Das Kloster von Saint Fotheringay thronte auf dem Gipfel des Mount Inveraragaig, umgeben von einem dichten Wald und nur erreichbar über den steilen Prestonpans-Pass. Diese Institution der Gelehrsamkeit und Theologie unterstand im frühen fünfzehnten Jahrhundert Schwester Craigenputtock, die überaus tolerant war, nur in einer Sache nicht: Kein Mann durfte sich jemals auf dem Grundstück des Klosters blicken lassen.
Die Klosterangehörigen waren allesamt weiblich (etwa zwanzig von ihnen organisierten in hierarchischer Abstufung das Klosterleben), ebenso alle Klosterschüler, und irgendwie hatte Schwester Craigenputtock es geschafft, auch weibliche Hausmeister und Heizer für die Öfen des Klosters aufzutun. Kurz und gut, es gab keinen einzigen männlichen Organismus auf dem Gelände, abgesehen von etwaigen Insekten. Und von dem Moment an, in dem die kleinen Mädchen im Alter von zwei Jahren in das Kloster eintraten, was als großes Privileg unter der Landbevölkerung in der Umgebung galt, sahen sie keinen und hörten auch von keinem Mann mehr, ausgenommen in den Geschichten der Bibel. Stattdessen lernten sie, dass das männliche Geschlecht ausgestorben war.
Eines Tages fand Schwester Killiecrankie Mary unten am Prestonpans-Pass, eingehüllt in eine grobe Wolldecke mit dem prächtigen Schottenmuster des MacGillicodinkiecleugh-Clans. Man würde meinen, Mary sei ein Mädchen gewesen, doch dem war nicht so. Ich nehme nur einen Teil meiner Geschichte vorweg: Wie Schwester Killiecrankie das Kind schutzlos da liegen sah, es konnte kaum älter als ein Jahr sein, schloss sie es sofort in ihr Herz. Sie kehrte mit ihrem Fund ins Kloster zurück und zeigte ihn Schwester Craigenputtock, die davon keineswegs so angetan war wie Schwester Killiecrankie, vor allem, als sie herausfand, dass es ein Junge war. Doch Schwester Killiecrankie machte ihren ganzen Einfluss in puncto Klosterpolitik geltend, und am Ende durfte das Kind bleiben.
»Aber was sollen wir den anderen sagen?«, fragte Schwester Craigenputtock.
»Nun, wir geben ihm einfach einen Mädchennamen und sagen nichts«, antwortete Schwester Killiecrankie.
Sie entschieden sich für Mary, da ohnehin die meisten Mädchen im Kloster so hießen. Er wurde feierlich getauft und bekam eine Kutte wie die anderen kleinen Klosterschülerinnen. Im Alter von vier Jahren wies man ihm eine eigene Zelle zu, wo er lernen und meditieren konnte.
In Wahrheit wurde im Kloster von Saint Fotheringay kaum gelernt oder meditiert. Am Ende des Hauptgangs im Dormitorium stand ein großes Fass mit spanischen Nüssen (den kleinen), und die Lern- und Meditationsstunden wurden nur allzu oft von Ausflügen zu dem Fass, für ein Schwätzchen, die Rückkehr in die Zelle, den Verzehr der Nüsse und dem nächsten Ausflug zu dem Fass, um Nachschub zu holen, usw., unterbrochen. Sie wissen ja, wie es mit Nüssen ist. Hat man erst mal angefangen, nun ja … Und selbst die Schwestern, die angeblich die Meditierenden beaufsichtigten, kamen in Wirklichkeit der Nüsse wegen.
Das Beste, was ich zugunsten des Klosters von Saint Fotheringay sagen kann, ist, dass es keine streng akademische Einrichtung war. Alle Nonnen unterrichteten, neben ihrer Gartenarbeit, die hauptsächlich aus dem Anbau von spanischen Nüssen bestand, mehr schlecht als recht ein, zwei oder drei Fächer. Vormittags lehrten sie Französisch, Rechtschreibung, Grammatik und Englisch, nachmittags Grundlagen der Zoologie, Botanik und Mathematik, wenngleich niemand im Kloster die Multiplikationstabelle sicher beherrschte.
Auch dauerte eine Unterrichtsstunde niemals wirklich eine volle Stunde, denn praktisch alles, was jede von ihnen wusste, hätte sie im Grunde ihren Schülerinnen in weit weniger als einer Stunde vermitteln können. Die letzten drei Viertel einer Stunde waren deshalb dem Spielen und gegenseitigen Bewerfen mit Tafelschwämmen vorbehalten.
Als Mary zehn Jahre alt war, hatte er nichts von der Weiblichkeit seiner Mitschülerinnen übernommen. Er tobte herum, spielte und war ungehorsam. Er dominierte seine Kameradinnen im Spiel und gab sich grundsätzlich ein bisschen draufgängerischer als die Mädchen. Mit einem Wort, er war das perfekteste Exemplar eines Wolfes, der sich je unter einem Schafspelz versteckt hatte. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass er der Liebling des Klosters war. Abends um acht, kurz vor dem Zubettgehen, luden die Schwestern ihn zu sich ein. Sie empfingen ihn in ihren Morgenröcken und waren sehr darauf bedacht, dass Mary ihre kahl geschorenen Köpfe nicht sah. (Schwester Pinkiecleuch verbreitete allerdings das Gerücht, Schwester Killiecrankie habe seit Marys Ankunft ihr Haar wachsen lassen, es sei gut einen Zentimeter lang und sie sehe aus wie ein Footballspieler!) Doch zwischen acht und neun, wenn das Abendläuten erklang, nahmen die Bewohnerinnen des Klosters von Saint Fotheringay einen letzten Imbiss ein. Vollbeladene Tabletts mit Sandwiches, Kuchen, heißer Schokolade, Milch, Keksen, Pasteten und Obst wurden von den dicken Köchinnen des Klosters in die Dormitorien getragen. Obwohl alle bereits um sechs Uhr abends ein herzhaftes Mahl zu sich genommen und während der anschließenden Stunden des Lernens und Meditierens spanische Nüsse geknabbert hatten, konnten die kleinen Mädchen und die Schwestern vor dem Schlafengehen immer noch eine Kleinigkeit vertragen. Das war auch die Zeit, in der Marys anregende Gesellschaft von den Nonnen besonders geschätzt wurde und sie ihm Geschenke in Form von süßen Leckereien nahezu aufdrängten. Unaufhörlich versuchten sie, Mary zu mästen. Er hatte einen unbändigen Appetit, war aber so dünn, ts-ts-ts!
