Für meine Schwester, für ihre Jugend
Aber die Liebe ist wichtig!
Giuseppe Pontiggia, Nati due volte
Ja, natürlich waren wir prätentiös –
wozu ist die Jugend sonst da?
Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte
Ich bin hässlich. Das ist die Wahrheit, die schlichte, unzweifelhafte Wahrheit. Natürlich habe ich auch gute Seiten: Zum Beispiel bin ich nicht feige, ich suche keine Ausflüchte, ich kann der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und die Wirklichkeit ist, dass ich hässlich bin. Ein Scheusal. Einfach grauenhaft. Und zwar absolut gesehen, nicht bloß im Vergleich zu den Mädchen, die ich kenne.
Oma sagt, das stimmt nicht.
»In deinem Alter sind alle schön«, sagt sie.
Dabei blättert sie in der Gala oder Donna Moderna oder in einem Schöner-Wohnen-Magazin. Ich weiß jetzt schon, dass sie gleich so was ausspuckt wie: »Worüber beklagst du dich? Hast du ein Problem? Was haben die da, was du nicht hast?«
Die da sind die in den Zeitschriften abgebildeten Mädchen, und Hast du ein Problem? ist eine Frage, die ich nicht ausstehen kann. Was meine Oma denkt, zählt sowieso nicht, denn sie ähnelt meiner Mutter. Die gleiche Figur, die gleichen Augen. Die Mädchen aus der Gala werden im Alter so wie sie. Wenn sie Glück haben. An manchen Tagen, wenn Oma frisch vom Friseur kommt, die leuchtend weißen Haare wie ein Heiligenschein um ihr gebräuntes Gesicht, in Zigarettenhose und Schlangenleder-Slippers, sieht sie aus, als sei sie soeben einem Werbespot für Haftcreme für dritte Zähne oder Inkontinenz-Windeln entstiegen. Sie hat total viele Verehrer, seit mein Opa tot ist, und nicht nur wegen des Geldes. Sie fahren mit ihr zum Abendessen an die Riviera, und hinterher erzählt sie mir und Richi von der Yacht und dem Hummer in Madeira-Sauce. Ich kann mich nicht beklagen, alles in allem ist sie eine prima Großmutter, sie schildert uns ihre Abenteuer, fällt nicht in Ohnmacht, wenn sie mal eine halbe Stunde mit Richi allein bleiben muss, meistens ist sie supernett und macht mir einen Haufen Geschenke.
Aber trotzdem – Oma ist nicht wie ich und ist es nie gewesen, sie weiß nicht, was es heißt, übergewichtig zu sein, und ganz bestimmt wird sie nicht an Fettleibigkeit sterben. Sie weiß nichts davon, dass ich stetig zunehme seit dem Tag meines neunten Geburtstags, als ich die Obergrenze von vierzig Kilo überschritten habe und Mama kreischte: »Aber Paoletta! Wenn du so weitermachst, wiegst du mit achtzehn achtzig Kilo!«
Gib mir noch etwas Zeit, Ma, das schaffe ich. Im Grund genommen fehlen nur noch zwei Jahre, zwei Monate und drei Tage, und heute Morgen habe ich schon wieder zwei Kilo mehr drauf. Ein großartiges Ergebnis in nur einem Tag, wirklich professionell.
Dazu hat mir die Familientradition verholfen – Ostermontag mit den Marini, den Della Vedova und dem Buchhalter Capotondi. Ich habe Mamas böse Blicke ignoriert und mir fröhlich die perfekte Mischung von Fetten, Kohlehydraten und Proteinen zusammengestellt. Kalte und warme Entrées, unter anderem vier Jakobsmuscheln mit Béchamelsauce überbacken. Dann Risotto alla bisque di scampi (fürstliche Portion), dann Grillplatte von Meerestieren und verschiedenen Fleischsorten mit Ofenkartoffeln und gratiniertem Gemüse, Mousse mit Amaretto und Zabaione, Colomba und Petits Fours – eins von jeder Sorte, insgesamt zwölf Stück. Zum Abschluss noch das prächtige, mit Nougatblümchen und Zuckerfigürchen verzierte Osterei aus Bitterschokolade. Im Salon beachtete mich niemand, Stückchen für Stückchen habe ich mindestens dreihundert Gramm vertilgt. Ich war so voll, dass ich das Abendessen ausgelassen habe, und heute Morgen hat die Waage geklingelt, din! din!, wie in den amerikanischen Fernsehfilmen die Kasse im Minimarket.
Diese Waage ist ein ultratechnologisches Juwel, Mama hat sie vor drei Monaten in meinem Badezimmer aufgestellt, auf Rat ihres Personal Trainers Francesco. Du gibst dein Profil ein, Geschlecht, Alter und Größe, und die Waage berechnet deinen BMI, den Body-Mass-Index. Klingeln tut sie nur, wenn seit dem letzten Wiegen eine Veränderung von mehr als einem Kilo eingetreten ist. Ich bin gerade sehr fleißig: in den letzten zehn Tagen schon zwei din din.
