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Nicolas Lindt

»Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom«

edition 8

Nicolas Lindt

»Nur tote Fische schwimmen
mit dem Strom«

Porträts, Geschichten & Reportagen
aus dem Jahr der ›Bewegung‹ 1980/81

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Die edition 8 wird im Rahmen des Konzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2019–2020 unterstützt.

Besuchen Sie uns im Internet: Informationen zu unseren Büchern und Autor*innen sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweise finden Sie unter www.edition8.ch

März 2020, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat: Verena Stettler, Korrektorat: Geri Balsiger, Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger; Umschlagfotos: Sozialarchiv Zürich; e-Book: mbassador GmbH, Basel.
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/ (0)44 271 80 22, info@edition8.ch

ISBN 978-3-85990-395-1

Inhalt

Vor der Lektüre

Die Bewegung und ihre Vorgeschichte.
Chronologie der Ereignisse

Teil 1 Bewegte Geschichten, Reportagen, Polemiken 1980/81

-Die Utopie wird konkret. Warum ich dabei bin

-Herr und Frau Müller. Eine TV-Sendung artet aus

-Haben die Männer eigentlich keine Angst – oder tun sie nur so?
Die Frauen in der Bewegung

-Rosmarie F. kämpft für ihren Sohn.
Ein Besuch im Elternhaus eines Bewegten

-Jetzt erst recht, sagt Walter Fröhlich.
Ein Filialleiter solidarisiert sich 50

-Hildegard Schwaninger wechselt zum Eisbrecher.
Eine Begegnung mit Zürichs Klatschtante

-»Ich zünd mich an.«
Silvia Z. verbrennt sich am Bellevue

-Für eine frohe Weihnacht – im AJZ.
Ein Aufruf vor der Weihnachtsdemo als Leserbrief

-Der programmierte Krawall.
Nach dem Unheiligen Abend

-»… dass du kämpfen musst«.
Prozess in Chur gegen Marco und René

-Journalistenpflicht.
Die Journalisten und die Bewegung

-Frühlingserwachen in Zürich.
Wenn die Gewalt in der Stadt regiert

-Der Dialog, den niemand will.
Die Bewegung vor der Integration

-L’ora per LoRa.
Autonomie auf Sendung

-Eine illegale Frankatur.
Die AJZ-Briefmarke und die Post

Teil 2 10 bewegte Porträts

-Vorwort zur Erstausgabe von »Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom« 1981

-Max (35)

-Francesca (16)

-Köbi (20)

-Anna (30)

-Felix (27)

-Barbara (20)

-Roman (34)

-Susanne (27)

-Richi (24)

-Gertrud (39)

Wiederbegegnung mit ›Max‹ – 40 Jahre danach

Das Jahr, als die Stadt uns gehörte.
Ein Gedankengang 40 Jahre danach

Glossar

Quellenhinweise

Dank

Angaben zum Autor

Den Menschen gewidmet,
die in Bewegung sind

Vor der Lektüre

Im Frühling 1981, noch mittendrin im Geschehen, erschien im eco-verlag mein Buch »Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom«. Es sollte kein Buch über, sondern eines aus der Bewegung sein. In einer Reihe intensiver, in die Tiefe gehender Interviews erzählten mir junge Frauen und Männer ihre persönliche Geschichte und was die Ereignisse in Zürich für sie bedeuteten. Sie redeten aber auch über ihre Kindheit, ihre Träume, ihre Sexualität und den Sinn des Lebens. Der Impuls der Bewegung erlaubte es ihnen, mit grosser Offenheit von sich selber zu sprechen.

Vier Jahrzehnte danach blicke ich auf das bewegte Jahr in Zürich zurück und erkenne von Neuem, wie aussergewöhnlich es war. Alle, die so wie ich aktiv dabei waren, würden mir dies bestätigen. Zusammen mit dem Verlag edition 8 entschied ich mich deshalb, die Porträts von damals neu aufzulegen, um den Geist der Bewegung noch einmal spürbar zu machen. Gleichzeitig vermitteln die Interviews auch, wie engagierte junge Leute aus Zürich vor 40 Jahren gedacht und gefühlt haben. Ihre Schilderungen sind nicht nur lebendig und inspirierend, sondern auch von überraschender Aktualität.

Erweitert habe ich meine Rückschau mit Reportagen & Geschichten, die ich 1980 und 1981 veröffentlichte. Sie erscheinen hier erstmals in Buchform und widerspiegeln die Bewegung immer wieder aus einem anderen Blickwinkel. Das gilt auch für die Reportage »… dass du kämpfen musst«, für die ich damals nach Chur gereist bin. Vor dem Bündner Kantonsgericht fand dort der Schauprozess gegen Marco und René statt. Ihr Schicksal liess uns in Zürich nicht gleichgültig.