Bereits mit zehn Jahren war Mary das, was man einen Freigeist nennt. Er bekniete Schwester Craigenputtock so lange, bis sie ihm den Schlüssel zur verstaubten, alten Bibliothek aushändigte, die sich im obersten Stockwerk des Klosters befand und von der eine gewisse Bedrohung durch ihr gesammeltes Wissen ausging. Eines Tages zerrte er Schwester Craigenputtock die Treppe hinauf, tippte mit dem Finger auf den Bart der Heiligen auf den Bildern, die er in einem der Bücher fand, und verlangte eine umfassende Erklärung.
»Das«, sagte Schwester Craigenputtock atemlos und verächtlich, »ist ein Mann.«
»Warum hat er Haare im Gesicht?«
Schwester Craigenputtock überlegte. »Männer sind das, was aus kleinen Jungen einmal wird«, antwortete sie ausweichend. »Aber darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen. Es gibt keine mehr.«
»Was ist ein Junge?«
»Ein Junge ist das, was passiert, wenn ein Kind kein Mädchen ist«, erwiderte Schwester Craigenputtock, und es klang, als wäre es ziemlich schrecklich, wenn ein Kind kein Mädchen war.
»Ach so«, sagte Mary.
Doch Mary war, wie gesagt, ein kühner und unabhängiger Geist. Er hielt sich von den anderen Schülerinnen fern. Er grübelte, haderte, runzelte hin und wieder die Stirn und verbrachte im Großen und Ganzen unheimlich viel Zeit in der Bibliothek. Angeblich verpasste er sogar gelegentlich eine Mahlzeit, was in der Geschichte des Klosters beispiellos war. Die Nonnen, insbesondere Schwester Craigenputtock und Schwester Killiecrankie, nahmen diese Entwicklung mit Sorge und einem unguten Gefühl wahr, denn Mary gab sich nicht mit ihren Antworten auf seine Fragen zufrieden. Im Gegenteil, er war entschlossen, der Sache mit den Männern in der Bibliothek des Klosters weiter auf den Grund zu gehen und Schwester Killiecrankie oder Schwester Craigenputtock ein für alle Mal in eine Falle zu locken, aus der weder die eine noch die andere entkommen konnte.
Unglücklicherweise fand er in der Bibliothek nichts über Biologie oder vergleichende Anatomie. Das hatte gute Gründe. Doch er entdeckte verstaubte Wälzer über die Grundlagen der Botanik, die seinem wissbegierigen Verstand erstmals Einblick in die Schönheit wissenschaftlichen Arbeitens gewährte.
Nun hatte die Zoologie, wie Schwester Killiecrankie sie lehrte, rein gar nichts mit dem zu tun, was sich ein Sterblicher darunter vorstellen mochte. Mary nahm selbstverständlich an ihrem Unterricht teil (nachmittags von zwei bis drei Uhr), nachdem er – den Regeln des Klosters folgend – mit vier Jahren in diese Klasse aufgenommen worden war, doch gelernt hatte er nichts. Der Unterricht machte trotzdem Spaß. Sie lasen nicht, da es keine Lehrbücher gab, und Lehrbücher gab es nicht, weil sie früher oder später zu den Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Merkmalen geführt hätten. Das war selbstverständlich indiskutabel.
Monat für Monat, Jahr für Jahr beobachtete Mary, wie Schwester Killiecrankie Flusskrebse, Mäuse, Frösche, Katzenfische usw. sezierte. Die Frösche wurden eigens dafür in den Teichen des Klostergartens gezüchtet, um aber an die anderen Organismen zu kommen, unternahm Schwester Killiecrankie jede Woche spezielle Ausflüge zu den Tauklappen am Meeresufer unterhalb des Prestonpans-Passes. Schwester Killiecrankie war sich sicher, dass diese kleinen Mulden, in denen sich Wasser sammelte, Tauklappen hießen. Was wundersamerweise auch der Name für ein Frühstadium bei der Metamorphose von Fröschen (amphibia salienta) war, wie sie ihren Schülerinnen begeistert erzählte. Diese Erkenntnis blieb auch Schwester Craigenputtock, der Leiterin des Englischen Seminars, nicht verborgen, die ganz entzückt war und darin ein mustergültiges Beispiel für eine Homonymie wie »leeren« und »lehren«, aber eben auch die allgegenwärtigen Wechselbeziehungen aller Bereiche des Lernens begründet sah.
»Sezieren« ist – zugegeben – ein etwas zu technischer Begriff, um das zu beschreiben, was im Labor des Klosters vor sich ging. Schwester Killiecrankie hatte ein weiches Herz, weshalb sie die Tiere vor dem Zerlegen mit Chloroform betäubte. Trotzdem hat sie es nie über eben dieses Herz gebracht, eines davon tatsächlich aufzuschneiden. Beim bloßen Gedanken daran hätte sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen! Ihre eigene Methode war vielleicht nicht sonderlich scharf, dafür aber sicher, und sie erforderte keinen besonderen Mumm. Kurz und gut, Schwester Killiecrankie ließ die Tiere in die Luft gehen, moderat, versteht sich, indem sie einen winzigen Knallkörper in die Mitte des Tieres steckte, ein Streichholz anzündete, sicherheitshalber zwei Schritte zurücktrat … Und paff! Im Handumdrehen lag das Tier gänzlich seziert vor ihr oder klebte in Teilen irgendwo in der Nähe! Die kleinen Mädchen und auch Schwester Killiecrankie schrien jedes Mal ekstatisch auf. Die jahrelangen Wiederholungen konnten ihre Begeisterung für die Arbeit nicht schmälern, und um die Romantik naturwissenschaftlicher Experimente hervorzuheben, erzählte Schwester Killiecrankie ihren Mädchen des Öfteren, dass bei den unzähligen Dissektionen, die sie in ihrem Leben durchgeführt hatte, immer etwas Neues zum Vorschein gekommen war.
(Notabene: Die kleinen Knallkörper, die Schwester Killiecrankie zum Sezieren benutzte, wurden in einer großen Tonne im Kellergewölbe des Klosters aufbewahrt. In Saint Fotheringay hießen sie jedoch nicht »Knallkörper«, sondern »Kräcker«; Kräcker, die man aß, hießen »Biskuits« und Biskuits »Scones«.)
