Für meine Mutter
Wenn ich in Japan lande, verpennt und verknautscht aus dem Flughafen stolpere und die Frauen bewundere, die nach zehn Stunden Flug immer noch aussehen wie gerade frisch gebügelt, freue ich mich auf zwei herrliche Dinge: eine Flasche heißen grünen Tee aus einem der Automaten, die an jeder Straßenecke herumstehen – fürchterliche Energieverschwender und gleichzeitig so wunderbar –, und dazu in einem der kleinen Supermärkte ein Onigiri kaufen.
Die Supermärkte heißen »7/11« oder »Lawson« und dienen dem reinen Überleben des gestressten Großstädters. Dort gibt es alles, was man ganz schnell braucht: einen Kuli, Handschuhe gegen die Sonne, damit die Hände schön weiß bleiben, Shampoo, Matcha-Schokolade, Cup-Nudeln, Mangas für alle Geschmacksrichtungen – auch Porno-Mangas – und eben das japanische Fastfood, das auch noch gesund ist: Onigiri. Das sind Reisbällchen, meist in dreieckiger Form, gefüllt mit Lachs, Algen, Thunfisch oder einer salzigen Pflaume, eingewickelt in ein Blatt knusprigen Seetang. Der Seetang wird nur leider in Sekunden schlapp, wenn er mit Reis in Berührung kommt. Wie also schafft man es, den Seetang knusprig zu halten? Dafür hat der Japaner die genialste Verpackung erfunden, die es auf dieser Erde gibt: Minutiös den Pfeilen auf der Cellophanverpackung folgen, wehe, wenn nicht, dann klappt die ganze Aktion nicht! Als Erstes zieht man einen schmalen Streifen in der Mitte herunter, der die Verpackung in zwei Teile zerteilt, dann zupft man rechts und links zärtlich, aber energisch, auf dass ein Blatt Seetang freigegeben werde, das sich frisch und knusprig um den Reisball in der Mitte legt. Phänomenal. Ich kann nicht genug davon bekommen. Man fühlt sich so erfolgreich, wenn man das System einmal verstanden hat.
Die Reisbällchen selbst werden mehrmals jeden Tag frisch angeliefert, meine Lieblingsfüllung ist die salzige Pflaume, Ume. Allerdings konnte ich lange, lange das Schriftzeichen für Pflaume nicht entziffern und musste immer wieder Menschen im Supermarkt am Ärmel zupfen, sie zu dem Regal mit den Onigiri zerren und in verschiedenen Tonlagen intonieren: Ume? Ume? Ume? Manche reagierten panisch, manche ungläubig, besonders Männer, andere kicherten hysterisch vor Angst, aber alle, wirklich alle versuchten am Ende zu helfen, holten mir mein Ume-Onigiri mit einer einzigen Handbewegung aus dem Regal, verbeugten sich knapp und suchten das Weite.
Zupf, zupf die Verpackung aufreißen, der erste Biss ins Reisbällchen, dazu die Flasche heißen grünen Tee und mich irgendwo auf der Straße auf ein Mäuerchen hocken – erst dann bin ich wirklich in Japan angekommen.
Der Geschmack von grünem Tee, Reis und salziger Pflaume – was könnte japanischer sein?
Es hat viele Jahre gedauert, bevor mir auffiel, dass ich immer die Einzige war, die auf der Straße aß oder trank. Bis heute setzt man sich in Japan hin zum Essen und Trinken (wie früher bei uns auch). Man widmet seine Aufmerksamkeit selbst einem Reisbällchen. Und verbeugt sich sogar kurz vor ihm: itadakimas. Man bedankt sich beim Reis, bei der Pflaume, beim Seetang für die reizende Unterstützung in unserem Leben. Und für die tolle Verpackung. Nein, nicht im Ernst. Das mache nur ich.
