Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt.
Ich dachte lange, eine Beerdigung würde helfen, vom Gestorbenen Abschied zu nehmen. Abschied muss sein; das Wissen, dass einer gestorben ist, bleibt beunruhigend, bis der Abschied ihn seine Ruhe finden lässt – und einen selbst. Aber eine Beerdigung hilft nicht. Sie versichert die Hinterbliebenen der Bedeutung des Gestorbenen und lässt sie ein bisschen an seiner Bedeutung teilhaben. Sie versichert die Trauergäste der Würde des Rituals, für das man zwei oder drei Stunden opfert, bei dem man sieht und gesehen wird, dem Gestorbenen die letzte Ehre erweist und den Hinterbliebenen Anteilnahme zeigt, und sie verleiht auch den Trauergästen ein bisschen Würde. Beim Abschied helfen – dafür taugt eine Beerdigung nicht.
Es hilft, beim Sterben dabei zu sein. Auch die Begegnung mit meinem Vater, der schon gestorben war, aber noch auf dem Bett lag und noch nicht vom Bestatter zurechtgemacht war, half. Man hatte ihm die Augen und den Mund nicht geschlossen, und das Grauen des Todes, vor dem er entsetzt die Augen aufgerissen und die Zähne gebleckt hatte, brannte sich mir ein. Er war tot. Sogar wenn einer herausgeputzt wurde und aufgebahrt liegt und eher aus Plastik als aus Fleisch und Blut zu sein scheint, teilt sich sein Tod so deutlich mit, dass man weiß, man muss von ihm Abschied nehmen.
Aber dass man es weiß, macht den Abschied noch nicht. Ihn macht nur die Zeit. Und es ist eigentümlich: Je weniger man mit einem in den Jahren vor seinem Tod zu tun hatte, desto länger dauert der Abschied von ihm, je mehr man mit ihm zu tun hatte, desto rascher geht’s. Ich war mit meinem Nachbarn ein bisschen befreundet; manchmal luden wir uns auf ein Glas Wein ein, er mich im Sommer auf seinen Balkon und ich ihn im Winter an meinen Kamin, und weil wir morgens zur gleichen Zeit aus dem Haus gingen, er zum Bäcker und ich zum Zeitungskiosk, begegneten wir uns fast jeden Tag im Treppenhaus. Als er starb, war mir gerade darum nach ein paar Tagen klar, dass es mit den Begegnungen und Einladungen aus und dass er tot war. Ich nahm von ihm Abschied und war zwar noch traurig, aber es war eine ruhige Trauer – ein Schmerz nach vollzogenem Abschied, ein Abschiedsschmerz.
Ganz anders war es, als meine geschiedene Frau starb. Sie war mit ihrem zweiten Mann nach Tschechien gezogen und nach seinem Tod dortgeblieben. Wir verstanden uns gut und trafen uns zweimal im Jahr, im Frühjahr dort und im Herbst hier, und nach ihrem Tod war mir lange, als lebe sie noch und sei nur weiterhin weit weg. Sie starb im April, wenige Wochen nach meinem Besuch bei ihr, und in den nächsten Monaten war sie nicht anders in meinem Leben oder auch nicht in meinem Leben als die Jahre davor. Ich dachte immer wieder an sie, erinnerte mich an etwas, das wir erlebt oder das sie getan oder gesagt hatte, merkte mir etwas, von dem ich ihr im Oktober bei ihrem Besuch bei mir erzählen wollte, und erzählte es ihr schon einmal in Gedanken, und bei alledem sah ich sie so konkret vor mir, dass die Einsicht, dass sie tot war, daneben abstrakt blieb. Es wurde Winter, bis ich begriff, dass ich von ihr Abschied nehmen musste, und April des nächsten Jahres, bis ich ihn genommen hatte. Und nach dem langen Abschied war ich noch lange traurig – eigentlich hat die Trauer nie ganz geendet und wird auch nie ganz enden.
