SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7489-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5934-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH ·
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Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Weiter wurden verwendet:
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT).
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen (NLB).
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe, © 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart (EÜ).
Hoffnung für alle® © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (Hfa).
Gesamtgestaltung: Dietmar Reichert, Dormagen
Titelbild: Collage Reichert design: © Dietmar Reichert; Covershooting: © Stefan Bukovsek/Stephan Schulze; © VPhoto; © gillmar; © ilolab
Autorenfoto: © Stefan Bukovsek
Bilder im Innenteil: © Arno Backhaus
Über den Autor
Dank
Vorwort
#1 Weihnachten, Negativsätze und Kino statt Gottesdienst
#2 Rennwagen, wilde Pferde und ein Büchertrick
#3 Neue Stadt, neue Probleme
#4 Schulgeschichten
#5 Blaue Enten und der Kampf um Anerkennung
#6 Tante Brunhilde und ein unerwartetes Lob
#7 Ein unehrlicher Finder
#8 Ein überraschender Brief
#9 Meine persönliche Wende
#10 Jugend 67
#11 Hochzeit mit Tiefen
#12 Lebenslanges Lernen
#13 Geld zurückzahlen oder verschenken
#14 Copyright: Gott! Warum wir alle mehr voneinander abgucken sollten
#15 Arno und Andreas: A-Seite
#16 Arno und Andreas: B-Seite
#17 Familienangelegenheiten
#18 Leben mit AD(H)S
#19 Vom Freudenhaus zum Haus der Freude
#20 Noch einen Blick riskieren
Nachwort
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Diesen Menschen habe ich viel zu verdanken:
Hanna, meiner geliebten Frau, und unseren drei Kindern Rebecca, Benjamin und Fabian. Aber auch Brunhilde Nitsch, Eckart Rau, Klaus Fobbe, Gerhard Ullner, Helmuth Ohlwein, Walter Paulo, Walter Rollko, Regina und Bernd Kuhn, Herbert Schulz, Sieglinde und Hans Welskopf, Birgit und Markus Hinn, Marion und Alfred Glöckner, Volkhard Spitzer, Andreas Malessa. Sicher gibt es noch etliche andere, deren Namen mir im Moment nicht alle einfallen.
Sie haben mir geholfen, Ecken und Kanten an meiner Persönlichkeit abzuschlagen und in meine Berufung reinzuwachsen. Bei vielen dieser Menschen habe ich die Kombination von heftiger Kritik und Korrektur, aber auch bedingungsloser Liebe, Wertschätzung und Annahme erfahren. Das hat mir Mut gemacht, mich zu verändern.
Besonders danke ich auch meinen Eltern, die sich alle Mühe gegeben haben, mich großzuziehen.
Und natürlich danke ich meinem überaus sympathischen und kompetenten Ghostwriter (wörtlich: Geisterschreiber – ist das eigentlich biblisch?) Daniel Schneider, der engagierten und gründlichen Lektorin Damaris Müller und nicht zuletzt Ulrich Eggers, der mich bat, diese Biografie in Angriff zu nehmen und zu schreiben.
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Er thronte majestätisch auf unserem Wohnzimmertisch und zog mich an wie ein Magnet: Der Adventskranz mit seinen vier brennenden Kerzen war der Stolz der ganzen Familie und wurde gehütet wie ein Heiligtum. Meine Eltern hatten mir verboten, mich ihm zu nähern, aber genau das machte die Sache ja so spannend. In einem unbeobachteten Moment stieg ich auf den Tisch und betrachtete den Kranz voller Ehrfurcht.
Lange hielt diese Ehrfurcht jedoch nicht an, und ich begann zu kokeln. Mal sehen, ob die Tannennadeln auch brennen …
Oh, das stinkt ja ziemlich. Wie sieht es denn mit den roten Schleifen aus?