Seit meiner Kindheit bin ich Brotfanatikerin. Am besten frisches Brot, vor allem die Kruste und am allerallerliebsten der Knust. So heißt das in Norddeutschland, woher ich komme, Scherzl in Süddeutschland, wo ich lebe. Das Endstück also. Jedes Brot hat zwei davon. Den Knust zu ergattern, mit Butter zu bestreichen und mit Salz zu bestreuen, das war für mich immer schon pures Glück. Das Problem: meine drei Schwestern. Denn jede wollte natürlich diesen Knust haben. Ob meine Mutter oder mein Vater ihn auch mal gern gegessen hätten, darüber dachten wir nie nach. Es war verboten, sich den Knust einfach abzuschneiden, ohne zu fragen, denn alles musste gerecht verteilt werden. Und noch schlimmer natürlich, das Brot von zwei Seiten anzusäbeln. Aber wie sollte man diesen einen himmlischen Knust aufteilen? Da ich ihn nicht abschneiden durfte, verlegte ich mich darauf, ihn abzuknabbern. So schnell und effektiv wie ein Kaninchen die Mohrrübe. Weg war er. Das führte zu wilder Empörung bei meinen Schwestern, zu endlosen Ermahnungen und Schimpfereien, aber nichts nützte: Ich war süchtig nach dem Knust, schlich mich nachts in die Küche, um im Dunkeln an dem frischen Brotlaib zu nagen. Dieser Duft. Diese Kruste. Diese tiefe Befriedigung, den Knust ergattert zu haben. Frisches Gersterbrot hatte den besten Knust. Der Rest des Brotes war dann eher langweilig. Die Steigerung des Gersterbrots war ein flacher Gersterlaib, den es aber nur an ganz bestimmten Tagen gab. Er bestand fast ausschließlich aus Kruste, was bei mir zur wahren Knabberekstase führte. Manchmal ließ ich dem Rest der Familie nur ein Häufchen Teig zurück.
In die Schule nahm ich tagein, tagaus nur ein knuspriges frisches Brötchen mit, ohne jeden Belag. Es durfte auf gar keinen Fall in eine Brotzeitbox gepackt werden, sonst war es im Handumdrehen nicht mehr kross. Das Brötchen flog also lose in meiner Schultasche umher, manchmal trug es Kuli- und Tintenspuren, aber das war gleichgültig, solange es nur knusprig blieb. Das Geräusch beim Reinbeißen in dieses Brötchen war das schönste Geräusch am ganzen langen Schultag. Nach der Schule trieb ich mich oft in Pferdeställen herum, weil ich Pferde vergötterte, und wie sie liebte ich trockenes Brot. Es gab Säcke von altem Brot für die Pferde, aus denen ich mich gern bediente und an den Rinden nagte wie ein Hund an einem Knochen.
Als ich zum Studium nach Amerika ging, verließ ich das Brotparadies und konnte nicht fassen, dass es in ganz Amerika kein Brot mit Kruste und Knust gab. Stattdessen Brot so weich und weiß wie ein Kissen. Ich litt. Toastete English muffins, bis sie fast verkohlt waren, um eine Kruste zu produzieren. Auch Bagel waren nur ein sehr schwacher Trost.
Zum Ausgleich kam ich später in München ins wahre Brotparadies. Der Himmel der Brezn, des Schwaben- oder Frankenlaibs, des Sonnenblumenbrots und Vinschgerls. Und alles resch. So hieß knusprig hier. Ich aß jahrelang fast nur noch Brot, und es ist bis heute das Lebensmittel, auf das ich am schwersten verzichten kann.
In Japan werde ich manchmal dazu gezwungen, zumindest auf dem Land. Ich halte das drei Wochen lang ganz gut aus, und dann überfällt mich die Sehnsucht nach knusprigem Brot. Ein Brot! Ein Brot! Ein Königreich für ein Brot! In den japanischen Städten gibt es inzwischen phantastische Bäckereien, und auch in den USA wachsen junge fanatische Brotbäcker heran, trotz verbreiteten Glutenalarms.
Nichts tröstet so gut wie ein frisches knuspriges Brot. Und wenn ich Angst habe, dass ich bei einer endlosen Veranstaltung darben muss, stecke ich mir ein Stück trockenes Brot in die Handtasche, am liebsten natürlich einen Knust.
