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Das Buch

„Keine Bibel“ – Ideal für Neu- und Wiedereinsteiger, die keine Lust auf 1000 Seiten haben. Verständlich, unterhaltsam, auf den Punkt erzählt von Bestsellerautor Christian Nürnberger. Und nicht nur das: Auch wer wissen will, wie die Geschichten zusammenhängen und wie sie uns geprägt haben, wird hier fündig. Ein Leseerlebnis – ebenso überraschend wie aktuell.

Der Autor

© privat

Christian Nürnberger (Jahrgang 1951) ist ein hochkarätiger Autor. Der Journalist studierte Theologie, arbeitete als Reporter bei der Frankfurter Rundschau, als Redakteur bei Capital, und als Textchef bei Hightech. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Für „Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich“ wurde er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 ausgezeichnet. Seine Luther-Biografie „Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten“ stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Mehr über Christian Nürnberger: http://christian-nuernberger.de/

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

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INHALT

Keine Bibel

ALTES TESTAMENT

Vorgeschichte: Von der Erschaffung der Welt zur babylonischen Sprachverwirrung

1. Als aus dem Nichts eine ganze Welt samt Mann und Frau entstand

Zwischenruf: Aber was ist mit Adams Rippe, aus der Eva gemacht wurde?

2. Gott stiftet eine ewige Beziehung

Zwischenruf: Warum zwei widersprüchliche Versionen derselben Geschichte?

3. Alles war gut, aber dann …

4. Mord in erster Generation und gleich ein Brudermord

Zwischenruf: Warum soll man diese alten Geschichten heute noch lesen?

5. Die Gewaltspirale beginnt

6. Ein zorniger Gott zerstört sein eigenes Werk

7. Gott versucht einen Neustart mit Noah

8. Die Unverbesserlichen werden größenwahnsinnig und verstehen einander plötzlich nicht mehr

Erzelterngeschichte: Gottes nächster großer Versuch mit Abraham, aus dem ein Volk werden soll

1. Wozu braucht Gott eigentlich ein eigenes Volk?

2. Abraham – Ein Viehhirt macht Weltgeschichte

Zwischenruf: Wie seltsam ist das denn?

3. Gott versucht sich als Gründer eines eigenen Volkes – mit einer unfruchtbaren Frau

4. Das Schweigen der Männer – Funkstille zwischen Gott und Abraham

5. Abraham feilscht mit Gott

6. Zwei Städte, die bis heute für Unrecht, Gesetzlosigkeit und Gewalt stehen: Sodom und Gomorrha

7. Endlich, ein Sohn!

8. Abrahams Kinder

9. Gottes rätselhaftes, skandalöses, schockierendes Verlangen

Zwischenruf: Was soll diese abstruse Geschichte?

10. Isaak und Rebekka

11. Gottes Angriff auf die natürliche Ordnung der Welt

12. Jakob und Esau – wie ein Betrüger zu einem Stammvater des Glaubens wird

13. Drei Erzeltern, zwölf Stämme und das übliche Menscheln unter Gottes Bodenpersonal

Das Familiendrama im Hause Jakob

1. Josef, Vaters eitler Lieblingssohn, den Brüdern verhasst

2. Josef in Ägypten

3. Josefs Wiedersehen mit seinen Brüdern am Königshof

4. Der Bruder-Test

Exodus – Urgeschichte aller Befreiungsbewegungen und Gründungsmythos des Volkes Israel

1. Ein neuer Pharao versklavt das Volk Gottes

2. Die Rettung des künftigen Retters Mose

3. Ein Mann des gerechten Zorns

4. Die unheimliche Stimme aus dem brennenden Dornbusch

5. Mose hat Angst, Gottes Auftrag zu erfüllen

6. Der erste Sklavenaufstand der Weltgeschichte beginnt

7. Die Machtprobe – ein Volk kämpft um seine Freiheit

8. Showdown

9. Die letzte Nervenprobe

10. Die große Freiheit, erkämpft mit Blut und Opfern

Zwischenruf: Gott billigt also die Anwendung von Gewalt, ist sogar selbst ein Gewalttäter?

11. In der Wüste – frei, aber nicht glücklich

12. Frei für eine neue Bindung

13. Die Zehn Gebote

14. Gottes Weltrevolution

15. Die Sozialordnung Gottes

16. Der Tanz ums Goldene Kalb

17. Dem Glück ganz nah, aber dann bricht die alte Sklavenseele wieder durch

18. Moses Tod

19. Die Hure Rahab und die Trompeten von Jericho

20. Keine heile Welt

21. Rut – eine Geschichte von Witwen, Waisen, Flüchtlingen und einer Patchwork-Familie

Aufstieg und Fall eines Königreichs

1. Hanna, Samuel und Saul

2. David und Goliat

3. König David

4. Davids Großreich – ein Reich wie jedes andere?

5. König Salomo der Weise, der seinem Reich Ruhm und Glanz beschert

6. Salomos Ruhm und Israels Niedergang

Ein Volk ohne König, ohne Land, ohne Orientierung

Zwischenruf: Total besiegt, zerstreut, deportiert, demoralisiert und trotzdem nicht untergegangen – wie war das möglich?