Was die Bewegung bewirkte, was ihr Impuls alles ausgelöst hat, kommt in einem Gespräch zum Ausdruck, das ich mit einem der Porträtierten von damals führte: »Wiederbegegnung mit Max – 40 Jahre danach«.

Wie ich selber die Bewegung erlebte und wie ich sie heute beurteile, schildere ich am Schluss des Buches in meinem Gedankengang »Das Jahr, als die Stadt uns gehörte«. Zu diesem Text folgende Anmerkungen:

◆ Was in Zürich geschah, hatte eine Auswirkung auch auf andere Städte des Landes, doch in meinem Essay beschränke ich mich auf die Bewegung in Zürich, weil sie mit Abstand am grössten war und weil ich sie selber miterlebte.

◆ Das Autonome Jugendzentrum (AJZ) stand als Forderung im Mittelpunkt der Bewegung, doch die Entwicklung im AJZ selbst – der Kulturbetrieb, die Arbeitsgruppen, Drogenprobleme, interne Konflikte – wäre eine Geschichte für sich und würde den Rahmen dieser Publikation übersteigen. Ich gehe deshalb darauf nur am Rande ein.

◆ Im Frühling 1981, mit dem eigentlichen Ende der Bewegung, endet auch mein Gedankengang.

Eine Bemerkung noch: Sämtliche Texte in diesem Buch setzen ein minimales Wissen über die Bewegung voraus. Es empfiehlt sich deshalb, zunächst »Die Bewegung und ihre Vorgeschichte. Chronologie der Ereignisse« zu lesen, die auch einen ersten Eindruck vom Ausmass des Geschehenen gibt. Für das bessere Verständnis einzelner Begriffe und Namen kann das Glossar eine Hilfe sein.

*

Beim Titel des Buches »Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom« handelt es sich um ein chinesisches Sprichwort, das auch Mao Tse-tung in einem seiner Werke zitiert hat. Wie die meisten Sprichwörter ist es von zeitloser Bedeutung.

Die Bewegung und ihre Vorgeschichte

Chronologie der Ereignisse

14.4.1967 Die ›Rolling Stones‹ im Zürcher Hallenstadion. Ausschreitungen am Ende des Konzerts.

30.5.68 Zweitägiges ›Monsterkonzert‹ im Hallenstadion mit Jimi Hendrix, Eric Burdon, John Mayall und weiteren Bands. Konzertwiederholung am 31.5. mit unverhältnismässigem Polizeieinsatz nach Konzertende vor dem Hallenstadion und später beim Hauptbahnhof.

Juni 68 Vollversammlung (VV) im leerstehenden Globus-Provisorium auf der Bahnhofbrücke (heute COOP). Mehrere tausend Teilnehmende. Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum im Globus-Provisorium.

29.6.68 Stadtrat zeigt kein Entgegenkommen. 2000 Demonstrierende versammeln sich auf der Bahnhofbrücke. Heftiger Polizeieinsatz mit vielen Verletzten und rund 170 Verhaftungen. Die Ausschreitungen gehen als ›Globus-Krawall‹ in die Geschichte ein.

Juli 1968 Prominente Persönlichkeiten üben im ›Zürcher Manifest‹ Kritik am Polizeieinsatz und an der städtischen Jugendpolitik. Die Behörden bewilligen einen Projektkredit für ein neues Jugendhaus Drahtschmidli an der Limmat hinter dem Hauptbahnhof. Das von der Stadt verwaltete Zentrum besteht schon seit 1961.

Oktober 1970 Nach langen Verhandlungen wird der Luftschutz-bunker unter dem Lindenhof von der Stadt als selbstverwaltetes Jugendzentrum eröffnet.

14.12.70 Illegale Übernachtungen, Drogenprobleme und mangelnde Hilfeleistung der Stadt verschärfen die interne Situation im Lindenhofbunker. Ultimatum des Stadtrats an das Bunker-Komitee zur ›Wiederherstellung der Ordnung‹ innert drei Wochen.

28.12.70 Eine VV mit über 500 Teilnehmenden lehnt das Ultimatum der Stadt ab und beharrt auf der Autonomie des Bunkers.

31.12.70 Gründung der ›Autonomen Republik Bunker‹, deren ›Pass‹ in den folgenden Tagen von 2000 Jugendlichen erworben wird.

6.1.71 Der Bunker wird von der Polizei umstellt und geschlossen.

18.12.72 Das Städtische Jugendhaus Drahtschmidli wird nach einer vorübergehenden Besetzung durch Jugendliche polizeilich geräumt.

30.6.74 Die Zürcher Stimmberechtigten lehnen das geplante neue Jugendhaus Drahtschmidli ab. Selbst die Jugendlichen wenden sich gegen die Vorlage, da sie nicht ihrer Forderung nach Autonomie entspricht.