Man kann den Verlauf auf einer Website verfolgen, denn die Superwaage stellt die ansteigende Fettgrafik ins Netz. Wenn man seine persönliche Seite aufruft, erteilt einem das System entzückende Ratschläge, perfekt dem aktuellen BMI des Tages angepasst.
»Willkommen, Paola De Giorgi! Denk daran, ab achtzehn Uhr keine Süßigkeiten mehr zu essen.«
»Eine Idee für einen Imbiss light? Tomatensaft! Er hilft dir, deinen BMI zu senken.«
»Dein BMI beträgt heute 24,06. Du solltest dir angewöhnen, jeden Tag mindestens sechzig Minuten zügig zu gehen!«
Das muss Mama auch gelesen haben, meiner Ansicht nach ist sie da auf die Idee gekommen:
»Eine Stunde pro Tag, Paoletta. Zügig gehen. Nimm Richi mit, dann bleibst du nirgends stehen. Und bring ihn ein bisschen zum Reden. Du weißt, wie gut ihm das tut.«
Die Ärmste gibt nicht auf. Ich bin der lieben Mama eben wichtig, sie kennt das Passwort und kontrolliert meine Fortschritte in Sachen Gewicht öfter als meine Schulnoten. Deshalb sehe ich heute ziemlichen Ärger voraus, denn 75 Kilo bei einer Größe von 1,74 ergibt einen BMI von 24,77. Gestern war ich bei 24,11. Bei 30 bist du geliefert, Fettsucht ersten Grades. Wenn ich irgendwann den großen Sprung schaffe, wird sie es dank der Superkräfte der Superwaage in real time erfahren. Freust du dich, Ma? Danke, Francesco, tolle Idee.
Die Fettfrage wäre mit Entschlossenheit, Ausdauer und Willenskraft zu überwinden, aber leider ist das nur mein erstes Problem. Das zweite ist, dass ich krumme Beine habe. Die Knie berühren sich, es ist, als hätte ich nur einen einzigen, riesigen, schwabbeligen Oberschenkel. Beim Gehen sehe ich aus wie ein wogender Wackelpudding.
Das mit den krummen Beinen habe ich erst vor kurzem entdeckt, als ich das Video angeschaut habe (ich habe es gespeichert, bevor Facebook die Gruppe entfernt hat). Seit damals sehe ich es mir mindestens einmal pro Tag an. Ich steige darauf wie auf die Superwaage und überprüfe, welche Wirkung es auf den Stimmungsmesser hat: Pulsadern aufschneiden, Tränenstrom, Mordlust, abgrundtiefe Traurigkeit, leichte Schwermut usw. Am Anfang, vor zwei Wochen, schoss der Anzeiger sofort rauf auf Pulsadern aufschneiden. Jetzt halte ich es schon prima aus, und gestern habe ich zum ersten Mal für einige Sekunden die Totale Gleichgültigkeit erreicht. Eine Frage von Entschlossenheit, Ausdauer und Willenskraft.
Mittlerweile kenne ich das Filmchen in- und auswendig, ich schließe die Augen und kann es visualisieren. Auch jetzt hier draußen, zum Beispiel. Während ich warte, dass Nina Richi fertig anzieht, pule ich ein Jasminblatt aus dem Patio-Ablaufgitter – und sehe den Getränkeautomaten. Ich zerreibe das Blatt – und sehe mich näherkommen. Ich habe alle Zeit, die einsgewordenen Schenkel zu betrachten, die Füße nach auswärts, den Seehund-Gang, dann schwenkt die Kamera aufs Gesicht. Das Warten. Ich bin das personifizierte Warten.
Das Video dauert drei Minuten und zehn Sekunden, aber in Wirklichkeit dauerte das Warten viel länger, meiner Rechnung nach mindestens zwölfmal so lang, mal drei macht das sechsunddreißig Minuten reale Demütigung, verdichtet auf drei Minuten und zehn Sekunden virtuelles Mobbing.
Ohne Ton.
Warum? Warum haben sie nicht auch die Geräusche aufgenommen, den Pausenlärm, das Läuten der Schulglocke?
Die Wirkung ist gewaltig, Astronaut im Weltall, echt und doch künstlich, es ist gleichzeitig echt und künstlich, irgendwie unheimlich, ich weiß nicht, warum. Vielleicht spürt man, dass etwas fehlt, ist dadurch gespannter. Nach etwa einer Minute bewege ich mich. Es ist eine Erleichterung, zu sehen, dass ich in dieser Leere etwas tue. Jetzt kommt auch meine weiße Strickjacke über dem lila T-Shirt mit ins Bild. Ich dachte, die würde mich schlanker machen, aber nein. Ich wähle ein Getränk mit Teegeschmack (ich erinnere mich, dass ich auf das Getränk mit Schokogeschmack verzichtet habe) und schaue mich unentwegt um. Für das Getränk mit Teegeschmack brauche ich eine gute Minute. Bei zwei Minuten und fünf Sekunden werfe ich den Becher weg und postiere mich wieder neben dem Automaten. Bei zwei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ahnt man, dass die Pause zu Ende geht, doch ich bleibe hart, ich gebe nicht auf. Ich bleibe da stehen. Regungslos. Allein. Ich rücke meinen BH zurecht. Mein Gesichtsausdruck ist so untröstlich, dass mir beim Anschauen die Tränen kommen. Zum Glück dauert es nicht lang, das Bild wackelt und verschwimmt, Ende der Vorstellung. Das Jasminblatt ist nur noch ein klebriger Streifen, ich werfe es auf das Abflussgitter, schiebe es mit der Fußspitze zwischen die Ritzen, weg ist es. Meine Finger kleben.
