Kapitel 5
In der ganzen nächsten Woche verbrachten Fagan und ich unsere Nachmittage auf dem Totenmann-Berg. Wir fanden keine Spur vom Sühnemann, ja, schlimmer noch: Wenn die Sonne hinter die Höhen im Westen zu sinken begann und wir zurück nach Hause mussten, hatten wir kaum Fortschritte gemacht. Es brauchte ein Menschenleben, um all die Wiesen, Wälder, Dickichte und Felsenklüfte des Berges zu erkunden, und selbst dann war nicht sicher, ob wir ihn finden würden.
„Wir geben nicht auf“, sagte Fagan, als er mein verzagtes Gesicht sah. „Wir machen weiter.“
„Was bringt das denn? Der versteckt sich doch.“ Ich setzte mich und starrte, die Tränen zurückkämpfend, zu dem wolkenverhangenen Gipfel hoch. „Er muss tausend Verstecke haben da oben.“
„Wir brauchen einen Plan, wie wir ihn aufstöbern.“
„Mit deinem Hund?“ Ich sah skeptisch zu dem betagten dürren Tier mit den weißen Haaren um das Maul hin, das sich gerade im Gras niederließ und ohne Umstände einschlief.
„Nein“, sagte Fagan. „Der ist zu alt.“ Er setzte sich und legte die Arme auf seine angezogenen Knie, die Stirn nachdenklich gerunzelt. „Vielleicht eine Falle.“
„Ach Fagan, der Sühnemann ist doch nicht so dumm wie ein Kaninchen.“
„Muss wohl stimmen.“ Seine Laune war nicht besser als meine nach all der vergeblichen Sucherei. „Wahrscheinlich beobachtet er uns von irgendwo da oben und sieht zu, dass wir ihm nicht nahe kommen. Ins Tal kommt er nur, um Sünden zu essen.“
„Und die Essenssachen auf dem Friedhof?“, sagte Lilybet, die ein paar Schritte entfernt im Farnkraut saß.
Mein Kopf ging hoch. „Was hast du da gerade von Essen gesagt?“
Fagan sah mich an. „Was?“
„Nicht du.“
Lilybet stand auf und kam zu mir. „Der Sühnemann ist doch vom Berg heruntergekommen, um das Essen zu holen, das deine Oma ihm hingelegt hatte.“
„Ja klar, richtig!“
Fagan sah mich ganz komisch an. Sein Gesicht war weiß.
Ich sprang auf und lachte. „Weißt du noch, wie Miz Elda sagte, dass meine Oma dem Sühnemann Geschenke hinlegte? Das können wir auch. Wir legen was auf Omas Grab und dann kommt er.“
Fagan sah sich um und starrte mich fragend an. „Du meinst, einen Köder auslegen?“
„Wie bei dem Kaninchen, das du für Miz Elda gefangen hast.“
Ich sah in seinen Augen, wie er an der Idee arbeitete. „Kaninchen fangen kann er sich selber“, sagte er. „Und Gemüse ziehen auch. Es muss was sein, was ihn von seinem Berg runterlockt. Kannst du ein paar Gläser Eingemachtes stibitzen?“
„Nein. Mama zählt die Gläser genau nach, die würde das merken.“
„Dann Melasse oder Maismehl. Ein, zwei Tassen weniger – das merken die nicht.“
„Was kannst du ihm bieten?“
„Das Einzige, was wir reichlich haben, ist Whisky, und damit ist Papa ebenso genau wie deine Mama mit ihrem Eingemachten. Er verkauft den Whisky an die Siedler hinter den Bergen.“
„Wie soll der Sühnemann merken, was wir da machen? Meine Oma ist jetzt schon ein paar Wochen tot.“
„Miz Elda sagte doch, dass vor deiner Oma sich keiner um ihn gekümmert hat, und ihre Geschenke hat er auch gesehen; da wird er auch unsere finden.“
Ich sah zum Berg hoch mit verdoppelter Neugierde. Ob der Mann sich nachts ins Tal schlich und durch die Fenster lugte und über die Friedhöfe ging? Schlief er vielleicht den ganzen Tag und stand erst auf, wenn es dunkel war und der Mond herauskam?
Drei scharfe Pfiffe kamen aus der Ferne. Fagan sprang auf, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen ohrenbeteubenden Antwortpfiff aus. „Muss gehen. Das war Cleets Signal.“ Cleet war sein älterer Bruder. „Du gehst besser auch nach Hause, die Sonne geht unter.“ Er sauste davon. Ich blieb allein mit Lilybet zurück.
Auf einmal hörte ich ein Krachen. Es klang gerade so, wie wenn mein Vater Holz hackte. Nanu, hier beim Totenmann-Berg wohnte doch keiner! Ich blieb sitzen und spitzte die Ohren. Da kam es wieder! Konnte es sein – war das endlich der Sühnemann? Ich rannte los, nach Westen, wo der Laut herkam.
„Morgen ist noch Zeit genug, Katrina Anice“, sagte Lilybet, die neben mir herlief. „Geh besser heim jetzt, es wird spät.“
Ich hörte nicht hin und lief weiter.
Das Rauschen des Bachs übertönte das Hackgeräusch, und ich lief etwas zur Seite, hielt an und lauschte wieder. Da kam es wieder – und dann nichts mehr. Durch einen Lorbeerschleier sah ich eine kleine Hütte direkt am Fuß des Totenmann-Bergs. Aus dem Schornstein kam eine dünne Rauchspirale. Eine schlanke Frau mit einem langen blonden Zopf trug einen Arm Brennholz zur Tür hinauf und verschwand drinnen; die Tür ließ sie offen.
Ich wäre gern noch länger geblieben, aber die Sonne sank immer tiefer hinter die Berge im Westen, und das Konzert der Grillen schwoll an. Ich musste gehen.
Als ich durch das Tal ging, rollte der Abendnebel herbei. Die Schwaden schlängelten sich durch die Bäume und kamen rasch näher. Wäre der Mond nicht gewesen, ich hätte mich verlaufen.
Auf einmal zerriss ein Schrei wie von einer Frau die Dämmerung, dass mir die Haare zu Berge standen. Ich wusste, wer dieses Geräusch machte. Ein Puma, und er war so nah, dass er mich wittern konnte. Ich musste über den Bach! Ich watete hindurch. Zweimal rutschte ich aus, dass ich von der Hüfte abwärts klatschnass war. Aber mir war egal, wie nass ich wurde, wenn ich nur diesem Räuber der Nacht entkam.
Als die Grillen verstummten, wusste ich, dass der Puma über den Bach gesprungen war und mich verfolgte. War er hinter mir oder vor mir? Ich wusste es nicht. Bloß nicht in die falsche Richtung rennen! Ich stand wie angewurzelt da und starrte in die wachsende Dunkelheit hinein.
Kein Insekt schnarrte, keine Eule rief.