27.9.77 Die Zürcher Stimmberechtigten beschliessen die Umwandlung der Roten Fabrik in Wollishofen in ein Kulturzentrum. Doch mit Ausnahme weniger Konzerte bleibt die Fabrik geschlossen. Ihre Räumlichkeiten werden ans Opernhaus und an private Unternehmen vermietet.

12.11.77 Eröffnung der Villa Schindlergut oberhalb der Kornhausbrücke als Ersatz für das Drahtschmidli, das nun doch abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden soll. Das Schigu wird quasi autonom geführt, es finden Vollversammlungen statt.

29.5.78 Illegale Übernachtungen im Schigu häufen sich. Um einer behördlichen Schliessung zuvorzukommen, wird das Schigu von rund 150 Jugendlichen besetzt.

6.6.78 Das Schigu wird polizeilich geräumt.

Dezember 1979 Die neugegründete Arbeitsgemeinschaft Rock als Revolte (RAR) kritisiert die einseitige Verteilung der Kulturgelder und fehlende Räumlichkeiten für alternative Konzerte.

12.3.80 Die Aktionsgruppe Rote Fabrik, der auch Rock als Revolte angehört, fordert die Rote Fabrik oder eine andere Räumlichkeit als autonomes Kulturzentrum. Der Stadtrat geht nicht darauf ein.

17.5.80 An einem von der Stadt lediglich ›tolerierten‹ Protestanlass in der Roten Fabrik mit nahezu 2000 Teilnehmenden wird die Forderung nach Freiräumen erneut diskutiert – auch vor dem Hintergrund eines 60-Millionen-Kredits für den Ausbau des Opernhauses.

24.5.80 Das Allmänd-Fäscht – ein traditionelles Openair auf der Allmend Brunau – wird diesmal von 4000 Personen besucht. Gegen die Opernhausvorlage und für die Förderung alternativer Kultur wird eine Demonstration auf den 30. Mai angekündigt.

Freitag 30.5.80 Organisiert von der Aktionsgruppe Rote Fabrik, demonstrieren um 19 Uhr rund 150 Personen vor dem Eingang zum Opernhaus. Ein Videofilm hält fest, wie die Polizei schon kurz nach Beginn der friedlichen Kundgebung in voller Ausrüstung aus dem Opernhaus tritt. Auf diese Provokation hin werden einige Eier und Farbbeutel geworfen. Die Polizei drängt die Demonstranten zurück. Die ersten Steine und Flaschen fliegen. Das Geschehen verlagert sich auf die Strasse in Richtung Bellevue. Die Polizei setzt Hartgummigeschosse ein, auch Tränengas kommt zum Einsatz. Immer mehr Demonstranten, ganz junge ebenso wie ältere, aber auch zahlreiche Schaulustige strömen hinzu. Mit Autos und Containern werden Barrikaden gebaut. Der Rathausposten der Polizei wird angegriffen und beinahe angezündet. Die entfesselte Wut und Militanz erstaunt sogar die Beteiligten selbst.

Um 22 Uhr sind es bereits Hunderte von Menschen, unter ihnen auch viele Besucher eines Bob-Marley-Konzerts im Hallenstadion, die von der überraschenden Eskalation erfahren haben und sich anschliessen. Bis in die Morgenstunden dauert die Strassenschlacht. Die Polizeikräfte sind zeitweise total überfordert. Ein höherer Polizeibeamter erleidet vor Aufregung einen Herzinfarkt. 45 Leute werden verhaftet, viele sind verletzt. 12 Jahre nach dem Globuskrawall schreibt sich der ›Opernhauskrawall‹ in die Geschichte der Stadt ein.

Samstag 31.5.80 Neue Ausschreitungen, allerdings nicht mehr im gleichen Ausmass.

Sonntag 1.6.80 Der Stadtrat lehnt es ab, »unter dem Druck der Gewalt« zu verhandeln. 1000 Leute besetzen das Festzelt beim Opernhaus und diskutieren, danach wird für die Freilassung der Inhaftierten demonstriert.

Montag 2.6.80 Der Tages-Anzeiger ist »fassungslos«, die NZZ erwartungsgemäss empört. Während die bürgerlichen Parteien den Krawall schärfstens verurteilen, ist auch die SP »einerseits zwar bestürzt, aber gleichzeitig auch befriedigt, dass die Polizei eine klare Trennung zwischen politischer Demonstration und Plünderungen gezogen« habe.

Dienstag 3.6.80 An einer Kundgebung auf dem Hirschenplatz versammeln sich spontan 800 Leute. Pfarrer Sieber öffnet danach für die Diskussion die Türen der Predigerkirche. 68er-Linke, welche die Anwesenden als »Genossinnen und Genossen« ansprechen, werden ausgebuht.