Noch immer frage ich mich, wie sie das gemacht haben, wo sie sich versteckt haben, die Buben oder Mädchen, wie viele es wohl waren, wer entschieden hat, was sie weglassen. Das Gerede beim Schneiden. Alles, was bei Facebook draußen, aber in der Realität drin geblieben ist. Obwohl mir nichts in meinem Leben je wahrer vorgekommen ist als das, was ich auf dem Bildschirm gesehen habe. Die krummen Beine, zum Beispiel.
Und nach den Beinen mein drittes, unüberwindbares Problem: mein Gesicht. Das ist in dem Video das Schlimmste. Nicht, dass es eine Überraschung wäre. In der Tat, gewöhnlich meide ich Spiegel. Bei uns daheim sind sie überall, im Flur, in der Diele, im Vorraum zum Bad, im begehbaren Schrank, in der Bar im Keller, in der Mansarde unterm Dach und auch hier im Garten, wellenförmig, ein Teil des Mosaiks, mit dem die Dusche am Pool verziert ist. So siehst du dich halbnackt und gleichzeitig dein Gesicht. Ein Albtraum. Wenn ich draußen einem Spiegel begegne, schaue ich zu Boden. Ich spiegele mich auch nie in den Schaufenstern. Wenn ich mir im Schulklo die Hände wasche, sehe ich auf meine Finger. Auch jetzt betrachte ich sie, besonders sind sie nicht, aber immer noch besser als meine Schweinsbäckchen. Ich verwerfe die Idee, ins Haus zu gehen, um mir die klebrigen Hände zu waschen, da es bereits so spät ist. Warum brauchen die bloß so lange?
Als ich schon an die Scheibe klopfen will, höre ich die Salontüre, dann das Geräusch von Gummi auf dem Parkett und Nina, die mir in ihrem Quasi-Italienisch ans Herz legt, ich solle auf den Schal achten.
»Sieht aus wie Frühling, aber nicht glauben, weil ist noch kalt«, sagt sie.
Ich hasse dieses Video. Aber die Wahrheit ist, dass ich einen Haufen Sachen hasse, auch solche, die alle anderen mögen. Ich bin eine professionelle Hasserin. Ich hasse Armbänder und Armreifen in jeder Form und Größe. Ich hasse Plateausohlen. Tattoos. Im Schwimmbad in der Umkleide allein sein. Hüftjeans. Taillenjeans. Tangas. Ballerinas im Sinn von Schuhen. Ballerinas im Sinn von Showgirls bei Quizsendungen. Quiz überhaupt. Glamourgirls, Wetterfeen und Glücksfeen bei der Lottoziehung. Die Balletteinlagen in den TV-Shows. Ray-Ban. Ananassaft, gewürzten Tomatensaft, Cola Zero, Cola Light, Xylit-Kaugummi. Werbung für das Parfüm von Dolce&Gabbana. Tampons. X Factor, alle Sänger von X Factor außer Noemi. Den Sänger Morgan. Die TV-Show Zelig und alle Komiker von Zelig ohne Ausnahme, Filme nach Romanvorlagen und die Romane von Fabio Volo. Ich hasse sogar Papierdrachen. Eine Verhaltensgestörte. Absolut jenseits. Und noch dazu hasse ich Puzzles, Erdbeeren und Joghurt.
Wenn sie mit der Geschichte von ihren 56 Tagen in England loslegt, hasse ich Marta Della Vedova mit einem geradezu physischen und beinah gewalttätigen Hass. Das ist aber nicht gestört, das ist normal, so wie man quadratische Gleichungen hasst oder den Klorollenhalter in der Autobahnraststätte, der blockiert, wenn du an dem Papier ziehst und dann nur ein lächerlich kleines, unbenutzbares Blättchen in der Hand hältst.
Aber wenn ich eine Rangliste aufstellen müsste, dann hasse ich doch am allermeisten dieses Video, sogar noch mehr als Aufzüge (für mich und Richi das Absolute Böse). Oder nein, das Video und die Fotos. Ich schaue mir nämlich nur solche an, auf denen ich unter drei Jahre alt bin, aus der Zeit vor Richi.
Ist es seine Schuld, dass ich so hässlich geworden bin?
Nach seiner Geburt müssen sie eine Zeitlang mit dem Fotografieren aufgehört haben. Ich werde nie erfahren, wie sich dieses dreijährige Püppchen mit den himmelblauen Augen und den Wimpern einer kleinen Meerjungfrau in mich am ersten Schultag verwandeln konnte. So groß wie der größte der Jungen, aber dicker und missmutig (ich schaue nicht mal in die Kamera).