1. Amos, der Sozialkritiker

2. Jona, der mutige Feigling

3. Daniel, der Abenteurer, Aufklärer und Missionar

4. Daniel in der Löwengrube

5. Daniel und das Menetekel

6. Daniel deckt einen Priesterschwindel auf

Korrektur eines Gottesbilds

1. Hiob, Gottes bester Mann, muss leiden wegen einer teuflischen Wette

2. Ein Gerechter stellt einen ungerechten Gott zur Rede

Neue Hoffnung und neuer Optimismus am Ende des Alten Testaments

1. Schwerter zu Pflugscharen

Zwischenruf: Staatenlos, heimatlos, oft rechtlos und besitzlos, aber nie orientierungslos

NEUES TESTAMENT

Gottes großer Paukenschlag

Vorrede

1. Ein Jude namens Jesus verschreckt die Juden, erstaunt die Heiden

2. Vier Begeisterte erzählen der Welt von ungeheuren Ereignissen

3. Als die Christen noch nicht wussten, dass sie Christen sind

4. Die Welt, in die Jesus hineingeboren wurde

Die berührenden Geschichten von den Anfängen

1. Eine unfruchtbare Frau, ein stummer Priester und ein Engel im Tempel

2. Maria bekommt Besuch von ganz oben

3. Zwei schwangere Frauen

4. Die Geburt Johannes des Täufers

5. Die berühmteste Geburtsgeschichte der Welt

Zwischenruf: Ist jetzt das Alte Testament außer Kraft gesetzt?

6. Die Weisen aus dem Morgenland

Zwischenfrage: Warum erfahren wir nicht, wie das Baby zum Kind und das Kind zum Erwachsenen reifte?

7. Das zwölfjährige Wunderkind und seine verständnislosen Eltern

8. Der Rufer in der Wüste – Johannes der Täufer

9. Der Himmel öffnet sich, eine Taube fliegt herab – Jesus wird getauft

10. Getauft. Aber noch nicht geprüft

Der erwachsene Jesus verlässt seine alte Familie und gründet eine neue

1. Jesus wird aus der Stadt gejagt

2. Ein Meister schart Jünger um sich und bildet mit ihnen eine neue Familie

3. Jesus lehrt, predigt, heilt Kranke

4. Jesus gebietet über die Kräfte der Natur

5. Die Hochzeit zu Kana

6. Wie mehr als 5.000 Menschen von zwei Fischen und fünf Broten satt wurden

7. Jesus weckt Tote auf

Zwei Zwischenfragen

Wer soll das alles glauben?

Wenn das alles nur Mythen und Sagen für antike Menschen sind – was haben sie uns dann heute noch zu sagen?

Jesus – der radikale Neuinterpret der alten Schriften

1. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

2. Die vier Pointen des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter

3. Die einfachen Kriterien des Weltenrichters

4. Warum sich Jesus bei der jüdischen Oberschicht verhasst macht

5. Jesu Konflikte mit den moralisch Hochanständigen

6. Der tugendstolze Pharisäer und der demütige Zöllner

7. Jesu zweifelhafter Umgang mit »zwielichtigem Gesindel«

8. Jesu Kampf um die Verlorenen

9. Jesus und die Ehebrecherin

10. Jesus und die Politik

11. Jesus – ein Radikaler im Dienst Gottes

12. Der reiche Jüngling

13. Vaterunser – das Gebet aller Gebete

14. Bergpredigt

15. Ich aber sage euch …

16. Die Goldene Regel

Vier Zwischenfragen

War Jesus ein weltfremder, realitätsferner Traumtänzer?

Den Feind lieben – wer schafft das denn?

Ist die Nächstenliebe eine christliche Erfindung?

Was meint das Wort »Ich bringe euch nicht den Frieden, sondern das Schwert«?

Jesus geht in die Hauptstadt – der Anfang von seinem Ende

1. Ein sanftmütiger König reitet auf einem Eselsfohlen in Jerusalem ein

2. Ein zorniger Gottessohn wirft die Geschäftemacher aus dem Tempel

3. Die Mordpläne gegen Jesus reifen und ein Verräter ist auch zur Stelle

4. Das letzte Abendmahl

5. Jesus verblüfft seine Jünger, indem er ihnen die Füße wäscht

6. Im Garten Getsemani

7. Vor dem jüdischen Gericht

8. … da krähte der Hahn

9. Vor dem römischen Gericht

10. Das Ende des Judas

11. Das Leiden und die Qualen beginnen

12. Kreuzigung und Tod

13. Jesus erhält ein würdiges Begräbnis

14. Erdbeben, Blitze, Engel, Frauen vor dem leeren Grab und in Ohnmacht fallende Soldaten

15. Der Auferstandene erscheint seinen Anhängern und verabschiedet sich

16. Die Emmaus-Jünger

17. Himmelfahrt

Zwischenruf: Und wieder die Frage, wer das alles glauben soll?

Jesus ist weg, seine Geschichte geht weiter – die Apostelgeschichte des Lukas und die Briefe des Paulus

1. Das vergebliche Warten auf die Rückkehr Jesu aus dem Himmel

2. Lukas erzählt, wie es nach der Himmelfahrt Jesu weiterging

3. Nach der Himmelfahrt: Pfingsten und die Kraft des Heiligen Geistes

4. Die Gütergemeinschaft der ersten Christen sowie Zeichen und Wunder

5. Erste Probleme

6. Der erste Märtyrer

7. Ein Christenhasser namens Saulus

8. Das berühmte »Damaskus-Erlebnis« des Saulus Paulus

9. Europas erster Missionar

10. Die Briefe des Paulus – die ältesten und authentischsten Texte des Neuen Testaments

Zwischenruf: Ein Herz und eine Seele? Von wegen!

11. Paulus und seine große Leistung als erster Lehrer und Theologe der Christenheit

12. Die neue Gesellschaft entsteht, wird verfolgt und drückt der Welt ihren Stempel auf

13. Die Briefe

Die Offenbarung des Johannes, auch »Apokalypse« genannt

1. Vom Ende der Welt

2. Warum das letzte Buch der Bibel zugleich das umstrittenste ist

3. Das große Rätsel um die Zahl 666

4. Die Welt muss untergehen, aber danach wird alles gut

Acht Botschaften der Bibel und ein persönliches Bekenntnis zum Schluss

Gerechtigkeit soll herrschen. Es darf keinen Armen unter euch geben.