Mittwoch 4.6.80 VV im Volkshaus mit weit über 2000 Bewegten. Der Altersdurchschnitt verschiebt sich nach oben. Dreissigjährige sind ebenso zahlreich vertreten wie Zwanzigjährige. Anwesend sind auch Stadtpräsident Sigi Widmer und Stadträtin Emilie Lieberherr. Der Stadtpräsident signalisiert Gesprächsbereitschaft für eine Teilinbetriebnahme der Roten Fabrik im Herbst und auch für die mögliche Freigabe einer leeren Fabrik an der Limmatstrasse 18/20 beim Hauptbahnhof – unter der Bedingung, dass keine weiteren unbewilligten Demonstrationen stattfinden. Eine Amnestie für jene, die nach den Ausschreitungen immer noch inhaftiert sind, lehnt er ab.

Freitag 6.6.80 Ein von Ethnologiestudenten an der VV gezeigter Videofilm über den Opernhauskrawall wird vom kantonalen Erziehungsdirektor Alfred Gilgen wegen politischer Agitation mit einem Vorführungsverbot belegt. Eine daraufhin gebildete ›Gruppe für eine freie Universität‹ ruft zum Protest auf.

Samstag 7.6.80 Rund 1500 Leute versammeln sich auf dem Platzspitz. Der Stadtrat ist bereit, die Fabrik an der Limmatstrasse auf den 23. Juni zur Verfügung zu stellen. Für das Wochenende hat er bereits die Rote Fabrik freigegeben. Es folgt eine friedliche Grossdemo durch die City.

Sonntag 8.6.80 Diskussion in der Roten Fabrik. Die Bedingungen für die Inbetriebnahme der ehemaligen Fabrik an der Limmatstrasse 18/20 werden abgelehnt. Gefordert wird vollständige Autonomie. Am gleichen Wochenende wird der 60-Millionen-Kredit für den Opernhaus-Umbau vom Zürcher Stimmvolk bewilligt.

9.6.80 Die Studierenden stossen zur Bewegung. 2000 Leute versammeln sich im Lichthof der Uni, aus Protest gegen das Aufführungsverbot des Videofiims durch Erziehungsdirektor Gilgen. Gefordert wird »volle Lehr– und Lernfreiheit«. Der Leiter des Ethnologischen Seminars stellt sich hinter die Kundgebung, Uni-Rektor Hilty toleriert sie zumindest. Eine anschliessende Grossdemo vors Erziehungsdepartement fordert die Absetzung Gilgens. Versammlung am Central, wo die Breite der Bewegung erstmals deutlich zum Ausdruck kommt: Es geht ums Jugendhaus, aber auch um alternative Kultur, Lehr- und Lernfreiheit, Wohnungsnot, Luft und Lärm und fantasievolle Forderungen ohne jeden politischen Ernst.

10.6.80 Der Stadtrat verweigert überraschend die Freigabe der Roten Fabrik für eine VV. Regierungsrat Gilgen beharrt auf seinem Filmverbot, doch die Studenten geben den Film nicht heraus.

11.6.80 Statt in der Roten Fabrik versammelt sich die Bewegung im Volkshaus. Wieder etwa 2000 Leute sind anwesend. Diskussion über die Verhandlungen mit der Stadt wegen der Limmatstrasse 18/20. Die Bewegung will keine Delegation stellen. Der Stadtrat soll direkt mit der Vollversammlung verhandeln.

12.6.80 Aktionstag an der Uni. Etwa 2000 Leute, Studierende und andere Interessierte nehmen teil. Diskutiert wird neben den aktuellen Forderungen vor allem über die herrschenden Studienbedingungen. Ein Teach–in, wie es die Universität seit Jahren nicht mehr erlebte.

13.6.80 Der Stadtrat beantragt dem Gemeinderat, 1,67 Millionen Franken für »Jugendarbeit« zu bewilligen. Im Vordergrund steht dabei die Förderung der Jugendtreffs in den Quartieren, ausserdem die Schaffung eines zweiten »Jugendhauses« neben dem Drahtschmidli. Von Autonomie ist keine Rede.

14.6.80 Grosse Velo-Demo in der City. Auf dem Platzspitz trifft sich die Bewegung zur Diskussion. Beschlossen wird eine Grossdemonstration für den 21. Juni. Am Abend eine spontane Demo mit 600 Teilnehmenden – die vordersten dreissig ohne Kleider. Die Bilder der Zürcher Nackt-Demo erreichen sogar das Ausland.

21.6.80 5000 bis 6000 Bewegte versammeln sich auf dem Helvetiaplatz. Mehrere angebliche »Rädelsführer« wurden im Vorfeld bereits festgenommen und in Präventivhaft gesetzt. Darauf beschliesst die Mehrheit der Anwesenden, auf der Stelle zu demonstrieren. Der Menschenzug formiert sich in Richtung Innenstadt. Auf der Quaibrücke treffen die Demonstrierenden auf die Polizei, welche sich nach einer dramatischen Zuspitzung im letzten Moment zurückzieht, worauf der vieltausendköpfige Demonstrationszug seinen Weg ohne Gewalt fortsetzen kann.