Von meinem Freund Andreas wollte ich gar nicht Abschied nehmen. Auch ihn habe ich in den Jahren vor seinem Tod nur in großen Abständen gesehen; er hatte nach dem Eintritt in den Ruhestand eine kleine Wohnung in Bayern genommen, wo sein Sohn Thomas lebt, und ich war in Berlin geblieben. Mal sind wir in Bayern gewandert, mal haben wir ein dichtes Konzert- und Opernprogramm in Berlin absolviert, mal haben wir uns auf halbem Weg getroffen, zur documenta in Kassel oder zu den Bayreuther Festspielen. Immer waren die gemeinsamen Tage schön, lebendig, vertraut. Wir sind Freunde seit der Kindheit.
Auch er war nach seinem Tod nicht anders in meinem Leben oder auch nicht in meinem Leben als davor; auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es nur, eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei. Ich musste keine Überraschung, keine Entdeckung, keine Enthüllung mehr fürchten. Wir waren wieder wie Kinder, und ich wünschte mir, in diesem Zustand der Unschuld würde unsere Freundschaft fort- und fortdauern.
Nicht dass sie die Belastung durch eine Enthüllung nicht ausgehalten hätte. Was ich seinerzeit getan habe und worauf ich nicht stolz bin, wofür ich mich sogar schäme – oder vielleicht muss ich mich nicht schämen, weil, was ich getan habe, nur menschlich war, aber lieber wäre mir doch, ich hätte es nicht getan –, Andreas hätte es verstanden und mir vergeben, und vielleicht hätte er sogar gesagt, es gebe nichts zu vergeben, manche Dinge fügten sich im Leben nun einmal unglücklich, und auch ich sei nur ein Opfer, wie er. Eigentlich bin ich sicher, dass Andreas so gesprochen und mir den Arm um die Schulter gelegt hätte, und wenn wir unterwegs gewesen wären, wären wir ein Stück Wegs so gegangen, ohne weitere Worte, nur mit seinem Arm um meine Schulter, und dann hätte er gelacht, sein wissendes, freundliches Lachen, und von etwas anderem geredet.
Warum hatte ich Angst vor der Enthüllung, obwohl ich sie nicht hätte haben müssen? Und wäre es nicht das Einfachste gewesen, wenn ich Andreas gesagt hätte, was damals gewesen war? Ich hatte es mir immer wieder vorgenommen. Aber wenn wir zusammen waren, erschien es zu weit hergeholt, zu lange vergangen, passte nicht zu unserer Stimmung oder in unser Gespräch, und es gab keinen rechten Grund, gerade jetzt davon anzufangen. Beim letzten Treffen hatte ich nicht davon angefangen, und beim nächsten konnte ich immer noch davon anfangen – warum also jetzt? So vergingen die Jahre, und warum ich die Angst hatte, die ich nicht hätte haben müssen, weiß ich nicht. Weil Andreas vielleicht doch nicht verstanden hätte? Aber ich verstand, warum es damals so gelaufen war, und er verstand eigentlich immer, was ich verstand.
Warum auch immer ich die Angst hatte – ich hatte sie und war erleichtert, sie nach seinem Tod nicht mehr haben zu müssen. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, und was Andreas auf Erden nicht erfahren hatte, konnte er auch nicht im Himmel oder in der Hölle erfahren. Unsere Freundschaft lebte weiter, und während sie vor seinem Tod in unseren Gedanken und bei unseren Treffen lebte, lebte sie nach seinem Tod nur noch in meinen Gedanken, da aber angstfrei. Andreas’ Tod war beruhigend, nicht beunruhigend. Warum hätte ich von Andreas Abschied nehmen sollen?
