Elisabeth Haich und Selvarajan Yesudian
Sport und Yoga
Elisabeth Haich Selvarajan Yesudian
SPORT UND YOGA
© für Übersetzungen in andere Sprachen liegt beim Nachlassverwalter bzw. den Erben von Selvarajan Yesudian und Elisabeth Haich.
Nachdruck, auch auszugsweise, die fotomechanische Wiedergabe, die Bearbeitung als Hörspiel, die Übertragung durch Rundfunk, die Übernahme auf Daten- und Tonträger sowie die Übersetzung in andere Sprachen dieser und der nach ihr hergestellten Fassungen bedürfen der schriftlichen Genehmigung des Aquamarin Verlages.
1. Auflage 2020
© Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1 • D-85567 Grafing
www.aquamarin-verlag.de
Umschlaggestaltung Annette Wagner unter Verwendung von © AYAKOVLEV.COM 33228694 – shutterstock.com
ISBN 978-3-96861-107-5
Inhalt
Vorwort
Vorwort des Verfassers
ERSTER TEIL
I. Die wahre Geschichte eines kranken Jungen
II. Was ist Hatha-Yoga?
Der Träger des Lebens ist die Wirbelsäule
III. Jede Krankheit hat seelische Ursachen
IV. Der größte Fehler: Wir können nicht atmen!
V. Was ist »Prana«?
VI. Vollkommene Atmung
VII. Schwimmen – die vollkommenste Atemregelung
VIII. Zivilisierter Appetit
IX. Kundalini und die sieben Chakras
ZWEITER TEIL • Praktischer Hatha-Yoga
X. Aufbaukraft des Selbstbewusstseins
XI. Die Heilkraft der Ur-Asanas
XII. Pranayama und Asanas
XIII. Pranayama
XIV. Asanas
1.Padmasana
2.Sidhasana
3.Yoga-Mudra
4.Supta-Vajrasana
5.Ardha-Matsyendrasana
6.Vakrasana I und II
7.Matsyasana
8.Paschimotana
9.Padahastasana
10.Uddiana-Bandha
11.Nauli
12.Trikonasana
13.Bhujangasana
14.Ardha-Bhujangasana
15.Salabhasana
16.Ardha-Salabhasana
17.Danurasana
18.Mayurasana
19.Sarvangasana
20.Viparita-Karani
21.Sirshasana
22.Halasana
23.Bru-Madya-Drishti
24.Simhasana
25.Savasana
XV. Das Wunder verlangsamter Leibesübungen
XVI. Nichts ohne Seele!
XVII. Einige Ratschläge für Yoga-Schüler
Vorwort
von Dr. D. B. Desai †
Außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister für Indien in der Schweiz
In Europa haben schon viele irrtümliche Auffassungen über Yoga vorgelegen. Es ist ein Begriff, der gelegentlich von jenen gebraucht wurde, die von der östlichen Mystik angezogen wurden und sich mit Mystizismus und Spiritismus zu schaffen machten. Wenige nur haben den wahren Sinn des Yoga erfasst.
Yoga ist auf die alten Weisen Indiens zurückzuführen; sie übten es aus. Es ist eine Methode, durch deren Anwendung ein menschliches Wesen vollständige Beherrschung von Seele und Körper erlangt, im Vertrauen darauf, dass es ihm letztlich möglich sein werde, sich mit dem Unendlichen zu vereinen. Es ist ein Weg zur Erlangung vollkommener Erlösung. Zur Erreichung dieses Zieles muss die Konzentrationsfähigkeit aufs Höchste entwickelt werden, was nur möglich ist bei vollständiger Beherrschung der Gedankenwelt. Meisterschaft über die Gedankenwelt ist aber nur jenem möglich, der auch volle Herrschaft über seinen Körper hat. Vollkommene Beherrschung des Körpers bildet daher den ersten Schritt auf diesem Weg. Dazu muss der Körper ganz entwickelt und geschult werden, was nur durch eine Reihe von Übungen erzielt werden kann. Diese bezeichnet man als Hatha-Yoga.
Hatha-Yoga ist also eine Methode, durch deren Anwendung ein Mensch die Beherrschung über seinen Körper erlangen kann. Es wird betont, dass der allererste Schritt dazu darin besteht, richtig zu atmen. Nachher geht man über zu einer Reihe von »asanas« (Körperstellungen), welche die körperlichen Organe und deren Funktionen vervollkommnen sollen. Es ist eine Wissenschaft – und zwar eine vollkommene. Sie verhilft zumindest zu einem gesunden Körper, der seinerseits zur Erlangung einer gesunden Seele beiträgt. Es gibt keine versteckten Geheimnisse: Hatha-Yoga kann von Menschen im Osten und im Westen geübt werden, ohne Rücksicht auf soziale Stellung, Glauben und Religion. Es setzt nur den Wunsch voraus, einen gesunden Körper zu besitzen, und für die Erfüllung dieses Wunsches muss der Mensch bereit sein, einige Mühe auf sich zu nehmen. Yoga ist nur insofern mystisch, als es in unserem alten Land seit urdenklichen Zeiten – neben anderen – auch von Mystikern ausgeübt wurde. In seiner praktischen Anwendung aber ist es eine Wissenschaft, die ebenso modern ist wie jene des körperlichen Trainings.
