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Martin Widmer lebt seit dreissig Jahren im Zürcher Oberland. Er arbeitet als Journalist und Historiker. Als Leiter von «Grabe wo du stehst» führte er in der ganzen Schweiz Geschichtsprojekte mit Laien durch. Die Methode entdeckte er in Schweden, als er dort einige Jahre lebte. Danach war er Co-Verleger bei «Hier und Jetzt» in Baden. Heute arbeitet er als Autor, hat verschiedene Sachbücher publiziert und verbringt den Sommer gerne im schwedischen Schärengarten. «Der Vermisste vom Vierwaldstättersee» ist sein erster Krimi.

www.martinwidmer.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/United Archives/

Carl Simon, shutterstock.com/secablue

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Gestaltung Schauplatzkarte & Vignetten: Laura Jurt, Zürich, Schweiz

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-674-6

Originalausgabe

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… för att förstå vad som gör sagor gripande:
att i varje saga värd namnet finns ett bråddjupt mörker,
och det mörkret kommer från dess förflutna.

Kjell Westö, «Den svavelgula himlen»

In jeder guten Geschichte gibt es eine
abgrundtiefe Dunkelheit, und diese Dunkelheit
stammt aus vergangenen Zeiten.

Teil I

Gyrenbad

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Warum soll ich dir das jetzt noch erklären, Lina? Jetzt, wo du tot bist. Du musst wissen, ich bin unschuldig. Unschuldig eingesperrt. Ich gehe auf und ab. Sieben Schritte misst meine Zelle. Ein dunkles Loch. Fünfzig mal fünfzig Zentimeter gross ist das Fenster. Nicht einmal den Himmel kann ich sehen. Am schlimmsten zum Aushalten ist die Dunkelheit. Ihr kann ich nicht entfliehen.

1

Er ging zur Rolltreppe, fuhr hinunter, zuerst ein Stockwerk und dann noch eines, bis er auf dem Perron stand. Im unterirdischen Bahnhof des Flughafens Zürich war es unangenehm kühl. Seine alte Heimat besuchte Konrad Mattmann nicht freiwillig, und dass der Hin- und Rückflug bezahlt wurde, machte die Sache nicht besser. Er wusste, sein Job als Auslandkorrespondent hing an einem seidenen Faden. Bei den rückläufigen Leserzahlen und den schwindenden Werbeeinnahmen wurde an allen Ecken und Enden gespart. Er hatte einen Termin beim Leiter der Auslandredaktion. War sein Posten in Stockholm gestrichen worden?

Im Intercity fuhr er nach Winterthur, dann wechselte er auf den Regionalzug, den «Tösstaler». In Turbenthal stieg er aus. Es war heiss, und er war durstig. Mattmann zog seinen kleinen Rollkoffer über den Platz zum «Schwanen» und wollte sich an einen Tisch auf der Terrasse setzen, doch es gab keine Sonnenschirme. Das alte Bahnhofsrestaurant war kein Ort, der Ausflügler anzog. Er trat in die dunkle Gaststube und bestellte ein Bier. Nur ein einzelner Gast sass am runden Tisch beim Buffet und blätterte in einer Zeitung.

Mattmann setzte sich in die Ecke. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das schummrige Licht. Die Tische und Stühle waren aus dunkel gebeiztem Holz, ebenso die Decke. Die Kellnerin brachte ihm das Bier, ohne ein Wort zu sagen. Das war ihm recht. Er war nicht auf Reportagereise. Er brauchte Ruhe, um in seiner alten Heimat anzukommen, und hatte keine Eile. Statt das Postauto zu nehmen, das ihn direkt ins «Gyrenbad» gebracht hätte, wollte er zu Fuss gehen. Schon letzten Sommer hatte er während seines Heimaturlaubs dort logiert. Das ehemalige Badehotel im Tösstal, sorgfältig restauriert und mit einer guten Küche, lag eine Stunde von Zürich entfernt, genau der richtige Abstand, um sich auf den Besuch in der Redaktion und bei seiner Mutter vorzubereiten.

Er trank sein Bier, bezahlte und bat die Kellnerin, seinen kleinen Koffer hinter der Theke deponieren zu dürfen. Jemand vom «Gyrenbad» würde ihn abholen, erklärte er ihr.

Ohne Gepäck ging er los, über den leeren Parkplatz des Einkaufzentrums, vorbei am Schuhladen und der Metzgerei. Alle Läden waren geschlossen, es war Sonntag.

Bei der Kreuzung bog er ab und suchte nach dem Wanderweg. Es war niemand auf der Strasse, den er hätte fragen können, doch auf seinem Mobiltelefon hatte er die Karte «Schweiz mobil» geladen. Es gab einen kurzen, steil ansteigenden Weg durch den Wald, der in einer halben Stunde zum Gasthof führte. Er wählte die längere Variante dem Hutzikerbach entlang Richtung Schauenberg. Ein Umweg, den er gerne einschlug. Er kam am Schützenhaus vorbei, die blau-weiss gestreiften Läden waren geschlossen. Wenigstens sonntags wurde auf der Dreihundert-Meter-Schiessanlage nicht geschossen. Zwischen März und Oktober herrschte jedoch reger Betrieb: Obligatorische und freie Übungen, ein Feierabend-Cup und das Ratsherrenschiessen standen auf dem Programm der beiden Schiessvereine Turbenthal-Neubrunn und Schmidrüti-Sitzberg.

Mattmann hatte ein ungutes Gefühl, wenn er an die Schiessübungen dachte, die er in seinen jungen Jahren im Militärdienst leisten musste. Seit er als Korrespondent im Ausland lebte, war er zum Glück davon befreit, musste allerdings eine saftige Steuer bezahlen.