Flüchtlingen muss geholfen werden

Mächtige dürfen kritisiert werden

Die Herrschaft von Menschen über Menschen soll aufhören, denn vor Gott zählt jeder gleich viel

Nicht ohne die Frauen

Not soll beseitigt werden

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Heil kann die Welt nur durch den Glauben werden


Ein Wort zur verwendeten Literatur

Eva verführt Adam, Kain erschlägt seinen Bruder Abel, Noah baut eine Arche. David besiegt mit nur einer Steinschleuder einen bis an die Zähne bewaffneten Krieger. Ein Kind wird geboren in einem Stall, wächst heran, stirbt qualvoll am Kreuz, kehrt nach drei Tagen unter die Lebenden zurück, fährt auf in den Himmel.

Solche Geschichten vom Anfang der Welt bis zu deren Ende erzählt die Bibel. Sie werden hier nacherzählt und eingeordnet. Nicht alle, aber alle wichtigen, kurz und knapp, auf den Punkt.

Es ist:

Keine Bibel

für Insider, kein Buch für Menschen, die alles bis ins Detail wissen wollen, sondern für Einsteiger, also die wachsende Zahl derer, die noch nie eine Bibel in der Hand hatten, aber endlich einmal wissen möchten, was eigentlich drinsteht. Ebenso ist es ein Buch für Wieder-Einsteiger, also für einst christlich Sozialisierte, die aber heute Mühe hätten, auch nur eine einzige biblische Geschichte lückenlos nachzuerzählen. Geschrieben wurde es ebenso für die Aussteiger, die mit der Bibel, Gott, Kirche, der Religion überhaupt schon vor langer Zeit abgeschlossen haben und seitdem meinen, damit nun endgültig und für immer »fertig« zu sein. Man sollte solch endgültige Beschlüsse ab und zu überprüfen, und dieses Buch ist auch ein leiser Appell, sich diesem Wagnis doch einmal zu stellen. Zu guter Letzt wendet sich dieses Buch auch an die gar nicht so geringe Zahl derer, die nach dem Versuch, die Bibel einmal ganz zu lesen, vorzeitig aufgegeben haben.

Es ist gar nicht so einfach, mit der altertümlichen Sprache der Bibel, ihren vielen Wiederholungen, dem Durcheinander aus Erzählung, Predigt, Gesetzestext, Dichtung, Stammbäumen zurechtzukommen. Ohne ein Minimum an Hintergrundwissen wird man die Bibel nicht verstehen und den roten Faden, der das ganze Buch zusammenhält, nicht finden. Dieses notwendige Minimum an Hintergrundwissen wird hier mitgeliefert, der rote Faden sichtbar gemacht.

Aber im Mittelpunkt stehen die biblischen Geschichten selbst. Es sind die Geschichten eines Gottes mit seinem Volk. Es wird erzählt, warum Gott überhaupt ein Volk braucht.

Einzelne Mitglieder dieses Volkes treten hervor mit Namen, die wir noch heute tragen – manche vielleicht, ohne zu wissen, dass ihr Name aus der Bibel kommt. Abraham und Sarah, Josef und Maria, Anna, Benjamin, David, Elisabeth, Hanna, Jakob, Johannes, Jonas, Lea, Lukas, Lydia, Markus, Matthias, Michael, Mirjam, Noah, Paul, Peter, Philipp, Ruth, Thomas, Tobias ... Solche und viele weitere, hier nicht genannten Namen sind heute in aller Welt unter Juden, Christen und Muslimen verbreitet.

Vielen dieser Namen werden wir in diesem Buch begegnen. Sie sind verbunden mit fast allem, was das Leben und das Menschsein in allen Zeiten und Kulturen ausmacht: Geschichten von Gier, Macht, Sex, Neid, List, Hass, Glück, Gnade, Wunder, Rettung, Vergebung und Barmherzigkeit.

Es sind Geschichten, die Geschichte gemacht haben. Sie sind unserer Kultur eingebrannt und mehr als ein Jahrtausend lang als historische Tatsachenberichte gelesen worden. Sie schufen das christliche Welt- und Menschenbild. Sie legitimierten die Herrschaft der Kaiser und Könige »von Gottes Gnaden«. Sie verliehen der Kirche eine ungeheure Macht, die sie mal zum Guten nutzte, mal zum Bösen missbrauchte.

Biblische Geschichten lieferten die Baupläne für die Kirche, staatliche Ordnungen und Institutionen. Sie definierten das Verhältnis von Mann und Frau, Eltern und Kindern und das Verständnis von Ehe und Familie. An ihnen orientierten sich Architekten und Baumeister bei der Gestaltung von Städten, Kirchen, Klöstern und weltlichen Gebäuden. Feiertage, der Kalender, die ganze christliche Zeitrechnung wurzeln in der Bibel. Ihre Geschichten liefern den Grundstoff für Taufen, Firmungen, Konfirmationen, christliche Hochzeiten und Begräbnisse.

Figuren und Szenen aus der Bibel dienten als Motive für Dichter, Maler, Bildhauer, Holzschnitzer, Komponisten. Noch heute ist die Kunst durchtränkt mit biblischen Elementen. Selbst Satiren – man denke nur an Monty Pythons »Leben des Brian« – und atheistische Texte spielen oft auf biblische Erzählungen und Motive an.

Daher lässt sich behaupten: Die Bibel ist die Grundlage von fast allem, was unsere Kultur- und Geistesgeschichte ausmacht. Sie ist das Buch, ohne das man nichts versteht. In diesem Buch geht es um ein erstes Kennenlernen dieser Grundlage.

VORGESCHICHTE: VON DER ERSCHAFFUNG DER WELT ZUR BABYLONISCHEN SPRACHVERWIRRUNG

Als aus dem Nichts eine ganze Welt samt Mann und Frau entstand

1› Am Anfang, vor aller Zeit, als es die Zeit noch gar nicht gab, schuf Gott den Himmel und die Erde. Und danach alles, was dazu gehört, das Wasser, das Licht, die Luft, das Land.