Ich begrüße dieses Buch, weil es viele falsche Ideen zerstreuen wird, die bisher über Yoga und dessen Anwendungen bestanden. Sicherlich wird es all jenen Nutzen bringen, welche die Geduld haben, es zu lesen. Es freut mich, dass dieses Buch durch zwei Menschen veröffentlicht wird, die dazu befähigt sind.
Vorwort des Verfassers
Dem Gebot eines inneren Dranges folgend, dem ich den Gehorsam nicht verweigern konnte, verließ ich Indien und kam nach Europa. Ich handelte als Werkzeug in den Händen des Schicksals und nahm als Gefäß alles auf, was es mir gab. Ich fand keine Ruhe, bis ich die Antwort erhalten hatte auf meine größte und einzige Frage: Mensch, wer bist du? Doch jetzt weiß ich:
Man, thou art thy secret alone!
Who can open thy gates but thee?
And none to enter in but thee!1
Der Mensch ist ein geheimnisvolles Wunder, das sich zwischen den beiden todbringenden Faktoren von Zeit und Raum bewegt. Die Begrenztheit seiner Tage fordert von ihm, dass er aus seinem traumvollen Schlummer erwache, damit er das Wirkungsvermögen seines Wesens und die Unbegrenztheit seines Selbst erkenne. In seinem Herzen dämmert dann Glückseligkeit auf, in ihrer goldenen Pracht und unvergänglichen Herrlichkeit, und der Mensch erwacht zur Erkenntnis, dass seine wahre Natur nichts als Glückseligkeit ist.
Dieser inneren Stimme folgend, entschloss ich mich, all das niederzuschreiben, was ich gesehen und gelernt hatte, in der Hoffnung, es möge jenen Gefährten, die auf der gleichen Suche sind, ein nützlicher Führer werden.
Ich hege nicht den Wunsch, irgendeinen Orientalismus oder Kult zu verbreiten. Wahre und dauernde Glückseligkeit kann jedoch nur erlangt werden in einer gesunden Hülle; daher seien einige uralte Regeln und Anregungen erwähnt, die einer erfolgreichen Verwirklichung dienen mögen. Sie sind zusammengestellt worden, um den Forderungen jener Abendländer zu entsprechen, die gewillt sind, durch das Opfern einer blinden und ziellosen Geschäftigkeit täglich einige Augenblicke zu erübrigen. Der Kampf um die Gesundheit ist schwer, und der Sieger muss sowohl den Körper als auch die Seele erobern. Geheimnisse warten darauf, enthüllt zu werden, wenn dieses Rätsel Mensch sich selbst löst, als eine zur Blüte aufbrechende Knospe, und sich die Herrlichkeit seines wahren Seins offenbaren wird. Dies aber verlangt Zeit und geduldige Arbeit. Wie ein Gärtner, kann man seinen Weg für eine erfolgreiche Verwirklichung nur bahnen, wenn man Körper und Seele dazu bringt, im Gleichklang gehorsam die Forderungen des innewohnenden unsterblichen Überselbst zu erfüllen. Mit dem Öffnen der feinen Blütenblätter des Gehirns, mit dem Bilden des einzigartigen Körpers drückt sich das Überselbst als vollkommene Gesundheit, Erkenntnis und Wissen aus. Seid als Ganzes bewusst, und ihr werdet dieses Ziel erreichen.
Die Welt braucht heute Gesundheit dringender als alles, was der Reichtum bieten kann. Die Verhütung der Ursachen von Krankheit und Leiden ist eine ebenso heilige Aufgabe wie die Heilung selbst, nach der Millionen so verzweifelt lechzen. Beginnt daher, indem ihr weder im Seelischen noch im Körperlichen irgendwelchen negativen Zuständen Raum gewährt; denn Krankheit ist Fehlen positiver Lebenskraft, eine Leere der Konstitution, die im Zusammenbruch des Systems gipfelt. Die alte Wissenschaft des Yoga ist ebenso vollkommen wie genau, indem sie jene vernünftigen Schritte zeigt, welche sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht zu tun sind.
Meine Arbeit wurde bereichernd unterstützt durch Elisabeth Haich, die nicht nur in unserer Yoga-Schule meine Kollegin ist, sondern mir auch half, die genauen Bedürfnisse des Abendlandes zu deuten. Wir haben dieses Buch gemeinsam geschrieben, gestützt auf die Erfahrungen langer, harter Jahre der Arbeit und einer reichen Ernte ermutigender Ergebnisse. Diese Seiten sind für jene geschrieben, welche keine Yoga-Schule und keinen »Ashram« besuchen können, die nicht das Glück haben, einen persönlichen Führer zu finden. Wir hoffen aufrichtig, dass dieses Buch es dem eifrigen Sucher ermöglichen werde, die Übungen durchzuführen und den bewussten Weg des Hatha-Yoga zu beschreiten.
To see, open then thine eyes,
And behold below the veil of
blindness, that mortal flesh
covereth … MAN the DIVINE.2
Selvarajan Yesudian
Erster Teil
I. Die wahre Geschichte eines kranken Jungen
Einst lebte im sonnigen Indien, in der Stadt Madras, ein schmächtiger, kränklicher kleiner Junge. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er fast alle schweren Krankheiten durchgemacht: Scharlach, Dysenterie, Typhus, Cholera und sonstige in den Tropen so häufige Seuchen. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt am Leben blieb. Er blieb es, aber in welchem Zustand! Er war nur Haut und Knochen, sein Gesichtlein war eckig, die Augen eingefallen, der schmale Brustkorb flach. Dabei litt dieser Junge nie Mangel. Im Gegenteil! Sein Vater war ein weithin berühmter, reicher Arzt, zu dem die Kranken in Scharen kamen. Die Mutter war die sanfteste, beste Mutter der Welt. Trotzdem wurde das Haus in Madras mit dem großen schattigen Hof vom Engel des Glücks gemieden. Stete Trauer und Sorge waren das Los der Bewohner; denn das sorgsam gehütete und verzärtelte Kind glich eher einem Schatten als einem Jungen.
