschreiben ein. Keine Sekunde zu früh. Die Tür ging auf, und Kotzkuh trippelte vor Johannes Lombardi über die Schwelle. Ihr enger Rock blitzte unter dem Wintermantel hervor. Als sie Noah streifte, konnte er ihre muffige Unterhose riechen. Im Sitzungszimmer machte sie den Spot aus und das Neonlicht an und nahm ihren Platz am Kopf des Tisches ein. Dass keine Getränke da waren, liess sie unkommentiert. Sie wartete, bis Charles sein steifes Bein unter dem Tisch platziert hatte, und übergab Johannes das Wort.
«Philomena ist verschwunden», sagte der und sah einen nach dem anderen an.
Noah fühlte, wie der Kopfschmerz einsetzte, mit Wucht. Er versuchte, sich auf Johannes zu konzentrieren, der eine hysterische Gärtnerin erwähnte, während er gleichzeitig nach weiteren Tabletten fummelte.
«Und inwiefern betrifft uns das?», fragte er.
«Die Polizei hat eine Untersuchung angeordnet.»
«Eine Untersuchung?»
«Sie werden euch befragen.»
Alle schwiegen.
«Was heisst verschwunden? Ist sie tot?», fragte Charles schliesslich.
Kotzkuh sah zu Johannes. «Was denkst du?»
«Was ich denke? Ich frage mich, wie Charles auf eine solche Idee kommt.»
Als alle zum Alten sahen, bekam Charles einen Asthmaanfall. Er röchelte und spuckte. Danach war nur noch ein Pfeifen zu hören, die Arie einer serbelnden Lunge.
Kotzkuh räusperte sich. «Eine polizeiliche Untersuchung ist unangenehm.»
Johannes nickte. «Die Polizistin, die den Fall untersucht, ist arrogant, mit dunkler Haut und rasiertem Schädel. Eine scharfe Hündin.»
Kotzkuh winkte ab. «Wir haben alles unter Kontrolle. Die Wohnungsbesichtigung im K7 von morgen muss sauber ablaufen. Absolut sauber, versteht ihr?»
Niemand antwortete.
«Ansonsten haben wir einfach keine Ahnung, wenn man uns fragt. Wir wissen von nichts. Keinen Einblick in die Anzahl der Immobilien. Keine Begünstigung. Wir wissen nicht mal, wer alles im Stiftungsrat sitzt. Ein gut gehütetes Geheimnis, seit Jahren. Die Liste mit den Namen hat Alfredo mit ins Grab genommen. – Schaffen wir das? Noah?»
Er fühlte, wie die Liste in seiner Brusttasche brannte, und brachte nur ein Krächzen heraus. «Ich werde zusätzlich das Dossier für das ‹Giess-Hübel›-Projekt überarbeiten.»
Kotzkuh wischte den Vorschlag weg. «Das legen wir auf Eis.»
Noahs Kopf explodierte. «Nein», sagte er. «Das könnt ihr nicht. Der Vertrag wird nächste Woche unterschrieben.»
«Der Termin ist abgesagt.»
Eine neue Welle hinderte Noah am Protest.
«Sind wir fertig?», frage Charles, der Noah mitleidig von der Seite ansah.
Kotzkuh verneinte. «Es gibt ein zweites Problem.»
«Ein Ohrring Philomenas ist in Rubis Schmuckladen aufgetaucht», sagte Johannes. «Die werden wissen wollen, ob wir etwas damit zu tun haben.»
Das Paket, dachte Noah. Der Schmuck war in Charles’ verdammtem Paket.
Zum Sterben schön. «Norma» von Bellini war zu Ende, Werner Meier hatte zur Aufnahme der Callas den Haushalt erledigt. Sogar die Spülmaschine hatte er bereits wieder ausgeräumt. Nun trocknete er die Gabeln ab, bevor er sie in die Besteckschublade legte. Einmal mit dem Geschirrtuch über die Armaturen. Was jetzt? Wäsche zusammenfalten? Schuhe putzen? Eine neue Oper anhören? Es lohnte sich kaum, es war nach zweiundzwanzig Uhr, Zita würde bald zurück sein.