Mit jedem Atemzug, den ich tat, hämmerte mein Herz schneller. Dann knackte hinter mir ein Zweig und mein Atem löste sich. Ich rannte los, was meine Beine konnten. Ich hörte das Trommeln meines Herzens und das heftige Keuchen aus meiner Lunge, sonst war alles still.
Warum hatte ich nicht auf Lilybet gehört? Warum war ich nicht nach Hause gegangen, bevor die Sonne hinter den Horizont sank? Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf, während meine Füße über den grasigen Boden schossen. Selbst das rosige Nachglühen des Tages war verschwunden, mit jeder Minute wurde der Himmel dunkler.
Meine Lungen brannten. Ich stolperte, fing mich, rannte weiter. Hinter mir kam etwas, in großen Sätzen. Ich hörte, wie es näher kam. Zweige krachten, Blätter raschelten. Ich drehte mich um und sah den dunklen Schatten, der da auf mich zuraste. Noch nie hatte ich ein Tier gesehen, das so schnell war wie diese riesige Katze. Meine Gedanken erstarrten, ich war wie angewurzelt. Wie geschmeidig das Ungeheuer sprang.
Dann kreischte es entsetzlich, von irgendetwas getroffen. Ich hörte den Schlag und sah, wie der Puma mitten im Sprung zuckte und fiel. Er stand wieder auf, böse fauchend. Er duckte sich und kroch auf mich zu, die Ohren zurückgelegt, die Zähne brüllend gefletscht. Dann ein zweiter Schlag, sodass das Untier einen Schmerzensschrei ausstieß und zur Seite ruckte, wo der verborgene Angreifer war. Ein dritter Schlag und es brüllte wütend auf, sprang fort und verschwand im Wald.
Ich stand keuchend und zitternd da, unfähig, mich zu bewegen.
„Geh jetzt heim, Cadi Forbes“, kam eine leise Stimme aus den dunklen Schatten.
Ich kannte diese Stimme. Ich hatte sie schon einmal gehört – auf dem Friedhof, in der Nacht, in der sie Oma beerdigten.
Ich konnte nicht mehr denken. Ich schrie auf und rannte, so schnell meine Beine mich trugen, weg, weg über die Wiesen. Mein Atem schoss mit jedem Schritt heraus, mein Herz dröhnte in meinen Ohren. Ich stolperte den Hang hoch, fiel hin, schlug mir die Knie auf. Ich sprang die Stufen zu unserer Hütte hoch, stürzte zur Tür hinein, knallte sie zu und warf mich gegen sie.
Papa stand neben Mama am Herd, die Flinte mit nach unten gesenktem Lauf unter dem Arm. Sie drehten sich beide heftig um, als ich hereinstürzte. Mama sah mich von oben bis unten an, schloss die Augen und drehte sich weg, den Kopf gesenkt. Ihre Schultern bebten. Papa knallte das Gewehr zurück in die Halterung und trat zu mir. Seine Erleichterung war nur kurz. „Du bist ja ganz nass.“
„Ich bin im Bach ausgerutscht, Papa.“ Das war eine Lüge, aber wenn ich ihm sagte, dass ich auf der anderen Seite des Flusses gewesen war, würde er mich versohlen. Ich zitterte immer noch wie Espenlaub und war drauf und dran, mich vor Angst nass zu machen. Ich brauchte nicht noch mehr Elend.
Er durchschaute mich. Sein Mund ging nach unten, seine Augen wurden zornig schmal. „Musst du auch noch lügen, Cadi?“
Der Ton seiner Stimme war wie ein eisiger Wind.
„Geh und wasch dich, Cadi“, sagte Mama, immer noch mit dem Rücken zu mir.
„Und dann kannst du in den Holzschuppen gehen und auf mich warten“, sagte Papa.
Mit hängenden Schultern und immer noch zitternd ging ich nach draußen. Ich sah mich sorgfältig um, bevor ich die Stufen hinunterging. Ob der Sühnemann irgendwo da im dunklen Nebel saß und mich beobachtete? Im Eimer war Waschwasser. Ich spritzte, den Blick auf den schwarzen Wald im Tal gerichtet, etwas auf mein Gesicht und meine Arme und wusch meine Hände. Ich ging bibbernd zum Schuppen, schloss mich ein und wartete in der pechschwarzen Dunkelheit auf Papa.
Er kam mit seinem Gürtel. Ich sah, dass seine Wut weg war. „Ich mach das nicht gern, Cadi.“
„Ich weiß, Papa.“
Er bestrafte mich ohne ein weiteres Wort. Ich weinte nicht, für ihn. „Es tut mir leid, Papa“, sagte ich, als er fertig war.
„Leidtun reicht nicht“, sagte er grimmig. „Das müsstest du allmählich wissen.“ Er ging.
Ich weinte. Oh, wie ich meine Sünden beweinte. Mit jedem Tag schien ihre Last schwerer zu werden. Sie schienen mich im Griff zu haben, dass ich mich selber nicht mehr verstand. Ich wollte doch das Rechte tun, aber was ich auch machte, es schlug fehl; am Ende tat ich immer gerade das Böse, das ich nicht wollte. Ich wusste genau, was ich da tat – zum Beispiel allen Warnungen zum Trotz den Sühnemann suchen –, und tat es trotzdem, ich konnte einfach nicht anders. Es war gerade so, als ob die Sünde als Herr in mir wohnte. Was ich auch tat, es war böse.
Und es würde noch schlimmer werden, denn ich würde ja nicht aufhören mit meiner Suche nach dem Sühnemann. Ich würde weitersuchen, bis ich den einen, der mir helfen konnte, gefunden hatte. Und ich würde von Mamas Eingemachtem stehlen, um ihn aus seinem Bergversteck herunterzulocken.
„Ich will aufhören, das Böse zu tun, Lilybet“, sagte ich durch meine Tränen, „aber ich schaffe es nicht. Selbst wenn ich es recht machen will, tue ich das Unrechte.“ Ich wusste, was ich Mama antat, wenn ich ein Glas von ihrem Eingemachten stahl, aber ich würde es trotzdem tun. Und Trockenbohnen und Zuckersirup und Maismehl und was sonst nötig wäre. Noch mehr Sünden, um alles wieder recht zu machen. Ich war elender als zu Beginn meiner Suche nach dem Mann, der mich erlösen konnte.
Aber hatte er mich nicht schon erlöst? Von dem Puma jedenfalls. Nur: Konnte er mich auch von all dem anderen erlösen?
„Suche weiter, Katrina Anice“, sagte Lilybet. „Hör nicht auf. Mach weiter, und du wirst den finden, den du suchst.“
„Der Sühnemann war da, Lilybet“, flüsterte ich. „Dort unten am Bach. Er muss mir gefolgt sein.“
„Ja. Er hat dir geholfen, Katrina Anice.“
„Er hat dieses Untier dreimal getroffen – so fest, dass es mich nicht mehr fressen wollte. Er muss eine Schleuder haben wie Fagan. Damit jagt er wohl.“
„Er ist nur ein armer Mensch.“
„Ich hatte solche Angst, Lilybet. Tagelang hab ich ihn gesucht – und als er vor mir war, bin ich weggelaufen!“ Ich weinte noch lauter. „Ich bin ein Trottel, eine elende blöde Ziege!“ Meine Chance war da gewesen, und ich hatte nicht den Mut gehabt, sie zu ergreifen.