»Kam das ganz plötzlich? Bin ich als süße Göre eingeschlafen und als Kotzbrocken aufgewacht? Hast du mich verhext, Opf?«
Richi antwortet nicht. Hinter uns schließt sich das automatische Gartentor mit einem Summen. Wir stehen auf dem Gehweg. Nina kann uns nicht sehen, Mama hat angerufen, dass sie erst in einer halben Stunde heimkommt, aber es hat auch eine volle Viertelstunde gedauert, bis Richi fertig war.
»Was sagst du, Opf? Warst du das? War es deine Schuld?«
Die Autos fahren hier schnell. Der Gehweg ist aus terracottafarbenem Porphyr und führt an unserem Garten entlang weiter zu einer Abzweigung, auf der man links direkt ins Herz des Villenviertels spazieren könnte, in die zwei Schritte vom Zentrum gelegene Oase des Friedens, in der wir wohnen.
»Ich will wissen, ob es plötzlich passiert ist oder eine allmähliche Verwandlung war.«
Richi betrachtet die Autos, die Laster, den Tankwagen, der an der Zapfsäule auf der anderen Seite der Fahrbahn gerade Benzin einfüllt. Er fixiert die kleine Bar neben der Tankstelle. Dreimal die gleiche Frage ist das Maximum, mehr geht nicht. Wenn er nach drei Versuchen nicht antwortet, dann weil er die Sache nicht für beachtenswert hält. Ich weiß nicht, warum die anderen das nicht kapieren. Wenn Richi stumm bleibt, fängt mein Vater an, ihn zu bedrängen, und zuletzt kriegt Richi dann einen seiner Anfälle, und mein Vater schließt sich im Arbeitszimmer ein. Warum kann er ihn nicht in Ruhe lassen? Gibt es für ihn keine Fragen, auf die er nicht antworten möchte? Für mich schon. Hast du ein Problem?, zum Beispiel.
»Oooookay, Opf. Ich weiß, dass du mich verstehst.«
»Gehen wir da hin«, sagt er und zeigt auf die Bar.
In Wirklichkeit sagt er so ungefähr: »Geemaaadaiii.«
Ist okay, man gewöhnt sich dran.
Dennoch, ab und zu denke ich darüber nach: die übliche Geschichte von der Eifersucht auf die jüngeren Geschwister, das ganze Ding mit der Liebe, die dir von einem Tag auf den anderen entzogen wurde, solche Sachen eben, und wer weiß, vielleicht wäre ich ohne ihn tatsächlich ansehnlicher geworden, ich meine ja nicht eine Schönheit, so wie Mama, groß und schlank, perfekte Fesseln, flacher Bauch, wohlgeformte Schultermuskeln unter dem T-Shirt. Das meine ich ja gar nicht, aber eben ein bisschen besser.
Schultermuskeln sehen bei einem Mädchen top aus. Obwohl ich zweimal pro Woche zum Schwimmen gehe, ich kriege einfach keine. Mama hatte schon welche, bevor sie mit dem Fitness-Studio anfing, schon als kleines Mädchen, schon auf den Fotos von der Firmung hatte sie welche, und auf den Hochzeitsfotos, auf denen von meiner Taufe, sogar auf denen, wo sie schwanger ist. Mit Bauch sieht Mama phantastisch aus. Genauso wie jetzt, bloß mit einem Luftballon auf Bauchhöhe. Sie war nicht aufgedunsen, sie war nicht schlapp und hatte auch nicht das glänzende Gesicht, das die Gebärenden haben. Vielleicht war sie ja überhaupt nie schwanger, vielleicht war es wirklich ein Luftballon unter dem Kleid, und uns beide hat der Storch gebracht (das würde viele Dinge erklären). Adoptiert sind wir jedenfalls nicht. Richi zumindest nicht, denn an Mamas Bauch erinnere ich mich. Und außerdem, wer würde ihn auswählen, ohne ihn zu kennen, so, auf dem Papier?
»Ma-ach!«
Er wird ungeduldig. Autos, Autos, ein Motorroller, ein Bus. Als sich im Verkehr endlich eine Bresche auftut, packe ich den Rollstuhl, Richi betätigt den Joystick, und wir überqueren die Staatsstraße. Auf der anderen Seite gibt es keinen Gehweg, wir halten uns am Straßenrand. Das ist die gefährlichste Stelle, nicht so sehr, weil die Lastwagen vorbeidonnern, aber wenn uns jemand sieht, der uns kennt, könnte er sich fragen, wohin wir unterwegs sind.
Wir sind auf der falschen Seite: Hinter der Tankstelle beginnt das Industriegebiet, zwölf Werkhallen, die schachbrettartig an der Via dell’Industria, der Via dell’Edilizia, der Via del Legno und der Via dell’Artigianato verteilt sind. Die richtige Seite, um mindestens sechzig Minuten zügig zu gehen, wäre die andere, die mit dem Porphyr-Pflaster, den Villen, den Schildern VORSICHT VOR DEM HUND (Richi hasst sie, die Hunde, und umgekehrt).