Nein, unsere Freundschaft lebte nicht nur in meinen Gedanken weiter. Ich habe Andreas’ Tochter Lena bald nach der Geburt kennengelernt, habe sie groß werden gesehen und habe sie gemocht. Wenn ich nach dem frühen Tod seiner Frau Paula bei Andreas, Lena und Thomas zu Besuch war und wenn er von Bayern nach Berlin zu Besuch kam, gehörte sie, die hiergeblieben war, immer dazu. Andreas und ich machten einen Spaziergang und aßen danach mit ihr zu Abend, oder wir machten den Spaziergang mit ihr und blieben danach zu zweit. Nach Andreas’ Tod haben Lena und ich uns manchmal zum Abendessen oder für ein Konzert oder auf einen Spaziergang verabredet; zuerst war ich’s, der sie anrief, aber bald rief auch sie mich an. Und wenn wir zusammen waren, war Andreas immer ein bisschen dabei und lebte unsere Freundschaft. Angstfrei, unschuldig, behütet.
Bis Lena auf die Idee kam, Andreas’ Akte beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik einzusehen. Ich versuchte, es ihr auszureden. Hatten wir nicht über die ehemaligen Stasi-Leute gelesen, die dort arbeiteten und denen nicht zu trauen war? Über die Unzuverlässigkeit der Akten, in denen die Führungsoffiziere tüchtig aussehen wollten und die Spitzel und die Bespitzelten Sachen sagen und machen ließen, die sie weder gesagt noch gemacht hatten? Über die Anschuldigungen und Gerichtsverfahren, die nach der Einsicht in die Akten angestrengt wurden und nirgendwohin führten, nur zur Zerrüttung von Beziehungen? Vor allem aber: Hätte Andreas nicht selbst seine Akte einsehen können, wenn er gewollt hätte, und sollte sie seinen Wunsch nicht respektieren?
Aber meine Fragen und meine Bitte machten sie nur entschlossener. Es ist eine eigentümliche Sache mit der heutigen Lust am Opfer-gewesen-Sein. Als wäre es ein Ehrentitel, als zeuge es von einer Ruhmestat. Wenn man sonst nichts geschafft hat, möchte man immerhin Opfer gewesen sein. Wer Opfer war, hat Böses erlitten und kann daher nichts Böses getan haben. Wer Opfer war, an dem sind andere schuldig geworden, und er muss selbst unschuldig sein. Lena hat nicht viel geschafft in ihrem Leben. Wenn sie schon nicht selbst Opfer gewesen sein konnte, wollte sie die Tochter eines Opfers sein. Es klingt gut: »Mein Vater kam wegen seiner politischen Überzeugung ins Gefängnis und konnte danach zwar wieder als Mathematiker arbeiten, wurde aber ständig bespitzelt.«
Ich beruhigte mich damit, dass es für sie unmöglich sein würde, Andreas’ Akte einzusehen. Die Akte einer verstorbenen Person ist in der Regel nicht zugänglich. Kinder können sie ausnahmsweise einsehen, aber nur wenn sie schlüssig darlegen, dass sie mit Hilfe der Akte Ereignisse oder Maßnahmen des DDR-Regimes aufarbeiten wollen. Daran müssen sie ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen. Was sollte Lena schon vorbringen?
Andreas war Mathematiker, wie ich auch. Nach dem Bau der Mauer machte er einen Fluchtversuch, wurde gefasst und verurteilt, kam aber nach vier Jahren Gefängnis und einem Jahr Fabrik an die Akademie der Wissenschaften. Er war ein genialer Mathematiker, man konnte auf ihn nicht verzichten. Wir beide waren in den sechziger Jahren die jungen Stars der DDR-Kybernetik und -Informatik; was die DDR auf diesem Gebiet geforscht und geleistet hat, verdankte sie uns. Nach seinem Fluchtversuch konnte nicht Andreas die Leitung des neuen Instituts für Kybernetik übernehmen, sondern musste ich es. Aber als er ans Institut kam, habe ich ihn in vielerlei Hinsicht gefördert, und ich glaube, die führenden Positionen, die ihm versagt blieben, hätten ihm auch nicht gelegen. In den Jahren im Gefängnis und in der Fabrik war er still geworden; er hatte keine planerischen und gestalterischen Visionen mehr, sondern wollte in Ruhe seine Forschungen machen. Die waren exzellent; die Veröffentlichungen, die in der DDR gemeinhin unter mehreren Autorennamen und an unserem Institut unter seinem und meinem Namen erschienen, haben dem Institut sogar im Ausland einen gewissen Ruf erworben.