Der junge Mary mit seinem langen Haar und der gegürteten Mönchskutte verfolgte stets kopfschüttelnd die Vorgänge im Labor und dachte nach. Sein Verhalten irritierte Schwester Killiecrankie. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie beim Sezieren keine sonderlich gute Figur machte. Vielleicht steckte sie den Kräcker nicht richtig in das Tier hinein, wie sie es hätte tun sollen, oder trat nicht weit genug zurück, um dem unappetitlichen Ergebnis auszuweichen. Mary lachte Schwester Killiecrankie gleich mehrmals dafür aus. Die gute Schwester war sich bewusst, dass sie ihre Autorität bei ihm bald gänzlich eingebüßt haben würde. Aus diesem Grund musste Mary während der Experimente im Labor oft mit dem Gesicht zur Wand stehen. Die kleinen Mädchen hingegen befolgten brav, was Schwester Killiecrankie ihnen sagte, und glaubten, dass auf der ganzen Welt niemand kunstvoller sezieren konnte.
Obwohl Schwester Killiecrankie eine Schwäche für Mary hatte, erzählte sie den kleinen Mädchen, er benehme sich grauenhaft, weshalb sie begannen, ihn zu meiden, als wäre sein Verhalten tatsächlich böse. Schwester Killiecrankie und Schwester Craigenputtock hofften, dass ihn das wiederum dazu bringen würde, sein Betragen zu ändern. Weit gefehlt! Er wurde nur noch herablassender und reservierter ihnen gegenüber und verbrachte mehr Zeit denn je in der Bibliothek. Es musste etwas geschehen, erklärten sie, und zwar schnell! Doch wie sollten sie ihn bestrafen, wenn sie ihn doch so sehr liebten? Es war ein fürchterliches Dilemma, aber Mary entglitt ihnen zusehends.
Schließlich verboten sie ihm, die Bibliothek zu benutzen. Sie verschlossen die Tür, doch Mary entwendete den Schlüssel aus Schwester Craigenputtocks Zelle und setzte seine Ermittlungen fort. Um ihn dafür zu bestrafen, ließen sie ihn drei Stunden in der Ecke des Labors stehen. Sie verweigerten ihm den Nachtisch nach den Mahlzeiten, den er liebte, doch allabendlich holten sie ihn in ihre Zellen und fütterten ihn mit Kuchen, Schokolade und Malzmilch. Einer jeden musste er allerdings hoch und heilig versprechen, den anderen Schwestern nichts zu sagen. Oft hatte Mary drei Einladungen an einem Abend und verließ bereits die zweite Schwester mit derart vollem Magen, dass er kaum noch laufen konnte. Dann verschmähte er die Naschereien bei der dritten Schwester (Schwester Pinkiecleuch), woraufhin sie vor lauter Enttäuschung jedes Mal in Tränen ausbrach.
Im Alter von zwölf Jahren wurde Mary klar, dass er die klösterliche Isolation von Saint Fotheringay unmöglich weitere acht Jahre ertragen konnte. Erst mit zwanzig würde er in die Welt entlassen. Doch er wollte die Welt jetzt sehen. Sie war bestimmt nicht so verrückt wie dieses Kloster. Monate verstrichen, in denen Mary Fluchtpläne schmiedete. Er war dreizehn, als er endlich eine Eingebung hatte, wie seine Flucht gelingen könnte. Die Tonne mit den Kräckern!
Er fing an, sich in den Keller zu schleichen und jeweils so viele Kräcker mitzunehmen, wie er im Oberteil seiner Kutte verstecken konnte. Schließlich hatte er die Hälfte von Schwester Killiecrankies Vorräten weggeschleppt.
Schwester Killiecrankie bemerkte den Verlust und meldete ihn Schwester Craigenputtock.
»Wanderratten«, sagte Schwester Craigenputtock, ohne sich beim Schälen der Maiskolben unterbrechen zu lassen, und vergaß die Sache rasch.
Eines Abends, als fast alle Kräcker aus der Tonne verschwunden waren und Mary bei Schwester Craigenputtock ein gewaltiges Stück ihres teuflisch guten Schokoladenkuchens mit englischen Walnusshälften auf weißem Zuckerguss verdrückte, sagte er: »Wenn Sie mich nicht gehen lassen, jage ich den ganzen Laden hier in die Luft, Schwester Craigenputtock!«
Schwester Craigenputtock stand mit offenem Mund da, allerdings nicht wegen des Kuchens oder aufgrund der Vorstellung, dass das Kloster in die Luft fliegen könnte, denn Mary stieß ständig irgendwelche finsteren Drohungen aus. Es ging ihr um die Sprache, die er benutzte.
»Mary, wie redest du denn! Wo hast du das ge – …?«
»Ich lasse dieses verdammte Kloster hochgehen!«, unterbrach Mary sie, den Mund noch immer voller Kuchen. »Schwester Killiecrankie wird Ihnen doch erzählt haben, dass mittlerweile fast alle Kräcker aus der Tonne verschwunden sind«, setzte er provozierend hinzu.
»Ach … du meine Güte! … Ach … ach herrje!« Schwester Craigenputtock sprang so hastig auf, dass der Kuchenteller auf ihrem Schoß zu Boden fiel.
Mary stopfte sich den Rest seines Kuchens in den Mund und stellte ihr ein Ultimatum: »Denken Sie an meine Worte. Morgen Abend um dieselbe Zeit erwarte ich Ihre Antwort«, dann ging er zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Schwester Craigenputtock!«
»J-ja …«
»Den Rest vom Kuchen nehme ich mit.«
Schwester Craigenputtock holte den Rest des Kuchens aus dem Schrank. Zwei Drittel waren noch übrig. Zuerst sollte er ihr im Gegenzug versprechen, alle Kräcker zurückzugeben, doch ein Blick auf die zornige, entschlossene kleine Gestalt an der Tür genügte, um Schwester Craigenputtock vor Angst erzittern zu lassen.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, trafen sich Schwester Killiecrankie und Schwester Craigenputtock in deren Arbeitszimmer. Schwester Killiecrankie war entsetzt über die Neuigkeiten. Beide legten die Stirn in Falten und riefen: »Ach herrje!«, denn die Aussicht, in die Luft gesprengt zu werden, war schlimm, aber der Gedanke daran, dass das Kind sie verlassen könnte, war fast noch schlimmer.