Der Weg führte weiter dem Bach entlang durch ein schattiges Tal und stieg langsam an. Ein feiner Rauch lag in der Luft, irgendwo wurden Würste über dem offenen Feuer gebraten. Junge Eltern mit ihren Kindern kamen ihm entgegen. Sie grüssten freundlich, auch wenn sie ihn nicht kannten. Mattmann grüsste zurück. Mit seinem Grossvater hatte er als Kind lange Wanderungen unternommen, und wenn er müde wurde, nahm ihn sein Grossvater an der Hand. Stundenlang hätte er an dessen grosser warmer Hand weitergehen können; durchs ganze Leben würde sie ihn führen, so hatte er damals gedacht. Mattmann überlegte, wann sein Grossvater gestorben war, doch er konnte sich weder an das Datum noch an die Jahreszahl erinnern.

Beim Abzweiger zur Burgruine Schauenberg ging er geradeaus Richtung «Gyrenbad». Er kam über eine Waldlichtung und stand plötzlich vor dem Haus von Alois Brunner. Letztes Jahr hatte er mit ihm ein paar Worte gewechselt. Gesprächig war Brunner nicht gewesen, doch etwas faszinierte Mattmann an diesem alten Mann. Mit seiner Frau hatte er sich länger unterhalten, sie hatte alles über Königin Silvia und den Nachwuchs im schwedischen Königshaus wissen wollen. Nun waren die Läden des dunkelbraunen Chalets geschlossen. Ein schwarzer Schmetterling sass regungslos auf der obersten Treppenstufe.

2

Mattmann hatte das schönste Zimmer im «Gyrenbad» bekommen, das Eckzimmer mit Morgensonne und mit Blick über das Tal. Elise Manz, die alte Wirtin, hatte sich gefreut, als er vor ein paar Wochen angerufen und bei ihr gebucht hatte. Sie würde ihm auch dieses Jahr wieder jeden Wunsch von den Lippen ablesen.

Beim Erwachen hörte er durch das offene Fenster Stimmen, leises Geklapper von Geschirr und das Knirschen von Kies. Das Frühstück wird unten im Garten aufgetragen, dachte er.

Bald sass er an einem der dunkelgrünen Gartentische, vor sich einen Teller mit zwei Spiegeleiern und zwei Stück Käse. Mit dem dunklen Brot aus dem Holzofen tunkte er das Eigelb auf.

Auch während seiner Ferien verschaffte er sich einen Überblick über die Newslage. Neben dem Teller lag sein iPad, doch in der Morgensonne kam er damit nicht weit. Er stand auf, ging an den von niedrigen Buchshecken eingefassten Blumenbeeten vorbei in die Gaststube und steuerte auf Elise Manz zu, die hinter der Theke arbeitete.

«Sind die Zeitungen von heute schon da?», fragte er.

«Meine Tochter kommt jeden Moment mit der Post aus dem Dorf.»

«Und gerne noch einen Kaffee.»

«Mit Milch?», fragte sie.

«Wie immer, zum Frühstück. Und wenn möglich einen Kaffee aus der Maschine. Filterkaffee bekomme ich in Schweden zur Genüge.» Er schaute zu, wie sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. «Noch immer Frühschicht?», wollte er wissen.

«Solange ich aufstehen mag, will ich etwas zu tun haben», sagte sie. «Seit die Jungen den Betrieb übernommen haben, helfe ich gäng no chli.» Auch nach mehr als sechzig Jahren im Zürcher Oberland sprach sie noch immer ein breites Berndeutsch. Als junge Frau war sie aus dem Berner Oberland ins Tösstal gekommen, wie Mattmann bei seinem letzten Aufenthalt erfahren hatte. Sie habe auf einem Bauernhof gearbeitet und auf einer Tanzveranstaltung den Badewirt kennengelernt. Seitdem habe sie Tag und Nacht im «Gyrenbad» verbracht.

Sie nahm ein Tablett, stellte darauf die Tasse mit dem Kaffee und die warme Milch in einem silbernen Kännchen, damit sie nicht kalt würde, da kam ihre Tochter mit dem «Tössthaler» und dem «Zürcher Oberländer».

«Druckfrisch», sagte Elise Manz und bedeutete Mattmann, die Zeitungen mitzunehmen. Das Tablett in beiden Händen, ging sie mit kleinen Schritten voraus in den Garten. Am Tisch schenkte sie ihm ein und wandte sich zum Nebentisch.

Nach einer Weile kehrte sie zurück und deutete auf die offene Zeitung. «Interessante Neuigkeiten?»

«Immer», sagte Mattmann.

«Steht auch etwas Neues über den Tod von Lina Brunner drin?»

«Lina Brunner?»

«Die Frau vom Chalet.» Elise Manz hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest. «Es ist einfach furchtbar.»

«Was ist geschehen?»

«Den alten Brunner haben sie …», sagte sie und fuhr stockend fort, «… festgenommen. Er wird verdächtigt …» Sie schüttelte den Kopf. «Armer Alois, armer Alois», wiederholte sie und ging vom Tisch. Nach wenigen Schritten drehte sie sich nochmals um. «Heute Nachmittag ist die Beerdigung.»

Mattmann fand im «Tössthaler» die Medienmitteilung des Polizeisprechers, eine einspaltige, umständlich formulierte Notiz zum Stand der Ermittlungen: «Dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung der Untersuchungshaft für Alois Brunner wurde entsprochen sowie das Ansuchen des Beschuldigten, an der Beerdigung seiner Frau teilnehmen zu können, bewilligt.» Mattmann hielt inne. Er musste Elise Manz an die Beerdigung begleiten. Er wollte Brunner sehen.