Völlig vertieft in meine Experimente, bemerkte ich zu spät, dass die Lampe mit den langen Stofffransen, die direkt über dem Wohnzimmertisch hing, Feuer fing. Erst als sie lichterloh brannte, wurde mir mein gefährliches Spiel bewusst.
Ich fing an zu schreien, und mein Vater eilte herbei und löschte den Brand mit einigen Eimern Wasser, bevor das Feuer auf das ganze Zimmer übergreifen konnte.
Ich war geschockt. Und meine Eltern auch. Aber diese Aktion hat sie nicht wirklich überrascht. Denn ich spielte gerne – und zwar nicht nur im übertragenen Sinn – mit dem Feuer. Das ging so manches Mal ordentlich schief. In diesem Fall setzte es eine Tracht Prügel von meiner Mutter und ich spürte den enttäuschten Blick meines Vaters auf mir ruhen.
Es roch auch noch ziemlich lange sehr unangenehm in unseren vier Wänden, in denen sich zu dieser Winterszeit normalerweise die Düfte von frisch gebackenen Keksen verbreiteten.
Im Dezember herrschte bei uns zu Hause Hochbetrieb: Meine Mutter überschlug sich förmlich bei all ihren Back-, Koch- und Dekoaktivitäten. Ihre ohnehin schon stark ausgeprägte Gastfreundlichkeit fand in den Weihnachtsvorbereitungen ihren Höhepunkt. Obwohl sie das ganze Jahr über darauf bedacht war, anderen Menschen ihren Aufenthalt bei uns zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen, schien sie in der Vorweihnachtszeit sogar noch eine Schippe draufzulegen.
Bei mir ruft der Gedanke an frisches Weihnachtsgebäck allerdings auch heute noch ein ziemlich ungutes Gefühl hervor. Trotz oder gerade wegen dieser Geschäftigkeit habe ich Weihnachten als Kind regelrecht gehasst. Die Erlebnisse in der angeblich friedlichsten Zeit des Jahres haben sich als das Wahrzeichen unserer familiären Hilflosigkeit und meiner grundsätzlich eher problematischen Kindheit in mein Herz eingebrannt.
Die Geschichte, die Anlass des Festes ist – also die Geburt von Jesus –, hat in meinem Herzen erst einen Flächenbrand entfacht, nachdem ich schon unzählige Male Weihnachten gefeiert hatte. Und dieses Feuer hat nicht zerstört, sondern geheilt. Es hat viele andere Brände in meinem Leben verschlungen und dafür gesorgt, dass ich mittlerweile ziemlich dankbar auf viele bewegte Phasen meines Lebens zurückschauen darf.
Natürlich habe ich mir so manches Mal die Finger verbrannt (und tue es immer noch), aber seitdem das Christkind – im wahrsten Sinne des Wortes – in meinem Leben Einzug gehalten hat, hat sich vieles verändert.
Davon möchte ich in diesem Buch erzählen. Von Triumphen und Tragödien. Von Unsinnigem und Sinnvollem oder auch von scheinbar Unsinnigem, das im Nachhinein viel Sinn ergeben hat.
Es geht um meine persönliche Geschichte, aber sie allein wäre mir nicht erzählenswert genug. Im Grunde ist sie nur der Aufhänger für eine viel größere Geschichte, von der eigentlich nie genug geredet werden kann: der Geschichte der Liebe zwischen Gott und uns Menschen. Und ich möchte Sie, liebe Leser, durch meinen Bericht ermutigen, Ihre eigene Geschichte mit Gott zu entdecken, wiederzuentdecken, weiterzuerzählen oder zu festigen.
»Alles wirkliche Leben ist Begegnung«, hat der jüdische Philosoph Martin Buber gesagt. Ohne Begegnung ist kein Leben möglich. Und keine Liebe.
Und in denen mir seine Liebe entgegenkam. Wie ein Feuer.
Auch um diese Menschen geht es in diesem Buch. Sie haben mir bewusst oder unbewusst gezeigt, dass Liebe eine Entscheidung ist. Dass Liebe tiefer geht als Leidenschaft oder Bewunderung. Dass sie Mühe macht und nicht unbedingt etwas mit Wolke sieben oder rosarotem Zuckerguss zu tun hat.