› Zuerst knipste er das Licht an, denn noch war es finster auf der Erde. Es werde Licht, sprach er, und es wurde hell. Der erste Morgen, die erste Nacht, der erste Tag der Weltgeschichte war vollendet.

› Am zweiten Tag trennt Gott das Wasser vom Land, am dritten lässt er Pflanzen aus der Erde wachsen. Am vierten hängt er Leuchten in den Himmel, die Sonne für den Tag, den Mond und die Sterne für die Nacht. Die Zeit ist nun da und kann in Tagen, Monaten und Jahren gemessen werden.

› Am fünften Tag schwimmen Fische, Delfine, Wale, Pinguine und Robben im Wasser. Falken, Adler, Tauben, Spatzen und Schwalben fliegen durch die Luft.

› Am sechsten Tag springen Hasen, Rehe und Hirsche über das Land. Bären, Wölfe, Löwen und Tiger gehen auf die Jagd. Es wimmelt von Leben auf der Welt.

› Aber etwas fehlt noch, ein krönender Abschluss: ein Geschöpf, zu dem Gott eine persönliche Beziehung entwickeln kann, das ihn neugierig machen wird und ihn überraschen kann. Ein freies Wesen, das ihm ähnlich ist, will er nun erschaffen.

› Und so erschafft Gott den Menschen, den Mann, die Frau. Als sein eigenes Ebenbild hat er sie erschaffen. Mit Verstand und einem freien Willen.

› Ihnen gibt er den Auftrag, sich zu vermehren und über die Erde zu herrschen.

› Am siebten Tag ruht Gott sich aus, segnet diesen Tag und erklärt ihn für heilig. Der Ruhetag war erschaffen, die Schöpfung vollendet.

Zwischenruf: Aber was ist mit Adams Rippe, aus der Eva gemacht wurde?

Die Schöpfung vollendet? Das soll schon die ganze Geschichte gewesen sein? Heißt es nicht, Gott habe Adam aus einem Erdenkloß geformt und ihm den göttlichen Odem eingeblasen? Und wird nicht erzählt, Gott habe Eva aus Adams Rippe geschnitten?

Doch, ja, hat er. Aber warum kommt das in dieser Geschichte nicht vor? Ganz einfach: Weil es noch eine zweite Schöpfungsgeschichte gibt, eine ältere. Die jüngere und modernere Geschichte ist soeben erzählt worden. In ihr hält sich Gott auf fast schon wissenschaftliche Weise an die »richtige Reihenfolge«: zuerst die unbelebte Materie, also Erde, Wasser, Licht und Luft. Dann erst können Pflanzen wachsen, danach die Tiere, und ganz zum Schluss die Menschen, und zwar gleich als »Doppelpack« in Form von Mann und Frau, also irgendwie gleichzeitig und gleichberechtigt. Aber Namen haben die Menschen in dieser Version noch nicht.

Die bekommen sie in der zweiten Version, der älteren und anschaulicheren, auf die sich die Maler gestürzt haben. Wer die Bibel zum ersten Mal liest und den Schöpfungsbericht hinter sich gelassen hat, ist nun gespannt, wie es weitergeht. Und wird verwirrt, denn die Bibel fängt wieder von vorne an, erzählt die gleiche Geschichte noch einmal, nur ganz anders.

Gott stiftet eine ewige Beziehung

2› Die Geschichte beginnt zwar auch mit der Zeit, in der Gott Himmel und Erde machte. Aber dann macht er, als ob er es nicht erwarten könnte, gleich den Menschen. Es gibt noch keine Pflanze, kein Tier, keinen Wechsel von Tag und Nacht. Es hat noch nicht einmal geregnet. Nur Dunst steigt auf und befeuchtet die Erde. Und schon macht sich Gott ans Werk, um den Menschen zu erschaffen.

› Er macht es nicht durchs bloße Wort, wie im ersten Schöpfungsbericht, sondern mit Material – wie ein Handwerker. Und so nimmt er nun Staub von der Erde, formt daraus den Menschen und bläst ihm den Atem des Lebens ein. Der erste Mensch der Weltgeschichte erblickt das Licht der Welt. Es ist ein Mann.

› Und jetzt erst nimmt Gott sich Zeit für alles andere. Extra für sein erstes Geschöpf, den Menschen, pflanzt Gott jetzt einen Garten in Eden, bewässert von vier Strömen: Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat. Es ist ein schöner Garten, ein »paradiesischer Garten«, wie wir heute sagen würden, voller Leben, voller Schönheit, mit Bäumen, Sträuchern, Pflanzen, Gräsern, die den in ihn hineingesetzten Menschen nicht nur ernähren, sondern auch seine Sinne erfreuen und seine Seele streicheln sollen.

› In diesen Garten setzt Gott den Menschen, damit er ihn bebaue und bewahre. Was soviel heißt wie: Du, Mensch, bist ab sofort für diese Welt selbst verantwortlich. In deiner Hand liegt es, was du daraus machst, ob du deinen Garten pflegst und seine Schönheit und Fruchtbarkeit erhältst, oder ob du ihn verwahrlosen und verkommen lässt, gar ruinierst.

› Mitten in diesem Garten stehen zwei Bäume, mit denen es eine besondere Bewandtnis hat: Der eine ist der Baum des Lebens. Der andere ist der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Er trägt verbotene Früchte.

› Von den Früchten aller Bäume darfst du essen, sagt Gott dem Menschen, aber von den Früchten dieses einen Baumes nicht. Wenn du es dennoch tun solltest, würdest du des Todes sterben.