»Glauben Sie, er würde das wirklich tun, Schwester Craigenputtock? Wo könnte er die Kräcker versteckt haben, was glauben Sie?«
»Das ist es! Suchen wir! Wir müssen sie suchen!«
Sie stürzten aus dem Arbeitszimmer, trommelten das gesamte Kollegium zu einer Lagebesprechung zusammen und behaupteten, dass Wanderratten Schwester Killiecrankies Kräcker gestohlen hätten, die sie mit ihren Nagezähnen leicht entzünden könnten, so dass man das Versteck um jeden Preis ausfindig machen müsse. Zudem seien Wanderratten furchtbar schlau. Binnen weniger Minuten schwärmten die zwanzig Frauen in sämtliche Räume des Klosters, in die Küche und in die Zellen der Kinder aus. Doch ihre Mühe war vergeblich.
Mary hatte sie in der Hand. Die Tatsache, dass sie die Kräcker nicht gefunden hatten, musste bedeuten, dass er sie sorgfältig im ganzen Gebäude verteilt hatte, vielleicht direkt unter den Zellen der Schwestern, um sie mit Hilfe einer langen Zündschnur von irgendwoher heimlich auslösen zu können! In solchen Dingen war er schon immer sehr erfinderisch gewesen. Es gab nur einen Ausweg: Sie mussten Mary freilassen.
»Schwester Craigenputtock«, hob Schwester Killiecrankie an, »vi-vielleicht ist er ein Genie, und vielleicht ist es unsere heilige Pflicht, ihn in die Welt zu entlassen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass unser Lehrplan Mary nicht die beste Ausbildung angedeihen ließ, die er sich wünschen konnte, Schwester Killiecrankie?«
»Aber nein, Schwester Craigenputtock«, antwortete Schwester Killiecrankie und meinte es wirklich nicht so, zumal sie selbst die meisten Fächer unterrichtete. »Trotzdem wird er eines Tages ein Mann sein.«
Und da brach Schwester Craigenputtock in Tränen aus.
Die beiden braven Nonnen beschlossen, den Rebellen heimlich ziehen zu lassen, ohne dass die anderen Schwestern davon Wind bekamen, denn sie befürchteten, dass sie unter der Last des Abschieds zusammenbrechen könnten. Wenn Mary schließlich vermisst würde, würden sie behaupten, er sei ausgebüxt. Auch das hatte es noch nie zuvor im Kloster von Saint Fotheringay gegeben.
Schwester Killiecrankie und Schwester Craigenputtock unternahmen einen allerletzten Versuch, um Mary zum Bleiben zu bewegen: Sie ließen die Köchinnen den prächtigsten Kuchen in der Geschichte des Klosters backen.
Pünktlich um acht Uhr spazierte Mary in Schwester Craigenputtocks Zelle, ohne auch nur an die Tür zu klopfen und ohne den beiden listigen Nonnen den geringsten Respekt zu zollen. Vor ihnen auf dem Tisch war der mehrschichtige Nusskuchen mit Orangenglasur aufgebaut. »Wie lautet Ihre Entscheidung?«, fragte Mary und sah seinen Wärterinnen fest in die Augen.
»Mary«, sagte Schwester Killiecrankie, die Nerven zum Zerreißen gespannt, »ist das nicht ein wunderbarer Kuchen?«
»Pah«, erwiderte Mary und winkte ab. »Wann bin ich frei? Ich habe die Nase voll!«
»Mary, wir möchten, dass du bei uns bleibst«, sagte Schwester Craigenputtock, » … nur noch acht Jahre … und so haben wir beschlossen, dir – trotz deines Verhaltens in letzter Zeit – diesen herrlichen Kuchen zu schenken, wenn du versprichst, dich zu bessern.«
»Genug! Nach Mitternacht wird es kein Saint Fotheringay mehr geben! Sic semper tympan … tymp …«
»Mary«, sagte Schwester Killiecrankie und schluchzte unverhohlen, »ich habe dich unten am Prestonpans-Pass gefunden … Ich habe dich in meinen Armen hinauf zum Kloster getragen …«
»Verflucht sei der Tag!«
Schwester Craigenputtock riss sich zusammen. »Kommen Sie, Schwester Killiecrankie. Wir müssen ihn zum Tor geleiten und ihm viel Glück wünschen. Das Leben stellt uns vor schwere Aufgaben, liebe Schwester.«
Schwester Killiecrankie ging, von Schwester Craigenputtock gestützt, auf die Tür zu.
»Halt«, sagte sie. »Der Kuchen, mein liebes Kind … Er wurde eigens für dich gebacken, und ich möchte, dass du ihn auch bekommst.«
»Großmäuler!«, sagte Mary verächtlich, nahm das riesige Backwerk aber trotzdem an. Dann marschierte er vor den Schwestern hinunter in den Hof und weiter auf das eiserne Tor zu.
Dahinter führte die Straße hinab zum Prestonpans-Pass. Und hinter dem Pass: die Welt!
Die Torflügel öffneten sich, und Mary war zum ersten Mal frei. In diesem Moment, und das sei zu seiner Ehrenrettung gesagt, stellte er den Kuchen ab und umarmte die beiden barmherzigen Schwestern, ehe er von dannen zog.
Die Legende des Klosters von Saint Fotheringay hat verschiedene Enden. Niemand wird je wissen, was wirklich geschah. Doch so viel steht fest: Obwohl sich Mary seinen Weg in die Welt erkämpft hatte, flog das Kloster wie von ihm angedroht in die Luft. Es gab keine Überlebenden.
Manche Leute, die am Fuße des Mount Inveraragaig leben, behaupten, dass Schwester Killiecrankie die Kräcker fand und selbst entzündete, aus Kummer über den Verlust des Kindes. Andere glauben, Mary hätte eine so lange Zündschnur gelegt, dass er das Kloster auch aus der Ferne hatte in die Luft jagen können. Und wieder andere schwören, dass Mary nach Jahren zurückgekehrt sei und das Kloster gesprengt habe, damit nicht immer weiter falsche Informationen über das »tote Geschlecht« verbreitet werden konnten.
Jeder, der willens ist, sich den langen Weg den Prestonpans-Pass hinauf zu quälen, kann heute noch die Steine des Klosterfundaments erkennen.