Aber: Diese Liebe lohnt sich und ist spannend. Sie macht Spaß, ist romantisch, rührt zu Tränen, trägt in Durststrecken und ist einfach wunderbar. Sie ist kreativ, voller Fragen, voller Antworten, aber auch voller Herausforderungen. Es ist die Liebe Gottes zu uns Menschen, die sich auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt und so erfahrbar wird. In Worten und Taten.
Beides ist mir sehr wichtig.
Denn ich weiß, was Worte so alles anrichten können: Gutes und Schlechtes.
Und Taten waren mir schon immer wichtig, weil ich nie ein Typ war, der nur über etwas geredet hat. Sondern die Sache musste gleich ausprobiert werden. Ich habe als Jugendlicher nicht nur darüber nachgedacht, meinen Schulranzen nach meinem letzten Schultag zu verbrennen, sondern ich habe es wirklich getan.
Okay, das ist vielleicht kein besonders vorzeigbares Beispiel, aber es gibt auch noch andere, auf die Sie im Laufe dieser Lektüre stoßen werden. Und Sie werden ein paar exklusive Tipps von mir erhalten, die zeigen, wie man vom Reden zum Handeln kommt. Keine Sorge – alles ganz ungefährlich. Wobei …
Lassen Sie sich überraschen. Obwohl ich in meinem Leben bereits unzählige Ideen umgesetzt habe, ist mir in den letzten 70 Jahren eine Sache wichtig geworden: Jede meiner Aktionen, meiner Lieder, meiner Bücher, meiner Worte und Taten möchte ich an der eben schon beschriebenen Liebe messen lassen.
Denn diese Liebe setzt das Puzzle meines Lebens zusammen.
Es bedarf schon einiger Mühe, um mich als komplette Person wahrzunehmen. Ich bin anders, als viele Menschen meinen, die mich von der Bühne, von meinem Büchertisch, von Straßenaktionen oder von der Kanzel kennen.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin immer zu 100 Prozent Arno Backhaus, aber der hat sehr unterschiedliche Facetten. Manche Menschen beschreiben mich als den Kabarettisten, den Witzerzähler; andere kennen mich nur als den kreativen Straßenaktionskünstler, der mit abgefahrenen Ideen für Aufmerksamkeit sorgt. Wieder andere haben mich als langhaarigen Musiker mit Gitarre in Erinnerung.
Das sind verschiedene Ausschnitte, mit denen ich mich wunderbar identifizieren kann. Aber ein komplettes Bild ergibt sich erst, wenn diese unterschiedlichen Ausschnitte an der richtigen Stelle eingeordnet werden.
Manche Leute haben mich – zu Recht – in die Schublade »hyperaktiv« gesteckt, ohne jedoch wahrzunehmen, dass die andere Seite meiner Persönlichkeit eine sehr stille und ruhige ist. Mir ist Stille nicht unsympathisch (nicht zu verwechseln mit Langeweile!).
Deshalb biete ich in meinen Programmen auch sogenannte »Gebets-Konzerte« an, bei denen ich zur Stille einlade. Neue und alte Anbetungslieder, Choräle, Soaking und Taizé-Meditationen sollen zum Mitsingen, Mitbeten und Ruhe-Tanken auffordern. (In Kapitel 19 berichte ich von meinen ersten Erfahrungen mit »Stille-Gottesdiensten«.)
Ich weiß nicht, ob Sie und ich uns ebenfalls schon einmal irgendwo begegnet sind. Aber ich freue mich, dass Sie mich bei diesem Rückblick auf meinen Lebensweg begleiten. Machen Sie sich beim Lesen dieses Buches einfach Ihr eigenes Bild. Und wer weiß – vielleicht können die Bilder meines Lebens sogar einen gewissen Mehrwert für Ihr eigenes Leben darstellen. Das würde mich sehr freuen.