25.6.80 Verhandlungen mit der Stadt über das Haus an der Limmatstrasse 18/20. Im Volkshaus beschliesst die VV, einen Vermittlungsvorschlag der SP anzunehmen, unter der Bedingung, dass das Haus autonom geführt werden kann und am 28. Juni geöffnet wird.

28.6.80 Das Autonome Jugendzentrum wird eröffnet.

15.7.80 Nach neuen schweren Krawallen veranstaltet das Schweizer Fernsehen in der Sendung ›CH‹ eine Podiumsdiskussion mit den direkt Beteiligten. Eingeladen sind Vertreter des Stadtrats, der Polizei, der SP – und zwei Bewegte. Sie stellen sich als Anna und Hans Müller vor, geben sich aber als rechtschaffene Bürger und verlangen ein hartes Durchgreifen gegen die Demonstranten. Die Podiumsdiskussion gerät ausser Kontrolle, endet im Tumult und geht als ›Müller-Sendung‹ in die Fernsehgeschichte ein. Noch Jahre danach steht das Wort ›Müllern‹ für die Lächerlichmachung eines Dialogs, der keiner ist. Nach der Sendung wurde Anna Müller in Zeitungsberichten mit ihrem richtigen Namen genannt und wegen ihrer irakischen Herkunft öffentlich denunziert.

1.8.80 4000 Personen beteiligen sich an einer Gross demonstration für die Einstellung der Strafverfahren.

9.8.80 Mit einem ›Aktionstag für die Pressefreiheit‹ protestieren Medienschaffende gegen Druckversuche von Politik und Wirtschaft auf die Berichterstattung der Medien.

30.8.80 Nachdem am Vortag die Städtische Wohnsiedlung Rebhügel besetzt und noch am gleichen Tag polizeilich geräumt worden ist, kommt es zu einer neuen Demonstration mit 1000 Teilnehmenden und neuen Ausschreitungen beim Bellevue.

4.9.80 Nach einer Razzia im AJZ werden weit über 100 Personen vorübergehend verhaftet. Die Polizei stellt Diebesgut, Betäubungsmittel und Waffen sicher. Darauf beschliesst der Stadtrat, das AJZ zu schliessen. Heftige Ausschreitungen in der Gegend des Hauptbahnhofs.

5.9.80 Der Stadtrat signalisiert seine Bereitschaft für eine Wiedereröffnung des AJZ mit neuer Trägerschaft und restriktiveren Vorschriften: Restaurationsbetrieb mit Wirtepatent, Schliessung von zwei bis fünf Uhr morgens, keine Übernachtungen.

6.9.80 Grossdemonstration für die sofortige Wiedereröffnung des AJZ – »aber subito, susch tätschts!« Als sich der Demonstrationszug nach der Besammlung am Hirschenplatz auf dem Limmatquai in Bewegung setzt, wird er von allen Seiten von der Polizei angegriffen. Sie verfolgt die in Panik flüchtenden Demonstrierenden bis hinauf in den Zürichberg. Ausschreitungen in der City bis in die frühen Morgenstunden. Mehrere hundert Personen werden verhaftet und teilweise brutal behandelt.

10.9.80 Die Bewegung diskutiert das weitere Vorgehen an einer VV im Limmathaus. Rund 2500 Bewegte sowie Medienvertreter aus aller Welt sind anwesend. Eine fremde Trägerschaft für ein wiedereröffnetes AJZ wird nur akzeptiert, wenn die volle Autonomie gewährleistet bleibt.

20.9.80 Eine ausnahmsweise bewilligte Grossdemonstration mobilisiert 8000 Teilnehmende und fordert die Wiedereröffnung des AJZ und die Einstellung aller Strafverfahren. Die Demonstration bleibt friedlich.

1.10.80 Ein Ultimatum an den Stadtrat, das AJZ auf den 1.10. zu eröffnen, bleibt unerfüllt. Eine VV mit 2000 Teilnehmenden in der Predigerkirche beharrt auf einer bedingungslosen Wiedereröffnung

2.10.80 200 Bewegte stören den Abendverkauf in der City. In der Nacht Brandanschlag auf das Holzlager einer Baufirma.

4.10.80 Während einer weiteren Demo werfen zwei Bewegte einen Polizeispitzel beim Bellevue in die Limmat, worauf sie wegen »versuchter Tötung« verhaftet werden. Der Anklagepunkt wird später fallengelassen.

11.10.80 Nach einem Strassentheater auf der Pestalozziwiese vor dem Globus werden rund 150 Demonstranten von der Polizei eingekesselt und bleiben bis zum späten Abend in Haft.