Wenn man zügig geht, erreicht man in einer halben Stunde das Tor des Golfclubs, wir könnten sogar auf dem Rasen herumtollen, weil Opa zu den Gründungsmitgliedern gehörte, doch wir schlüpfen in die kleine Bar, ich schnaufe, weil ich gerannt bin, Richi schnauft, weil die Tür so eng ist, ich verlange zwei Mars, eine Tüte Chips und zwei Eistee mit Pfirsichgeschmack, und schon sind wir wieder draußen und biegen in die Via dell’Industria ein. Auch hier kein Fußweg, aber die Straße ist breit, weil hier die Lastwagen zu den Werkhallen durchfahren. Auch die Leute, die auf der anderen Seite des Industriegebiets in der Margeriten-Siedlung wohnen, fahren hier entlang. Aber Mama würde nie einen Fuß hierhersetzen, das ist eine fixe Idee von ihr:
»Die Margeriten sind ein übler Ort«, sagt sie.
Möglicherweise könnten wir Papa begegnen, es ist aber sehr unwahrscheinlich, denn zur Biosolar-Baustelle wäre es ein Umweg. Er müsste quer durch das Industriegebiet, durch die Unterführung, durch die ganze Margeriten-Siedlung und anschließend noch ein Stück auf der Schotterstraße fahren, dann käme er zuletzt auf der dem Haupteingang entgegengesetzten Seite der Baustelle an. Dem einen oder anderen Lastwagen der Costa Costruzioni sind wir zwar gelegentlich begegnet, aber Papa noch nie, deshalb können wir hier eins runterschalten. Auch weil es hier weder Spiegel noch Schaufenster gibt.
Obwohl ich versuche, mich davor zu drücken, habe ich mindestens einmal im Monat ein unvermeidliches Date mit meinem Gesicht, weil meine Mutter mich zur Intensivbehandlung in den Kosmetiksalon What a wonderful world schickt. Gewöhnlich teilen sie mir Deisy zu. So steht es auf ihrem Schildchen am Kittel.
DEISY WHAT A WONDERFUL WORLD PERSONAL CARE
Jedes Mal, wenn ich es direkt vor der Nase habe, während Deisy den Arm der Lupen-Lampe zurechtrückt, denke ich, dass auch sie ein bisschen Pech gehabt hat, mit Eltern, die ihr diesen Namen verpasst haben. Meiner ist im Grund genommen nicht schlecht.
Paola.
Paola und Riccardo De Giorgi.
Schöne Namen.
Aber an gutem Geschmack fehlt es ja bei mir zu Hause nicht. Mal abgesehen von den Ausländerkindern haben wir in der Klasse eine Selene, eine Pamela, einen Tomas ohne h, einen Jonathan mit h, eine Gessica mit G, eine Marika mit k und sogar eine Luana. Vergleichsweise habe ich also wirklich Glück gehabt.
Diese Frohnatur von Deisy quetscht und drückt und tupft fast eine Stunde herum, und zum Schluss, wenn mein Gesicht einer gekochten roten Rübe ähnelt, dreht sie den Spiegel zu mir hin. Aus der Nähe muss ich sehen, dass meine Nase zu einer dicken Wurst geworden ist, und dann das ganze pausbäckige Gesicht mit dem fliehenden Kinn, der niedrigen Stirn, den kastanienbraunen, stumpfen, fettigen Haarsträhnen und den tiefliegenden, noch feuchten Augen, weil Deisy es zwei- von dreimal hinkriegt, dass mir die Tränen herunterlaufen. (Ich hasse Tränen. Fast so sehr wie Aufzüge.) Jedes Detail vielfach vergrößert. Da der Spiegel den ganzen Horror nicht auf einmal fasst, dreht Deisy ihn hin und her, damit ich auch ja keinen Krümel ihrer phantastischen Arbeit verpasse.
»Endlich ein neues Gesicht«, zwitschert sie abschließend, während sie die Führung durch das Horror-Kabinett beendet.
In dem Augenblick gleicht sie aufs Haar Bellatrix Lestrange in der Verfilmung von Harry Potter: gespenstischer Blick, gekräuselte lange Haare einer Dark Lady, absolut komplett hoffnungslos dummer Gesichtsausdruck. Am liebsten würde ich ihr eine kleben. Eine schöne, schallende Ohrfeige. Klatsch! Die großen, schwarz umrandeten Augen, die falschen Wimpern, der passend zum Nagellack auberginefarben geschminkte Schmollmund: alles zermatscht und zu einem unansehnlichen Brei geworden, der an das erinnert, was ich jeden Morgen vor Augen habe, da ich nicht umhinkann, in den Spiegel zu schauen, während ich (erfolglos) versuche, meine Haare zu frisieren.
»Schau, Deisy. Endlich ein neues Gesicht«, würde ich zwitschern.
Es ist nur einfach so, dass sich wegen der fettigen Haut auf der Nase und am Kinn Pickel und Mitesser bilden, die keine Schwefelseife wegwaschen kann.