Jetzt nehme ich Sie aber erst mal wieder mit zurück in meine Kindheit. Da war ich noch nicht als Musiker, Aktionskünstler oder Referent unterwegs, sondern als nerviger Junge, der viel Blödsinn im Kopf hatte und diesen Blödsinn oft auch in die Tat umsetzte.
Solange ich es fertigbrachte, artig zu sein, war bei uns zu Hause alles in Ordnung. Aber sobald es Stress gab, änderte sich die Stimmung schlagartig – mit Betonung auf Schlag.
Und Stress hatten wir häufig. Vor allem an Weihnachten. So bemüht meine Eltern auch waren, unser Familienleben zumindest nach außen hin in einem guten Licht dastehen zu lassen: Es gab an allen Ecken und Enden Streit. In einer Zeit, in der eigentlich Harmonie und Frieden herrschen soll, wird das besonders auffällig. Und solche Aktionen wie mein Zündeln am Adventskranz haben auch nicht gerade zur Entspannung beigetragen.
Ich wurde 1950 in Frankenberg/Eder geboren. Als leibliches Kind meiner Eltern. Ich erwähne das explizit, weil ich mich als Kind oft ernsthaft gefragt habe, ob ich nicht adoptiert worden bin. Der Grund dafür war das Verhältnis zu meiner Mutter. Dass eine leibliche Mama so brutal mit ihrem Kind umgeht, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Wir beide hatten kein herzliches Verhältnis zueinander.
Diesen Satz habe ich nicht nur zu Weihnachten von ihr gehört. Es war eine verbale Ohrfeige, die mindestens genauso wehtat wie die echten Prügelstrafen, die ich häufig von ihr bezogen habe.
Zugegeben: Ich habe meinen Eltern das Leben nicht gerade leicht gemacht. Ich war ein auffälliges Kind, denn ich hatte (und habe immer noch) ein ausgeprägtes, hochgradiges ADHS – Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktives-Syndrom. Lange Zeit hatten weder meine Eltern noch ich jedoch die leiseste Ahnung davon. Meine Mutter ist 1909 geboren, mein Vater 1913. Sie waren beide überfordert und wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten.
Als Kind und als Jugendlicher ignorierte ich pausenlos Grenzen und wurde mir der Folgen oft erst dann bewusst, wenn es bereits zu spät war. Mal spielerisch, mal mit Vorsatz probierte ich Dinge aus, die sich andere nie getraut hätten. Dafür bekam ich gelegentlich Applaus, aber vor allem sehr viel Ärger.
Viele meiner Klassenkameraden schauten mich mit großem Respekt an, weil sie sich fragten: »Was wird Arno als Nächstes tun?« Ich war für sie wie ein entfesselter Gaukler, den sie gerne vorschickten, wenn sie selbst für einen Streich zu feige waren.
Und ich habe mich gerne vorschicken lassen, weil ich auf der Suche nach Anerkennung war. Aber nach kurzem Beifall ist mein Publikum meistens sehr schnell verschwunden. Denn um die nächste Ecke kam womöglich schon der Lehrer, der dann nur mich für kaputtes Schulequipment oder zweckentfremdete Lehrmittel verantwortlich machte.
Da war ich dann ganz allein. Freunde hatte ich nie. Keiner wollte sich wirklich mit mir einlassen, dazu war ich viel zu anders.
Statt Wertschätzung und Bestätigung hagelte es nur böse Worte, Kritik und Befehle. In den ersten 15 Jahren meines Lebens habe ich – bis auf eine Ausnahme, über die ich noch berichten werde – kein gutes Wort über mich gehört. Sätze wie »Geh mir aus den Augen«, »Lass das«, »War ja klar, dass du das warst« oder »Arno fällt wegen seines aggressiven Verhaltens auf« waren an der Tagesordnung. Diese Worte haben sich tief in mein Unterbewusstsein eingegraben.