Der Vater versuchte alles, war er doch Arzt. Doch das Einzige, was er erreichen konnte, war, das Kind mit großer Mühe am Leben zu erhalten.
Eines Tages wurde der Knabe in die Schule geschickt. Er musste nun nicht mehr, wie bisher, in einem fort daheim auf dem Ruhebett liegen, sondern er lebte von dieser Stunde an so wie seine Altersgenossen. Vom Turnen war er natürlich befreit, und man bewahrte ihn zu Hause, wie bisher, vor jedem Lüftchen. Als Vierzehnjähriger bekam er eine Lungenentzündung, doch blieb er wieder wunderbarerweise am Leben. Die endlose Pflege und Mühe begann von neuem.
Nach Ablauf eines halben Jahres ging es ihm verhältnismäßig gut, aber schon vom kleinsten Luftzug bekam er Schnupfen. Es lässt sich in Worten schwer ausdrücken, wie sehr dieser arme kleine Junge seine kräftigen, heiteren, gesunden Schulkameraden beneidete. Während der Turnstunde im englischen Gymnasium zog er sich in eine Ecke des Hofes zurück, von wo aus er wehen Herzens und mit sehnsüchtigen Augen die beschwingten Turnübungen der Knaben verfolgte. War die Stunde zu Ende, blieb er noch im Hof, und wenn er sich unbewacht wähnte, lief und sprang er umher und vollführte mit den Armen Freiübungen, wie er sie den Kindern abgeguckt hatte. Als Fünfzehnjähriger fühlte er sich etwas wohler. Die Erkältungen kamen nicht mehr so häufig, jedoch die unregelmäßig und im Geheimen vollführten Leibesübungen verursachten ihm Kopfweh und Herzklopfen.
War aber sein Körper auch schwach und gebrechlich, umso ungebrochener blieb sein Unternehmungsgeist. Oft riss er aus und wanderte durch Wald und Flur, um in den fernen Bergen Yogi-Siedlungen – sogenannte Ashrams – aufzusuchen. Doch seine Bemühungen blieben erfolglos. So begnügte er sich damit, fahrende Fakire, die auf der Landstraße ihre Künste zum Besten gaben, zu bestaunen. Während er jedoch nicht viel von diesen hielt, bewunderte und achtete er die echten Yogis sehr. Die mystische Wissenschaft des alten Indiens zog ihn, dank eines angeborenen Instinktes, in ihren Bannkreis. Er las alle einschlägigen Werke, die in der Bücherei seines Vaters zu finden waren. Er kannte und bewunderte die Theorie der geistigen Wissenschaften: Die Lehren des Raja-Yoga, des Jnana-Yoga und des Karma-Yoga, die eine beseligende Vertiefung, Zufriedenheit, Glauben und Seelenkraft spendeten. Er fand auch zahlreiche Bücher über Hatha-Yoga, die die einfachen, aber viele Jahrtausende alten Geheimregeln zur Erlangung von körperlichem Wohlbefinden, von Kraft und Gesundheit enthielten. Die Begeisterung eines Menschenkindes von so schwacher Konstitution lässt sich leicht vorstellen. Fast in einem Zuge – von den frühen Nachmittagsstunden bis in die Nacht und wiederum bis zum Morgengrauen – verschlang er den Inhalt der entdeckten Bücher. Er jauchzte vor Begeisterung, als er von Asanas, den Kraft und Gesundheit spendenden Yoga-Körperhaltungen, und von den Übungen las. Er saß sofort im Bett auf, legte seine Beine über Kreuz – wie dies in der ersten Übung vorgeschrieben war – und versuchte alle wichtigen Körperhaltungen nachzuahmen, so dass er nahe daran war, sich die Beine zu verrenken. Zwischendurch nahm er – nach der Vorschrift des Pranayama – tiefe Atemzüge, nachdem er gelesen hatte, dass die tiefe Atmung von besonderer Wichtigkeit im menschlichen Leben sei. Er füllte seine schwache Lunge und hielt den Atem an, und dies so lange, dass er fast barst. Dann stand er auf dem Kopf und wand die Beine ineinander. Das Ergebnis war, dass er in der Nacht vom Bett kollerte, seine Stirne tüchtig anschlug und das ganze Haus aus dem Schlaf aufschreckte. Dabei wäre die keuchende Lunge des übereifrigen Jungen infolge der mehrstündigen Überanstrengung beinahe geborsten. Am nächsten Tag schmerzten alle seine Glieder, und er fühlte sich schwach und elend. Nach einwöchiger Anstrengung legte er die Bücher beiseite, bittere Tränen weinend. Der Gedanke, dass ihm auch diese letzte Möglichkeit zur Erlangung körperlicher Kraft verschlossen blieb, versetzte ihn in eine trübe, verzweifelte Stimmung. Er glaubte, nie die Gesundheit zu erlangen, nie mit seinen Kameraden herumtollen und sich balgen zu können und nie die Freuden kraftstrotzender Jugend genießen zu dürfen.