Seit ziemlich genau zwanzig Jahren esse ich, wann immer ich kann, mittags eine Phở in einem vietnamesischen Imbiss in Schwabing. Als er aufmachte, hieß er »Viet Fun«, ein wirklich genialer Name. Doch irgendwann benannte man ihn um, keine Ahnung, warum. Damals hatten alle über die Größe der Suppenschalen gestaunt. Die waren so groß wie hierzulande Suppenterrinen, und man durfte die Suppe aus ihnen sogar trinken. Ich gab mächtig damit an, mit der Sitte des Suppentrinkens vertraut zu sein. Kurz zuvor war ich nämlich in Vietnam gewesen und hatte mich in die Phở verknallt.
Die erste Phở meines Lebens wurde mir bei 35 Grad am frühen Morgen auf der Dachterrasse eines kleinen Hotels in Hanoi serviert. Eine glühend heiße Suppe bei glühender Hitze fand ich ziemlich absurd. Tropenprofis wissen natürlich, dass man bei großer Hitze am besten Heißes trinkt. Die Suppe schmeckte herrlich würzig nach Sternanis, Ingwer und Muskat. In der kräftigen Fleischbrühe schwammen breite Reisnudeln und Hühnerfleisch, dazu wurde ein ganzer Teller Kräuter gereicht, von denen ich nur Koriander und Thaibasilikum kannte. Darüber hinaus gab es ein wenig Zitrone sowie Chili, Pfeffer und Salz aus einem Schälchen. Die Nudeln aß man mit Stäbchen, die Suppe wurde getrunken. Es ist erstaunlich, wie viel Suppe man zu sich nehmen kann, wenn man sie trinken darf. Danach schwitzte ich zwar beeindruckend, aber es umwehte mich eine kühle Brise, die damit zu tun hatte, dass ich meine Körpertemperatur auf gefühlte 45 Grad hochgeheizt hatte. Nach der Suppe gab es kalte, zuckersüße Mango – und ich hatte mein Lieblingsfrühstück entdeckt.
Von da an aß ich morgens, mittags und abends Phở. Ich konnte gar nicht genug bekommen von dieser feinen und frischen Zusammensetzung der verschiedenen Geschmäcker. Es gab sie als Rindsuppe, Phởbò, als Hühnersuppe, Phở Ga, und als Suppe mit Tofu, Phởdau. Ich lernte, dass in Hanoi die Nudeln breit und in Saigon schmal sind und dass dieser Unterschied das Land mehr teilt als alles andere. Doch jedes Mal, wenn ich Phởga bestellte, erntete ich Gelächter. Netterweise erklärte mir jemand, dass ich es aussprach wie: »Einmal Bahnhof mit Blumenstrauß.«
Zurück in München suchte ich überall nach der Phở, wie ich sie kennengelernt hatte, fand aber nur lächerliche Süppchen in Teeschalen. Wenn ich nach der originalen Phở fragte, wurde mir traurig mitgeteilt, die Deutschen verstünden so eine riesige Suppe nicht.
Doch dann machte das »Viet Fun« auf. Und da die neuen Besitzer wenig über Deutschland wussten, gab es vietnamesische Suppenschüsseln und eine annähernd originale Phở. Anfangs nur mit Petersilie und ohne Zitrone, aber weil ich vehement auf der Originalversion bestand, fügte man zögerlich ein Gewürz nach dem anderen hinzu, inzwischen liegen fast alle Kräuter auf dem Teller wie in Vietnam, samt Zitrone.
Wenn ich länger weg gewesen bin, stelle ich oft fest, dass es die Petersilie wieder zurück in die Suppe geschafft hat, dass es keinen Chili mehr gibt, keine Kräuter und keine Zitrone. Dann meutere ich so lange, bis die Besitzer ein Einsehen haben und die originale Phở zurückkehrt – was ein bisschen so ist wie die Originalversion eines Films, die ja auch immer besser ist als die synchronisierte. Man muss sie nur wirklich wollen.