Karin Manz anerbot sich, ihre Mutter und Mattmann am Nachmittag zur Kirche zu fahren. An der Abdankung teilnehmen konnte die junge Wirtin nicht, sie musste das Leidmahl vorbereiten, das im «Gyrenbad» stattfinden sollte.

Mattmann nahm hinten im Auto Platz. Steil führte die Strasse durch den Wald hinunter nach Turbenthal. Karin Manz kannte jede Kurve und bremste selten. Mattmann dachte an Brunner. Vor einem Jahr hatte er einen Blick in dessen Werkstattschuppen geworfen. Der alte Mann sammelte alles, was er glaubte, einmal brauchen zu können. In halbierten Milchverpackungen bewahrte er verrostete Schrauben und Nägel auf. Abgebrochene Messerklingen hingen zwischen Stechbeiteln und Hämmern an der Wand.

Karin und Elise Manz waren in ein Gespräch vertieft, von dem Mattmann auf dem Rücksitz nur wenig mitbekam. Als er das Wort «Polizei» aufschnappte, spitzte er die Ohren.

«Vielleicht hätte ich auch zur Polizei gehen sollen», sagte Karin Manz.

«Wie kommst du darauf?», fragte ihre Mutter. «Hast du genug vom Wirten?»

«Jeden Abend bis Mitternacht in der Gaststube. Das ist doch kein Leben.»

«Sei froh, dass es so gut läuft. Unsere Küche hat einen guten Ruf bei den Einheimischen und bei den Städtern. Dank jahrelanger harter Arbeit.»

«Das hatte seinen Preis. Wir Kinder sind in der Gaststube aufgewachsen.»

«So hast du das Wirten von Kindsbeinen an mitbekommen. Spielst du wirklich mit dem Gedanken, das alles aufzugeben?»

Karin Manz konzentrierte sich auf die Strasse.

«Es kann doch nicht dein Ernst sein, zur Polizei zu gehen, um dich Tag und Nacht mit Verbrechern herumzuschlagen?», fragte Elise Manz.

«Interessant wäre das bestimmt. Rahel Reinhart macht das, ich kenne sie, die Kommissarin, die im Fall Brunner ermittelt.»

«Von der man in der Zeitung liest?»

«Genau.»

Mattmann beugte sich nach vorne und fragte: «Rahel Reinhart, die in Weisslingen aufgewachsen ist?»

«Ja», antwortete Karin Manz.

Würde er Rahel erkennen, fragte sich Mattmann, wenn sie plötzlich vor ihm stünde?

Karin Manz bog vor der Kirche auf den Parkplatz ein. Als Mattmann aussteigen wollte, gab ihm Elise Manz ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Sie beobachtete, wie ein Auto nach dem anderen auf dem grossen Kiesplatz parkierte. «Nach all dem, was in der Zeitung gestanden ist, gibt das eine volle Kirche», bemerkte sie zu ihrer Tochter. «Es war richtig, den grossen, langen Tisch im Saal zu decken.» Dann öffnete sie die Wagentüre.

Mattmann gab Elise Manz seinen Arm, langsam und gebeugt ging sie an seiner Seite über die Strasse und über den gepflästerten Vorplatz zur Kirche. Die Glocken übertönten alles, dass sie nicht miteinander sprechen konnten. Sie waren noch zu früh und warteten in der Nähe des Eingangs. Der Platz füllte sich mit der Trauergemeinde, und langsam wurde das Geläute leiser. Da fühlte Mattmann einen Ruck an seinem Arm, und Elise Manz sagte mit lauter Stimme: «Da kommt Brunner.» Sie zeigte auf den alten Mann, eng begleitet von einem Mann und einer Frau.

«Seine beiden Kinder?», fragte Mattmann, doch sie konnte ihn nicht verstehen.

Nun erkannte er Rahel. Sie hatte ihre Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Rossschwanz zusammengebunden. Früher hatte sie das dunkelbraune Haar immer offen getragen. Rahel und der Polizist schoben Brunner leicht vor sich her und verschwanden durch das Kirchenportal. Mattmann und Elise Manz reihten sich in die Schlange der Trauergäste ein. Als sie in die Kirche traten, waren die hintersten Bänke bereits besetzt. Sie setzten sich in eine der mittleren Reihen, an den Rand, sodass sie gut nach vorne sehen konnten. Elise Manz streckte ihren Hals, um einen Blick auf die erste Bank werfen zu können. Dort sass Brunner, neben ihm nun eine andere Frau.

«Das ist seine Tochter, die Susanne», sagte Elise Manz hinter vorgehaltener Hand zu Mattmann. «Sie war es, die ihre Mutter hinter dem Chalet gefunden hat.»

Keine Kränze, keine Bänder mit Abschiedsgrüssen in goldenen Lettern. Verloren brannte eine grosse weisse Kerze im Chor. Der Pfarrer verlas einen kurzen Lebenslauf von Lina Brunner, ohne ein Wort zu ihrem Tod zu sagen, dann setzte er zur Predigt an.

Mattmanns Augen wanderten abwesend über die weiss getünchten Kirchenwände. Er suchte nach dem ersten Satz für den Artikel über das Aussterben des Aals, den er der Redaktion schon versprochen hatte. War der richtige Einstieg gefunden, konnte er den Text jeweils in einem Zug schreiben. Doch wo sollte er beginnen? Vielleicht bei der Wanderung der Aallarven von der Sargassosee bis in die Flüsse und Seen Skandinaviens. Oder wie sie sich dann Jahre, ja Jahrzehnte vollfrassen und kaum bewegten, bis sie plötzlich aufbrachen und die Tausende von Kilometern lange Rückreise antraten. Um seine Ferien geniessen zu können, musste er den versprochenen Beitrag möglichst noch heute Abend schreiben. Als das Schlussspiel der Orgel einsetzte, hatte Mattmann die ersten Sätze plötzlich klar vor Augen: «Der Aal ist einer der geheimnisvollsten Fische. Wie alt können sie werden? Warum lassen sie sich nicht züchten? Wie finden sie zurück in die Sargassosee, wo sie laichen und sterben?»