Über eines sind sich die Bewohner von Mount Inveraragaig jedoch einig: Mary studierte an einer Universität und wurde zu einem der führenden Wissenschaftler seines Jahrhunderts. Es ist mir nicht gestattet, seinen Namen im Zusammenhang mit der Legende von Saint Fotheringay zu nennen, doch wenn ich es täte, würde ein jeder von Ihnen ihn erkennen, davon bin ich überzeugt, liebe Leser.
Die khakifarbene Allzwecktasche stand mutterseelenallein neben einem Pfosten mit Münzschlitz auf dem Bahnsteig der Subway. Über den Comic Strip in der Daily News beäugte er sie fast eine Minute lang, bevor er eine epileptisch anmutende Körperverdrehung vollzog, die damit endete, dass sein großer Kopf wackelte. Langsam taxierte er die sieben oder acht Leute, die auf dem Bahnsteig warteten. Ein Zug fuhr ein, veränderte die Zusammensetzung der Leute, doch als er verschwand, stand die khakifarbene Tasche noch immer da. Der Mann näherte sich vorsichtig, humpelnd mit seinem krummen linken Bein und dem langen und geraden rechten, wie ein schadhaftes Maschinenteil, die vergessene Zeitung in der Hand.
Vor ihm ging ein Soldat; er warf einen Penny in den Schlitz und blieb stehen, die Schuhe neben der Tasche gekreuzt, deren Farbe der seiner Hose entsprach. Der Krüppel schlurfte zur Seite, die großen Füße im Krebsgang bewegend. Als der nächste Zug hielt, stieg der Soldat ein, ohne einen Blick auf die Tasche geworfen zu haben.
Als der Krüppel sich wieder näherte, sah er, dass ihm ein Mann entgegenschlenderte, ein kleiner Mann mit grünem Filzhut und in offenem Kamelhaarmantel über einem königsblauen Anzug. Seine kleinen grünen Augen hefteten sich auf den Krüppel, der in ihrem Bann schüchtern vorwärtsschlurfte. Sie kamen sich so nahe, dass ihre Ärmel einander berührten, und als sie die Tasche erreichten, drehten sich beide um, der eine schwerfällig, der andere verschlagen, und sahen einander an.
Der Blick des kleinen Mannes war ruhig, doch die zerknitterten, unrasierten Züge seines Gesichts bewegten sich unablässig. Er beäugte und taxierte den Krüppel, das offene, hässliche Gesicht, den abgetragenen Mantel. Er blickte geradeaus, schlenderte auf die Tasche zu und blieb so stehen, dass ein gelbbrauner Schuh sie berührte. Er wippte vor und zurück, und die hölzernen Absätze klapperten rhythmisch auf dem Zement. Der Krüppel zog sich ein paar Schritte zurück. Der kleine Mann ging rasch zur Bahnsteigkante und blickte erst in den dunklen Tunnel und dann auf seine Armbanduhr.
Als er sich umdrehte, war die Tasche fort, und der Krüppel mühte sich mit seinen ruckartigen Auf- und Ab-Bewegungen den Bahnsteig entlang zum Ausgang an der Third Street. Er beeilte sich nicht, hielt jedoch das Gesicht vor Anstrengung zwischen die hochgeschlagenen Mantelaufschläge gesenkt und bewegte den freien Arm wie einen Pumpenschwengel in der Luft.
Der Mann im Kamelhaarmantel zauderte kurz und folgte ihm dann. In dem abschüssigen Tunnel hallte das grelle Klappern der Holzabsätze laut wider.
Der Krüppel hievte sich energisch die Treppe hoch. Draußen regnete es, matter Nieselregen. Es war etwa Viertel vor sechs, doch es dämmerte schon. Der Krüppel ging die Sixth Avenue entlang, vorbei an dem Drahtzaun, der die betonierten Handballfelder, die Rasenstücke und die Sitzbänke umschloss. Das Klappern hinter ihm hielt an, und mit keimender Besorgnis merkte er, dass der Grünäugige ihm folgte. Er machte längere schlurfende Schritte und nahm die Tasche unter den Arm.
Nach einigen Metern rief der Grünäugige: »He!«, und streckte einen gekrümmten Finger vor.
Der Krüppel blieb nicht stehen.
»He!«, wiederholte der Kleinere und holte den Krüppel ein, den er am freien Arm packte und zu sich herumdrehte. »Sie haben meine Tasche!« Seine Miene war erbost und entschlossen.
Der Krüppel sah auf die Tasche unter seinem Arm, ohne dass seine ausdruckslose Miene sich veränderte. Seine breiten, geschwungenen Lippen öffneten sich, doch kein Ton war zu hören.
Der Kleinere sah die trägen Augen, die Nase und den Mund, die sich grotesk zwischen der teigigen Stirn und dem fliehenden Kinn drängten. Ein Ohr wurde von der schwarzweiß karierten Mütze an den Kopf gedrückt, doch an der Stelle des anderen befand sich ein weißlicher Fleischwulst, der aussah wie der Verschluss eines Luftballons.
Er riss dem Krüppel die Tasche unter dem Arm weg, zog den Reißverschluss halb auf und warf einen schnellen Blick hinein, bevor er sie wieder schloss. Er funkelte die ruhigen Augen zornig an. »Dieb! … Idiot!« Und mit verächtlicher Mundbewegung: »Eigentlich sollte ich Sie anzeigen!« Doch stattdessen ging er mit der Tasche weiter die Sixth Avenue hinauf.
Der Krüppel blickte ihm nach, schaute zur Tasche unter seinem Arm, sah beide kleiner werden. Ein Zucken ging durch seinen Körper, und unvermittelt humpelte er los, hinter dem Kamelhaarmantel her, den langen Block entlang zur Eighth Street. Seine langen Beine bewegten sich so schnell, dass er nur noch etwa zehn Meter aufzuholen hatte, als der Mann mit der Tasche im Eingang einer Bar verschwand.
Er ging langsamer und blieb vor dem Bar- und Grillroom stehen. Demütig schaute er unter dem Mützenschirm hervor zum weichen Licht des Barraums, mit einer Hand das schmierige Metall eines Parkschildes berührend. Weiße Dampfwölkchen drangen in schneller Folge aus seinem Mund.
Über dem dunkelbraunen Vorhang, der die untere Hälfte des Fensters verhüllte, konnte der Krüppel sehen, wie der grüne Hut sich hob und senkte, während der Mann sein Bier trank.