Es klopfte an der Tür. „Komm wieder rein ins Haus, Cadi“, sagte Iwan.
„Papa hat gesagt …“
„Papa hat mich geschickt. Und jetzt komm.“
Die Teller waren abgeräumt. Mein Magen knurrte von dem Geruch des Essens, das ich nicht bekommen hatte. Iwans Jagdhund fraß gerade meine Portion. Ich war nicht böse deswegen. Lieber ein Essen verpassen, als dass Papa weiter böse auf mich war. Ich hatte die Schläge verdient. Wenn er mich mehr geschlagen hätte, hätte ich mich vielleicht gereinigt gefühlt und nicht so elend.
Papa sah mich kurz an. „Geh ins Bett.“ Wie müde und erschöpft er aussah.
„Ja, Papa.“ Ich war schon öfter ohne Essen ins Bett geschickt worden, aber Oma hatte mir immer etwas zugesteckt. Ich wusste, dass ich heute nichts bekommen würde; ich würde den Wolf in meinem Bauch erst am Morgen füttern können.
Ich schlüpfte in Omas Bett, zog die Decke fest über meinen Kopf und rollte mich zusammen. Ich hatte Magenschmerzen vor Hunger. Ich hatte Haferbrei zum Frühstück gegessen und war danach zu beschäftigt mit der Suche nach dem Sühnemann gewesen, um viel ans Essen zu denken. Sechs Nachmittage war ich mit Fagan Kai auf dem Totenmann-Berg gewesen und hatte keine Spur vom Sühnemann gesehen. Sechs Nachmittage!
„Geh jetzt heim.“
Er war die ganze Zeit da gewesen, so nah, dass er uns sehen konnte!
Oh, warum war ich nur weggerannt? Warum hatte ich ihn nicht angesprochen? Er war keine zwanzig Schritte entfernt gewesen, versteckt in den Schatten der Nacht, und ich war vor ihm geflohen, als wäre er der Tod in Person. Ich schämte mich meiner Feigheit. Wenn der Mann mir etwas Böses gewollt hätte, hätte er mich doch dem Puma überlassen …
Es war eine warme Nacht, und Iwan ging auf die Veranda, um dort in der Hängematte zu schlafen. Mama ging zu Bett, nachdem sie das Geschirr gespült und Kleider ausgebessert hatte. Papa saß noch eine Weile schweigend da, den Blick ins Nirgendwo gerichtet, dann folgte er ihr. Ich hörte, wie sie leise sprachen. Er klang schroff, sie klagend.
„Ich kann nicht anders“, sagte Mama.
„Doch, du kannst, das weißt du. Wie lange soll das noch so gehen?“
„Ich will so was nie mehr mitmachen.“
„Meinst du, ich?“
„Ich ertrage das nicht.“
„Da haben wir’s! Du willst, dass ich die ganze Last trage.“
„Das hab ich nicht gesagt.“
„Das brauchst du auch nicht. Du sagst es jedes Mal, wenn du mir den Rücken zukehrst.“
„Du verstehst das nicht, du versuchst es noch nicht mal.“
„Dann erklär’s mir endlich!“
„Warum ausgerechnet Elen?“
„Wäre dir Cadi lieber gewesen? Meinst du das so?“
Mama begann zu schluchzen.
„Fia“, sagte Papa, jetzt in einem anderen Ton, der mir zeigte, dass sie ihm mit ihrem Trauern das Herz aus dem Leib riss. „Fia, das geht nicht so weiter mit dir.“ Er wurde leiser, ich hörte nur noch ein sanftes Flüstern.
Aber Mama wollte sich nicht trösten lassen.
Wenn ich es gewesen wäre und nicht Elen – das wäre etwas anderes gewesen. Es war ja meine Schuld, das Unglück, das über uns gekommen war. Ich hätte es verhindern können, verhindern müssen. Miz Elda versuchte mich zu entschuldigen, weil ich ein unbesonnenes Kind war. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Ich hatte doch nicht gewollt, dass Elen etwas passierte. Ich hatte sie nur weggewünscht.
Lange nachdem Mama und Papa eingeschlafen waren, lag ich wach und dachte über meine Sünde nach, gefoltert in meiner Seele, eine Gefangene meiner furchtbaren Schuld. Ich wollte Elen sagen, dass es mir leidtat. Ich hatte mich so gefreut, als sie geboren wurde, aber sie gehasst, als sie Mamas Liebe von mir wegnahm. Es war immer schlimmer geworden.
„Pass gut auf Elen auf“, sagte Mama immer. „Auf unseren kleinen Engel.“ Und wenn Elen weinte: „Gib ihr deine Puppe, Cadi, kannst sie ruhig ein bisschen mit ihr spielen lassen.“
Meine Kehle wollte sich zusammenziehen. Ich war noch lange wach und flüsterte mit Lilybet. „Glaubst du, sie kann mich hören, Lilybet? Papa hat gesagt, Leidtun genügt nicht, aber ich möchte, dass sie es weiß. Sie hat nie was richtig Böses getan und ich war so gemein. Ich wollte nicht, dass sie immer mitging. Und an dem Morgen …“
„Mit wem redest du, Cadi?“, fragte Papa mich von der anderen Seite des Raumes.
Ich sah seinen großen Schatten, wie er aufrecht im Bett saß. „Lilybet.“
„Sag ihr, sie soll gehen.“
Ich atmete langsam aus und ließ meinen Kopf hängen. „Sie ist weg, Papa.“
„Ich will nicht, dass du noch mal mir ihr redest. Hörst du?“ Er war wütend.
Mir kamen die Tränen. „Ja, Papa.“
„Nie mehr. Hörst du?“
„Ja, Papa.“ Ich wusste genau, dass ich nicht vorhatte, es nie mehr zu tun.
„Hör endlich auf, verrücktzuspielen. Und jetzt schlaf wieder.“
Ich vergrub mich wieder unter der Decke und schloss die Augen.
„Er versteht das nicht, Cadi“, flüsterte Lilybet. „Aber eines Tages werden er und deine Mama alles verstehen. Und du auch.“ Ich klammerte mich an dieses Versprechen und schlief ein.
Kapitel 6
Papa stand auf, als es noch dunkel war, und ging hinaus die Kuh melken. Als er wiederkam, weckte er Iwan. Mama gab ihnen ihren Haferbrei, dann gingen sie auf die Felder. Ich machte den Abwasch, während Mama in den Garten ging. Ich beeilte mich, so gut es ging, und dann stahl ich ein Glas Beereneingemachtes, das ganz hinten auf dem Brett stand. Ich stellte es auf den Tisch und schob die übrigen Gläser so zurecht, dass man nichts merkte. Ich lugte zur Tür hinaus, um sicher zu sein, dass keiner mich sah, dann schlüpfte ich hinaus, um die Ecke des Hauses herum und rannte den Hang hinauf in den Wald. Ich versteckte das Glas in einem Farnkrautdickicht.