«Gehen wir noch mit ans Grab?», fragte Elise Manz und wischte sich ein paar Tränen ab.

«Von mir aus», sagte er. Da tippte ihm jemand auf die Schultern und flüsterte, die Urne sei im kleinsten Familienkreis bereits beigesetzt worden.

Auch gut, dachte Mattmann und erklärte es Elise Manz.

«Ich wäre gerne dabei gewesen», sagte sie. «Die Predigt hätte ich mir sparen können.»

«Und nun?»

«Zurück ins ‹Gyrenbad›. Brunners Tochter hat alle zum Leidmahl eingeladen.»

Als Mattmann in den Saal trat, standen schon einige Gäste um den langen, weiss gedeckten Tisch. Sein Blick fiel aufs Buffet: Platten mit geräuchertem Fleisch und verschiedenen Sorten Käse. Grosse Brote mit dunkler Kruste und Schüsseln mit gemischtem Salat. Die Sonne funkelte in den geschliffenen Glasstücken des Kronleuchters, an der einen Wand hing ein düsteres Ölgemälde mit einem Ozeandampfer in rauer See.

Als das «Gyrenbad» noch ein Kurbad war, speisten in diesem Saal die Kurgäste, nun waren es Hochzeitsgesellschaften und Trauergemeinden. Mattmann schaute sich um. Plötzlich stand Rahel vor ihm. Sie lächelte, und er lächelte zurück. Noch immer war sie eine schöne Frau, dachte er.

«Lange her», sagte sie.

«Ich habe dich vor der Kirche sofort erkannt.»

Rahel neigte leicht den Kopf. «Was machst du hier?», fragte sie.

«Ich habe Elise Manz begleitet.»

«Bist du mit ihr verwandt? Oder mit der Toten?»

«Weder noch.» Mattmann suchte nach einer Erklärung. Doch er wusste selbst nicht, warum er am ersten Tag seiner Ferien an einer Abdankung teilnahm, ohne Angehöriger zu sein. Er lächelte verlegen und wechselte das Thema. «Ich habe mir hier ein Zimmer genommen. Ich liebe alte Badehotels.»

«Das Schwelgen in alten Zeiten war schon immer dein Ding», bemerkte Rahel, «das machen Historiker doch so.»

«Ich bin Journalist geworden.»

«Genau! Du hast auf dieser bürgerlichen Zeitung gearbeitet, wo sie alle Krawatten tragen.»

«Da arbeite ich immer noch. Als Korrespondent auf einem Aussenposten.»

«Wo?»

«In Stockholm. Seit sieben Jahren.»

«Kalt und dunkel stelle ich mir das vor.»

«Nicht im Sommer», sagte Mattmann. Hatte man sich seit Jahren nicht mehr gesehen, wusste man nicht, wo beginnen. Die Leere, die sich in der Zwischenzeit ausgedehnt hatte, galt es irgendwie zu überbrücken. «Ich habe gehört, dass du jetzt bei der Kripo bist», sagte er.

«Genau.»

«Das hat mich erstaunt.»

«Warum?»

«Die Polizei gehörte einst zu deinen Feindbildern.»

«Die Zeiten ändern sich …»

«… und wir uns mit ihnen», ergänzte er.

Sie lächelte angestrengt. Trotzdem verzauberten ihn die Grübchen in ihren Mundwinkeln, die er so geliebt hatte. Er wollte sie zum Lachen bringen und fragte etwas ungeschickt: «Gehen Kriminalpolizistinnen immer auf die Beerdigungen der Opfer?»

«Ich habe Brunner begleitet», sagte sie ernst.

«Wo ist er jetzt?»

«Auf dem Weg zurück ins Gefängnis.»

«Und du ermittelst am Leichenmahl?»

«Nein.»

Bevor er Rahel noch etwas fragen konnte, drehte sie sich um und liess ihn stehen. Wie damals. In ihren Wintermantel gehüllt, war sie einfach gegangen.

3

Auf dem EuroAirport Basel Mulhouse Freiburg schaute David Brunner auf die Uhr. Er war nicht für das Trauern in Gesellschaft gemacht, lieber nahm er alleine von seiner Mutter Abschied. An ihr Grab wollte er ein andermal gehen.

Noch eine Stunde dauerte seine Schicht in der Abflughalle. Er arbeitete am Rollband, wo das Handgepäck der Passagiere kontrolliert wurde. Innert Bruchteilen von Sekunden musste er am Bildschirm Taschenmesser, Nagelscheren und andere spitze Gegenstände erkennen, ebenso Flüssigkeiten, die nur in kleinsten Mengen im Handgepäck mitgeführt werden durften. Er konzentrierte sich, das half ihm, alles Private zu vergessen.

Am schwierigsten war es, Sprengstoff am Bildschirm zu erkennen. Einmal war ihm ein Paar Herrenschuhe mit dicken Sohlen verdächtig vorgekommen. Drogen, hatte er zuerst vermutet, doch als die Polizei die Schuhe aufgeschlitzt hatte, kam eine gelatineartige Masse zum Vorschein. Hätte der Wahnsinnige damit ein Flugzeug in die Luft sprengen können? Die Analyse kam zu keinem eindeutigen Schluss. Doch David war noch immer stolz, dass dank seiner Aufmerksamkeit ein potenzieller Selbstmordattentäter verhaftet werden konnte. Zündschnüre, Schwarzpulver und Sprengkapseln interessierten ihn seit seiner Kindheit. Und über Selbstmörder las er alles, was er finden konnte. Dabei versuchte er sich vorzustellen, wie diese die letzten Momente ihres Lebens erleben würden.