Eine Woche, nachdem Deisy geackert hat, blüht der erste Pickel, und vierzehn Tage später können wir wieder von vorne beginnen. Kurz vor der Regel ist die Blüte am üppigsten, ungefähr so wie die Rabatte mit gelben Narzissen in diesen Tagen. Für Cremes, Lotionen und eklige Nahrungsergänzungsmittel auf der Basis von Bierhefe gibt Mama ein Vermögen aus.
Das habe ich kapiert, als Antonio Ferrari mich darauf aufmerksam gemacht hat. »Mit dem, was ihr in der Parfümerie ausgebt, leben wir einen Monat lang«, hat er gesagt.
Es ist aber nicht so, dass Antonio und ich besonders vertraut miteinander wären. Alles in allem werde ich ihn zwei- oder dreimal gesehen haben. Viermal. Im Allgemeinen ziehe ich es vor, mich etwas abseits zu halten (das ist wohl das Mindeste nach dem, was passiert ist). Jedenfalls hatte ich diesen Aspekt noch nie bedacht. Wir sind reich, na gut. Wir haben das, was Reiche haben: eine Villa, einen Pool, eine Nanny. Nanny, wohlgemerkt, nicht eine Pflegerin (Pflegerin klingt zu sehr nach behindert). Allerdings eine Rumänin, die kostet weniger. Dann sind da noch die Therapeutinnen für Richi, die Reisen, das Haus in Santa, das Chalet in Courma, die vermieteten Wohnungen, die Aktienanteile. Sehr reich. Seit Opa tot ist, hat Papa seinen Platz im Vorstand der Costa Costruzioni Holding eingenommen, das sind vier Gesellschaften und fast sechshundert Beschäftigte. Meine Mutter arbeitet mit, aber weniger als er, wegen Richi. Das heißt, dass es wegen Richi sei, behauptet sie. Sagen wir einfach, es ist eine Art Teilzeit, ich will nichts Böses sagen.
Dass wir reich sind, stört mich eigentlich nicht. Glaube ich. Sollte es? Ich habe es mir ja nicht ausgesucht. Ich bin so geboren, auf der richtigen Seite, in der Oase des Friedens. Ist es der Ton, der mich stört?
Die Szene: Das Mädchen auf der Bank sagt: »Wir müssen jetzt los. Ich muss noch in die Parfümerie.« Ich rede nur so daher, bleibe aber sitzen. Richi schaut mich entsetzt an, als wollte er sagen: »Echt jetzt?«
Ich gehe nie in die Parfümerie. Zu viele Spiegel, zu viele Deisys. Ich sage es nur, weil wir tatsächlich los müssen, sonst begegnen wir noch Mama auf dem Rückweg aus dem Fitness-Studio und lassen uns auf der falschen Seite erwischen, aber ich habe keine Lust, es Antonio zu erklären. Noch nicht zumindest. Es war doch erst das dritte, nein, das vierte Mal, dass wir miteinander redeten, und ich habe einfach das Erste gesagt, was mir eingefallen ist.
An dieser Stelle blickt der Junge das Mädchen an und sagt: »Mit dem, was ihr in der Parfümerie ausgebt, leben wir einen Monat lang.« Dann steht er von der Bank auf, nimmt noch einen Zug aus der Zigarette, schnippt die Kippe weg und geht davon. »Man sieht sich«, sagt er, ohne sich umzudrehen.
Aber der Hammer war, dass er es ganz gelassen gesagt hat, fast lachend. So als wären wir die, die arm dran sind, die keine Ahnung von der Welt haben. Und nicht sie.
Sie, das wäre Antonios Familie. Mutter, Vater und ein Bruder im gleichen Alter wie Richi. Also genau wie bei uns, nur sind sie zwei Jungs, Antonio ist zwei Jahre älter als ich, und sie sind arm.
Sie wohnen in einem der Mietshäuser in der Margeriten-Siedlung. Antonios Vater ist ursprünglich Arbeiter, aber jetzt ist er auf Kurzarbeit und arbeitet schwarz als Anstreicher oder entrümpelt Keller und repariert tropfende Wasserhähne. Solche Sachen. Antonios Mutter arbeitet Schicht im Altersheim, und das ist schlimmer als das, was Nina macht, sagt Richi, denn die Signora Ferrari badet alte Leute, füttert alte Leute und wischt ihnen den Hintern ab, während Nina sich bloß um so ein reizendes Bürschchen wie ihn kümmern muss.
Antonio ist gut in der Schule, er geht in dieselbe Klasse wie Marta Della Vedova, macht dieses Jahr Abitur und studiert dann vielleicht Ingenieurwissenschaften. Sein Bruder ist eine Intelligenzbestie und hat lauter Einser. Ich bin nicht schlecht, aber was Richi angeht, na ja. Sagen wir, auf seine Art ist er spitze, aber es wäre wohl vermessen, ihm zu prophezeien, dass er Abitur, Studium und das ganze Zeug machen wird, was sie manchmal im Fernsehen erzählen, während sie einen wie ihn zeigen, der sich dann als mathematisches Genie entpuppt. Richi nicht. Aber nicht, weil er blöd ist, ganz im Gegenteil. Weißt du, wie viele Tests sie mit ihm gemacht haben? Der meistgetestete Junge, den ich kenne. Manchmal lag er sogar weit über dem Durchschnitt. Meiner Ansicht nach hat er einfach keinen Bock. Und ich verstehe ihn, weil alle dauernd an ihm herumzerren, sprich so, beweg dich so, heb dies, streck das. Deshalb ist er, wenn wir allein sind, zu nichts gezwungen, er muss weder reden noch sich bewegen. Er starrt auch mal eine halbe Stunde regungslos auf den Asphalt, ich sage nichts, mir soll’s recht sein.