Welche Ereignisse oder Maßnahmen des DDR-Regimes hätte Lena mit Hilfe von Andreas’ Akte aufarbeiten können? Was sollte ihr berechtigtes Interesse daran sein?
Ihr Antrag auf Einsicht in die Akte wurde denn auch abgelehnt. Aber sie gab nicht auf. Sie hat Geschichte und Philosophie studiert, wie viele ihrer Generation, und hat, auch das wie viele ihrer Generation, zumal bei Herkunft aus dem Osten, kläglich von Projekt zu Projekt gelebt, eine halbe Stelle für ein halbes Jahr hier, eine viertel Stelle für ein viertel Jahr dort, und war es leid. Sie wollte ihr eigenes Forschungsprojekt. Ein wissenschaftsgeschichtliches Forschungsprojekt zu den Anfängen der Kybernetik und Informatik in der DDR, mit dem sie zugleich an die Akte ihres Vaters kommen würde. Zusammen mit einem Kollegen, einem unbegabten Mathematiker, aber begabten Schaumschläger, beantragte sie bei einer Stiftung die Förderung. Das Projekt sollte auch und gerade die politische Funktion von Kybernetik und Informatik in der DDR und die politischen Absichten ihrer Begründer erforschen, unter anderem durch Interviews mit den noch lebenden Begründern, besonders mit mir, und durch Einsicht in die Akten der verstorbenen. Ehe Lena den Antrag bei der Stiftung einreichte, fragte sie mich ordentlich und höflich, ob ich bei Bewilligung zu Interviews zur Verfügung stünde und ob sie mich im Antrag nennen dürfte.
Wir trafen eine Abmachung. Ich versprach meine Kooperation unter der Bedingung, dass sie aus Respekt für Andreas auf die Einsicht in seine Akte verzichtete. Sie zierte sich, war aber schließlich einverstanden. Die Interviews mit mir versprachen mehr Aufschluss als die Akte von Andreas.
Ich war froh. Ich hatte Andreas’ und meine Freundschaft gerettet. Nichts würde ihr Bild trüben. Was ich getan hatte, würde bleiben, was es war: verständlich, verzeihlich, ein kleiner Fehltritt, ein Umweg unserer Freundschaft.
Und was hatte ich denn eigentlich getan! Andreas wäre im Westen nicht glücklich geworden. Er war ein gemütvoller, fürsorglicher, häuslicher Mensch, geschaffen für das verhaltene Leben in der DDR, in dem nicht Glanz und Geld, sondern Familie und Freunde, die Wohnung und die Datsche, ein kühnes Buch oder ein schräger Film, der Abend im Theater oder Konzert zählten. Und Paula! Sie lernten sich kurz vor seinem Fluchtversuch kennen, und ich sah damals noch nicht, dass sie füreinander bestimmt waren, aber sie waren es. Wenige Wochen nachdem er aus dem Gefängnis kam, heirateten sie, und es wurde die innigste, fröhlichste Ehe, die ich erlebt habe. Ich werde die Hochzeit nie vergessen. Ein strahlender Sommersonntag, die über die rasche Hochzeit und unsichere Zukunft besorgten Eltern, Paulas aufgekratzte Studienfreunde und -freundinnen in Nietenhose und Petticoat, manche mit kleinen Kindern, zwei bedächtige Kollegen von Andreas aus der Fabrik im dunklen Anzug, ihre Frauen mit toupierter blonder Haarpracht, der süße Rotkäppchen-Sekt und danach das Bier zum russischen Salat mit Würstchen – alles stimmte, und wir waren versöhnt mit unserem Leben und unserem Land. Ich war Trauzeuge.