Als ich die Hühner gefüttert hatte, schickte Mama mich zum Unkrautjäten in den Garten, während sie zum Bach ging, um Wasser zu holen. Papa hatte ihr den großen Eisentopf hinausgestellt. Sie goss einen Eimer nach dem anderen von dem frischen Bachwasser hinein, dann weichte sie die einzelnen Kleidungsstücke ein und fing an, Seife in die schmutzigen Stellen zu reiben und die Kleider auf dem Waschbrett zu schrubben. Ich trug inzwischen neues Wasser herbei und goss es in den Spülbottich.
Als wir die Kleider fertig gespült und den Topf und den Bottich mit dem Eimer leer geschöpft und das Schmutzwasser über die Sämlinge ausgegossen hatten, war die Sonne schon ein ganzes Stück den Himmel hochgeklettert. Mama zog ein paar Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln heraus, legte sie in ihren Korb und hielt ihn mir hin. „Wasch das im Bach, während ich das Fleisch hole.“ Sie ging zum Wasserhaus, wo Papa das Pökelfleisch aufbewahrte.
Als ich von unserem Bach zurückkam, hing der Topf mit dem Pökelfleisch schon über dem Feuer, und Mama war dabei, den Brotteig, den sie vor der Wäsche gemacht hatte, durchzukneten. Ich stellte den Korb auf den Tisch, schaute ihr zu und hoffte auf ein freundliches Wort. Sie sah zu mir hin, als ob meine Gegenwart sie störte, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Sommer stand vor der Tür, es wurde mit Macht wärmer. Papa und Iwan waren jetzt bestimmt mit der Feldarbeit fertig und fischen gegangen.
„Du kannst gehen“, sagte Mama kalt und ohne mir ins Gesicht zu sehen.
Ich holte das gestohlene Einmachglas und ging schnurstracks zum Friedhof. Mit angehaltenem Atem ging ich durch das Tor. Meine Angst legte sich bald in der gnädigen Stille. Auf dem Erdhügel über Oma Forbes’ Grab wuchs schon saftiges grünes Gras. Am Kopfende war ein glatter, bunter Flussstein von der Größe eines großen Kürbisses; den hatte wohl Papa aufgestellt. Ich stellte das Glas darauf, setzte mich und vergrub mein Gesicht in den Armen. Meistens war meine Trauer erträglich, aber dann schoss sie manchmal unerwartet hoch, dass sie mich fast erstickte.
Lilybet kam und setzte sich neben mich. „Sie hatte keine Angst zu sterben, Katrina Anice. Sie war müde.“
„Es war zu schwer, in einem Haus voller Trauer und Totenstille zu leben. Sie wollte Frieden. Jetzt hat sie ihn.“
„Ja, das hat sie“, sagte Lilybet.
„Ich wollte nur, sie wäre noch da.“
„Sie könnte dir nicht helfen.“
„Erinnerst du dich an den letzten Tag, wo sie so still war? Da dachte sie über ihr Leben nach. Sie vermisste das schöne Tellerkraut in der Bärensuhle.“
„Sie vermisste noch mehr, Katrina Anice.“
Ich legte mich müde neben den Erdhügel und ließ meine Finger über das frische Gras gleiten, das aus der warmen Decke, die über Oma lag, herauskam. Wie er wohl war, der Schlaf der Ewigkeit? Ob Oma träumte? An manchen Abenden ging ich so müde zu Bett, dass ich mich am nächsten Morgen an nichts aus der Nacht erinnern konnte. War der Tod auch so – ein traumloser Schlaf, aus dem man am Jüngsten Tag erwachte, als ob nur ein Augenblick vergangen wäre? Oder war er ein Schlaf voller ängstlicher, wirrer Träume?
„Wie ist der Tod, Lilybet?“
„Ich weiß nichts über den Tod, Katrina Anice. Ich kenne nur das Leben. Richte dein Herz darauf.“
„Der Tod ist überall um mich herum.“ Nicht nur hier auf dem Friedhof, sondern überall.
„Und das Leben auch. Du musst wählen.“
Ich kam nicht recht klar mit Lilybet. Mal schien sie ein Kind wie ich zu sein, dann wieder älter noch als Miz Elda. Sie wollte mir etwas zeigen, etwas Wichtiges, was alles anders machen würde, aber was war das nur? Ich war so müde von der letzten Nacht – zu müde, um richtig nachzudenken. Vielleicht begriff sie nicht, wie ich das mit dem Tod meinte, denn der Tod, das war ein Gefühl ganz tief in mir drinnen. Selbst unten in den sonnigen Wiesen des Kai-Tals spürte ich sie noch, die dunklen Mächte, die uns umgaben. Die Sünde, die ich getan hatte, war furchtbar, aber da war noch mehr – so viel mehr, was ich nicht verstand. Ein Teil von mir wollte das Unbekannte finden, das ich da suchte, aber ein anderer Teil schrak zurück vor dem bloßen Gedanken, dass etwas anders werden könnte.
Es war so ähnlich, wie wenn sich die Wolken auftürmen und die Luft einen niederdrückt, bevor der Himmel sich öffnet und seine Blitzpfeile auf die Berge schießt. Manchmal brütete eine Macht in der Luft, dass mir das Haar zu Berge stand und meine Haut prickelte. Es hatte mit Gott zu tun, aber da waren noch andere. Geister und Dämonen, hatte Oma immer gesagt. Und ich stand dazwischen – die Hölle so nah, dass ich ihre schwarze Hand fühlen konnte, und der Himmel so weit weg …
Und irgendwie und irgendwo hatte der Sühnemann den Schlüssel. Wenn ich ihn nur finden konnte.
Ich ließ das Beerenglas auf dem Grab, ging wieder zum Tor hinaus und versteckte mich im Farnkraut, wo ich den Sühnemann sehen konnte, wenn er kam, aber er mich nicht.
Und ich wartete. Und wartete, während die Sonne höher und höher stieg.
Ich legte mich gähnend auf den Rücken, die Knie angezogen und die Hände hinter dem Kopf gefaltet, und schaute durch das grüne Dach zum blauen Himmel hoch. Vögel huschten von Zweig zu Zweig, drehten den Kopf und zwitscherten und flogen fort. Und die Hitze stürzte durch die Bäume und drückte auf meine Augenlider. Ich legte mich so auf die Seite, dass ich zum Friedhof hinschaute. Ich schob einen Farn zur Seite, damit ich das Beerenglas sehen konnte. Wenn der Sühnemann kam, würde ich ihn sofort sehen, ohne von meinem weichen Waldbett aufstehen zu müssen.