Nach Dienstschluss zog David in der Garderobe seine Uniform aus und verstaute sie im Spind. Er streifte den Kapuzenpulli über den Kopf und schlüpfte in die etwas zu gross geschnittenen Jeans. Unschlüssig blieb er stehen. In die Stadt mochte er nicht fahren und auch nicht nach Hause. Das Mobiltelefon vibrierte in seiner Hosentasche. Eine SMS seiner Schwester. «Warum bist du nicht an die Beerdigung gekommen?», fragte sie.

Er klickte die Mitteilung weg und verliess die Garderobe. Er brauchte dringend eine Zigarette. Vor dem Haupteingang des Flughafens setzte er sich auf eine Bank und rauchte. Ein Taxi fuhr vor, und er beobachtete, wie ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern ausstieg. Der Chauffeur half beim Ausladen der Koffer. Die Frau sah sich nach einem Gepäckwagen um und streifte seinen Blick. Er hätte gewusst, wo sie standen, doch er reagierte nicht. Er war froh, dass er keine Familie hatte und sich nach der Arbeit um nichts kümmern musste. Es ist einfacher so, sagte er sich.

Am Flughafen kaufte er jeweils eine Mahlzeit zum Mitnehmen, Bier hatte er zu Hause immer im Kühlschrank. Doch heute mochte er nicht in seiner Wohnung alleine vor dem Fernseher essen. Er stand auf, warf den Zigarettenstummel weg und ging zurück in die grosse Halle. Auf der Rolltreppe fuhr er hinauf zur «Bye Bye Bar». Er konnte sich nicht entscheiden, was er bestellen wollte, bis ihm der Kellner einen Apfelkuchen empfahl. Die Äpfel waren jedoch ohne Geschmack und der Teigboden nicht mehr knusprig. Er nahm einen Bissen, dann schob er den Teller weg. Den besten Apfelkuchen hatte seine Mutter gemacht.

Als er an sie dachte, hörte er, wie sie ihn leise rief: «David!» Er schaute sich um. «David, hilf mir!», hörte er sie. Er schreckte auf. Eine alte Frau stand verloren beim Aufzug. Sie stützte sich auf ihren Stock und schaute zu ihm. David beobachtete, wie ein junger Mann auftauchte und ihr den Arm anbot. Als sich die Lifttüren öffneten, verschwanden sie. «Meine Mutter ist tot», sagte er trotzig und stellte sich im nächsten Moment vor, dass sie ihm vom Himmel aus zusah. Er ärgerte sich über seine kindliche Vorstellung.

Durch die grossen Fenster schaute er den startenden und landenden Maschinen zu. Vor zwei Monaten war er aus Kanada zurückgekehrt. Er war an der Westküste gewesen, im Regenwald. Nicht im tropischen, sondern im gemässigten Regenwald. Dabei war er mit einem Schlag in seine Vergangenheit zurückgeworfen worden.

4

«Ihre Frau hat aus Schweden angerufen», sagte Elise Manz, als Mattmann den Zimmerschlüssel verlangte. «Sie liess ausrichten, sie sei bis acht Uhr im Spital erreichbar.»

«Danke», sagte Mattmann und ging auf sein Zimmer. Gina rief ihn während seiner Reisen nur an, wenn es wirklich wichtig war, ansonsten verkehrten sie per Mail oder SMS. Im Zimmer wählte er ihre Nummer im Astrid Lindgrens barnsjukhus, wo sie als Kinderärztin arbeitete. Eine Sekretärin nahm den Anruf entgegen und verband ihn nach einer kurzen Wartezeit.

«Was ist los?», fragte er.

«Wegen einer Sommergrippe sind hier am Spital mehrere Ärzte ausgefallen. Ich kann nicht weg.»

«Ihr habt einfach zu wenig Personal.»

«Schimpf nicht wieder über das schwedische Gesundheitssystem.»

«Staatsmedizin. Hoffnungslos», sagte er.

«Das kannst du in deiner konservativen Zeitung schreiben. Aber lass mich damit bitte in Ruhe.»

«Und du lässt mich hier allein sitzen.»

«Sei ehrlich, das kommt dir doch ganz gelegen. Ein paar Tage nur für dich in deiner alten Heimat. Du kannst ein paar Kontakte pflegen. Oder was weiss ich.»

Er antwortete nicht.

«Come stai, Koma?», fragte sie.

Er liebte es, wenn sie ihn Koma nannte, mit einem italienisch angehauchten «K».

«Amore, tutto bene?», fragte Gina nach.

«Alles bestens.»

«Warst du schon auf der Redaktion?»

«Noch nicht.»

«Und bei deiner Mutter?»

«Auch noch nicht.»

Beide schwiegen einen Moment.

«Wann kommst du nach?», fragte er.

«Ich melde mich, sobald der Einsatzplan klar ist. Bis bald! Ciao.»

Konrad Mattmann blieb sitzen und dachte nach. Sie führten beide ihr eigenes Leben, Gina als Ärztin, rund um die Uhr im Spital, er als Journalist, immer unterwegs. Es war ein Wunder, dass sie nach all den Jahren noch zusammen waren. Er erinnerte sich, wie sie sich in einem Café in Berlin getroffen hatten. Beide waren neu in der Stadt, sie arbeitete als Assistentin in der Kinderklinik an der Charité, er als Auslandkorrespondent, der über Deutschland berichtete. Dass er seine Artikel mit der Abkürzung «Koma» zeichnete, hatte sie amüsiert. Anfangs ärgerte er sich, wenn sie ihn mit seinem Kürzel neckte.