Nein, Andreas wäre im Westen nicht glücklich geworden, und dass die Flucht scheiterte, war für ihn ein Segen. Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn er sie von sich aus aufgegeben hätte. Er sagte vor Gericht, er habe sie aufgegeben und die Vorbereitung abgebrochen, nur deren Spuren noch nicht beseitigt. Aber in seinem Tagebuch, das die Polizei fand, stand viel von Fluchtsehnsucht und Fluchtvorbereitungen und nichts vom Abbruch, und das Gericht glaubte ihm nicht. Ihm half vor Gericht auch nicht, dass er wegen der bevorstehenden Gründung des Instituts und möglichen Ernennung zum Leiter allen Grund zum Bleiben hatte. Er wusste davon nicht. Auch ich hatte davon nicht wissen sollen und nur erfahren, weil meine Freundin Sekretärin beim Präsidenten der Akademie war. Ich will nicht drum herumreden. Es wäre schöner gewesen, wenn die Flucht ohne mein Zutun gescheitert wäre. Wenn jemand anderes die Polizei auf den Unterwasserscooter hingewiesen hätte, den er in seiner Garage für die Flucht über die Ostsee gebaut hatte. Ich habe es anonym gemacht und wurde von Andreas nicht verdächtigt, weil ich vom Unterwasserscooter nur durch einen Zufall mitbekommen hatte, durch den auch andere von ihm hätten mitbekommen können; die elektrische Sicherung der Garagentür brannte bei einem Gewitter durch, und die Garage stand einen halben Tag lang offen.
Ich weiß nicht, ob er tatsächlich in der DDR bleiben wollte. Als ich ihn danach fragte, war alles vorbei, und er zuckte nur die Schultern. »Was soll das noch.« Ich habe die Polizei ins Spiel gebracht, weil ich ihn halten wollte, seinetwegen, und auch weil ich den Freund nicht verlieren wollte. Ich habe ihn im Gefängnis besucht, sooft ich konnte, ich habe ihn ans Institut geholt, sobald ich konnte. Er war eigenwillig, und ich habe, wenn er im Institut aneckte, meine Hand über ihn gehalten. Ich denke, wenn ich mich an ihm versündigt habe, habe ich es vielfach wiedergutgemacht.
Ich weiß nicht einmal, ob ich in seiner Akte vorkomme. Als Kollege, gewiss, und wenn ein IM auf ihn angesetzt war, dann wird er auch über mich und unsere Freundschaft berichtet haben. Aber mir wurde nie bedeutet, man habe in mir den anonymen Hinweisgeber erkannt. Vielleicht musste ich Lenas Blick in die Akte gar nicht fürchten. Wenn da nicht bei meiner Ernennung zum Direktor des Instituts der Parteisekretär von meiner gerade überzeugend bewiesenen Verlässlichkeit im Klassenkampf geredet hätte.
Lenas Projekt wurde bewilligt, und sie fing mit den Interviews an. Ich habe ihr mit mehr Freude von den Anfängen der Kybernetik und Informatik in der DDR erzählt, als ich erwartet hatte. Nach der Wende wurde mein Institut abgewickelt, und mir war, als sei mein Leben, das ich dem elektronischen Fortschritt in der DDR gewidmet hatte, mit ihrem Untergang wertlos geworden. In den Interviews wurde mir bewusst, wie viel wir mit armseligen Mitteln gegen kleinliche Widerstände geleistet hatten. Ich konnte stolz auf meine Arbeit sein.
Ich wurde mit dem Institut abgewickelt. Andreas und andere Kollegen wurden für ein paar Jahre in anderen staatlichen Instituten untergebracht und dann in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Mir wurde wegen meiner Leitungsfunktion eine besondere Systemnähe unterstellt, die mich von der Weiterbeschäftigung in einem staatlichen Institut ausschloss. Darauf habe ich mich als Systemberater selbständig gemacht, hatte Erfolg und kann mir heute im Ruhestand leisten, was einen Ruhestand angenehm macht. Ich hätte Andreas gerne mitgenommen. Aber der brutale kapitalistische Wettbewerb wäre nichts für ihn gewesen.