› Zum ersten Mal erleben wir Gott fordernd, verbietend und drohend. Aber gleich danach ist er wieder der gütige Vater, der sich um sein Geschöpf sorgt. Dem soll es doch wohlergehen in seinem Garten. Es soll ihm an nichts fehlen. Daher denkt Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.

› Darum erschafft Gott jetzt die Tiere, formt auch sie aus Erde wie ein Töpfer und bringt sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde. Wie ein Vater, der seinem Sohn ein Spielzeug schnitzt und nun neugierig beobachtet, was er damit wohl machen wird, wartet Gott nun, was passieren wird. Wie der Mensch auf die Tiere reagieren, welche Namen er sich für sie einfallen lassen wird.

› Dem gefällt das zunächst, dieses Benennen der Tiere, aber dann merkt Gott, dass dem Menschen der schöne Garten und all die Tiere wohl doch nicht genügen. Dass ihm noch etwas fehlt, etwas entscheidend Wichtiges. Und Gott weiß, was ihm fehlt.

› Also versetzt er den Menschen in einen tiefen Schlaf, nimmt eine seiner Rippen heraus und macht daraus eine Frau. Als der Mensch wieder erwacht und die Frau sieht, ist der Mann begeistert und ruft voller Freude: »Endlich! Sie ist’s! Eine wie ich! Sie gehört zu mir.«

› Und wie es der Herr von der Benennung der Tiere schon gewohnt ist, wendet er sein Gewohnheitsrecht gleich auch auf seine »Neuerwerbung« an, die ihm doch ebenbürtig sein soll, und gibt ihr einen Namen, mit der er sie definiert, wenn auch mit Begründung: »Die soll Männin heißen; denn sie ist dem Mann entnommen!«

› Die Namen Adam und Eva sind noch nicht eingeführt. Wohl aber wurde damit unausgesprochen etwas anderes eingeführt: Die jahrtausendealte Benachteiligung der Frau. Denn der Mann ist in dieser Geschichte derjenige, der als Erster da war, der alles benennt, und aus dessen Rippe die Frau als vom Mann abgeleitetes Wesen erschaffen wurde.

› Dann heißt es in der Bibel: Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind eins. Damit ist die Ehe gestiftet zwischen Mann und Frau.

› Die Erzählung endet mit der seltsam erscheinenden Mitteilung, dass beide nackt waren, aber sich nicht voreinander geschämt haben. Womit die biblischen Erzähler ausdrücken: Sie sind noch im Stande der Unschuld. Noch frei von Sünde. Darum wird ihnen gar nicht bewusst, dass sie nackt sind. Das kommt erst später.

› Das erste Paar der Weltgeschichte tritt ins Dasein und wird über Jahrtausende die Fantasie von Malern und Dichtern beschäftigen und dazu verführen, aus jedem einzelnen Wort »Erkenntnisse« über das Verhältnis von Mann und Frau, das Wesen des Menschen, die Ordnung der Welt und die Ordnung der Dinge herauszulesen.

› Noch etwas anderes wird unausgesprochen mit beiden Schöpfungsberichten eingeführt: Eine Beziehung ist gestiftet worden, eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen, und zwischen Gott und der Welt, und zwar eine, die halten wird vom Anfang bis zum Ende der Welt.

› Dieser Gott interessiert sich für das Schicksal der Menschen. Er nimmt persönlich Anteil an deren Leben.

› Dieser Gott ist daher etwas ganz anderes als die Götter der Ägypter, Griechen, Römer. Die interessieren sich kaum für die Menschen. Die sind sich selbst genug und interessieren sich vor allem für ihresgleichen.

› Der Schöpfergott der Bibel dagegen hat von Anfang an ein persönliches Verhältnis zu seinen Geschöpfen. Und dieses Verhältnis wird im Lauf der Zeit immer enger.

Zwischenruf: Warum zwei widersprüchliche Versionen derselben Geschichte?

Zwei ziemlich verschiedene Versionen derselben Geschichte – das wird vielleicht viele wundern, die davon zum ersten Mal hören. Aber für Eingeweihte ist das nichts Überraschendes. Sie wissen: Die Bibel ist kein Buch aus einem Guss von einem einzigen Verfasser, sondern ein Buch aus vielen Büchern, von vielen Verfassern, die zu verschiedenen Zeiten anfingen, mündlich erzählte Geschichten zu sammeln und aufzuschreiben. Daher das Wort »Bibel«. Das kommt aus dem griechischen »biblia«, Bücher.

Diese Bücher enthalten nicht nur Erzählungen, sondern auch Gedichte, Lieder, Gebete, Gesetzestexte, Chroniken, Stammbäume, aber kaum einer dieser Texte hat einen benennbaren Autor. Allenfalls einen Aufschreiber. Einen, der all die Geschichten, die immer nur mündlich erzählt und von Generation zu Generation weitergegeben worden sind, einfach einmal aufgeschrieben hat, damit sie nicht verloren gehen.

Jede aufgeschriebene Geschichte hat also schon eine lange Erzählgeschichte hinter sich. Wer sich daranmachte, sie aufzuschreiben, musste sie sammeln, auswählen, vergleichen und alles zu einem Ganzen verdichten, sodass es klang, als spräche ein einziger Erzähler. In Wahrheit spricht aber ein ganzes Volk zu uns, das Volk der Juden, das Volk Gottes, unter dem all diese Geschichten lange Zeit nur mündlich kursierten, in zahlreichen Varianten.

Waren die Unterschiede zwischen ihnen so groß, dass sie sich nicht zu einer einzigen, widerspruchsfreien Geschichte komponieren ließen, wurde eben, wie im Fall der Schöpfung, entschieden: Wir nehmen beide, denn sie sind beide gleichermaßen wichtig und gut und betonen unterschiedliche Aspekte. So ist die erste und jüngere Version der Schöpfungsgeschichte vor allem an Gott, dem Schöpfer interessiert. Durchs bloße Wort erschafft er die ganze Welt. Und am Ende, als Krönung, die Menschen, und zwar gleich als Mann und als Frau.