Aber warum hat mich Antonios Kommentar gestört? Warum denke ich immer noch darüber nach? Er wollte mich nicht vor den Kopf stoßen, glaube ich. Außerdem gehen alberne Beleidigungen bei mir hier rein und da raus, sie bleiben nicht hängen. Was mich fertigmacht, ist die Wahrheit. Ich spreche aus Erfahrung. Ein Beispiel? (Ich schweife ab, ich weiß. Das passiert mir auch beim Aufsatzschreiben. Das ist noch so ein Problem: Ich bin eine professionelle Abschweiferin, Weltmeisterin der Beispiele.) Also: Schulklo. Meine Klassenkameradin Marika raucht eine Zigarette und unterhält sich derweil mit zwei Mädchen aus der 2b. Sie wissen nicht, dass ich da drin bin. Marika sagt: »Kennt ihr Paola De Giorgi? Die mit …« (das letzte Wort verstehe ich nicht, weil sie die Stimme gesenkt hat).
»Ah, ja, kapiert. Das Pferdegesicht.«
Die andere fügt hinzu: »Wen meint ihr? Die mit den Beinen, die ihr bis zu den Titten reichen?«
Sitcom-Lachen. (Ich hasse Sitcoms.)
»Größe ist die halbe Schönheit!«, würde Oma sagen.
Sie würde freudestrahlend die Türe aufreißen, mit ihren ganzen majestätischen, eleganten 1,76 hinaustreten, eine Pirouette drehen und ta-daa, die drei mit ihren armseligen 1,60 sprachlos stehenlassen, nicht ohne einen Satz aus ihrem Repertoire: Hast du ein Problem?
Das würde Oma tun, nicht ich. Ich hocke die ganze Zeit, während Marika raucht, da drin eingeschlossen und bleibe auch noch ein paar Minuten, nachdem ich sie habe hinausgehen hören.
Pferdegesicht. Das ist keine Beleidigung. Es schmerzt, weil es stimmt. Wenn es aber die Wahrheit ist, ist es keine Beleidigung. Ich bin auf die Wahrheit fixiert. So wie Mama auf die Margeriten. Über Wahrheit lässt sich nicht streiten. Wir sind stinkreich, und das ist nicht meine Schuld. Mit dem, was wir in der Parfümerie ausgeben, leben sie einen Monat lang. Und das ist nicht meine Schuld. Ich bin ein Monster, und Richi ist ein Opfer. Wenn es jemanden empört, dass wir die Dinge beim Namen nennen, ist es nicht unsere Schuld.
»Stimmt’s, Richi?«
Kein Wort, nur Kopfnicken. Heute keine Konversation, fast absolutes Schweigen. Mir ist es recht, Opf.
Vieles von dem, was Antonio sagt, verunsichert mich, auch dass er aufsteht und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen, oder dass er Richi so anschaut, wie er ihn anschaut. Es ist nicht die übliche Reaktion, kein Erschrecken, So-tun-als-sei-alles-normal oder Mitleid. Es ist Neugier. Antonio ist neugierig. Unglaublich. Das sind wir nicht gewohnt. Ich zumindest.
»Du magst Antonio.«
Richi hebt die Augenbraue, dann grinst er schief. Ein ganz seltsamer Gesichtsausdruck, er braucht ihn nur mir gegenüber, und er bedeutet so was wie Hm? Wer weiß? Vielleicht …
»Na«, sage ich, »ich nicht.«
Vielleicht hätte ich gar nicht mit ihm reden sollen, als er zum ersten Mal daherkam. Wir saßen still und vergnügt auf einer Bank im Parco Di Vittorio, mitten in den Margeriten, wo Mama niemals vorbeikommen würde. »Ciao«, hat er gesagt und sich umstandslos zwischen mich und Richis Rollstuhl gesetzt. Er hat ihn gefragt, wie er heißt. Da mussten wir notgedrungen antworten. Außerdem hatte ich so halb damit gerechnet, da ich gesehen hatte, wie er in die Straße einbog, und mir schon dachte, dass er hier wohnt. Und es war auch zu erwarten, dass er herkommen würde, es war ja nicht das erste Mal, dass wir miteinander redeten.
Das erste Mal war in der Schule, wegen dem Video. Danach haben wir uns mindestens dreimal gegrüßt. Wenn wir uns in der Schule auf dem Gang begegnen, lächelt Antonio mir zu, auch wenn er nicht allein ist. Doch wenn mir wieder einfällt, dass er alles wusste, dann kommt Hass auf, reiner, glasklarer Hass. Etwas Körperliches, Metallisches, eine Art Krampf.