Unsere beste Zeit waren die sechziger Jahre. Die kurze Hoffnung, nach dem Bau der Mauer werde es mehr Freiheit geben, mehr kulturelle Offenheit, mehr Bereitschaft für wissenschaftliche und technische Neuerungen. Ich habe unlängst ein Buch über Silicon Valley gelesen, und etwas von der Aufbruchsstimmung in den dortigen Garagen gab es auch bei uns. Wir dachten, wir könnten das Planen so revolutionieren, dass der Sozialismus den Kapitalismus überholen würde. Ohne ihn einzuholen – Ulbrichts bespöttelter Spruch vom Überholen ohne Einholen erschien uns nicht seltsam, sondern prophetisch.
Ich hatte viel Arbeit mit Planung und Organisation, dem technischen Rückstand, der finanziellen Knappheit, dem Personal. Ich habe die erste Generation Mitarbeiter persönlich im ganzen Land zusammengesucht, an Schulen, an Universitäten, in Betrieben, und wenn einer bei der Volksarmee Soldat oder Bausoldat war, habe ich nicht lockergelassen, bis er zu uns abgeordnet wurde. Andreas und ich hatten ein eigenes Projekt zur Analyse chemischer Verbindungen, zunächst vom Computer nur unterstützt, später vom Computer selbständig geleistet, an dem wir viele Tage und viele Nächte arbeiteten. Bis der Parteisekretär einschritt. Wir sollten von der Kybernetik und Informatik der Sowjetunion lernen. Wir sollten das bürgerliche Spiel mit der künstlichen Intelligenz lassen. Wir sollten mit der Industrie und für die Industrie forschen.
Wir haben unser Projekt heimlich weiterverfolgt und in den siebziger Jahren bei der Lektüre amerikanischer Publikationen gemerkt, dass die Amerikaner ähnliche Projekte verfolgten und uns dabei nichts voraushatten. Außer den größeren Budgets und den größeren Rechnern, und das reichte, uns schließlich hoffnungslos ins Hintertreffen geraten zu lassen.
Ich weiß noch, wie Andreas und ich unser Projekt mit einem gemeinsamen Besäufnis zu Grabe getragen haben. Es war Donnerstag nach Weihnachten, die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, das Wetter war mild, wir hatten im Palast der Republik gegessen und saßen mit einer Flasche Korn auf einer Bank im Monbijoupark, bis eine Streife uns aufscheuchte und nach Hause schickte. Wir waren stolz, wütend, zynisch, mutlos, bedrückt, traurig, und wir waren uns sehr nahe. Was alles an Träumen zerplatzt war, wie schwierig es um die Zukunft von Kybernetik und Informatik bestellt war, wie eng und klein das Leben in unserem Land war – wir hatten uns.
Die Interviews fanden bei mir zu Hause statt. Lena kam um halb fünf, wir sprachen bis halb acht. Es war Herbst, und von Gespräch zu Gespräch wurde es ein bisschen früher dunkel. Anschließend aßen wir zusammen zu Abend, manchmal kochte ich, manchmal gingen wir in eines der Restaurants in der Nachbarschaft. Ich blieb Lena nichts schuldig, keine Auskunft, keine Hilfe beim Aufspüren ehemaliger Mitarbeiter des Instituts, kein Abendessen. Ich vertraute ihr.
Bis sie … »Ich muss dir was sagen – versprich mir, dass du mir nicht böse sein wirst!«
Wir saßen bei Kaffee und Calvados, beide heiter, ich konnte mir nichts Schlimmes vorstellen, das sie mir sagen könnte, und nickte.
Sie richtete sich im Stuhl auf, sah mich herausfordernd an und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie ist keine schöne Frau. Sie hätte eine werden können, wenn sie nicht der Welt von früh an abweisend und missmutig begegnet wäre und jetzt einen griesgrämigen Zug um den Mund hätte. Vielleicht hat der frühe Verlust der Mutter sie so werden lassen. Mir tut es leid, weil ihr Gesicht alles hat, um schön zu sein, eine freie Stirn, blaue Augen, weder zu dünne noch zu volle Lippen und Backenknochen, die ihr etwas Slawisches, Mongolisches, Interessantes geben. Immerhin verschwindet der griesgrämige Zug, wenn sie sich konzentriert und wenn sie entschlossen und hartnäckig an einer Sache dran ist. Jetzt war er verschwunden.