So etwas ist Gift für eine Kinderseele, und die Negativsätze meines Lebens verfolgen mich sogar heute noch. Zumindest zeitweise. Genauso wie manche eindrücklichen Erlebnisse meiner Kindheit.
Als ich zwölf Jahre alt war und zu Hause laut und vernehmlich solche »schmutzigen« Worte wie Sch… sagte, holte meine Mutter die gute alte Kernseife hervor, um mir diese Ausdrücke aus dem Mund »herauszuwaschen«. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, würgte, spuckte und hatte Angst zu ersticken, aber meine Mutter ließ nicht locker, bis die Seife in meinem Mund war.
Nach solchen Strafen wurde es ganz still in unserem Haus. Äußerlich und innerlich. Ich fühlte mich einsam, ungewollt und hilflos. Wenn ein Kind nie getröstet, sondern nur mit Vorwürfen konfrontiert wird, dann entsteht ein tiefes Einsamkeitsgefühl. Ein Gefühl von: Ich kann mich auf niemanden verlassen. Ich muss alleine klarkommen.
So war es bei mir. Ich wurde zum Einzelkämpfer. Und nicht einmal auf mich selbst konnte ich mich wirklich verlassen. Denn ich machte mir die gleichen Vorwürfe, die ich von anderen zu hören bekam:
Diese fiesen Stimmen kollidierten mit dem immerwährenden Tatendrang, den das ADHS mit sich brachte. Ich spürte schon früh, dass es brutal schwer, wenn nicht sogar unmöglich war, diese innere Lebhaftigkeit zu kontrollieren. Dieses unbewusste Gefühl der Rastlosigkeit und der ständigen Unruhe. Geist und Körper waren dauernd auf der Suche nach etwas Neuem, und Langweile konnte ich nur schwer ertragen.
Das müssen Sie sich jetzt kurz mal vor Augen führen: Auf der einen Seite wurde ich von anderen und mir selbst immer niedergemacht und als »falsch« bewertet. Und auf der anderen Seite brachte meine Hyperaktivität immer neue Ideen hervor.
Es zerriss mich schier. Und führte dazu, dass ich rastlos wurde und Langeweile kaum ertragen konnte, weil die Stimmen in mir dann noch lauter wurden. Langeweile war mein Feind.
Genau wie Stillsitzen. Das gehörte ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen. Meine Mutter hat mich zeitweilig im Haus angebunden, damit ich keinen Unsinn anstellen und sie in Ruhe arbeiten konnte.
Am Sonntag wurde ich mit meiner Schwester oft ins Kino geschickt statt in den Gottesdienst. Denn das Kino war einer der wenigen Orte, an denen ich ruhig war. Die Natur-, Heimat- und Tierfilme, die dort auf dem Programm standen, haben mich mehr fasziniert als die langatmigen Predigten im Gottesdienst. Und meine Schwester und ich haben uns hier ausnahmsweise mal nicht gegenseitig geärgert.
Zu Hause haben wir uns natürlich in allerbester Geschwistermanier gestritten. Körperlich war meine Schwester mir dank des Altersunterschiedes zwar überlegen, aber ich war deutlich wendiger und schneller als sie, und so tat ich alles dafür, um einen Nahkampf zu vermeiden. Ich provozierte sie und lief dann rasch davon.
Erwischte sie mich, so kämpften wir ohne Regeln oder irgendeinen Ehrenkodex. Wenn ich mir nicht mehr zu helfen wusste, biss ich ihr herzhaft in die Hand. Sie wiederum kratzte weltmeisterlich.
Aber ich benötigte gar keine anderen Menschen, um mir wehzutun. Das schaffte ich durch so manche waghalsige Aktion auch sehr gut alleine.