Von diesem Tag an wurde er verschlossen. Er verachtete den Körper und hatte nur für geistige Dinge Interesse. Das Lernen und das viele Lesen befriedigten ihn aber nicht. Seine Aufmerksamkeit lenkte sich immer mehr Problemen zu, die für sein Alter zu ernst und zu tief waren.
An einem schwülen Herbstabend riss er wieder aus und fand, einige Kilometer von der Stadt entfernt, in einem Mangohain, endlich den so sehr gesuchten Hatha-Yoga-Meister!
Dieser unterwies eben eine Gruppe junger Leute, die ihren Meister umringt hatten. Solange der Unterricht anhielt, verfolgte der Junge die Gruppe nur aus der Ferne. Er sah, dass die jungen Männer von herrlicher Muskulatur waren und eigenartige Leibesübungen vollführten. Er sah auch, dass sie vor Gesundheit strotzten. Als sich die Gruppe auflöste, pirschte sich der Junge an den Meister heran und bat ihn demütig, ihn als Schüler anzunehmen …
Nach zwei Monaten erkannte der Arzt seinen Sohn kaum wieder. Er ging kerzengerade, seine Brust wölbte sich, die Schultern gewannen an Breite. Nach Ablauf eines Jahres war der Brustkorb um zehn Zentimeter gewachsen. Arme und Schenkel erreichten fast das doppelte Maß. Seither war er nie wieder krank. In der Schule war er, ohne je an den englischen Sportstunden teilgenommen zu haben, von heute auf morgen der Gewandteste.
Im zwanzigsten Lebensjahr, nach dem Tode seines Vaters, besuchte er in einer fernen Stadt noch einmal seinen Meister, dem er, nach Gott und den Eltern, Leben, Kraft und Gesundheit zu verdanken hatte. Diesem teilte er mit, dass er, einer inneren Eingebung folgend, eine längere Europa-Reise antreten wolle. Nach einem rührenden Abschied sagte der Meister:
»Geh, mein Junge, lerne den Westen kennen. Vergleiche die Völker des Westens mit denen des Ostens, den Weg des Westens mit jenem des Ostens – und erkenne, wo die zwei Wege sich vereinigen. Lerne von jenen das, was sie dir voraushaben, und verkünde ihnen das, worin der Osten bereits ans Ziel gelangt ist. Sei auch du eine Zelle, die an der Verbindung der zwei Wege mitwirkt. Du wirst im Westen erkennen, dass die Wissenschaft des Hatha-Yoga nicht nur der Weg der Gesundheit, sondern auch der einzige Körperkult der Welt ist, der sich auf die enge Verbindung zwischen Körper und Seele gründet, und der, wenn auch eine Wissenschaft zum Aufbau des Körpers, trotzdem auf seelischen und geistigen Kräften beruht.«
Der Jüngling schaute mit glänzenden Augen auf den Meister, faltete die Hände und verneigte sich.
»Meister! Ich wusste dies schon damals, als ich, um den Aufbau meines Körpers bemüht, die Aufmerksamkeit meinen einzelnen Körperteilen, Muskeln und Nervenzentren zuwandte und dessen gewahr wurde, wie sich in mir unbekannte seelische Fähigkeiten entfalteten. Im selben Maße, wie ich über meinen Körper Herr wurde, erhöhte sich meine Willenskraft. Du gabst mich dem Leben zurück; den schmächtigen, kränklichen Jungen verwandeltest du in einen Athleten. Aus einem seelischen und körperlichen Zerfall führtest du mich zu mir selbst zurück! Ich verspreche dir …«
»Versprich nichts, mein Junge! … Der Westen ist in Gärung begriffen und hat dem Anschein nach wenig Zeit dazu, sich um den Osten zu kümmern. Du aber erfülle deine Pflicht. Der Sämann erntet nur selten. Hast du aber den Yoga des Körpers nur einigen deiner Freunde mitgeteilt, erfülltest du bereits deine Pflicht dem westlichen Mitmenschen gegenüber. Es werden ja ohnedies nur jene die Lehren befolgen, deren Geist aus der Blindheit des Materialismus befreit und deren Gedankenwelt für ein schöneres, höher geordnetes LEBEN aufgeschlossen ist … Deine heiligste Pflicht sei aber: Wenn du eine Botschaft aus der Ferne von mir erhältst, so sollst du wissen, dass deine Stunde gekommen ist und der Heimatboden dich ruft … Geh, mein Sohn, der Himmel sei mit dir! …«
So reiste ich nach Europa.
II. Was ist Hatha-Yoga?
Das größte Wunder auf Erden ist der Mensch. Sein aus Knochen, Fleisch und Blut geschaffener Leib birgt Geheimnisse, nach denen er seit Jahrtausenden unermüdlich forscht in der Suche nach einer Lösung des großen Geheimnisses, des Mysteriums der großen Sphinx. Es gab deren viele, die es auf sich genommen haben, das Geheimnis Mensch zu enträtseln, doch nur wenigen gelang es, die Sphinx zum Sprechen zu bringen. Nur die Wenigsten, die unermüdlich tiefer und tiefer schürften im eigenen Ich, brachten es dahin, dass sie endlich das größte Geheimnis verstanden – sich selbst.
In Indien befasste man sich seit Urzeiten mit den Geheimnissen der menschlichen Seele, und es gab sehr viele, die ihr ganzes Leben diesem Ziel widmeten, um zu erforschen: Was ist der Mensch – und was ist seine Bestimmung hier auf Erden?