Er trat näher an das Fenster und sah, dass die Tasche auf einem Hocker neben dem Mann stand. Nach einem Augenblick zog der Mann in der Bar den Reißverschluss auf und griff mit einer Hand in die Tasche. Der Krüppel verspürte ein bleiernes Pochen in der Brust. Ohne Eile zog der Mann den Reißverschluss wieder zu und legte im Aufstehen den Schal unter seinem Mantel zurecht, mit zurückgebeugtem Kopf, um den Rauch aus den Augen zu bekommen.
Schüchtern bewegte der Krüppel sich ein paar Schritte den Gehsteig entlang, stellte sich in den Eingang eines Kurzwarenladens und blickte zur Bar.
Der Mann mit der khakifarbenen Tasche kam heraus, überquerte die Sixth Avenue und ging am Frauengefängnis vorbei die linke Seite der Greenwich Avenue entlang.
Ihm wiederum folgte der Krüppel, der sich jetzt darauf beschränkte, mit der nunmehr moderaten Geschwindigkeit des anderen Schritt zu halten. Als Erstes musste er sich genau überlegen, was er zu dem grünäugigen Mann sagen wollte, aber sein Gehirn war wie blockiert. Es weigerte sich, das richtige Bild, die richtigen Worte zu liefern, über den unmittelbaren Augenblick hinauszudenken. Unverdrossen folgte er ihm die Straße entlang, den Blick auf die khakifarbene Tasche geheftet.
An der Seventh Avenue ging der Mann über die Straße, während der Krüppel vom Verkehr aufgehalten wurde. Plötzlich schaltete sich die Straßenbeleuchtung grüppchenweise die Avenue entlang ein, so dass der Himmel unvermittelt finsterer aussah. Der Krüppel war einen Block von dem Mann entfernt, als dieser westlich in die Jane Street einbog. Obwohl es dort dunkel war, konnte der Krüppel den hellen Schimmer des Kamelhaarmantels erkennen, und hin und wieder hörte er das knirschende Rutschen eines Absatzes auf dem abschüssigen Gehsteig vor den Garageneinfahrten.
Der Kamelhaarmantel überquerte die Hudson Street, ging weiter in westliche Richtung und bog nordwärts in die Greenwich Street ab.
Der Krüppel schaute ihm nach und sah in vielleicht zwei Block Entfernung eine beleuchtete Ecke, in die der Mann mit der Tasche eintrat. Der Krüppel schob sich schnelleren Schritts hin, vorbei an auf den Gehsteig ragenden Freitreppen und Mülltonnen nebst Deckeln, gegen die sein lahmes Bein ab und zu unter hässlichem Dröhnen stieß.
Das Licht fiel aus einem modernen chromglänzenden Imbissstand, der als Trambahnwaggon gestaltet war. Der Krüppel näherte sich ihm so langsam wie vorhin dem Bar- und Grillroom. Der Waggon stand erhöht und war hell erleuchtet. Durch die dampfbeschlagenen Fenster sah er die schwarzweiß gemusterten Speisekarten über den großen, schimmernden Kaffeemaschinen. Zwischen einer schwarzen Strickmütze und einem Matrosenkäppi war der grüne Hut. Der Krüppel trat an die Längsseite der Imbissbude, wo er durch die Glastür hineinsehen konnte. Die khakifarbene Tasche befand sich jetzt auf dem Schoß des Mannes, gegen die Unterkante der Theke geklemmt. Die nassen, gelblichen Schuhe ruhten mit nach außen gerichteten Spitzen auf der Fußstütze des Barhockers.
Der Wind brauste vom Fluss her, klatschte Regen an die Metallwände der Imbissbude und zerfledderte den blassen Rauch, den der Ventilator hinausblies. Der Krüppel erhaschte im Verwehen den Geruch von gebratenem Hackfleisch, Speck, Eiern und Butter. Sein Magen knurrte leise und schmerzhaft. Die gebogenen Lippen unter der überstehenden Nase pressten sich fester aufeinander, die blauen Augen blinzelten.
Ein Mann hinter der Theke setzte mit großzügiger Armbewegung einen Teller voll gelber Eier vor dem Kamelhaarmantel ab, der die breiten Schultern vorbeugte. Der rechte Arm bewegte sich stetig, schaufelte die Eier und steckte die dreieckigen, gebutterten Toastscheiben in das Gesicht hinter dem Hut. Als die Eier aufgegessen waren, nahm der Mann eine Papierserviette aus dem Serviettenspender und putzte sich so laut die Nase, dass sein Beobachter es draußen hören konnte. Er ließ die Papierserviette unter die Theke fallen und machte sich über seinen Nachtisch her.
Der Krüppel betrachtete die Tasche, vermerkte, dass sie am einen Ende eine Beule beschrieb und dass der Mann sich nicht damit beschäftigte. Vielleicht war es Schmutzwäsche, dachte er, und sein Herz zog sich zusammen, oder es waren leere Dosen oder andere Abfälle. Nein, es musste etwas Besseres sein, sonst hätte der Grünäugige es nicht haben wollen. Vielleicht war es etwas Schönes wie Orangen oder Sandwiches oder Socken oder vielleicht sogar Geld.
Schließlich schob der Mann an der Theke seinen Teller weg, und unter seiner Hutkrempe quoll ein Rauchwölkchen hervor. Die Zigarette sah in der haarigen Hand weiß und sauber aus. Er kippte den letzten Schluck Kaffee, stand auf, schlug den Mantel zurück und langte in seine Hosentasche.
Der Krüppel verspürte plötzlich den dringenden Wunsch wegzulaufen. Er zog sich zum Ende des Imbisswagens zurück, von wo aus er die ganze Längsseite überblicken konnte. Den linken Fuß stellte er auf den Gehsteig, bereit, jederzeit jede Richtung einzuschlagen.
Der Mann trat mit der Tasche unter dem Arm rauchend aus der Tür und war die erste Stufe hinuntergegangen, bevor er die Gestalt an der Ecke bemerkte. Verlegen verdrehte der Krüppel seinen Oberkörper.
Der Mann mit der Tasche blieb reglos stehen. Nach einer Weile kam er die Treppe ganz hinunter und ging los. Über die letzte Stufe, die er nicht gesehen hatte, stolperte er und verlor dabei die Zigarette aus dem Mund. Verdattert hielt er inne, wandte den Blick von dem Krüppel ab und ging geradewegs über die Straße und abermals die Greenwich Street hoch. Diesmal ging er schneller; in wenigen Sekunden war er dem Blick entschwunden.