»Ich war beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Ich habe nicht Einsicht in Vaters Akte beantragt, sondern in die Unterlagen, die sie zu den Anfängen der Kybernetik und Informatik in der DDR haben. So macht man das bei Forschungsprojekten; man fragt nicht nach Akten über Personen, sondern nach Unterlagen zum Thema. Aber ich habe erfahren, dass Vaters Akte dabei ist – und deine auch.«
Sie hatte mich hintergangen, und sie wusste es, und sie wusste, dass ich es wusste. Dass sie nur Einsicht in einschlägige Unterlagen beantragt habe, nicht Einsicht in Andreas’ Akte – sie wusste, dass sie gleichwohl gegen unsere Abmachung verstoßen hatte. Sie hätte klarstellen können, was sie einsehen und was sie nicht einsehen wollte. Und dann auch noch meine Akte!
Ich sah sie an, sah die Entschlossenheit in ihrem Gesicht und ein Triumphieren, als habe sie’s geschafft. Was? Endlich an die Akte ihres Vaters zu kommen? Endlich die Tochter eines Opfers zu werden? Mich zu hintergehen? Aber was hatte ich ihr getan? Wofür wollte sie sich rächen? Warum machte, mich zu hintergehen, mich zu übertölpeln, sie so glücklich?
»Warum?«
»Ich hab’s dir doch gerade erklärt. Bei Forschungsprojekten fragt man nach einschlägigen Unterlagen, das gehört sich so. Und was sie einem geben, muss man einsehen, man kann zugängliche Quellen nicht unberücksichtigt lassen. Das wäre nicht seriös.«
»Du weißt schon, was ich meine. Warum?«
Die Kellnerin ging an unserem Tisch vorbei, und vielleicht fiel nur deshalb ein Schatten auf Lenas Gesicht. Sie sah mich immer noch entschlossen an, aber mir war, als sei ihr nicht mehr wohl in ihrer Haut. Sie zuckte die Schultern. »Was hast du dich so? Ich tu doch niemand weh. Du magst das mit den Stasi-Akten nicht, aber wo sie nun schon da sind, sollen sie auch benutzt werden.«
»Wir hatten eine Abmachung getroffen.«
Sie wurde rot und redete lauter. »Ich lass mich von dir nicht unter Druck setzen. Manchmal läuft es eben anders, als man es sich vorgestellt hat. Deine Alternative – ich brauche beides, die Interviews und die Unterlagen. Ich will endlich als Forscherin ernst genommen werden und Erfolg haben und eine Stelle kriegen. Das Projekt ist meine letzte Chance. Für dich geht es um nichts, also hab dich nicht so und mach mir keinen Druck.«
Ich hatte ihr nichts getan. Sie wollte sich nicht rächen. Sie hat mich gebraucht, und sie hat mich benutzt, und vielleicht mag sie mich, wie ich sie mag, ich darf ihr nur nicht in den Weg kommen.
»So ist das also.« Ich sah mich im Restaurant um, und die gewohnte Umgebung war mir nicht mehr vertraut, und die Menschen, von denen ich viele als Stammgäste kannte, waren mir fremd. Die Kellnerin, mit der ich sonst beim Zahlen scherze, kam stumm und ging stumm, und wie betäubt stand ich auf und ging mit Lena aus dem Restaurant zur nächsten Haltestelle, wie ich das immer mache.
»Wann gehst du?«
»Morgen.«
Wir standen und warteten. Dann kam der Bus, und sie umarmte mich. »Ich ruf dich an.«
Was würde sie mir zu sagen haben?