Sie zogen sich vom Getriebe der Welt zurück und konzentrierten all ihr Sinnen und Trachten auf die einzige Frage: Wer bin ICH? Ihr unermüdliches Streben, die stählerne Ausdauer und die Sehnsucht, mit der sie die Wahrheit zu erkämpfen sich befleißigten, zeitigte Früchte: Ihr Geist wurde erleuchtet, und vor ihnen ausgebreitet lag das ganze Geheimnis des SEINS. Sie verstanden das LEBEN, bekamen die allerletzten Ursprünge zu schauen, und es eröffnete sich vor ihnen der WEG, der hinausführt aus dem Leid, hinauf in Freiheit, Glück, Seligkeit … Sie wussten, dass dieser Zustand für jeden einzelnen Menschen erreichbar ist, und die also Erleuchteten begannen aus Erbarmen die in Leiden schmachtenden Menschen zu lehren – ihnen den Weg zur Erlösung, zur Befreiung weisend.
Zum Gipfel führen verschiedene Wege. Mancher wird den bequemen Serpentinenweg nehmen (den Weg mit den weiten Windungen), da seine physische Verfassung für den steilen Pfad nicht geeignet ist. Ein anderer wird den Weg abschneiden und einen steileren Anstieg wählen. Schließlich wird es auch solche geben, die sich für den kürzesten Weg entschließen und die schroffen Felswände erklimmen werden, um eher zum Ziel zu gelangen.
So kann also der Mensch auf verschiedenen Wegen seinem großen inneren Ziel entgegenstreben, je nach seinen seelischen und physischen Fähigkeiten. Die großen Lehrmeister haben mehrere Systeme ausgearbeitet, um die selbst gesteckte Aufgabe für jeden erreichbar zu machen. Diese Systeme verkürzen den Pfad, und wer sie befolgt, wird sein Ziel einfacher und schneller erreichen. Der Sammelname für diese Systeme ist: Yoga.
Die großen Lehrer aber und die Meister, die den Weg des Yoga begangen und ihr Ziel erreicht haben, werden Yogis genannt.
Die verschiedenen Systeme des Yoga unterscheiden sich voneinander nur im Ausgangspunkt. Wesen und Ziel ist bei allen dasselbe: Vollkommene Selbsterkenntnis. Zu dieser aber führt der Weg über bedingungslose Selbstdisziplin. Die Yoga-Werke lehren uns demnach in erster Linie die Selbstbeherrschung. Aber es gibt Yoga-Linien, deren Weg über die Disziplinierung des Verstandes führt, es gibt solche, die mit der Herrschaft über die Gefühle beginnen, und es gibt andere, deren Ausgangspunkt der Körper ist usw. – je nach Anlage und Fähigkeiten des Schülers. Den verschiedenen Wegen entsprechend, unterscheiden sich auch die Benennungen der Yoga-Linien. Es empfiehlt sich jedoch, mit jenem Yoga zu beginnen, dessen Ausgangspunkt der Körper ist. Dies ist der Weg der vollkommenen Gesundheit, und sein Name ist HATHA-YOGA.
Der Name Hatha-Yoga weist auf die Wahrheit hin, auf die dieses Yoga-System aufgebaut ist. Unser Körper wird von positiven und negativen Strömungen belebt, und wenn diese Strömungen sich in vollendetem Gleichgewicht befinden, dann erfreuen wir uns vollkommener Gesundheit. In der Ursprache des Ostens wird diese positive Strömung mit dem Buchstaben »HA« bezeichnet, was so viel bedeutet wie »SONNE«. Die negative Strömung wird mit »THA«, dem zweiten Laut, bezeichnet, was so viel heißt wie »MOND«. Das Wort YOGA hat einen doppelten Sinn; der eine bedeutet so viel wie »Verknüpfung«, der zweite entspricht dem Begriff »Joch«. »HATHA-YOGA« bedeutet demnach eine vollkommene Kenntnis der Energien, der positiven Sonnen- und der negativen Mond-Energien, ihre Verknüpfung in vollkommener Harmonie und vollem Gleichgewicht und die Fähigkeit, unbedingt über diese zu herrschen, das heißt die Beugung dieser Energien unter das Joch unseres »ICH«.