***
Ich wachte auf, als die Sonne sich auf mein Gesicht stahl. Wo war ich? Warum schlief ich auf dem nackten Boden? Dann erinnerte ich mich und setzte mich hastig auf und lugte vorsichtig durch das Farnkraut. Das Glas stand noch so da, wie ich es hingestellt hatte. Ich ließ die Farnwedel enttäuscht zurückfedern. Es war ein frommer Wunsch gewesen, dass der Sühnemann so bald kommen würde. Falls er überhaupt kam.
Ich verließ meinen Posten und ging zu Miz Elda.
Miz Elda saß im Schatten auf ihrer Veranda. „Hat’s geklappt?“, fragte sie. Ich brauchte sie nicht zu fragen, was sie meinte.
„Nein, Ma’am. Der Berg ist furchtbar groß und der Mann will sich nicht finden lassen.“
„Dann hast du schon aufgegeben? Gott hat in sechs Tagen die Welt erschaffen, und du suchst acht Tage eine einzige Menschenseele auf einem Berg und findest sie nicht.“
„Ich gebe nicht auf. Ich hab Eingemachtes auf Omas Grab gelegt, wie sie es auch gemacht hat.“
„Gestohlen, wie?“
Ich ließ den Kopf hängen.
„Wenn’s nicht dir selber gehört, ist es kein großes Opfer. Wie bei den Blumen, die du mir auf meiner eigenen Wiese gepflückt hast.“
Die Hitze der Scham stieg in mein Gesicht. Meine Augen waren heiß, meine Kehle schnürte sich zusammen. „Ich hab doch nichts, was ich ihm geben könnte.“
„Du hast nur noch nicht richtig nachgedacht.“ Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und schaukelte langsam.
Meine Seele war am Boden zerstört. Ich ging die Beete ihres Gemüsegartens entlang, zupfte hier und da ein Unkraut raus und ging wieder fort. Ohne zu merken, wie, war ich auf einmal wieder am Fluss. Ich folgte ihm bis zu den Schnellen und der Baumbrücke, die man mir verboten hatte.
Solange ich mich zurückerinnern konnte, hatte es mich an diese Stelle gezogen. Auf dem anderen Flussufer lag der Pfad, der aus unserem Tal hinausführte. Um zu ihm zu gelangen, überquerte man im Kai-Tal, wo er seichter wurde, den Fluss. Die Schnellen waren lebensgefährlich, aber schön. Wie das Wasser schäumend und wirbelnd über die Felsen schoss und in das tiefe Becken unten stürzte – es hatte mich immer fasziniert. Iwan war der Erste gewesen, der mir die Schnellen gezeigt hatte. Mama hatte ihn ausgeschimpft deswegen. Die Schnellen waren gefährlich und sie waren „die Tür zur Welt draußen“. Als guter Junge hatte Iwan mich nicht mehr dorthin mitgenommen. Das war auch nicht nötig, denn ich ging selber. Ich schob mich auf dem Bauch ganz an den Rand des Wasserfalls und lugte nach unten, und das Tosen des Wassers ließ mein Herz rasen.
Der Pfad auf der anderen Seite … Das erste Mal hatte ich mich in dem Jahr, wo Elen geboren wurde, über die Baumbrücke gewagt. Ich war damals sechs, und Mama hatte keine Zeit für mich, ließ mich (wie ich fand) ihre halbe Arbeit machen und schmuste die ganze Zeit mit meinem Schwesterchen. Noch nie hatte ich solche Angst gehabt wie an dem Tag, als ich mich Stückchen um Stückchen über die Brücke schob. Ich stellte mir vor, wie ich hinunterfiel und wie die tobende Strömung mich packte, hinabzog und an den Steinen zerschmetterte, bevor sie mich über den Wasserfall schießen ließ. Ich zitterte so, dass ich mich rittlings auf den Stamm setzen musste und mich so hinüberbugsierte.
Beim zweiten Mal war ich schon acht und mutiger.
Danach überquerte ich die Schnellen einige Dutzend Male und folgte dem Pfad zu dem kleinen See unter den Fällen. Es war eine verwunschene Stelle mit Farnkraut, Azaleen, Rhododendren und himmelsstürmenden Kiefern. Der See war tief und blau, das Wasser kalt und klar. Aus dem Felsenbassin schoss es über die nächsten Felsen weiter, drehte sich nach Süden und setzte seine stürmische Fahrt fort. Bis zum Meer, sagte Papa. Wie alle Flüsse floss auch unserer in das große Meer.
Im letzten Jahr waren Papa und Iwan den Fluss hinabgewandert. Fünf Tage waren sie fort gewesen, ohne etwas mitzubringen.
Die Luft war noch schwerer geworden, die Wolken wurden dunkler. Weit weg blitzte es, dann rollte der Donner. Bald würde es regnen, wie so oft an schwülen Nachmittagen. Es regnete nie lange, nur genug, um die Berge zu begießen und am nächsten Morgen den Nebel hochsteigen zu lassen.
Als ich so über den Fällen stand, sah ich, wie unten am anderen Ufer eine Gestalt im Moos kniete und sich zum Wasser hinabbeugte, um zu trinken. Ich duckte mich unter die herabhängenden Zweige der Felsenbirne. Erst dachte ich, dass der Mann ein Indianer war, denn ich hatte gehört, dass sie ihr Haar lang trugen und Lederhosen anhatten. Dann richtete er sich wieder auf, und ich sah, dass er so hellbraun wie Papa war und einen Bart hatte. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, legte den Kopf schräg und sah in meine Richtung, als ob er spürte, dass ich da war. Ich trat hastig zurück, aber so, dass ich noch sehen konnte, wie er den steilen Pfad hinaufstieg, der ihn in unser Tal brachte.
Die Neugierde war stärker. Ich huschte über die Baumbrücke und in die dichten Sträucher am anderen Ufer. Wer war der Fremde? Warum kam er hierher? Der einzige Fremde, den ich bisher in unserem Tal gesehen hatte, war Lilybet. Ich musste mir den Mann ansehen!
„Die Stimme des Herrn erschallt über die Meere, der erhabene Gott lässt den Donner grollen. Er ist der Herr, der über den Weiten des Ozeans thront. Wie gewaltig ist seine Stimme, wie herrlich und furchtbar zugleich! Ja …“ Er drehte sich von mir weg und schaute mit hocherhobenen Händen zum Himmel hinauf. Seine Stimme dröhnte wieder, dass ich eine Gänsehaut bekam. „Sie erschüttert die Wüste … Sein Donnergrollen lässt die Eichen schwanken, sein tosender Sturm reißt ganze Wälder kahl. In seinem Tempel rufen alle: ‚Ihm gebührt die Ehre!‘“ Ich drückte mich zitternd tiefer in den Farn und unter die Zweige und kauerte mich hin, mäuschenstill. Mein Herz hämmerte. War Gott in unser Bergtal gekommen? Oder jemand, den der Allmächtige selber schickte?