Neulich las ich eine Nachricht, die mich sofort in Hochstimmung versetzte: Pasta macht überhaupt nicht dick! Ein jahrelanges Vorurteil wird mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Ha! Ist das nicht herrlich? Ich raste sofort in die Küche, setzte Wasser auf und warf die gesamte Packung Nudeln hinein. Endlich nicht mehr überlegen müssen, ob überhaupt Spaghetti – und wenn ja, wie viele? Einhundert Gramm sind, ehrlich, eigentlich immer zu wenig für eine Person. Einhundertfünfundzwanzig sollten es schon sein, am liebsten aber, wirklich ganz ehrlich, zweihundert. Habe ich mich schon ewig nicht mehr getraut. Aber nach dieser Nachricht? Natürlich! Wir Pasta-Lover haben immer gewusst, dass Spaghetti trösten, nicht erst seit wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass der Serotoninspiegel nach Pastaverzehr ansteigt. Aber dann machten uns die Diätfetischisten einen fetten Strich durch die Rechnung: Low Carb hieß die neue Losung, und jeder halbwegs gesundheitsbewusste Mensch verkniff sich nun Brot und Pasta und behauptete, sich bald daran gewöhnt zu haben und es überhaupt nicht mehr zu vermissen.
Lüge! Lüge! Ich bekam teuflisch schlechte Laune ohne meine Pasta und fragte mich, ob Low Carb nicht den Weltuntergang massiv beschleunigte, denn statt Kohlenhydrate wurden jetzt massenhaft Proteine verschlungen, zumeist tierische. Die Paleo-Verfechter waren mir besonders verdächtig, nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch deshalb, weil die Steinzeitdiät ja nicht unbedingt zu besonderer Langlebigkeit unserer Ahnen geführt hatte. Die Glutenempfindlichen schworen auf Gemüsespaghetti und behaupteten allen Ernstes, Zucchini-Pasta schmecke genauso gut. Nein, nein, nein! Und noch einmal auf Italienisch, weil es einfach nicht wahr ist: No, no, no! Eine wahre Pasta ist mit nichts zu vergleichen. Der Biss muss perfekt al dente sein, natürlich es nur Hartweizengrieß, für meinen Geschmack braucht sie nur eine gute Tomatensauce, ein bisschen Öl, ein paar Blätter Basilikum – und eccola! Ich habe in meinem Leben tonnenweise Spaghetti gegessen. Schon als Kind mit wilder Begeisterung. Und dann die Spaghetti-Orgien in den WGs, Trost-Spaghetti allein vorm Fernseher, Pasta in Italien, immer wieder eine besondere Wonne, aber für meinen Geschmack auch immer ein bisschen zu wenig. Kein Italiener würde so riesige Portionen verschlingen wie ich. Da halten nur die Chinesen mit. Gigantische Portionen handgemachter Szechuan-Nudeln in China, wo die Nudel ja eigentlich herkommt, machten mich im Handumdrehen süchtig. Länder, die keine Nudeln kennen oder sie nicht lieben, sind mir suspekt. In Spanien z.B. werden sie gern zwanzig Minuten lang gekocht und dann kleingeschnitten, eine Barbarei, die nur mit historischer Feindschaft zu erklären ist. Wie leicht kann man Menschen mit Pasta bekochen und glücklich machen! Das erste Essen, das ich je für meinen Mann gekocht habe, waren Spaghetti mit Petersilie, Knoblauch und Olivenöl, die einzigen Zutaten, die in seinem Junggesellenkühlschrank zu finden waren. Er hielt mich daraufhin für eine wahnsinnig gute Köchin und verlangte immer wieder genau dieses Mahl, was ich ihm und mir mit dem Hinweis auf die Kalorien oft verweigern musste. Und jetzt diese tolle Nachricht! Noch während ich vor der dampfenden Schüssel mit mindestens zweihundert Gramm Pasta sitze, erreicht mich eine zweite Nachricht, die besagt, dass die erste von einem italienischen Nudelhersteller lanciert wurde. Egal – ich spüre bereits den Serotoninspiegel steigen, der mich auch über diese Nachricht hinwegtröstet. Da ist es, das Glück. Pures Pasta-Glück.
Bei uns im Norden hießen Orangen Apfelsinen, was sich von »Apfel aus China« herleitet, und sie hatten immer mit Winter zu tun und dem Gefühl unter den Fingernägeln, wenn man sie schälte. Manchmal brannte es wie Feuer, wenn man einen kleinen Schnitt an der Fingerkuppe hatte, zur Belohnung bekam man aber nicht nur die Frucht, sondern auch den Geruch, diesen unvergleichlichen Geruch nach Süden und Sonne, während draußen die Welt in einem tiefen Mausgrau versank.