14.10.80 Brandanschlag auf eine Baufirma. Sachschaden von 2 Millionen Franken.

15.10.80 An der VV in der Roten Fabrik distanziert sich ein Teil der Bewegten von Militanz und Gewalt, andere sind der Ansicht, dass der Bewegung keine andere Wahl bleibt, als solche Wege zu beschreiten.

24.10.80 Nachdem schon seit dem Opernhauskrawall Szenezeitschriften wie das ›Stilett‹ zur Bewegung gehörten, erscheint nun die erste eigentliche Bewegungszeitung – der ›Eisbrecher‹. In einer Startauflage von 10’000 Exemplaren wird das Blatt von Strassenverkäufern und teilweise auch an Kiosken angeboten und ist in kürzester Zeit ausverkauft. Mit jeder weiteren Ausgabe steigt die Auflagezahl.

25.10.80 Teileröffnung der Roten Fabrik als Kulturzentrum – drei Jahre nach dem positiven Entscheid an der Urne. Der Demonstrationszug zur Roten Fabrik teilt sich – der kleinere, bewilligte bleibt friedlich, der grössere mit 500 Teilnehmenden führt zu Sachbeschädigungen. Auch ein Polizeiauto wird beschädigt.

31.10.80 Verhandlungen um eine Wiedereröffnung des AJZ scheitern definitiv. Die Behörden lehnen vor allem den 24-Stunden-Betrieb ab.

1.11.80 Premiere des Videofilms ›Züri brännt‹ in der Roten Fabrik. Wie bereits in den Wochen davor erneut Sachbeschädigungen und Plünderungen in der Innenstadt.

15.11.80 Aktionstag mit Kundgebungen von Bewegten in mehreren Schweizer Städten. Vor allem in Zürich erneute stundenlange Ausschreitungen und zahlreiche Festnahmen.

17.11.80 Brandanschlag auf die Autos von Bezirksanwälten.

19.11.80 Der Stadtrat stellt die Aktionshalle der Roten Fabrik für Vollversammlungen nicht mehr zur Verfügung und begründet dies mit den ständigen Ausschreitungen.

25.11.80 Brandanschlag auf das Ferienhaus von Stadträtin Lieberherr.

11.12.80 Die VV im Volkshaus mit 2000 Anwesenden ruft zu einer friedlichen Kundgebung am 24. Dezember auf – »ohne Polizei kein Krawall« – und fordert die Wiedereröffnung des AJZ für einen Tag. > Teil 1 »Für eine friedliche Weihnacht im AJZ«

12.12.80 Selbstverbrennung von Silvia Z. am Bellevue > Teil 1 »Ich zünd mich an«

15.12.80 Bewegte sprengen die Jungbürgerfeier im Kongresshaus, so wie sie in den Tagen und Wochen davor bereits den Ustertag, einen ETH-Jubiläumsfackelzug und die Eröffnung der ›Kunstszene Zürich‹ gestört haben.

17.12.80 Die VV im Volkshaus quittiert mit Gelächter den Vorschlag der Landeskirchen für ein Weihnachtsfest in der Roten Fabrik.

24.12.80 Die unbewilligte Weihnachtsdemonstration wird von den Behörden toleriert – bis zu dem Moment, wo der Demonstrationszug vor dem geschlossenen AJZ ankommt und Bewegte den Stacheldraht beiseitezuräumen beginnen, worauf die Polizei angreift. Erneute schwere Ausschreitungen in der City bis in die späte Weihnachtsnacht mit einer grossen Zahl von Verhafteten. > Teil 1 »Der programmierte Krawall«.

29.12.80 Trauerkundgebung für Silvia Z. auf dem Friedhof Manegg mit 400 Personen. Anschliessender Schweigemarsch ans Bellevue.

16.1.81 Mit der zehnten Nummer in einer Auflage von 23’000 Exemplaren stellt der ›Eisbrecher‹ sein Erscheinen überraschend ein. Erklärt wird die Aufgabe damit, dass die Redak-tionsversammlung innerhalb der Bewegung politisch zu wichtig geworden sei. Die Vollversammlung müsse wieder allein Entscheidungsträgerin sein. Als Nachfolgeblatt erscheint noch im Januar das ›Brächise‹, dessen zweite Ausgabe von den Behörden beschlagnahmt wird wegen »unzüchtiger Bilder« und Aufrufen zu »gesetzeswidrigen Handlungen«.

26.1.81 Prozess vor dem Kantonsgericht Chur gegen Marco Camenisch und René Moser, die beschuldigt werden, bei Trimmis GR aus Protest gegen die Atomenergie in der Weihnachtsnacht 1979 Strommasten gesprengt zu haben. Die Erfahrung der Repression führte dazu, dass sich die Bewegung auch für andere Opfer der Justiz einsetzt – vor allem für den ›Ausbrecherkönig‹ Walter Stürm, der in der Strafanstalt Regensdorf in Isolationshaft sitzt, aber auch für Marco und René. Etliche Bewegte aus Zürich reisen nach Chur und bekunden ihre Solidarität mit den Angeklagten. > Teil 1 »… dass du kämpfen musst«.