Als er den Krüppel in der Dunkelheit hinter sich hörte, überkam ihn zum ersten Mal ein Anflug von Panik. Er ging schneller, klemmte die Tasche höher unter den Arm, einen Mundwinkel lächelnd verzogen, während er sich mit dem Gedanken zu beruhigen versuchte, dass weder die Tasche noch der Mann, der ihn verfolgte, Anlass zu Besorgnis oder Furcht sein konnten und dass er in höchstens drei Minuten die Fourteenth Street erreichen und zu seiner Versammlung gehen würde.
Der Krüppel folgte ihm unter heftigen Bewegungen, schaufelte sich mit seinen langen Armen rudernd voran in einer Gangart, die aussah, als würde er ununterbrochen stolpern und sich wieder aufrichten. Beim Anblick der Tasche wurde er zuversichtlicher; er stellte sich vor, wie er mit ihr die Treppe hochsteigen und sie in sein Zimmer mitnehmen und auf dem Bett sitzen und sie öffnen würde. Doch vorher musste er zu dem Mann sagen: »Ich war schon lange vor I-i-ihnen auf dem Bahnsteig.« Er übte die Worte, die er in seinen hochgeschlagenen Mantelkragen nuschelte: »I-i-ich war schon lange vor Ihnen …« Sein großer, eiförmiger Adamsapfel hüpfte. »Auf dem B-b-bahnsteig!«, keuchte er atemlos.
Er musste es korrekt sagen. Dazu brauchte es Mut. Er rief sich einen seiner wenigen Momente ungetrübten Glücks in Erinnerung samt der Stimme und der Worte, die dieses Glück bewirkt hatten: »Archie ist in Ordnung. Wenn er den Mund aufmacht, kommt was Vernünftiges raus.« Mr. Hendricks hatte das gesagt, Mr. Hendricks, der ihn immer anlächelte und auch ansprach. Und er hatte es über ihn, Archie, gesagt, der die Rollwagen in dem Zeitungsgebäude schob. Mr. Hendricks war einer der Chefredakteure. Archie erinnerte sich genau daran, wie er es gehört hatte. Er hatte sich am Aufzugsschacht befunden, und Mr. Hendricks hatte mit dem Angestellten Ryzek gesprochen. »Archie ist in Ordnung. Wenn er den Mund aufmacht, kommt was Vernünftiges raus.« Da war er so glücklich gewesen, und dieses Glücksgefühl konnte er jederzeit wiederbeleben, indem er sich an diese Worte erinnerte und Mr. Hendricks’ Stimme sie sagen hörte: »Archie ist in Ordnung …«
Er fühlte sich stark und tapfer. Er würde es mit diesem Mann mit der Tasche aufnehmen. Er würde den Mund aufmachen, und es würde etwas Vernünftiges rauskommen.
Er begann die Situation als Missverständnis zu betrachten, das durch ein paar Worte aufzuklären war … Seine Schuhsohle stieß hohl und laut gegen die Bordsteinkante.
Der Mann im Kamelhaarmantel warf einen Blick hinter sich. Die Angst grub sich tiefer in sein Rückgrat und ließ ihn mit erstaunlicher Schnelligkeit weiterlaufen. Er rannte über die Kreuzung der Fourteenth Street, über abgetretenes Kopfsteinpflaster und Tramschienen. Auf der Fourteenth Street war niemand zu sehen, und ein paar Blocks lang war sie so schwach beleuchtet wie die Straße, auf der er lief. Er rannte in die Greenwich Street zurück. Eine Zeitlang ging er auf Zehenspitzen, in der Hoffnung, der Krüppel würde glauben, er sei an der Fourteenth Street abgebogen. Dann trat er gegen etwas, was klirrend über den Gehsteig rollte.
»Verdammt!«, sagte er, und seine ungepflegten Zähne klapperten. Er drehte sich um und lauschte mit angespanntem Körper. Das schlurfende Geräusch kam näher. Er verfiel in einen Trab. »Wa-was zum Teufel lasse ich mich hier von einem Irren herumjagen«, flüsterte er, »statt an der Vierzehnten abzubiegen und zu unserer Versammlung zu gehen …« Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren, doch gleichzeitig hatte er das Gefühl, als zöge man von hinten an ihm. In seinem Geist nahm der Krüppel exorbitante Formen an, wurde zu einer unbarmherzigen Robotergestalt aus einem Albtraum, und jetzt glaubte er, dass er tatsächlich hinter ihm her sei und nicht hinter der Tasche, angetrieben von irrationalem Rachedurst. Er presste die Tasche noch fester an sich und nahm sich vor, an der nächsten Straße abzubiegen, egal wie dunkel sie sein mochte, um irgendwohin zu gelangen, wo Menschen waren.
Er hörte sein Herz aussetzen und wie ein Paar müde Füße seinen Rhythmus wiederfinden, und er verlangsamte den Schritt. Wie konnte er mit seinem schwachen Herzen so rennen! Am Ende würde er noch umkippen, direkt in den Rinnstein … Und wenn er mich den ganzen Abend verfolgt? Oder überhaupt nicht mehr in Ruhe lässt? … Was würden die Burschen in unserer Versammlung denken, wenn sie sehen könnten, wie ich wegen so einer lausigen Tasche von einem Irren herumgejagt werde!
Er war der Kassenwart einer großen Bruderschaft und hielt hin und wieder eine Ansprache, vor genau zwei Wochen beispielsweise die, in der er Putterman denunziert hatte, der keine zwei Meter von ihm entfernt in der ersten Reihe saß. »Es ist nicht meine Art, Zeugnis abzulegen gegen einen Bruder und Genossen«, hatte er zum Schluss gesagt und sich den Mund mit dem Taschentuch abgewischt, »Aber mir geht es um unsere Orga-nisa-zjohn! … Und ich weiß, dass Putterman einer von denen ist, die einem ins Gesicht so tun, als fänden sie alles in Ordnung, und hinterher … hinterher«, er streckte einen Finger aus, aber diese Geste erinnerte ihn jetzt daran, dass er sie dem Krüppel gegenüber gemacht hatte, »gehen sie hin und machen unsere Orga-nisa-zjohn höheren Orts schlecht! … Meine Herren, ich weiß, wovon ich spreche, und ich kann es beweisen!« Lauter Applaus, Putterman durch mündliche Abstimmung ausgeschlossen. Wa-was würden die Burschen sagen, wenn sie jetzt …
»Holla!«, rief der Krüppel aus nächster Nähe. »Holla!« Mit seiner schlenkernden Hand machte er eine Bewegung zu dem Kamelhaarmantel hin.