Mit der Zeit wurde «Koma» zu seinem Kosenamen. Gina schaute ihm gerne über die Schultern, wenn er seine Artikel tippte. Dann drehte er den Kopf und hörte auf mit Schreiben. «Mach nur weiter», sagte sie und strich ihm durch die Locken. Anfangs hatte er Mühe, sich dann noch auf seine Arbeit zu konzentrieren. Je länger, je mehr liebte er es beim Schreiben, wenn sie im selben Raum war und er ihr den einen oder anderen seiner Sätze laut vorlesen konnte oder nur ein Wort, bei dem er unsicher war, ob es so stimmte. Obwohl Deutsch nicht Ginas Muttersprache war, hatte sie ein gutes Gefühl für diese Sprache. Als Ärztin hatte sie gelernt, gut zuzuhören, auch auf das, was die Patienten ihr nicht erzählten oder nur zwischen den Zeilen versuchten anzutönen.

Seit mehr als sieben Jahren lebten sie nun in Stockholm, von wo aus er über alle skandinavischen Länder berichtete. Sein Korrespondentenposten war jedoch alles andere als gesichert. Er war sechzig Jahre alt geworden, ob er seinen Job mit all seinen Freiheiten bis zur Pensionierung behalten konnte, stand in den Sternen. Zurück auf die Redaktion nach Zürich wollte er auf keinen Fall.

Er stand auf, schloss das Zimmer ab und ging langsam die Treppe hinunter. Im ersten Stock angekommen, ging er den Korridor entlang und blieb vor der offenen Türe des Damensalons stehen. Die Wände waren mit einer dunkelroten Stofftapete bezogen, schwere braune Vorhänge hingen links und rechts der Fenster, auf dem Salontisch standen benutzte Teetassen und ein Teller mit übrigem Teegebäck.

Er trat ein und schnappte sich eines, dann schaute er sich um. Der Schrank mit den Glastüren war voll von alten Büchern. Mattmann liess die Augen über die Buchrücken schweifen, den Kopf leicht seitwärts gesenkt, damit er die Titel und Namen der Autoren besser lesen konnte. Beim «Begleiter auf der Reise durch die Schweiz» stoppte er. Er öffnete den Schrank und nahm das Buch zur Hand. Es war ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis aller Gasthöfe der Schweiz, erschienen 1840. Die Seiten waren vergilbt, einige waren von Stockflecken befallen. Die Gasthöfe wurden mit ihren Annehmlichkeiten beschrieben, die einen ausführlich und mit einem Stich illustriert, die anderen nur kurz.

Die Abbildung des «Gyrenbads» zeigte das alte Gasthaus mit grossem Giebeldach und zwei Anbauten, dem moderneren Gästetrakt mit einer grossen Terrasse. Äusserlich hatte sich die letzten hundertsiebzig Jahre kaum etwas verändert, stellte er fest. Zum damaligen Badebetrieb las er: «Im neuen Bau befinden sich im Erdgeschoss und zweiten Stock zwei Badesäle, wovon einer eine geschlossene Abteilung hat. Im dritten Stock sind sehr schöne, gut möblierte Wohnzimmer mit herrlicher Aussicht gelegen.» Er schreckte auf, als Elisa Manz mit einem leeren Tablett eintrat, um das Teegeschirr abzuräumen. Sie bemerkte das Buch in seiner Hand.

«Der Leuthy hat das schön beschrieben in seinem Reiseführer», sagte sie.

«Das ‹Gyrenbad› scheint eines der ältesten und bekanntesten Badehotels zu sein.»

«Ach», sie winkte ab, «es war immer nur ein Kaltwasserbad. Von warmem Thermalwasser keine Spur. Von dieser Art Bädli gab es damals in der Schweiz Hunderte.» Sie wischte mit der Hand ein paar Krümel vom Salontisch, dann nahm sie das Tablett auf und fragte: «Nehmen Sie Tee? Kaffee? Oder lieber ein Glas Wein?»

«Etwas Roten, gerne einen Merlot aus dem Tessin, wenn Sie so einen hätten.»

«Ich habe einen guten Tropfen für Sie. Er geht aufs Haus. Als Dank, dass Sie mich heute an die Abdankung begleitet haben.»

«Stand Ihnen Lina Brunner nahe?», fragte er.

«Die letzte Zeit habe ich sie selten gesehen. Aber ihr Mann kam manchmal abends etwas trinken. Allein.»

«War seine Frau sehr krank?»

«Er hat nie etwas erzählt. Er ist so ein verschlossener Mensch.»

Als sie mit dem Merlot zurückkam, sass Mattmann auf dem Sofa und bat sie, ihm mehr über die Geschichte des «Gyrenbads» zu erzählen.

«Vornehm ging es bei uns nie zu und her», begann sie und hielt sich an einer Stuhllehne fest. «Anders als in den grossen Thermalbädern von Baden oder Bad Ragaz. Zehn Zimmer hatten wir, mehr nicht. Zu uns kam die Frau des Metzgers. Oder der Herr Pfarrer.»

«Wurde da mehr als gebadet?»