Beim Klettern bin ich einige Male vom Baum gefallen; im Winter habe ich Wasser auf meine Schlittenbahn geschüttet, das dann zu Eis wurde und entsprechende Unfälle nach sich zog; und beim Fahrradfahren habe ich experimentiert, was freihändig alles möglich war. Vielleicht hätte ich im Zirkus auftreten können …
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Unser Haus stand an einem Abhang – eine ideale Rennpiste. Ich war ungefähr vier Jahre alt, als ich einen alten Leiterwagen aus Holz zu meinem Rennwagen auserkor. Das Lenkrad fehlte und so musste die Deichsel herhalten. Ich rollte den Wagen an den Abhang, stellte mich auf die Ladefläche und klappte die Deichsel hoch.
Dann atmete ich tief durch und genoss die prickelnde Vorfreude. Der Abhang war wirklich steil! Eine Schotterpiste, mindestens 30 Meter lang. Aber ich hatte keine Angst vor möglichen Gefahren. Ich wollte einfach ausprobieren, was passieren würde.
Und es passierte wirklich etwas.
Denn kurz nachdem ich den Wagen durch heftiges Ruckeln in Bewegung gesetzt hatte, nahmen mein Rennwagen und ich Fahrt auf. Aber so richtig. Schon nach wenigen Metern hatte ich komplett die Kontrolle über das Gefährt verloren. Es kam ins Schleudern, und ich versuchte verzweifelt, mich irgendwo festzuhalten, wusste jedoch nicht mehr, wo oben und unten war.
Ich purzelte vom Wagen, überschlug mich mehrmals und rutschte dann auf den Knien, Ellbogen und Handflächen den Abhang hinunter. Ich kam sogar noch vor dem Wagen unten an. Die winzigen Steinchen, die sich noch wochenlang in meinen Knieverletzungen befanden und immer wieder Entzündungen hervorriefen, waren eine schmerzhafte Erinnerung an dieses Abenteuer.
Dabei bin ich damals noch glimpflich davongekommen. Ich hätte mir ohne Weiteres das Genick brechen können. Genau wie bei unzähligen anderen Aktionen.
Mehrmals wäre ich fast in der Eder ertrunken. Dass ich noch nicht schwimmen konnte, wusste ich. Aber wieso sollte ich nicht trotzdem ins Wasser gehen und dort spielen? Ich vergaß mit der Zeit, wo ich war, und merkte gar nicht, dass ich immer weiter in den Fluss hineinging. Erst, als ich nicht mehr stehen konnte, wurde mir meine missliche Lage bewusst.
Ich weiß nicht mehr genau, wer mich aus diesen heiklen Situationen befreit hat, aber es müssen sichtbare oder unsichtbare Schutzengel gewesen sein.
Trotz der vielen Stürze und Unfälle war ich gerne in der freien Natur. Dort gab es keine Grenzen und meine Seele konnte atmen; das Gefühl der Rastlosigkeit war nicht mehr zu spüren. Vielleicht gründet sich mein erster Berufswunsch – Förster – auf diese positiven Erfahrungen. Allerdings wurde der Traum angesichts meiner schulischen Leistungen ziemlich schnell ausgebremst. Aber auch heute noch halte ich mich sehr gerne draußen auf.
Damals, in Frankenberg, befand sich die Weite quasi vor der Haustür. Diesen Vorteil nutzte ich natürlich aus, so oft es ging. Schließlich brauchte ich Bewegung. Und ich hatte Angst, irgendetwas Spannendes da draußen zu verpassen. Einmal war es jedoch ein glückliches Timing, dass ich mich im Inneren unseres Hauses befand, als sich im Freien etwas ereignete.
An unser Haus grenzte ein umzäunter Hof, dessen Tor verschlossen werden konnte. Eines Tages hatte sich dort ein Pferd losgerissen. Irgendetwas hatte es erschreckt, sodass es nun unter schrillem Wiehern über den Hof stürmte. Ich stand im ersten Stock unseres Hauses am Fenster und beobachtete das verstörte Tier. Seine Panik, die ich regelrecht spüren konnte, faszinierte und erschreckte mich gleichermaßen. Obwohl ich in Sicherheit war, hatte ich große Angst.