Mit jedem Schritt wurde die Stimme des Fremden lauter. „Dem Herrn gehört die ganze Welt und alles, was auf ihr lebt.“ Dann war er weiter weg, sodass ich ihn nicht hören konnte. Ich kroch durch das Gesträuch über ihm, die Ohren gespitzt. Ich durfte mich nicht zu nah heranwagen, damit er mich nicht sah.
„‚Hebt euch aus den Angeln, ihr Tore! Öffnet euch weit, ihr alten Portale, denn der König will einziehen, die höchste Majestät!‘ ‚Wer ist denn dieser mächtige König?‘ ‚Es ist der Herr über Himmel und Erde. Er ist der mächtige König!‘“
Der Mann blieb stehen, hob die Hände hoch und legte seinen Kopf zurück. Seine Stimme erschallte wieder: „Höre mich, wenn ich rufe, oh Gott! Herr Jesus, erhöre mein Gebet! Gib acht auf mein Schreien, mein Gott und König, denn zu dir allein bete ich! Du bist ein Gott, der kein Gefallen hat an Ungerechtigkeit, und es wohnt Ungerechtigkeit in diesen Bergen. Bei dir, oh Herr, darf nichts Böses wohnen, die Sünder bestehen nicht vor dir. Du hasst alle, die das Unrechte tun, du wirst die Übeltäter richten!“
Es blitzte, dass mir das Haar zu Berge stand und Eisesschauer den Rücken hinabschossen. Der Donner des Himmels antwortete dem Mann. Ich musste hier weg. So schnell ich konnte, schob ich mich durch das Unterholz.
Er musste mich gehört haben, denn er rief: „Wer ist da?“
Ich beschleunigte meine Schritte. Ich sprang auf den Pfad und rannte zu der Baumbrücke. Ich musste wohl viel Lärm dabei machen, denn er folgte mir. Gleich würde er einen Blitzstrahl auf mich schleudern und dann wäre ich tot.
„Kind, warte!“
Ich sprang fast so heftig wie mein Herz. Vier Sprünge brachten mich über den Baum an das andere Ufer, vier weitere in den Wald. Ich versteckte mich im dichten Unterholz und schaute zitternd zu, wie der Mann auf der anderen Seite der Schnellen stehen blieb. Seine Lippen bewegten sich. Rief er einen Fluch Gottes auf mich herab? Ich schloss keuchend die Augen, klammerte mich an den Baumstamm, hinter dem ich saß, und wartete auf den Blitzstrahl.
Er kam nicht. Als ich endlich wieder meine Augen öffnete, war der Fremde fort.
Ich rannte, bis ich den Friedhof erreichte. Das Eingemachte war weg. Ein Augenblick Hoffnung – dann sah ich die Fußspuren und mein Herz sank. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen; ich wusste, was mich dort erwartete.
***
Der Regen schoss seine eisigen Tropfen auf mich herab. Ich wusste, dass das Gewitter bald vorüber wäre. Als wieder die Sonne schien, ging ich in die Wiese unter Miz Eldas Haus, um mich zu trocknen. Es war so warm, dass Dampfschwaden von meinem dünnen Kleid hochstiegen, während ich Tausendschön pflückte, die Tropfen von ihnen abschüttelte und sie zu einem Kranz flocht. Ich flocht noch Engelsaugen, wilde Möhren und Berglorbeer hinein.
Als ich endlich nach Hause kam, saß Mama draußen auf Omas Stuhl. Ihr Gesicht war bleich und starr. So hatte sie noch nie ausgesehen und ich bekam Angst. Papa und Iwan waren noch nicht vom Fischen zurück und wir waren allein. Ich hielt ihr meinen Blumenkranz hin. Vor einem Jahr hätte sie ihn genommen und mir einen Kuss gegeben. Jetzt sah sie ihn an, zuckte zusammen und erhob sich. Sie drehte sich um und ging in das Haus, ich hinterher. Das Glas mit den Beeren stand mitten auf dem Tisch.
„Mit dir hab ich nichts als Elend, Cadi. Du warst schon immer so störrisch, schon bei deiner Geburt. Zwei Tage Arbeit hatte ich mit dir, fast wäre ich gestorben …“ Sie holte schluchzend Luft. „Du warst immer ein ungezogenes Kind, das das tat, was es nicht sollte. Und jetzt bist du auch noch ein Dieb, der seinen eigenen Lieben das Essen vom Mund stiehlt.“
Ich hatte keine Verteidigung gegen ihre Worte – die ersten, die sie nach langer Zeit an mich richtete. Wie ein heißer Strom kamen sie herausgestürzt. Sie packte meine Arme und schüttelte mich, dass ich dachte, mein Hals würde abbrechen. „Was hast du auf dem Friedhof gemacht?“ Ihre Finger gruben sich in meine Haut, sie rüttelte mich vor und zurück. „Du denkst auch nie, bevor du etwas tust! Du denkst nie an das Böse, das daraus kommen kann, du tust einfach, was dir in den Sinn kommt!“
Sie ließ mich los und riss mir den Blumenkranz aus der Hand. „Denkst du, ein paar Blumen können alles ungeschehen machen?“ Sie zerriss den Kranz. „Mit so was willst du es wiedergutmachen?“ Sie riss die Blumen mit zitternden Händen heraus, bis sie alle um ihre Füße herum verstreut auf dem Boden lagen. „Denkst du, ein bisschen Leidtun reicht? Das ändert nichts! Ich wollte … ich wollte …“ Sie hielt inne, ihr Gesicht plötzlich bleich von dem wimmernden Heulen, das den Raum erfüllte.
Meine Hände packten meinen Kopf und das Heulen ging weiter. Ich weiß nicht, wann ich merkte, dass es von mir kam, aber ich konnte nicht aufhören. Die Klage kam tief aus mir drinnen, wo etwas in Scherben lag. Ich konnte nur dastehen, den zerfetzten Kranz und Mama anschauen und heulen.
Sie machte zitternd einen Schritt zurück, ihr Gesicht verzerrte sich. Sie schaute auf den Boden. „Ohhh …“ Sie fiel auf die Knie, packte ihren Kopf und schaukelte hin und her und ich verstummte.
„Was geht hier vor?“, sagte Papa aus der Tür. Als er Mama sah, kam er rasch herein und riss mich von ihr weg. „Was machst du da, Cadi? Geh nach draußen! Geh raus, fort!“
Er brauchte es mir nicht zweimal zu sagen.
***
Es war Iwan, der mich in der Scheune fand. „Mama geht’s wieder gut“, sagte er, als er sich neben mich setzte. „Sie hat nicht gesagt, was du gemacht hast, dass sie so daneben war. Willst du es mir sagen?“ Als ich meinen Kopf schüttelte, streichelte er sachte über mein Haar. „Mama sagt, du sollst zum Essen reinkommen.“
„Ich hab keinen Hunger.“
„Bist du krank?“
Ich sah achselzuckend zur Seite und spielte weiter mit einem Strohhalm. Ja, ich war krank. Im Herzen.