«Das kann man sagen! Das war wie eine Insel in den prüden protestantischen Landen.» Sie lächelte und steckte ihre Hände in die Schürzentasche. «Ich möchte nicht wissen, wie viele uneheliche Kinder in unseren Gästezimmern gezeugt worden sind.» Sie ging zum Bücherschrank, bückte sich mühsam und suchte einen Band auf dem untersten Gestell, bis sie das in Leder eingebundene Gästebuch fand. Sie setzte sich damit auf das Canapé neben Mattmann und fuhr mit dem Finger Zeile um Zeile über die Seiten, bis sie bei einem Namen stehen blieb. «Graf von Eichenberg. Das war unser berühmtester Gast. Er lud alle Kinder des Dorfes an seinem Geburtstag zu einem Imbiss ein. Und machte sich am Ende seines Aufenthaltes aus dem Staub, ohne die Rechnung zu bezahlen.»

«Ein falscher Graf?»

«Ein Hochstapler. Aber als Journalist sind Sie an anderen Geschichten interessiert.»

«Hotelgeschichten interessieren mich immer. Und wo ist die Blüte der Hotelkultur schöner erhalten als in Ihrem Gasthof?»

«Sie Schmeichler», sagte Elise Manz und stand auf. Sie bemerkte, dass er keinen Wein mehr hatte. «Noch einen Zweier? Und vielleicht etwas Käse und Rauchwurst dazu?», fragte sie. «Es hat noch viel übrig vom Leidmahl.»

«Eigentlich bin ich satt, aber etwas Süsses nähme ich gerne, Sie wissen, was ich mag. Und dazu einen Kaffee.»

Die alte Wirtin kam mit einem Stück Apfeltorte und dem Kaffee zurück, dazu brachte sie ein Gläschen Kirsch. Sie setzte sich neben Mattmann, der sich ein grosses Stück auf die Kuchengabel lud, und schaute ihm zu, wie er ass. Dann sagte sie: «Am meisten tut mir David leid.»

«David?»

«Brunners Sohn. Ich kenne ihn schon seit Kindsbeinen. Ein verschupfter Bub.»

«Was war mit ihm?»

«Sein Vater war so streng mit ihm. David konnte es ihm nie recht machen. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihm helfen könnte.»

5

Susanne Brunner hatte sich schon oft über ihren jüngeren Bruder geärgert. Nie nahm er das Telefon ab, wenn sie versuchte, ihn anzurufen. Erstaunt stellte sie fest, dass er sich diesmal bereits nach dem ersten Signal meldete, wenn auch nicht gerade freundlich.

«Was willst du?», fragte David.

Sie wollte vermeiden, dass der Faden zwischen ihnen gleich wieder abriss, daher atmete sie einmal tief durch. «Ich möchte dir von der Beerdigung erzählen», sagte sie und ertappte sich, wie sie auch diesmal auf ein kleines Wunder hoffte: dass es wieder so wäre wie früher, als sie ihren jüngeren Bruder beschützen konnte. Seit sie beide von zu Hause ausgezogen waren, sahen sie sich kaum mehr. Er meldete sich nie.

«Die Beerdigung interessiert mich keinen Deut. Mit den Pfaffen habe ich nichts am Hut.»

Susanne Brunner nahm einen zweiten Anlauf. «Viele haben nach dir gefragt.»

«Wer?»

«Vater.»

«Und? Was wollte er wissen?»

«Was du machst.»

«Er hat sich noch nie für mich interessiert.»

«Wir haben uns heute nach der Abdankung kurz unterhalten. Er wollte wissen, wie es dir bei der Arbeit geht.»

«Von meiner Arbeit hat er nie etwas gehalten.»

Susanne Brunner schwieg. Nach einer Weile sagte sie sanft: «Er ist milder geworden.»

«Mild.» Er lachte. «Und unschuldig wie ein Lamm!»

«Sie müssen ihn freilassen. Wahrscheinlich schon heute.»

«Seine Weste ist nicht so weiss, wie du immer behauptest.»

«Was weisst du? Sag es mir, bitte.»

«Bitte, bitte», spottete David.

«Wir sollten zusammenhalten, nach dem Tod unserer Mutter.»

«Dass ich nicht lache.»

«Das ist nicht zum Lachen», sagte Susanne Brunner. Nun wurde auch sie bestimmter. «Vater hat mir erzählt, dass du kurz vor ihrem Tod im Chalet warst. Das habe ich nicht gewusst.»

«Wann hätte ich dir davon berichten sollen? Es gab ja nur noch die Beerdigung für dich.»

«David, was wolltest du im Chalet?»

Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Verwirrt blieb Susanne sitzen, den Hörer in der Hand.

6

Nach dem Frühstück hatte Mattmann endlich Zeit für sein Sportcoupé, einen Volvo, Baujahr 1972. Er hatte das Auto von seinem Grossvater geerbt und brachte es nicht übers Herz, es zu verkaufen. Für den Alltag in Schweden war es nicht geeignet, daher hatte er es in einer Garage des «Gyrenbads» abgestellt und fuhr es nur während seines Heimaturlaubs. An der Rezeption holte er bei Elise Manz die Autoschlüssel.

«Alte Liebe rostet nicht», bemerkte sie und zwinkerte ihm zu.

Mattmann fuhr mit dem Daumen über das verblichene Volvo-Logo auf dem Schlüsselanhänger und ging hinaus zu den Garagen. Das Schloss des Tors klemmte, doch schliesslich konnte er es öffnen und stand vor seinem Auto, das mit einer grauen Hülle geschützt war. Als er sie vorsichtig wegzog, kam sein weisser Volvo zum Vorschein. Eine Schönheit. Er liebte die eleganten Linien, die schwarzen Ledersitze, etwas brüchig geworden von all den Jahren; alles erinnerte ihn an seinen Grossvater, der bis ins hohe Alter mit dem sportlichen Zweisitzer unterwegs war. Sonntags durfte er als kleiner Junge mit und sass stolz auf dem Beifahrersitz.