Dieses System ist einmalig auf der ganzen Welt, da es den Leib bewusst vervollkommnet, seine etwaigen Mängel ausgleicht und ihn mit strahlender Lebenskraft erfüllt. Hatha-Yoga führt zurück zur Natur, macht uns mit den Heilkräften bekannt, welche den Gräsern, Bäumen, Wurzeln innewohnen, macht uns mit unserem eigenen Körper vertraut sowie mit den im Körper tätigen Kräften und führt uns zum engen Zusammenklang von Leib und Seele. Der Körper reagiert auf die kleinsten Regungen der Seele, und die Seele empfindet nachhaltig den Zustand des Körpers. Diese Wechselwirkung wird vom Hatha-Yoga dazu benützt, beide, Seele und Körper, gesund zu machen. Der einzuschlagende Weg besteht darin, unseren Körper und alle seine Tätigkeiten bewusst zu machen. Auch das Sympathische Nervensystem und alle jene Organe, deren Arbeit sonst von unserem Bewusstsein unabhängig ist, kann ich meinem Willen botmäßig machen. Der unschätzbare Vorteil dessen ist, dass jede unrichtige Funktion verhindert und der Körper vor Krankheiten, die von unrichtiger Tätigkeit herrühren, bewahrt werden kann. So kann ich zum Beispiel meine Herztätigkeit disziplinieren und verhindern, dass infolge eines äußeren Reizes – wie Schrecken, eine Hiobsbotschaft oder plötzliche Freude – ein starkes Herzklopfen auftritt. So bewahre ich mein Herz vor Herzerweiterung, Herzmuskelentartung oder sonstigen Herzkrankheiten. Wenn es mir gegeben ist, die Sekretion der Drüsen zu beeinflussen, kann ich nach Belieben die Funktion fast aller meiner Organe und somit meine ganze Körperverfassung regulieren. Der Hatha-Yogi, der die höchste Stufe erreicht hat, beherrscht seinen Körper unumschränkt. Er ist fähig, die Herztätigkeit, die Arbeit seiner ganzen Verdauung und die Leistung all seiner Organe nach Wunsch zu regeln. Unzählige Reisende aus dem Westen konnten die Erfahrung machen – falls es ihnen nach großen Schwierigkeiten gelungen war, einen echten Hatha-Yogi zu Gesicht zu bekommen, dass Yogis im Alter von achtzig bis neunzig Jahren den Eindruck von dreißig- bis vierzigjährigen Männern machten und für westliche Begriffe ein unerhört hohes Lebensalter erreichen, weil sie ihren Körper nach eigenem Gutdünken mit neuen Lebensenergien füllen können.
Indessen ist nicht die Verlängerung des Lebens das Ziel der Yogis. Hatha-Yoga ist kein Endziel, sondern Vorbereitung auf einen höheren, geistigen Yoga. In einem kranken Körper wird es sehr schwer sein, das Selbstbewusstsein zu entwickeln und einen höheren Geisteszustand zu erleben. Deshalb sollen wir zunächst die in unserem Körper tätigen Kräfte kennenlernen, um sie nachher gut gebrauchen und beherrschen zu können. Da wird unser Körper nicht mehr ein Hindernis sein bei dem Aufstieg auf höhere, geistige Ebenen. Wer sich damit zufrieden gibt, in den Besitz magischer Kräfte zu gelangen, mit deren Hilfe er Dinge zuwege bringt, die Wunder genannt werden, der ist auf halbem Weg stecken geblieben und kann nicht vorwärts kommen. Das Ziel, das anzustreben ist, kann nur eines sein: Die Befreiung aus dem Kerker der materiellen Welt. Verwechseln wir also nicht den Zweck mit dem Mittel. Die Kenntnis des Körpers und seiner Geheimkräfte ist – wenn auch noch so wichtig – doch nur ein Mittel. Ein echter Hatha-Yogi wird demnach seine Wissenschaft und seine Fähigkeiten nie vor jemandem zur Schau stellen, um die Neugierde zu befriedigen. Wer dies tut, ist kein echter Hatha-Yogi. Der echte Hatha-Yogi verwendet seine Fähigkeiten nur in dem einen Fall – wenn er anderen damit beistehen kann.
So hat zum Beispiel mein Meister niemals gesagt, über welche Kräfte er verfügt. Einmal saß er in seiner kleinen Hütte im tiefen Wald; wir Schüler waren in einer Lichtung vor der Hütte in ein Gespräch vertieft. Da kam ein kleiner Mungo aus dem Dickicht hervor. Halbtot schleppte sich die unglückliche kleine Kreatur weiter, und als sie näher kam, sahen wir, dass sie einen Schlangenbiss erhalten hatte. Der Instinkt trieb das Geschöpf zur Hütte unseres Meisters. Mit schwerer Mühe schleppte es sich vor den Eingang, wo es sich im Todeskampf wand. Nun legte der Meister seine Rechte auf das kleine Tier und fiel in Versenkung. Eine Zeit lang verharrte er darin. Plötzlich regte sich der Mungo, rappelte sich auf und lief hurtig davon. Nun sahen wir, über welche Kräfte unser Meister verfügte.
In letzter Zeit wandte sich die ärztliche Wissenschaft des Westens mit ernsthaftem Interesse dem Hatha-Yoga zu, und so bieten diejenigen, welche in den Geheimnissen des Hatha-Yoga Bescheid wissen – die Yogis – wertvolle Einblicke für die Bestrebungen und Ziele der Wissenschaft.
Die Anfangsstufe des Hatha-Yoga ist so interessant und nützlich, dass es sich lohnt, diese kennenzulernen und sich damit zu befassen. Auch der größte Meister begann mit ihr sein Lernen, denn ohne ABC gibt es kein Lesen. Die unterste Stufe des Hatha-Yoga lehrt uns die Kunst, gesund zu sein.