Er zog einen Halm aus meinem Haar. „Mama sagt, du sollst kommen, ob du Hunger hast oder nicht.“ Er nahm meine Hand.
Wir saßen stumm um den Tisch herum. Selbst Papa schien keinen großen Appetit zu haben. Er sagte, dass er bald wieder zum Handelsposten hinuntermüsste, um Pulver und Kugeln zu kaufen; Mama sollte ihm sagen, was sie brauchte, er würde es ihr besorgen. Als ich aufstand, um abzuräumen, sah Mama mich einen langen Augenblick an. Ich spürte ihre Augen in meinem Rücken. Sie stand still auf und setzte sich draußen in Omas Stuhl. Den ganzen Abend blieb sie dort und starrte den dunkler werdenden Himmel an. Ich war schon lange im Bett, als sie endlich wieder hereinkam.
Ich lag unter Omas Decke und hörte, wie sie durch den Raum ging, während Papa schnarchte. Sie ging ins Bett, dann stand sie wieder auf. Ich hörte, wie sie sich an den Vorratsregalen zu schaffen machte. Ob sie noch einmal die Gläser und Töpfe zählte, um zu sehen, was ich noch alles gestohlen hatte? Ich kroch noch tiefer unter die Decke.
„Cadi?“
Es hatte wohl keinen Zweck, wenn ich mich schlafend stellte. Ich zog die Decke ein Stückchen herunter. Was würde sie mir jetzt sagen?
„Nimm es.“ Sie legte das Beerenglas neben mich. „Ich will, dass du es nimmst.“ Ihre Stimme war leise. Sie blieb noch einen Augenblick stehen. Ihre Hand kam zu mir, als ob sie mich berühren wollte, dann ging sie zurück in ihr Bett.
Am Morgen brachte ich das Glas zurück auf den Friedhof.
Kapitel 7
Brogan Kai und seine beiden älteren Söhne kamen, um mit Papa zu sprechen. Ich war auf der Veranda und schälte Mais; Mama saß drinnen und spann. Sie hatte den Hund bellen gehört und mich gefragt, was los war. Danach war sie wieder in ihre eigenen Gedanken versunken, wie meistens. Sie dachte wohl an die alten Tage, wo Elen noch lebte.
Fagans Vater sah so grimmig aus wie kein anderer, den ich je gesehen hatte. Seine Haare und Augen waren dunkel, und er war einen Kopf größer als Papa und stämmig und hart. Sein bloßer Anblick machte den meisten Menschen Angst, und Cleet und Douglas schlugen ihm nach. Ich fragte mich, wie Fagan es wagen konnte, sich ihm zu widersetzen – Fagan, der im Vergleich zum Rest seines Clans so klein war. Fagan hatte die blauen Augen seiner Mutter. Iwan hatte einmal gesagt, dass Fagan wie ein Falke war, der in ein Adlernest hineingeboren war.
Alle drei Kais trugen ein Gewehr über der Schulter. Ob sie wieder jagen wollten? Sie jagten ständig. Einmal im Jahr zogen sie los, um Felle zu verkaufen, aber viel damit zu verdienen schienen sie nie.
Es beunruhigte mich, dass sie so lange mit Papa redeten. Die Kai-Männer kamen selten zu Besuch, und alle zusammen sah man nur, wenn jemand gestorben war und sie zur Totenwache kamen.
Oder wenn es Probleme gab. Zum Beispiel jetzt, nach Papas Miene zu urteilen.
Als sie wieder fort waren, kam Papa zum Haus. „Es ist ein Fremder in unserem Tal, Cadi. Wenn du ihn siehst, lauf weg. Hörst du?“
„Ja, Papa, aber warum?“ Ich hoffte, dass er meine Ängste in Worte fassen würde, aber er sah mich finster an.
„Frag nicht so viel, warum. Tu, was man dir sagt. Du hast jetzt genug geschält, geh spielen. Aber bleib in der Nähe, ja? Deine Mama ruft dich, wenn sie so weit ist.“
Er hätte auch gleich sagen können, dass er alleine mit Mama reden wollte, ohne dass ich es mitbekam. Ich stellte die Schüssel ab und ging die Stufen hinunter, als ob ich auf die Wiese wollte. Aber kaum war Papa drinnen, sauste ich um die Ecke und hockte mich unter das Fenster, das Mama immer offen ließ, wenn sie spann. Ich musste wissen, was die Kais über den Gottesmann gesagt hatten! Und wenn ich Prügel bekäme dafür und in den Holzschuppen müsste, ich musste es hören.
„Ein Fremder ist gekommen“, sagte Papa. „Der Kai sagt, er kampiert in der Mitte des Tals beim Fluss und behauptet, er sei im Namen des Herrn gekommen.“
Das Surren des Spinnrads hörte nicht auf. „Was sollte Gott von uns wollen?“ Die Bitterkeit in Mamas Stimme war geradeso deutlich wie früher ihr Lachen.
Papa sagte eine kleine Weile nichts, dann sprach er weiter. „Der Kai sagt, der Mann ist verrückt; faselt, dass wir alle böse sind und Erlösung brauchen. Der Kai sagt, wir sollen uns von ihm fernhalten.“
Für mich klang das komisch, da Mama doch sowieso nie mehr zum Fluss hinunterging. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ihn zu sehen. Sie wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, ihn zu überqueren, um irgendeinem Fremden zuzuhören.
„Wenn er gefährlich ist, warum vertreiben sie ihn nicht gleich wieder?“
„Brogan hat ihm eine Bedenkzeit gegeben. Denkt wohl, dass er von selber wieder geht, wenn ihm niemand zuhört.“
„Und wenn er nicht geht?“
„Dann wird der Kai sich um ihn kümmern. Es sind schon früher Fremde gekommen; lange geblieben ist keiner.“
Ich konnte mich nicht erinnern, je einen Fremden in unserem Tal gesehen zu haben; Papa sprach wohl von den Zeiten, als ich noch nicht da war. Ob Iwan etwas wusste? „Wenn er nicht gefährlich ist“, sagte Mama, „warum lassen sie ihn dann nicht in Ruhe?“
„Das Land ist schon verteilt, wir haben keinen Platz mehr.“
„Das ist nicht der Grund, das weißt du genau.“
„Grund genug. Willst du, dass Fremde hierherkommen und ihre komischen Ansichten mitbringen? Die Kais und die Forbes und die Humes und all die anderen sind in diese Berge gezogen, um ihre Ruhe zu haben. Wir haben unsere altbewährten Sitten, Fia, das weißt du.“
„Unsere Sitten? Ich finde, dass Brogan ein härterer Tyrann ist als …“
„Sprich nicht so, Fia.“
„Sie haben doch getan, was er wollte, oder nicht? Und jetzt sind wir verflucht dafür.“
„Wir sind nicht verflucht, red nicht solchen Unsinn.“
„Drei Kinder tot, Angor! Wie nennst du das denn? Drei.“
Ich hörte, wie sie losweinte.