In der älteren und anschaulicheren Version dagegen steht die Erschaffung des Menschen im Mittelpunkt des Interesses. Mit ihm beginnt die Schöpfung. Und: Mit einem Mann. Die Frau folgt später als vom Mann abgeleitetes Wesen. Mit lange anhaltenden Folgen, von denen sich zu befreien die Frauen gerade erst begonnen haben.

Aber: Beide Versionen erzählen von der Beziehung des Geschöpfs zu seinem Schöpfer. Gott hat Interesse an seinen Geschöpfen und kümmert sich um sie wie ein liebender, fürsorglicher Vater.

Alles war gut, aber dann …

3Und Gott sah, dass es gut war. Fünfmal, an jedem Ende jedes Schöpfungstags, steht dieses Wort vom guten Gelingen. Am sechsten Tag, nach der Erschaffung des Menschen, heißt es sogar: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

› Auch für die beiden Menschen ist es gut. Sie leben im Paradies. Sie sind Gott nahe, der jeden Tag in der Abendkühle im Garten spazieren geht. Sie müssen sich um nichts kümmern. Ihre Nahrung wächst von selbst. Keine Krankheit, kein Schmerz, kein Leid, keine Furcht, keine Sorge um das Morgen trübt ihre Tage. Sie ernähren sich von Pflanzen. Kein Tier muss sterben, daher sind die Tiere zutraulich, fliehen nicht, wenn sich die Menschen nähern.

› Aber dann kommt plötzlich diese Schlange aus dem Unterholz gekrochen. Sie kann sprechen, sieht die Frau durch den Garten streifen und verwickelt sie in ein kurzes, folgenschweres Gespräch, will wissen: »Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von diesen Bäumen nicht essen dürft?«

› »Nein«, antwortet sie, »von allen Bäumen dürfen wir essen, nur von diesem einen nicht, sonst werden wir sterben müssen.«

› »Stimmt überhaupt nicht«, sagt die Schlange. »Gar nichts wird euch geschehen, wenn ihr von diesem Baum esst. Vielmehr werdet ihr danach sein wie Gott. Dann werdet ihr wissen, was gut und böse ist.«

› Die Frau sagt nichts, hält nur einen kurzen Moment inne, schaut auf den Baum, schaut auf die verbotene Frucht – und greift zu, isst, und gibt auch ihrem Mann davon, der bei ihr steht. Er hätte sagen können: »Nein, das dürfen wir doch nicht. Das hat Gott uns doch ausdrücklich verboten.« Aber schweigend nimmt er und isst von der Frucht.

› In Sekundenschnelle hat das Gift der Schlange seine Wirkung entfaltet, aber: Die Schlange hatte recht. Sie haben die Frucht gegessen und sind nicht tot umgefallen. Doch etwas anderes geschieht: Sie merken plötzlich, dass sie nackt sind. Und schämen sich voreinander. Sie haben ihre Unschuld verloren. Daher binden sie sich nun Feigenblätter um.

› Es wird Abend. Sie hören Gott kommen, fürchten sich, denn sie wissen, dass sie etwas getan haben, was sie nicht hätten tun sollen. Sie verstecken sich. Und jetzt, in dieser für die beiden Menschen heiklen Situation, in der sie sich plötzlich für ihr Tun verantworten sollen, wird der Mann erstmals beim Namen genannt in der Bibel. Jetzt ruft Gott den Mann: Adam, wo bist du? Adam heißt Erdling. Der Name verweist darauf, dass er aus Erde gemacht worden ist.

› Und Adam antwortet: »Ich habe mich versteckt, weil ich nackt bin« – die erste Ausrede der Weltgeschichte. Die natürlich nichts hilft, denn nun fragt Gott: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du etwa von der verbotenen Frucht gegessen?«

› Adams Antwort macht alles noch schlimmer, denn sie enthält eine doppelte und unfaire Schuldzuweisung: »Das Weib an meiner Seite, das ich dir zu verdanken habe, hat die Frucht gepflückt. Sie gab mir die Frucht zum Probieren.«

› Also: Du bist schuld und sie ist schuld, und ich bin nur euer Opfer.

› Gott fragt Eva: »Warum hast du das getan?« Sie schiebt es auf die Schlange.

› Die Schlange schweigt. Sie hat niemanden mehr, auf den sie die Schuld schieben könnte. Das hat nun Konsequenzen. Für alle drei.

› Zur Schlange sagt Gott: »Verflucht seist du, auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde essen dein Leben lang. Feindschaft soll herrschen zwischen dir und den Menschen. Sie werden dir den Kopf zertreten und du wirst sie in die Ferse stechen.«

› Der Frau sagt er: »Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären. Und der Mann, den du begehrst, soll dein Herr sein.«

› Zu Adam: »Dornen und Disteln werden auf deinem Acker wachsen. Aus Mühe, Not und schwerer Arbeit wird dein Leben bestehen. Und eines Tages wirst du sterben und wieder zu dem Staub zerfallen, aus dem du gemacht bist.«

› Nach diesem dreifachen Schuldspruch gibt Adam seiner Frau den Namen Eva, Mutter alles Lebendigen. Und der soeben noch zornige Gott, der ein hartes Urteil gesprochen hat, entdeckt nun wieder seine fürsorgliche Seite: Er macht Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und kleidet sie, aber nur, damit sie draußen in der Welt, jenseits des Gartens, zurechtkommen und nicht frieren.

› Denn Gott wirft sie hinaus. Die Tür fällt hinter ihnen zu und wird verschlossen. Ein Zurück ins Paradies gibt es nicht. Mehrere, nicht näher beschriebene himmlische Wächter mit flammenden Schwertern bewachen die Tür.