Vor allem anderen müssen wir mit unserem eigenen Körper bekannt werden, jedoch nicht in der Theorie, wie es die Anatomie lehrt. Die Anatomie unterrichtet uns darüber, was im menschlichen Körper wo zu finden ist. Dass ich aber meinen eigenen Körper wirklich kenne, bedeutet etwas ganz anderes. Es bedeutet, dass ich, wenn ich zum Beispiel mit meinem Verstand weiß, wo das Herz ist, ich auch mit meinem Bewusstsein in das eigene Herz hinuntersteigen kann und seine Formen, Kammern, Vorkammern, Klappen, seine Bewegungen und alles so deutlich und klar empfinde, dass dieser Zustand etwa auf folgende Weise zum Ausdruck gebracht werden könnte: »Ich bin das Herz.« Und das muss ich ebenso mit meinem Magen, meinen Gedärmen, der Leber, der Niere und jeder Faser meines Körpers zustande bringen können. Wer noch keine Yoga-Übungen gemacht hat, wird höchstens seine Zunge und das Innere seines Mundes im erwähnten Grad kennen. Wer aber Hatha-Yogi werden will, der muss sich so lange üben, bis er sein Selbstbewusstsein auch in den kleinsten Teil seines Körpers versetzen kann. Ist er so weit gelangt, dann besteht der nächste Schritt darin, das Bewusstsein – mit der Willenskraft vereinigt – in die kleinste Faser des Körpers überzuleiten. Bezogen auf das vorherige Beispiel: Es genügt nun nicht mehr, mit dem Bewusstsein in mein Herz einzudringen, sondern ich muss es auch unter meine Kontrolle bringen. Mein Herz muss sich meinem Willen unterordnen, damit es das Blut je nach meinem Gutdünken langsamer oder rascher in den Körper pumpt. Das ist nicht unmöglich! Ebenso wie jeder Mensch seine Zunge, seine Finger oder viele andere Körperteile nach Gutdünken bewegen kann, ebenso kann jedermann mit systematischen Übungen alle Teile des Körpers unter seine Herrschaft bringen. Auch unter den Durchschnittsmenschen gibt es große Unterschiede darin, wie weit einem Menschen sein Körper bewusst ist. Dies ist auch je nach seinem Beruf verschieden. Die Finger eines Pianisten sind viel unabhängiger und selbstbewusster als die eines Menschen, der nie Klavier gespielt hat. – Weshalb? Weil sich der Pianist seine Finger durch ständiges Üben bewusster gemacht hat. Der Hatha-Yoga-Schüler übt ebenfalls ständig, Jahre hindurch, Tag für Tag, mit Geduld und Ausdauer. Er übt aber die Einführung des Bewusstseins in allen Teilen seines Körpers. – Lohnt sich das? Ja! Denn das Ergebnis ist bewunderungswürdig. Er entdeckt geheimnisvolle Kräfte in sich, die er nach und nach meistern wird. Er lernt Bescheid darüber, dass zwei Lebensströmungen in seinem Körper tätig sind, deren vollkommenes Gleichgewicht vollkommene Gesundheit bedeutet. Gleichzeitig mit einer ständigen Erweiterung seines Bewusstseins gelangt er zur Erkenntnis, dass diese zwei Lebensströmungen nicht nur ihm innewohnen, sondern dass alles, was in Raum und Zeit lebt, deshalb lebt, weil es die Polarität und den Rhythmus in sich trägt. Er beginnt, die Geheimnisse der Schöpfung zu erschauen. In dem Moment, da das schöpferische Prinzip aus dem Absoluten hervortritt und sich spaltet, wird der negative und positive Pol, wird die Polarität geboren. Zwischen den beiden entsteht eine pulsierende Bindung, geboren wird der Rhythmus – und es beginnt die Offenbarung des LEBENS!
Schon in den Kristallen können wir das Vorhandensein positiver und negativer Pole entdecken und ihre Anwesenheit bei allen Graden von Lebensäußerungen feststellen. Polarität und Rhythmus beleben das ganze Universum. Der Kreislauf gigantischer Himmelskörper im unendlichen Raum mit ihren Planeten und Trabanten – inbegriffen die Sonnenflecken – der pulsierende Herzschlag der Lebewesen, unser Atem und Sein, all dies geschieht in einem Rhythmus, welcher der Polarität entspringt. Die positiven und negativen Energien lösen einander rhythmisch ab, positive und negative Zustände in vollkommenem Gleichgewicht verursachend.
Der im Weltall tätige Rhythmus wird in der indischen Mythologie durch die tanzende Gestalt des Gottes Shiva symbolisiert. Der Tanz ist eine Offenbarungsform des Rhythmus.
Auch unsere Erde hat zwei Pole, und wir Menschen, die wir aus Staub geworden sind und wieder zu Staub werden, wir tragen die Polarität ebenfalls in uns, als positive und negative Pole. Der Sitz des positiven Pols ist in der Schädeldecke, im Gehirn, dort, wo der Haarwuchs in Form eines spiraligen Wirbels aus einem Punkt hervorgeht. Am Kopf der Kinder ist dieser Ort gut sichtbar. Der negative Pol sitzt im Steißbein, im letzten Knochenwirbel. Zwischen den beiden Punkten kreist ein Hochspannungsstrom. Diese Spannung ist das LEBEN selbst!
Der Träger des Lebens ist die Wirbelsäule.
Das Leben wollte sich offenbaren, und so erweiterte es den obersten Wirbelknochen des Rückgrates und schuf darauf den Schädel. Es entwickelte den in diesem befindlichen feinen Stoff zum Träger seiner Spannung und gab ihm die Eignung zum Ausdruck von Vernunft und Gefühl. So entstand das Gehirn. Durch diese Materie wollte es sehen, hören, riechen, den Geschmack der Dinge wahrnehmen und tasten. So entstanden die Sinnesorgane: Augen, Ohren, Nase, Mund und Tastnerven.