Ich schlief nicht gut. Oder vielmehr ich schlief gar nicht. Was stand in den Akten, in Andreas’ und in meiner? Was konnte in ihnen stehen? Hatte die Staatssicherheit meine anonyme Nachricht zu mir zurückverfolgt? Ich hatte sie auf meiner Schreibmaschine geschrieben, einer Erika, wie es sie in der DDR zu Tausenden gab. Konnten sie die Schrift als die Schrift meiner Schreibmaschine identifizieren, weil ich auf ihr auch meine Promotion geschrieben hatte? Warum hatte ich nie daran gedacht, meine eigene Akte einzusehen? Wenn in Andreas’ Akte etwas stünde, stünde auch in meiner etwas. Ich hätte es sofort machen sollen, als Lena auf die Idee der Einsicht in Andreas’ Akte kam. Wo hatte ich nur meinen Kopf gehabt?
Das sind nicht viele Fragen, und mir war rasch klar, dass ich auf sie keine Antworten hatte. Aber ich kam nicht von ihnen los, wie von einem Fetzen Musik, der im Ohr wurmt. Was konnte in den Akten stehen? Warum hatte ich die Nachricht auf meiner Schreibmaschine geschrieben? Warum hatte ich meine Akten nicht eingesehen? Nach einer Weile sind nicht nur die Fragen, auf die es keine Antworten gibt, quälend, sondern auch schlicht ihre Wiederkehr. Dass sie wieder und wieder kommen, dass sie nicht abgestellt werden können, dass von ihnen kein Loskommen ist, kein Sich-Entziehen, kein Sich-Verweigern.
Wie ein Schmerz, der pocht und pocht. Manchmal lässt das nächste Pochen auf sich warten. Man denkt, man hat’s hinter sich. Aber es verspätet sich nur und tut so weh wie das letzte, nein, weher, weil man sich nicht dagegen gewappnet, nicht in Abwehr zusammengekrampft hat. Immer wieder habe ich mich von der einen auf die andere Seite gedreht oder das Licht angemacht oder bin aufgestanden und habe das Fenster auf- oder zugemacht oder bin in die Küche gegangen und habe Tee gekocht. Immer wieder waren die Fragen für eine kleine Weile weg und dachte ich, ich hätte sie hinter mir. Und immer kamen sie wieder, so antwortlos, sinnlos, quälend wie davor.
Mit dem Dämmern des Morgens wird es besser. Besser mit Schmerzen oder Sorgen, die einen die Nacht über geplagt haben, besser mit Fragen, auf die man keine Antwort gefunden hat. Ich ging meinen Verrichtungen nach, löste am Vormittag für einen Kunden, den ich auch im Ruhestand noch betreue, ein Problem seines Servers, machte am Nachmittag einen Spaziergang, traf zufällig die Witwe aus dem Nachbarhaus, eine siebzigjährige Frau mit starker erotischer Ausstrahlung, die mir gefällt und der auch ich gefalle, und setzte mich mit ihr in ein Straßencafé. Bis ich daran denken musste, wie sie wohl reagieren würde, wenn in den Zeitungen über den Begründer der Kybernetik und Informatik in der DDR als Stasi-Spitzel geschrieben würde. Sie kommt aus dem Westen und hat den einfältigen Westblick auf Gut und Böse.
Aber nein, so wichtig war ich nicht. Wen interessierte schon die Kybernetik und Informatik der DDR? Wenn allerdings Lena sich von einem Skandal um meine Person Aufmerksamkeit für ihr Projekt versprechen sollte, würde sie alles daransetzen, den Skandal zu produzieren. Wie groß könnte er werden? Würde es zu mehr als einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Süddeutschen Zeitung reichen? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber über die Jahre ist viel passiert, das ich mir nicht hatte vorstellen können.
Dann war ich wieder zu Hause und wartete auf Lenas Anruf. Die Fragen wurmten nicht mehr im Kopf. Aber wie man mit der Zunge immer wieder nach der wunden Stelle im Mund tasten und sie drücken muss, bis sie wieder weh tut, musste ich meine Gedanken immer wieder auf Lena und das richten, was sie herausfinden würde. Und was dann wäre.
An diesem Abend rief sie nicht mehr an. Sie rief erst am nächsten Abend an. Sie sprach, als sitze sie über mich zu Gericht, sachlich, streng, kalt. Sie wolle mit mir reden. Sie komme am frühen Nachmittag.