»Heute kein Parco Di Vittorio, Opf.«
Immer noch Schweigen. Auch für ihn ein schlechter Tag. Wenn keine Schule ist, fällt Richi das Los für die Morgentherapie zu. In den Ferien zählt er die Tage wie die Häftlinge im Knast. Also biegen wir in die Via dell’Artigianato ein, die letzte Straße vor dem Nichts.
Am liebsten mögen wir die Halle der Firma Campora Pietro & Sohn Eisenbau, die ganz hinten. Ein Kasten aus grauem Sichtbeton, mit einem weißblauen Schild. Rundherum ein massiver Gitterzaun. Ein schöner Zaun, wahrscheinlich haben sie ihn selber gebaut. Ich habe bei Google nachgesehen, was eine Eisenbau-Firma macht, und sie kann auch Gitterzäune machen. Von der Halle aus können sie uns nicht sehen, und wir können sie nicht sehen, weil innen am Zaun entlang eine mindestens einen Meter hohe Hecke wächst. Um Punkt 16 Uhr schaltet sich der automatische Rasensprenger ein (es ist schon passiert, dass wir nass geworden sind). Aber die Geschäfte gehen wohl nicht so gut, denn hier kommt nie jemand her.
Das ist der richtige Platz für uns.
Wir wählen die Ecke, die am weitesten von den Düsen der Bewässerungsanlage entfernt ist, ich setze mich mit dem Rücken zum Zaun. Wir teilen uns die Chips. Richi nimmt sich eine Riesenhandvoll raus, stopft sie auf einmal in den Mund und beginnt zu kauen. Meine Portion schmeckt leicht bitter und herb, wegen der Finger. Ich dürfte natürlich keine Chips essen und auch keinen Eistee trinken, von dem Mars ganz abgesehen, und Richi eigentlich auch nicht, denn Zähneputzen ist für ihn ein Drama und ihn zum Zahnarzt zu bringen ein Albtraum. Man muss abwarten, bis er mehrere kaputte Zähne hat, dann einen Termin in der Klinik vereinbaren und ihm eine Vollnarkose verpassen, beim normalen Zahnarzt dreht Richi nämlich völlig durch. Und das ist sehr merkwürdig, denn Richi versteht alles, und meiner Ansicht nach macht er es extra.
»Das machst du doch extra, dieses Zahnarzttheater.«
Hochgezogene Augenbraue und schiefes Lächeln. Hm. Wer weiß. Vielleicht.
Voriges Jahr haben wir die ganze Sache mit der Klinik durchgezogen, und Mama hat gesagt, eine Weile wolle sie nichts mehr davon hören. Daher darf Richi nur Süßigkeiten essen, wenn er sich hinterher sofort die Zähne putzt.
»Soll ich dir das Mars auspacken?«
Hier ist’s nicht übel. Zwar nicht der Parco Di Vittorio, aber nicht übel. Der Rost ist recht bequem. In der Ferne sieht man die Wohnblocks der Margeriten, weiter drüben den Kran vom Biosolar. Ich bin gut genug drauf, um mich bei Facebook einzuloggen. Ich sende eine Freundschaftsanfrage an eine aus der 2c und akzeptiere die Anfrage von einer aus dem Schwimmkurs. Ohne das Video anzuhören, markiere ich ein Lied von One Direction auf Marikas Seite mit einem gefällt mir. Auf Carlottas Seite schreibe ich: Aufsatz überlebt? :-). Ich knöpfe meine Jacke auf, nehme Richi den Schal ab, schreibe ♥ summer auf meine Seite, dann lösche ich es und schreibe ♥ spring, poste es und schalte endlich alles ab. Das war jetzt heute das dritte und letzte Mal. Die tägliche Dosis. Alles muss wirken wie immer.
Vor uns ein Grundstück mit einem großen Schild:
GEWERBEAREAL 743/2
LETZTE VERFÜGBARE PARZELLEN
FÜR INFO TECNOEDIL SRL
ING. LORENZO DELLA VEDOVA
Die Tecnoedil gehört zu den Gesellschaften der Gruppe Costa Costruzioni. Lorenzo Della Vedova ist Papas rechte Hand. Gestern war er zum Mittagessen bei uns. Ich kann ihn nicht ausstehen, weil er mit Richi redet wie mit einem Kleinkind. Er ist Martas Vater. Die Mutter ist so eine Art Satellit, sie leuchtet kurz auf, wenn der Ingenieur sie anschaut, sonst siehst du sie gar nicht. Also: Wer ist eurer Meinung nach schuld daran, dass Marta so ist, wie sie ist?
Bei Tisch sagte der Ingenieur Della Vedova, er werde in den nächsten sechs Monaten weitere zehn Hallen hochziehen. Einen Schritt von der Margeriten-Siedlung entfernt.
»Plattmachen müsste man die«, erwiderte Mama.
Die Arbeiten sollen im Juni beginnen. Im Augenblick ist vor der Campora Pietro & Sohn noch alles frei, nur ein paar Erdhaufen, Bauschutt, Gras, einige gelbe Blumen und sogar zwei Vögel, die sich am Rand des Asphalts um einen Wurm streiten.