Zita Schnyder, seine geliebte Partnerin. Voll im Berufsleben an der Uni, pendelte zwischen Forschen, Unterrichten und Organisieren hin und her. Überbelastet und unterbezahlt. Mit Sehnsucht nach London. Ohne Sehnsucht nach Heirat. Meier erinnerte sich nicht gern an den Moment vor dem Standesamt, als Barras und Andi, das eigentliche Brautpaar, den Termin verpassten und Zita für einen winzigen Moment am Schwanken war. Er hatte nicht insistiert, obwohl er sie am liebsten gepackt und ins Stadthaus hineingetragen hätte. Ruhig abgewartet hatte er, voller Hoffnung. Bis das Glühen ihrer Augen weniger wurde und sie der netten Beamtin, die zu allem bereit gewesen wäre, abgesagt hatte. Typisch Zita eben. Konsequent bis zum Letzten.
Meier seufzte und schrubbte den Backofen, eine Arbeit, die er nicht mochte. Im Gegensatz zum Kochen. Hatte er sich früher von Fleischkäse und Gurken ernährt, war er in seiner mehrmonatigen Auszeit zum Hobbykoch mutiert. Ob Kartoffelstock oder Apfelmus … die Kinder liebten seine einfachen Gerichte. Fertig. Mit Schwung hängte Meier den Lappen zum Trocknen über den Wasserhahn. Jetzt könnte Zita wirklich kommen. Sie und Barras waren vor über zwei Stunden zum Training losgezogen, beide mit Stirnlampen. Er kannte ihre Route. Übers Bellevue und die Quaibrücke zum Paradeplatz, der Bahnhofstrasse entlang, bei der Urania ein Schlenker hoch zum Lindenhof, hinunter zum Limmatquai, über den Predigerplatz zum Grossmünster und zurück. Dreimal.
Lieber Zita als ich, sagte sich Meier, während er die Reste des Abendessens in Tupperware-Dosen abfüllte. Als ein Stück Tomate zu Boden fiel, fluchte er. Ein Rundumblick. Der hölzerne Küchentisch, dessen eines Bein ein wenig kürzer war, Finns Ölfarbenrest, die Stühle, jeder anders, das Fenster zum Hof, mit dem verdorrten Basilikum davor. Es war ein Stück Heimat. Unsere Heimat. Das Herz wurde ihm schwer.
Er nahm den Familienkalender vom Haken, wo in Zitas Grossbuchstaben «WOHNUNGSBESICHTIGUNG» stand. Ihr Thema, mit oberster Priorität. Sie mussten umziehen. Abgesehen davon, dass ihre jetzige Wohnung für fünf Menschen zu klein war, wurde das Mietshaus renoviert. Alle raus. Die Wohnungssuche war zu Zitas Projekt geworden. Leider war sie superkorrekt und versuchte nicht, sich einen Vorteil zu verschaffen. So kriegen wir nie eine Wohnung, war Meiers Befürchtung. Er hielt nichts von Vetternwirtschaft – ausser bei der Wohnungssuche. Zum Glück hatte er ein eigenes Eisen im Feuer. Die Zweitwohnung von Helen Himmel, ihrer ehemaligen Vermieterin in Waldbach. Die Wohnung lag am schönen Greifensee, sie war vielleicht etwas allzu rustikal, aber sie war frei. «Ihr könnt jederzeit kommen», hatte Helen gesagt.
Das hatte sich Meier gemerkt. Sollten wir gar nichts finden, hätten wir da eine Heimat. Wobei er genau wusste, was Zita dazu sagen würde. Dass sie in die Stadt zurückgezogen waren, war eine Entscheidung, kein Zufall. Auch wenn er diese Tatsache gern verdrängte.
Die Küche glänzte. Zur Belohnung brach sich Meier ein Stück Toblerone ab. In dem Moment hörte er die Eingangstür. Typisch, sie kam heim, wenn er am Naschen war.
Aber nicht Zita, sondern Beanie Barras, seine ehemalige Assistentin, trat in die Küche. Zita und sie waren Freundinnen geworden. Während er und Barras es irgendwie nie geschafft hatten, ihre berufliche Verbindung in eine private Freundschaft zu wandeln. Zwischen ihnen blieb immer etwas Förmliches.
«Guten Abend, Barras.» Werner Meier bot ihr ein Stück Toblerone an. «Mögen Sie?»
Sie lehnte ab. Kurzerhand ass Meier auch Barras’ Stück auf.
«Klappt es an Weihnachten?», fragte er mit vollem Mund.
Als grosse Überraschung für Zita und die Kinder plante Meier im Wehrenbachtobel, in der Nähe von Barras’ Wohnwagen, eine Waldfeier. Sein Freund und Feldenkraislehrer Eli Apfelbaum wollte als Weihnachtsmann Geschenke bringen, Barras sollte einen Esel beim nahen Quartierbauernhof auftreiben.