Oft waren sie zusammen durchs Zürcher Oberland gefahren. Und einmal sogar bis nach Genf, kam ihm in den Sinn. Das letzte Stück auf der Autobahn. Sein Grossvater hatte das Gaspedal durchgedrückt, und der Zeiger des Tachometers zitterte zwischen hundertachtzig und zweihundert. Erst viel später las er, dass anlässlich der Landesaustellung 1964 der erste Abschnitt der Autobahn N 1 zwischen Lausanne und Genf eröffnet worden war. Er und sein Grossvater waren dabei. An den Besuch der Expo konnte er sich nicht mehr erinnern, nur ein Foto im Album seiner Mutter zeigte ihn als kleinen Jungen vor einem U-Boot.

Mattmann ging um den Wagen, öffnete die Motorhaube, schloss die Batterie an und kontrollierte den Stand des Motorenöls und des Kühlwassers. Dann setzte er sich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Motor hustete und wollte nicht starten. Noch einmal versuchte es Mattmann. Beim dritten Mal gab er Vollgas, der Motor heulte auf und startete. Er wartete und hörte auf das Brummen, das ihm seit Kindsbeinen vertraut war. Vorsichtig fuhr er rückwärts aus der Garage. Er war kein Autonarr, aber während seines Heimaturlaubs genoss er die Ausfahrten und die bewundernden Blicke, wenn er mit seinem Coupé auftauchte.

Er fuhr hinunter ins Tal, dann auf der Hauptstrasse durchs Tösstal Richtung Bauma. In Steg bog er links ab und nahm die engen Kurven der Passstrasse über die Hulftegg in Angriff. Es war ein strahlender Junitag. Auf der Passhöhe stieg er aus, vor ihm lag das Toggenburg und das Massiv des Säntis, das mitten in den Voralpen lag. Ein Bild wie auf einer Postkarte. Doch etwas trübte seine Stimmung. Er war ausgewandert, hatte als Auslandkorrespondent mehr als drei Jahrzehnte in verschiedenen Ländern gelebt und konnte sich nicht vorstellen, je wieder in die Schweiz zurückzukehren. Nach drei Wochen Heimaturlaub war er immer froh, wieder aufbrechen zu können.

Zum Einkehren im Gasthof Hulftegg war es noch zu früh, daher fuhr er hinunter bis zum Kloster Fischingen, dann durch Dussnang und Bichelsee, bis er zum gleichnamigen See kam.

Der Parkplatz des Strandbades war bis auf wenige Autos leer. Die Kinder waren alle noch in der Schule, nur ein paar Rentner hatten am Vormittag Zeit zum Schwimmen in diesem kleinen, zauberhaften See. Mattmann hörte das Brummen eines Rasenmähers und schaute zur Liegewiese, wo er den Bademeister entdeckte. Er setzte sich ans Ende des Tisches vor dem Kiosk und schaute über die spiegelblanke Fläche des Wassers.

Warum war Brunner verhaftet worden? Beim Leidmahl hatten sich die Zungen nach ein paar Gläsern Wein gelöst, und es war wild darüber spekuliert worden, was sich im Chalet zugetragen haben könnte. Die einen waren der Ansicht, dass Brunner alles zuzutrauen sei, während die andern meinten, er könne keinem ein Haar krümmen. «Warum schweigt er denn, wenn seine Frau einfach hingefallen ist?», hatte jemand gefragt. «Man muss die Untersuchung der Polizei abwarten», wurde entgegnet. «Die haben doch keine Ahnung», sagte ein Dritter.

Der Rasenmäher verstummte, und es wurde ganz still. Mattmann schaute sich um. Plötzlich stand der Bademeister vor ihm, seine langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

«Kaffee?», fragte er.

«Gerne», sagte Mattmann. «Und ein Sandwich.»

Nach einer Weile kam der Bademeister mit zwei Pappbechern und zwei grossen Schinkenbroten zurück. Er setzte sich Mattmann gegenüber. «Rolf», sagte er, «aber alle nennen mich Rolli.» Beide assen und tranken kleine Schlucke von dem heissen Kaffee.

«Schönes Auto», sagte Rolli kauend, «sieht man selten.» Er deutete auf den Parkplatz, wo nur Mattmanns Coupé stand.

«Ein P 1800 ES. Er wurde nur während dreier Jahre produziert.»

«Ich weiss. ‹Schneewittchensarg› nannten wir Volvo-Freaks dieses Modell.» Rolli lachte. «Mit den verglasten langen Seitenfenstern und der rahmenlosen gläsernen Heckklappe.»

«Makaber! Aber nicht ganz aus der Luft gegriffen.»

Der Bademeister verschlang den letzten Bissen seines Brotes.

«Ein Hatchback», begann Mattmann zu fachsimpeln und erklärte, dass dieses dreitürige Modell für den amerikanischen Markt gebaut worden war. Für Kunden, die einen kleinen Sportwagen suchten, in dem ihre Golfausrüstung Platz hätte.

Rolli knüllte seinen leeren Kaffeebecher zusammen, zielte damit auf den grossen Abfalleimer – und traf. «Die Rechnung bei Volvo ging offenbar nicht auf. Das weiss doch jeder, dass die Amis auf grosse Schlitten stehen. Mit diesem schlichten Coupé liess sich nicht auftrumpfen.»

Mattmann überlegte. War es das Schlichte, das er an seinem Auto so liebte? Wie er auch das schnörkellose Moderne des skandinavischen Designs und die kargen Landschaften im Norden liebte.

«Schwimmst du noch über den See?»

«Ich habe keine Badehosen dabei.»

«Und?» Rolli grinste. «Am Nachmittag ist es hier pumpevoll. Nun hast du den See noch für dich allein. Und wer weiss, wie lange das schöne Wetter anhält. Es kann noch ein Gewitter geben.»