Um sich im Raum fortbewegen und handlungsfähig zu sein, sorgte es für Füße und Hände. Damit aber dieses Gebilde fortbestehen könne und dazu fähig sei, im Falle einer Abnützung Ersatz zu stellen, schuf es die verschiedenen Organe zur Selbst- und Arterhaltung. Der Vermittlung des Lebensstromes dient das Nervensystem. Schließlich wurde dieses sich auf zwei Füßen fortbewegende Werkzeug der Offenbarung des LEBENS mit einem Namen bedacht: »Mensch.«
Das LEBEN wurde sich im MENSCHEN seiner selbst bewusst, infolgedessen sprach es und sagte: »ICH BIN!«
Das LEBEN in uns ist das, was der Mensch in sich selbst »ICH« nennt. LEBEN und ICH sind das immerwährende, unsterbliche SELBST, das nie geboren wurde, also auch nie sterben kann, denn das ICH ist das LEBEN, und das LEBEN kann nicht sterben. Es ist nur der Körper, der geboren wird und stirbt. Dieser ist jedoch bloß die Kleidung, die Hülle des ICHS, ein Hilfsmittel, damit das ICH sich auch auf der Ebene des Stoffes offenbaren kann.
Wenn das LEBEN seiner selbst bewusst wird und dieses Bewusstsein über die Vernunft in das eigene Ich zurückleitet, so nennt man diesen Zustand SELBSTBEWUSSTSEIN.
Das SELBST bekleidete sich mit dem Körper und strömt mit Hilfe des Nervensystems sich selbst – also das LEBEN – in alle Fasern seines Körpers aus, diesen mit vollkommenem Gleichgewicht und mit Harmonie erfüllend. So ist die Funktion des Körpers regelmäßig, das heißt: GESUND.
Der Mensch trägt die positiv sendenden und gleichzeitig die negativ empfangenden, widerstehenden Eigenschaften seines Wesens in sich. Innerhalb seiner aus Gegensätzen verwobenen Persönlichkeit muss er das volle Gleichgewicht wahren, die Gegensätze miteinander verbinden, sie ergänzen und in sich selbst ausgleichen. Nur dann ist er vollkommen, nur dann ist er ein Ganzes und gesund und kann seiner irdischen Aufgabe entsprechen, wie im Sonnenstrahl die Komplementärfarben sich in vollkommenem Gleichgewicht ergänzen: Rot und Grün – Lila und Gelb – Blau und Orange. Diese Farben sind einander entgegengesetzt und gehören gerade deshalb zusammen. Ihre Einheit ergibt die VOLLKOMMENHEIT.
Die Gesetze von Geist und Körper befinden sich im gleichen krassen Gegensatz. Das Gesetz des Geistes ist die Selbstlosigkeit, das des Leibes aber die Selbstsucht. Und doch muss der Mensch lernen, die zwei Extreme in völliger Harmonie zu verbinden und in sich selbst zu offenbaren. Diese Wahrheit wurde von allen Propheten und großen Lehrmeistern auf Erden gelehrt, denn diese kannten das Geheimnis des Seins: Die Spannung zwischen dem positiven und dem negativen Pol. Deshalb stellten sie den unbedingten Gebieter der entgegengesetzten Kräfte – den Gottmenschen, der die Vollkommenheit erreichte – in jeder Religion mit demselben Symbol, dem aus der Verflechtung von zwei Dreiecken entstandenen sechseckigen Stern dar: ✡. Dieser Stern versinnbildlicht das Geheimnis der Kräfte, die das Weltall erhalten, gleichzeitig aber auch jenes vollendete Wesen, welches Herr des Lebens ist und den Geist und den Stoff in gleicher Weise offenbart: Den Menschen, der die Schöpfung in sich selbst vollendet hat – den GOTTMENSCHEN.
Der Gottmensch gebraucht den Körper nicht als Selbstzweck, sondern als Offenbarungswerkzeug des Geistes, der SELBSTLOSEN LIEBE. Er erfüllt ihn gleichmäßig mit den allerhöchsten geistigen Energien. Sein Körper ist demnach ein bewusstes Werkzeug des Lebens.
Das Selbstbewusstsein des Durchschnittsmenschen befindet sich noch auf sehr niedriger Entwicklungsstufe. Daher wird die Ausstrahlung des Lebensstromes im Körper nur in sehr geringem Maße bewusst und zum größeren Teil unbewusst, automatisch wahrgenommen. Der Körper eines auf niedriger Bewusstseinsstufe befindlichen Menschen ist bei weitem nicht so eingestimmt wie der des höher geordneten. Letzterer hat viel mehr Gehirnwindungen, sein Nervensystem ist viel dichter, somit eingestimmter, lebendiger und infolgedessen ein viel willigeres Werkzeug seines ICHS.
Auch die Körperbewegungen des selbstbewussten Menschen mit eingestimmtem Körper sind anders geartet als die eines Menschen niederer Ordnung. Als »grazil«, »geschmeidig« oder »schön« bezeichnen wir die Körperbewegungen, den Gang eines solchen Menschen. »Ungeschlacht« oder »plump« nennen wir dagegen einen anderen, in dessen Körper die Äußerungen des LEBENS auf niedriger Stufe stehen. Der Mensch wird immer dort etwas als schön oder entzückend empfinden, wo sich das LEBEN ausgereifter entfaltet, das heißt da, wo wir das universelle SELBST, unser eigenes ICH, erkennen und auffinden!
Die einzige Glückseligkeit ist: Sich selbst zu finden! Das ist es, was wir in jeder Freude, in jedem Glücksgefühl suchen. Befindet sich unser ICH in diesem Zustand, ruht es in sich selbst, so ist ein vollkommenes Gleichgewicht in unseren ausgestrahlten Lebensenergien vorhanden. In diesem Falle ist unsere Seele, ist unser Körper gesund!