Der Kleinere sprang zurück. »Da, nehmen Sie, nehmen Sie!«, kreischte er.
»Holla! … Ich wollte nur … nur …«
Aber der Mann im Kamelhaarmantel war schon fort, die klappernden Absätze rannten, bogen ab, rannten in östliche Richtung davon.
Die großen, knochigen Hände senkten sich und tasteten über den Gehsteig. Sie fanden die Tasche, hoben sie hoch und lüpften sie auf die schäbigen Mantelärmel. Archie ging die Straße entlang und hielt die Tasche so eng an sich gedrückt, dass Zuneigung in ihm aufkam und ihn mit einem warmen Glücksgefühl erfüllte. Der Mann im Kamelhaarmantel geriet in Vergessenheit. Er roch den feuchten Khaki in all seiner Stofflichkeit. Der geschwungene Mund dehnte sich in stiller Zufriedenheit.
Er ging vier, fünf Blocks weiter bis zur Twentieth Street, wo er sich nach Osten wandte. Er kramte nicht in der Tasche, um zu erfühlen, was sie enthielt. Sein Gesicht hatte wieder den gewohnten Ausdruck leerer Gedankenverlorenheit angenommen. Er blickte starr geradeaus und achtete nicht auf seinen Schatten, den die Lichter der Laternen an der Bordsteinkante einander weiterreichten, den Schatten, dessen Kopf ab und zu bizarre Verrenkungen auf dem Gehsteig vollführte.
Vor einem bestimmten braunen Sandsteinhaus mühte er sich an einer breiten Balustrade hoch, förderte einen Schlüssel zutage und öffnete die Tür. Im Vestibül hing eine nackte Glühbirne von der Decke. Er stieg die Treppe hoch, hielt sich dabei an dem wackeligen Geländer fest und meisterte jeden Treppenabsatz mit einem hartnäckigen Auf- und-Ab-Rucken seines Kopfes. Im dritten Stock blieb er vor einer niedrigen, gedrungenen Tür stehen, deren braune Farbe durch Berührung und Tritte abgenutzt und abgesplittert war. Das Vorhängeschloss öffnete er mit einem zweiten Schlüssel.
Drinnen bewegte er sich sicher; er schaltete die Schwanenhalslampe auf dem Wachstuch des Tischs neben dem Gaskocher an. Das gelbliche Licht enthüllte einen quadratischen Raum, möbliert mit einem Bett, das wie eine Hängematte durchsackte, einem Tisch mit Spindelbeinen, einem Stuhl mit gerader Lehne, einer umgedrehten Obstkiste als Nachttisch und einer ramponierten Kommode. Sämtliche Wände waren wie nach einem bestimmten Muster über und über gleichmäßig mit winzigen Notizen vollgekritzelt: Den Namen, Adressen und Telefonnummern aller Leute, mit denen er zu tun hatte. Es waren die Angestellten der Zeitung bis hin zur Putzfrau, Namen und Öffnungszeiten der Lebensmittelhändler an der Ecke, des Tabakladens und des Drugstores sowie viele Adressen verschiedener Versandhäuser, die ihm in letzter Zeit Reklamesendungen zugeschickt hatten.
Er hängte den Mantel in eine Zimmerecke, die durch einen Vorhang zum Wandschrank umfunktioniert war. Sein Kopf war länglich, mit flachem Schädeldach, und von der Seite sah er aus wie das Modell im Profil neben einer Mercator-Projektion. Sein Haar war blond und sehr dünn und fiel in widerspenstigen Locken. In seinem Zimmer bewegte er sich gewandt wie jemand, der sich auf vertrautem Boden weiß und zwischen dem Mobiliar blind zurechtfindet.
Er trug die Tasche zu seinem Bett und setzte sich vorsichtig auf die unebene Bettdecke. Der goldfarbene Reißverschluss sandte einen freudigen Kitzel durch seine Finger. Das Geräusch des Reißverschlusses war ein Gesang voll Verheißung, voll mechanischer Schönheit. Sein geschwungener Mund lächelte noch breiter, seine blonden Augenbrauen hoben sich erwartungsvoll. Er klappte die Tasche auf und erblickte in ihrem dämmrigen Inneren Säulen aus blauem und goldenem Glanzpapier, aus rotem und gelbem und grünem und grauem und lilafarbenem und weißem Papier, jeweils ein Block, die alle zusammen einen großen Block bildeten. Die gleichmäßige und unversehrte Verpackung Hunderter von Schokoladenbonbons und Kaugummis.
Seine Aufregung wich einer unruhigen und unsicheren Enttäuschung. Die Augenbrauen senkten sich etwas, die Mundwinkel hingen herunter. Doch von den Spektralfarben fasziniert, nahm er zehn oder fünfzehn Bonbons aus ihrer Schachtel, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger aneinandergedrückt und lachte laut, bis die Säule auseinanderbrach und sich über seine Beine auf Bett und Fußboden ergoss. Er langte wieder in die Tasche und holte diesmal lauter grünverpackte Kaugummis heraus, die er als Kaskade von der Handfläche auf seine geschlossenen Schenkel prasseln ließ. Er holte noch mehr Bonbons heraus und ließ sie wie Münzen durch die Finger auf die Bettdecke gleiten. Und an einer Seite der Tasche befanden sich in einem Segeltuchsäckchen Pennymünzen im Wert von vielleicht zwei Dollar.
Er zog den spindelfüßigen Tisch zum Bett, räumte Wecker und Bleistiftstummel fort und legte die Schokoladenbonbons auf der Tischfläche aus, in dunkelblauen, lilafarbenen und grünen Reihen; aus allen möglichen Winkeln beäugte er diese Farbenfülle, diese Hunderte von Süßigkeiten, die er sich nur einzeln und in Abständen gekauft hätte. Dann suchte er sich genießerisch und wollüstig ein bestimmtes Bonbon aus, wickelte es aus dem Papier und legte sich die schwarze, kühle Süßigkeit auf die Zunge. Er schob sich bis an die Wand, bewegte seinen flachen Schädel, um das Licht auf das Stückchen Papier in seiner Hand fallen zu lassen, und begann unter tonlosem Summen die Angaben zu den Ingredienzen dessen zu lesen, was in seinem Mund sein Aroma entfaltete.