31.1.81 Grossdemonstration gegen die Repression. Beim Landesmuseum werden die Demonstrierenden von der Polizei eingekesselt. 700 Personen müssen sich einer Personenkontrolle unterziehen. Gewaltexzesse von Seiten der Polizei.

12.2.81 Zweitägiges Tribunal im Volkshaus mit massiven Vorwürfen gegen die Behörden und die Polizei. An einer VV mit 2000 Bewegten wird der Stadtrat zu direkten Gesprächen mit der VV selbst aufgefordert.

20.2.81 Der Stadtrat erwägt eine Wiedereröffnung des AJZ als »Versammlungszentrum« unter dem Patronat der beiden Landeskirchen.

5.3.81 Eine VV mit 1000 Teilnehmenden kritisiert die Verzögerungstaktik der Stadt und plant eine Grossdemo zum Frühlingsanfang.

7.3.81 Brandanschlag auf das Modehaus Modissa. Neue zahlreiche Sachbeschädigungen und Verkehrsbehinderungen.

18.3.81 Wie schon drei Jahre vorher: Überraschende Besetzung des Schindlerguts als »provisorisches AJZ« > Teil 1 »Frühlingserwachen in Zürich«.

Samstag 21.3.81 Bewilligte Frühlingsdemonstration mit rund 8000 Personen. Das seit Monaten geschlossene AJZ kann friedlich besetzt werden, doch die Behörden fordern die Freigabe innert zwei Stunden. Als dies nicht geschieht, kommt es zu einer weiteren Eskalation. Angriff starker Polizeikräfte, Ausschreitungen in der Gegend des Hauptbahnhofs bis in den späten Abend, Sachbeschädigungen, teilweise brutales polizeiliches Vorgehen, viele Verhaftungen.

22.3.81 Eine erneute Besetzung des AJZ wird vorerst toleriert, doch am 23.3. erfolgt die Räumung ohne Widerstand der Besetzenden. An den Tagen danach wiederholte Scharmützel mit der Polizei, Verfolgungsjagden und neue, zum Teil willkürliche Verhaftungen.

29.3.81 Vertrag der Stadt mit den Landeskirchen und der Pro Juventute, welche die Trägerschaft für ein wieder eröffnetes AJZ übernehmen.

31.3.81 Nach einer ›Wohnungsbesetzer‹-VV werden zwei Häuser besetzt – und von der Polizei umgehend wieder geräumt.

3.4.81 Das AJZ wird mit einer VV und einem Fest regulär wiedereröffnet.

17.4.81 In den Parkanlagen am rechten Seeufer errichten Bewegte die Barackensiedlung ›Chaotikon‹, um auf die Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Auf die polizeiliche Räumung nach einer Woche folgen neue Sachbeschädigungen.

27.4.81 Bewegte stören das Sechseläuten und fordern erneut die Einstellung der laufenden Strafverfahren. Der traditionelle Umzug kann nur unter grossem Polizeischutz stattfinden.

31.4.81 Bewegte errichten ein ›Neu-Chaotikon‹ auf einer Insel in der Sihl beim AJZ.

1.5.81 Bewegte stören den gewerkschaftlichen 1.-Mai-Umzug. Die anschliessende Kundgebung zum Tag der Arbeit muss nach tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Bewegten und Gewerkschaftern abgebrochen werden. Eine Nachdemo von rund 500 Bewegten wird von der Polizei aufgelöst.

6.5.81 An einer von rund 600 Personen besuchten VV kommt es zu heftigen Diskussionen – und später zu Handgreiflichkeiten, als von Bewegten errichtete Barrikaden auf der Strasse von anderen Bewegten wieder abgebaut werden. Das Erscheinen der Bewegungszeitung ›Brächise‹ wird nach internen Streitigkeiten eingestellt.

23.5.81 Vorübergehende Schliessung des AJZ durch die Bewegung selbst – aus Protest gegen die unverändert starke Repression, aber auch als Signal gegen den Missbrauch des AJZ als ›Konsumtempel‹ und ›Obdachlosenasyl‹.

26.5.81 Eine VV beschliesst eine bessere Betriebsstruktur und einen Ordnungsdienst gegen Drogendealer. Darauf wird das AJZ wieder eröffnet.

30.5.81 An einer Kundgebung zum ›Jahrestag‹ des Opernhauskrawalls vor dem polizeilich gesicherten Opernhaus nehmen lediglich 150 Personen teil. Zum anschliessenden Fest im AJZ dagegen kommen nahezu 2000 Personen. Einige Bewegte provozieren mit Sachbeschädigungen einen neuen Polizeieinsatz.