Mord in erster Generation und gleich ein Brudermord

4› Nun sind sie draußen in der unwirtlichen Welt, müssen sich ernähren, also arbeiten. Sie müssen sich schützen vor Kälte und Hitze, also sich Kleider machen, eine Hütte bauen, schattige Bäume pflanzen und hoffen, dass Hitze, Kälte, Dürre, Stürme und Unwetter die Früchte ihrer mühseligen Arbeit nicht zerstören. Es ist alles, wie Gott es ihnen prophezeit hatte.

› Und sie vermehren sich, wie Gott es ihnen aufgetragen hatte. Eva bekommt ihr erstes Kind, einen Sohn, und nennt ihn Kain. Sie gebiert einen zweiten und nennt ihn Abel. Der wurde ein Schäfer, während Kain ein Ackerbauer wurde. Sie bekommt auch noch einen dritten Sohn, Seth.

› Nun würde man gern erfahren, wie es so zuging in dieser ersten Familie der Weltgeschichte. Aber davon lesen wir kein Wort. Die nächste Geschichte stößt gleich zum Wesentlichen vor, zu dem Thema, das sich durch die ganze Bibel zieht, zu dem, was das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten bis auf den heutigen Tag bestimmt: Gewalt.

› Daher beginnt die Geschichte der Menschheit mit einem Mord, keinem »normalen« Mord, sondern einem Brudermord, und gleich in der ersten Generation. Das wird ganz kurz erzählt, knapp und lapidar, fast wie eine Zeitungsmeldung.

› Eines Tages bringen Kain und Abel Gott ein Opfer. Kain, der Bauer, opfert von den Früchten seines Feldes. Abel, der Schäfer, opfert ein Schaf.

› Doch nur Abels Opfer findet Gottes Wohlgefallen, Kains Opfer nicht. Und Kain verhält sich nun so, wie es nach ihm noch die meisten Menschen tun werden und heute noch tun, wie es »normal« ist, könnte man sagen: Sein Blick verfinstert sich. Er wird wütend. Neid auf den Bruder bestimmt plötzlich sein Denken und seine Gefühle.

› Gott bemerkt das natürlich und ermahnt Kain, sich zu beherrschen. Der hört nicht darauf, schweigt und wartet, von Neid und Rachsucht zerfressen, auf einen günstigen Augenblick. Als der gekommen ist, erschlägt Kain seinen Bruder Abel auf dem Feld.

› Sogleich fragt Gott: »Wo ist dein Bruder Abel?« Kain weicht der Frage aus, antwortet trotzig: »Was weiß ich? Soll ich der Aufpasser meines Bruders sein?«

› »Was hast du getan?«, fragt Gott. »Verflucht sollst du sein, du Mörder. Ab jetzt wirst du immer auf der Flucht sein. Rastlos und angstvoll wirst du künftig leben.«

› Erst jetzt kommt Kain halbwegs zur Besinnung, zeigt zwar keine Reue, aber immerhin Einsicht in die Schwere seiner Tat. Sie sei wohl größer, als dass sie mir vergeben werden könnte, sagt Kain. Um sich sogleich – wie es viele Täter tun bis auf den heutigen Tag – selbst zu bemitleiden: Für den Rest seines Lebens werde er sich nun vor Gott und den Menschen verstecken müssen, sagt er. Totschlagen werde man ihn, wenn man ihn finde. Die Sorge um sich selbst ist größer als die Trauer über die Tat, das Mitleid mit dem Bruder.

› Aber Gott ist gnädig mit dem Mörder. »Nein«, sagt Gott, »niemand darf dich totschlagen, und wenn doch, dann soll das siebenfach gerächt werden.« Darum macht Gott ein Zeichen an Kain, damit ihn niemand erschlage – das Kainsmal. Der Mann mit dem Kainsmal darf am Leben bleiben.

Zwischenruf: Warum soll man diese alten Geschichten heute noch lesen?

Eigentlich hätte man gern erfahren, warum Gott die beiden Brüder so unterschiedlich behandelt. Aber diese Erwartung wird enttäuscht. Auch kein Wort davon, dass Gott durch seine Ungleichbehandlung der beiden Brüder ja wohl irgendwie mitschuldig ist an der schlimmen Tat.

Nichts davon steht in der Bibel, denn darum geht es nicht. Vielmehr geht es um die menschliche Grunderfahrung, dass der eine mehr Glück hat im Leben als der andere. Und es ist ganz gleichgültig, warum das so ist, ob das Glück des einen selbst erarbeitet und das Pech des anderen selbst verschuldet ist, oder beides sich nur zufällig ergeben hat.

Wichtig ist nur, wie der Einzelne sich dazu verhält, wie er damit umgeht. Ob er sein Schicksal annimmt und versucht, das Beste daraus zu machen, oder ob er damit hadert, ungute Gedanken entwickelt, die in böse Taten münden.

Mit der Geschichte von Kain und Abel ist der Ton angeschlagen für alles, was nun noch kommen wird. Es geht um die erschreckende Erkenntnis, dass einer des anderen Feind ist und die Menschen es nicht schaffen, das zu ändern. Alle sagen, dass sie lieber in Frieden mit den anderen leben möchten. Aber es gelingt nicht. Die Gewalt unter den

Menschen ist so etwas wie eine Grundkonstante. Und: Nicht einmal Blutsbande können verhindern, dass Menschen einander Gewalt antun. Im Gegenteil: In der Familie kann sich keiner vor den anderen verstecken. Jeder Fehler, jede Schwäche, jede Bosheit, jede Bevorzugung, jede Benachteiligung wird offensichtlich. Hass auf den anderen erwächst aus intimster Kenntnis über ihn.

Daher ist es kein Zufall, dass der erste Mord der Weltgeschichte ein Brudermord ist.