Irgendwann haben einige Männer das Pferd wieder beruhigt. Doch mir zitterten noch lange die Knie. Mal abgesehen von den angekündigten Strafen meiner Mutter, war dies einer der wenigen Momente meiner Kindheit, in denen ich wirklich Angst hatte. Auch heute noch halte ich lieber Abstand zu diesen Tieren, auf deren Rücken ja anscheinend das Glück dieser Erde liegen soll.
Bis zu meinem fünften Lebensjahr wohnte ich mit meinen Eltern und meiner sieben Jahre älteren Schwester in dem kleinen Städtchen Frankenberg zwischen Kassel und Marburg. Dieser Ort war geradezu idyllisch und als Familie ging es uns finanziell gut. Die Phase des Wirtschaftswunders hatte kurz nach meiner Geburt begonnen.
Rein vom Timing her betrachtet, war meine Lebenszeit bisher eine sehr privilegierte: Ich habe keinen Krieg miterlebt und kann bis jetzt im Frieden leben. Außerdem habe ich nie am eigenen Leib gespürt, wie es ist, wenn man Hunger leidet.
Das Ziel des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard – »Wohlstand für alle« – wurde tatsächlich erreicht: Ging es für viele Leute im Krieg und kurz danach noch in erster Linie darum, satt zu werden, so etablierte sich in den 50er-Jahren langsam, aber stetig ein gewisser Wohlstand. Auch ich profitierte davon. Beispielsweise achtete meine Mutter sehr darauf, dass ich gut gekleidet war.
Meine Mutter hat Deutschland noch zu einer anderen Zeit erlebt. 1909 geboren, hat sie selbst zwei Kriege mitbekommen und wurde dadurch stark geprägt, wie eine ganze Generation.
Meinem Vater erging es nicht anders. Im Dritten Reich hat er die Unterstützung des Naziregimes verweigert und daraufhin Konsequenzen zu spüren bekommen: Da er der NSDAP nicht beitreten wollte, wurde ihm kein Studienplatz bewilligt. Und er verlor seinen Job als Buchhändler, weil er nicht bereit war, Hitlers Buch »Mein Kampf« zu verkaufen. Das passte für ihn nicht zusammen: eine menschenverachtende Ideologie und sein Glaube an Gott. Mir hat es sehr imponiert, dass er solches Rückgrat gezeigt hat.
Später wurde mein Vater Verwaltungsangestellter und hat somit wunderbar für seine Familie sorgen können. Uns Kinder hat er geliebt. Und meine Mutter hat er wie eine Königin behandelt. Er hat sie förmlich auf Händen getragen, nie kam ein böses Wort über sie über seine Lippen. Er hat sie geachtet und geschützt. Obwohl sie ihn so manches Mal niedergemacht hat.
Vater war ein friedliebender Mensch, der unter den Verhaltensweisen meiner Mutter gelitten hat. Wenn er abends von der Arbeit kam und gerade ein Konflikt mit uns Kindern ausgebrochen war, brüllte ihn meine Mutter zum Empfang manchmal an: »Du bist ein Waschlappen, kannst keine Kinder erziehen. Nun schlag den Arno doch auch mal.«
Das hat er dann – sichtlich zerknirscht – auch getan. Und hat sich hinterher bei mir entschuldigt. Allerdings so, dass meine Mutter es nicht mitbekam. Das hat mich verwirrt und traurig gemacht.
Der intensivste Körperkontakt zu meinen Eltern bestand aus Schlägen. Wir wurden nie in den Arm genommen, getröstet oder gestreichelt. Das hatte natürlich Auswirkungen auf mein Urvertrauen, meine Beziehungsfähigkeit und meine Gefühlswelt, bis ins hohe Alter.
Auf ihre Weise haben meine Eltern sich gegenseitig sehr geachtet. Meine Mutter hat meinen Vater verehrt: Er war klug, eloquent und belesen. Sie war stolz auf ihn. Vermutlich hat sie das im Alltagstrott jedoch des Öfteren mal vergessen.