„Bei anderen sind die Kinder am Fieber gestorben, Fia. Du solltest unsere Segnungen zählen, anstatt immer nur zu trauern. Wir können für so vieles dankbar sein! Wir haben Iwan und Cadi.“ Seine Stimme wurde etwas weicher. „Denk doch mal an die.“
„Iwan ist so gut wie aus dem Haus. Sobald er alt genug ist, wird er gehen. Und Cadi? Was habe ich von der, so verrückt wie sie ist?“
„Sie ist nicht verrückt!“
„Wie nennst du das denn, wenn sie die ganze Zeit mit der Luft redet?“
„Vielleicht hat die Heilerin recht und sie unterhält sich mit einem Geist.“
„Sag nicht so was!“
„Das sollte dich eigentlich trösten, Fia“, sagte er und seine Stimme war kalt und grausam. „Vielleicht heißt das, dass Elen doch nicht von uns gegangen ist.“
Mama weinte heftiger und meine Schuld wuchs ins Unermessliche. Wegen mir stritten sie sich so! Ich setzte mich mit dem Rücken zur Hauswand und schlug die Hände vor mein Gesicht.
„Halt dich einfach von dem Mann fern, wie ich dir gesagt hab“, sagte Papa. „Du glaubst an Gott wie ich auch. Wir brauchen keinen, der uns erlöst, und schon gar nicht jemand, der uns noch mehr Lasten auflegt, wir haben schon mehr als genug.“
„Woher weißt du, dass er darüber spricht?“
„Der Kai hat ihn angehört; das reicht mir.“
„Brogan hat sein eigenes Süppchen zu kochen.“
Papa schwieg einen Augenblick. „Wenn der Fremde zu uns kommt, schick ich ihn fort.“
„Und wenn du und Iwan gerade jagen seid?“
„Verriegel die Tür und gönn ihm kein Wort. Iwan macht das Gleiche, wenn ich nicht da bin.“
„Hast du es Iwan schon gesagt? Wann? Ich dachte, er ist jagen.“
„Er war bei den Byrneses, als Brogan vorbeikam.“
„Was machte er denn da?“
„Cluny wird bald erwachsen, hast du das noch nicht gemerkt?“
„Cluny?“ Mama klang traurig.
„Kopf hoch, Fia. Vielleicht ist sie die Kette, die ihn an dieses Tal binden wird, vielleicht geht er doch nicht.“
Ich hörte, wie Papa durch den Raum und die Stufen hinunterging. Mama weinte. Ich drückte mich hoch und rannte in den Wald, rannte und rannte, dass die Zweige mir ins Gesicht peitschten, bis ich zu erschöpft war, um weiterzugehen. Ich ließ mich keuchend gegen den Stamm einer großen Fichte sinken und wünschte mir, auf der Stelle sterben zu können, damit ich nie mehr hören musste, wie meine Eltern sich stritten.
Der Vogelgesang und der Wind in den Wipfeln ließen mich ruhiger werden. Ich wanderte den Hang hinunter und setzte mich in die Sonne. Um mich herum streckten die Gänseblümchen ihre gelben Gesichter zur Sonne hin. Ich legte mich hin und schaute zu den langsam vorbeisegelnden Wolken hoch. Eine sah aus wie ein schlafender Hund, eine andere wie ein Mensch, der im Gras saß und einen Arm zum Horizont hinstreckte.
Ich musste an den Gottesmann denken. Warum war er in unser Tal gekommen, und warum wollte der Kai, dass niemand ihm zuhörte? Mein alter Trotz muss mich wohl wieder geritten haben, denn was sonst hätte mich dazu bringen können, dass ich plötzlich aufstand und zum Fluss hinunterging, obwohl ich solch eine Angst vor beiden Männern hatte?
Mein alter Suchergeist, der dauernd suchte, was er nicht fand: einen Weg zurück in die Zeit, bevor …
Ich würgte den Gedanken ab. Der Kai hatte befohlen, und Papa sagte, wir sollten ihm gehorchen. Warum also drängte mich etwas tief drinnen in mir, den Fremden anzuhören? Gott hatte ihn geschickt, und wer konnte sich gegen Gott stellen? Sah und hörte Gott nicht alles, brachte er nicht das Gericht? War ich nicht schon längst gerichtet?
Ich ging weiter, bis ich am Waldrand stand. Eine Rauchspirale stieg in die Morgenluft, und neben ihr saß ein Mann, der einen Fisch briet. Mein Herz beschleunigte sich. Ich holte tief Luft und schlich mich näher, zuletzt auf allen vieren. Ich schluckte meine Angst hinunter und kroch durch das hohe Gras, bis ich das Gesträuch am Flussufer erreicht hatte. Ich schob mich noch näher und lugte die Uferböschung hinab und über das Wasser zu dem Mann, der mit geneigtem Kopf dasaß. Er aß, dann stand er auf, wusch sich die Hände und setzte sich wieder.
„Herr, ein Tag in den Vorhöfen deines Tempels ist mehr wert als tausend andere“, flüsterte es. Ich sah mich um. Da stand Lilybet. Ich hatte Angst, dass er sie sehen würde, und bedeutete ihr, sich zu setzen und still zu sein. Sie legte sich neben mich auf den Bauch.
„Er weiß, dass wir hier sind, Katrina Anice.“
„Ich war ganz vorsichtig.“
„Und hartnäckig.“
„Ist das so falsch?“
Sie lächelte. „Du bist nicht weit weg von der Wahrheit.“
„Wie lange bist du schon hier?“
„Seit dem Tag, als du mich am Fluss gesehen hast.“
Manchmal machte das, was sie sagte, keinen Sinn.
Ich hörte ein Rascheln und zuckte zusammen. Manchmal krochen Mokassinschlangen durch das Unterholz am Flussufer. Ich blickte mich um, jeder Muskel angespannt. Es war Fagan. Als er mich sah, schrak er kurz zusammen. Er war auf dem Bauch durch das Gras gekrochen, geradeso wie ich.
„Was machst du hier?“, zischte er und sah mich empört an.
„Das könnte ich dich auch fragen!“, flüsterte ich zurück.
„Hat mein Vater nicht gesagt, du sollst hier nicht hin?“
„Ja, und dir auch, nicht?“
Sein Mund presste sich zusammen. Er hatte diesen entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er begann, auf den Ellbogen weiterzukriechen, bis er neben mir war, wo Lilybet gelegen hatte. So freimütig sie bei mir war, so schüchtern war sie gegenüber anderen. Und merkwürdig und unbegreiflich.
Eigentlich war ich froh, dass Fagan bei mir war. Sollte er es ruhig merken. „Ich hab ihn gesehen, als er die Schnellen raufkam, auf dem Pfad.“
„Und?“
„Er sprach mit Gott. Und Gott antwortete.“
„Du spinnst.“
„Ich spinne nicht!“
„Pssst!“