Und der ist ja erst der Anfang. Dem Hass auf den Bruder folgt der Hass auf den Nachbarn, auf den Fremden, auf alles Andersartige, auf alle, die der Verwirklichung der eigenen Wünsche tatsächlich oder auch nur vermeintlich im Wege stehen.

Warum ist das so? Warum schaffen wir nicht, was doch alle wollen – Frieden? Woher kommt die Gewalt, woher das Böse? Wie ist es zu überwinden? Was sollen wir tun? Solche Fragen begleiten die Menschen seit ihren Ursprüngen bis heute. Früh schon, gleich in den ersten Geschichten der Bibel, wird die Frage nach der Gewalt thematisiert. Und zieht sich durch das ganze Buch.

Von Anfang an erzählt die Bibel, wie Gott darunter leidet, dass sein wichtigstes Geschöpf offenbar unfähig zum Frieden ist, und wie Gott versucht, das Problem zu lösen. Wie er dabei immer wieder scheitert und trotzdem nie aufgibt, die Geschichte mit seinen Geschöpfen doch noch zu einem guten Ende zu bringen. Das erzählen nun alle nachfolgenden Geschichten – und erzählen damit immer auch etwas über das Wesen des Menschen, seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott.

Daraus entwickelt sich ein biblisches Gottes- und Menschenbild, das Philosophen, Psychologen, Soziologen, Naturwissenschaftler weiterdenken bis heute.

Eben deshalb soll man diese alten Geschichten heute noch lesen. Aus ihnen entfaltete sich alles Weitere, das wir kaum verstehen, wenn wir die Ursprünge nicht kennen.

Die Gewaltspirale beginnt

5› Nach dem Mord an seinem Bruder Abel zieht Kain weg von zu Hause, in ein anderes Land, nach Nod, jenseits von Eden, nimmt sich eine Frau, zeugt mit ihr einen Sohn, baut eine Stadt, und hat viele Nachkommen. Sie werden aufgezählt bis zu Lamech, einem Kind der siebten Generation.

› Dieser Lamech sagt eines Tages zu seinen beiden Frauen, dass er einen Mann erschlagen habe, der ihn verwundet hat, und einen Jüngling, der ihm eine Beule zugefügt hat, denn: »Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.«

› Das bezieht sich auf die Aussage Gottes, die Kain schützen sollte: »Wenn dich jemand totschlägt, dann soll das siebenfach gerächt werden«. Scheinbar hat Gott damit die Blutrache eingeführt. Aber es war wohl eher so, dass sich dieses Gesetz von Tat und Vergeltung unter den Menschen eingebürgert hatte, und die biblischen Erzähler diesen Brauch Gott zuschrieben, weil sie noch unausgesprochen davon überzeugt waren, dass alles, was ist, von Gott so gewollt und erschaffen wurde. Dass Gott keineswegs die Blutrache guthieß, wird in einer späteren Geschichte erzählt.

› Aber jetzt geht es zunächst einmal nur um die Thematisierung der Gewalt. Dass Lamech begehrt, siebenundsiebzigmal gerächt zu werden, deutet die schreckliche Gewaltspirale an, die sich seit Kains Mord an seinem Bruder Abel in die Höhe geschraubt hat. Auf die Vergeltung einer bösen Tat folgt die Vergeltung der Vergeltung. Darauf die Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung – und so fort.

› Warum? Woher kommt die Gewalt? Die Bibel weiß noch keine Antwort. Was könnte dagegen getan werden? Die ersten biblischen Geschichten können das Problem nur benennen, ohne eine Lösung dafür zu haben. Aber der Versuch, eine Lösung zu finden, wird sich ab jetzt wie ein roter Faden durch die ganze Bibel ziehen.

Ein zorniger Gott zerstört sein eigenes Werk

6› Die Menschen auf der Erde vermehren sich. Und in dem Maß, in dem sie sich vermehren, nimmt das Hauen und Stechen unter ihnen zu. Tyrannen schwingen sich zu Herrschern über Menschen auf, knechten sie und beuten sie aus. Sie führen Kriege gegeneinander, und anstatt das Land zu bebauen und zu bewahren, wie es ihnen aufgetragen war, verwüsten sie es und tränken seine Erde mit Blut.

› Gottes Gedanken über seine Geschöpfe werden bitter und münden in ein vernichtendes Urteil: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.

› Von dem Geist, den er Adam eingehaucht hatte, ist nichts mehr zu erkennen. Stattdessen scheint sich die Bosheit der Schlange unter den Menschen durchgesetzt zu haben.

› Daher beginnt Gott sein Schöpfungswerk zu bereuen. Und es reift der Plan in ihm, noch einmal von vorn zu beginnen, indem er die Menschheit ausrottet. Die Tiere will er am Leben lassen, die Menschen aber sollen von der Erde verschwinden – bis auf einen: Noah.

› Noah war der Einzige unter den Menschen, der so lebte, wie Gott es sich eigentlich vorgestellt hatte. Darum will er mit ihm einen Neustart versuchen. Ihm offenbart er seinen Plan: »Ich will die Menschheit auslöschen durch eine Sintflut. Ich will es auf der ganzen Erde so lange unaufhörlich regnen lassen, bis alle ertrunken sind. Nur du und deine Familie sollen überleben. Mit euch will ich einen Bund schließen, damit es nach der Sintflut besser werde auf Erden.«

› Und wie sollen Noah, dessen Familie und die Tiere die Katastrophe überleben? Mithilfe eines Schiffs, der Arche Noah. Ein geräumiger Kasten aus Holz soll das werden, sagt Gott und nennt Noah die genauen Maße: dreihundert Ellen lang, fünfzig Ellen breit und drei Stockwerke hoch. Das Schiff muss genug Platz haben für die Menschen, die Tiere und die Vorräte.