Meine Mutter war eher eine »einfache« Frau, fleißig bis zum Umfallen, aber nicht sehr intelligent. Immer auf Äußerlichkeiten bedacht: »Was sollen denn die Leute von uns denken?!« – »Mach die Gardinen zu, was, wenn die Leute reingucken können?!« Der äußere Schein – die Scheinheiligkeit – musste immer gewahrt bleiben!
Ob sich die beiden geliebt haben?
Ich glaube, ja! Obwohl es sich um zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten handelte – sie eher aufbrausend und er der stille, ausgleichende Typ –, hat meine Eltern eine besondere Liebe verbunden. Eine Liebe, die geprägt war von einer Zeit, in der Gefühle nicht den gleichen Stellenwert hatten wie heute.
Liebevolle Zuwendung habe ich in meiner Kindheit kaum erfahren. Mit meinem Vater verbinde ich herzliche Gefühle, mit meiner Mutter nicht. Da ist einfach zu viel passiert, was mich verletzt hat. Später habe ich meine Mutter aber auf eine sachliche Art geliebt. Ich habe sie geachtet und respektiert.
Sachlich lieben! Das schreit nach einer Erklärung, oder?
Es gibt Menschen, die sind ungeduldig, egoistisch, neidisch und eifersüchtig – und trotzdem brauchen auch diese Menschen Liebe, Achtung und Wertschätzung. Mein Bauchgefühl sagt: »Unmöglich, das schaffe ich nicht. Die sind so was von unsympathisch, die haben gar keine Liebe verdient!«
Aber Gott sagt: »Gerade die Unsympathischen brauchen Liebe und Wertschätzung. Sie sind verletzt und reagieren aus ihren Verletzungen heraus.«
Und Gott verspricht: »Mit meiner Kraft versetze ich dich in die Lage, auch diejenigen Menschen zu achten, die lieblos sind. Mit dem Ziel, dass die Liebe sie in einem langen Prozess verändert. Von dir selbst heraus kannst du solche Menschen nicht lieben, aber meine Energie in dir bewirkt, dass du dich mit ihnen abgibst, Zeit für sie hast, ihre Fragen und Vorwürfe anhörst, ihnen hilfst, für sie da bist. Ihre Kommentare nicht zu persönlich nimmst.
Nicht du musst sie lieben, sondern ich liebe sie durch dich, wenn du mich in dich hineinlässt. Und verwechsle Liebe nicht mit Sympathie. Ich bin nicht für dich gestorben, weil du so sympathisch warst, sondern weil du gerettet werden musstest und meine Hilfe brauchtest!«
Keiner kann etwas für seine Prägung und Erziehung. Meine Verantwortung als erwachsener Mensch ist, meine Vergangenheit – den Mangel, den ich erfahren habe – aufzuarbeiten.
Meine Mutter hat gerne folgenden Spruch zitiert: Du sollst Vater und Mutter ehren – ein wichtiges Gebot der Bibel. Es ist eine der vielen Bibelstellen, die schon oft für eigene Zwecke und Ziele missbraucht wurden. Ohne zu beachten, dass dieses Gebot einen ganz bestimmten historischen Hintergrund hat.
Es greift nämlich erst dann so richtig, wenn die Kinder bereits erwachsen sind und selbst Verantwortung tragen. Als dieses Gebot entstand, war es bei einem Nomadenvolk wie den Israeliten nicht unüblich, lästiges Gepäck – also Dinge, die bei immerwährendem Reisen hinderten – einfach zurückzulassen. Und dazu gehörten unter Umständen auch alte Menschen.
Für solche Völker war es überlebenswichtig, bei Bedarf schnell unterwegs zu sein, und da konnten Omis und Opis schon mal stören. Alte Menschen wurden regelrecht ausgesetzt. Es war keine böse Absicht, sondern kultureller Konsens. Das wurde nicht hinterfragt.