3.6.81 An einer VV löst die Militanzbereitschaft einer Minderheit neue interne Konflikte aus.

11.6.81 Die Polizei räumt das seit dem 18. März besetzt gehaltene Schindlergut.

12.6.81 Razzia im AJZ mit Verhaftungen. Weitere Hausdurchsuchungen und Festnahmen in den folgenden Wochen und Monaten. Immer wieder kommt es im Sinne von Vergeltungsaktionen zu einzelnen Sachbeschädigungen und Brand-anschlägen, aber eine grössere Zahl von Menschen kann die Bewegung nicht mehr mobilisieren.

31.8.81 Bis zu diesem Zeitpunkt sind seit dem 30. Mai 1980 fast 4000 Bewegte verhaftet und rund 1000 Strafverfahren eingeleitet worden.

18.9.81 Das alternative Lokalradio ›LoRa‹ geht im AJZ auf Sendung. Nachdem die Bewegung schon zu Beginn ihre eigenen improvisierten Sender hatte – vor allem ›Radio Banana‹ –,entsteht mit Radio LoRa eine breiter abgestützte Radiostation,die sich über die Bewegung hinaus etablieren will. > Teil 1 »L’oraper LoRa«.

12.10.81 Soziale Probleme und andere Missstände innerhalb des AJZ haben sich derart zugespitzt, dass die Arbeitsgruppen überfordert aufgeben und das Jugendzentrum schliessen.

24.12.81 Eine VV in der Roten Fabrik beschliesst eine auf 14 Tage befristete Wiedereröffnung des AJZ über die Festtage. Danach bleibt intern umstritten, ob die Öffnung aufrechterhalten werden soll. Geldmangel und behördliche Restriktionen ebenso wie die bekannten internen Probleme verunmöglichen eine realistische Aufbauarbeit.

5.2.82 Im Dachstock des AJZ wird ein Feuer gelegt. Mehrere Räumlichkeiten werden zerstört.

28.2.82 Die Arbeitsgruppe ›Drogen‹ im AJZ will das Haus nur noch an den Wochenenden öffnen, kann sich aber nicht durchsetzen.

17.3.82 Die Trägerschaft des AJZ gibt definitiv auf. Sie löst den Vertrag mit der Stadt Zürich per sofort und gibt die Schlüssel für die Gebäude an der Limmatstrasse 18/20 zurück. Die Polizei räumt das Gebäude noch am gleichen Tag und verhaftet die rund 100 Personen, die sich noch im Innern befinden.

17.3.82 Erste Prozesse am Geschworenengericht in Winterthur gegen Bewegte. Gleichzeitig werden die meisten der rund 180 Strafverfahren gegen Polizeibeamte entweder eingestellt oder enden mit Freisprüchen.

23.3.82 Unter Polizeischutz und ohne nennenswerten Widerstand wird das AJZ abgebrochen. Eine Protestdemonstration ein paar Tage später vermag noch einmal 1000 ehemalige Bewegte zu mobilisieren, wird jedoch schon nach wenigen hundert Metern von der Polizei mit Tränengas aufgelöst. Einen Monat später befürworten die Zürcher Stimmberechtigten mit grosser Mehrheit einen 15 Millionen teuren Neubau des Jugendhauses Drahtschmidli. In den folgenden Jahren, unter dem neuen Stadtpräsidenten Thomas Wagner wird das Budget für alternative und freie Kulturformen von knapp 1 Million auf gut 11 Millionen erhöht. 1984 wird das Quartier- und Kulturzentrum Kanzlei eröffnet und 1988 das neue Jugendhaus Drahtschmidli unter dem Namen ›Dynamo‹. Im gleichen Jahr kann das Kulturzentrum Rote Fabrik nach siebenjähriger Versuchsphase seinen definitiven Betrieb aufnehmen.

An das AJZ jedoch erinnert nur der Baum, der davorstand. Er wurde beim Abbruch des Hauses verschont.

Teil 1

Bewegte Geschichten, Reportagen,
Polemiken 1980/81

 

Die Utopie wird konkret

Warum ich dabei bin

Als am Abend des 30. Mai der Ruf »Mir wänd es Jugendhuus«ertönte, zögerte ich einen Moment: Brauche ich persönlich denn noch ein Jugendhaus? Trotzdem bin ich seither dabei, bei dieser neuen ›Jugendbewegung‹, an jeder VV, an jeder Demo. Bin ich nur ›aus Solidarität‹ dabei? – Nein, mit dem Anwachsen der Bewegung wurde mir immer mehr bewusst, dass ich genauso dazugehöre, dass auch ich ein ›Betroffener‹ bin. Denn es geht bei dieser Bewegung nicht nur um ein Jugendzentrum, es ist auch keine Jugendbewegung im klassischen Sinn, sondern eine ›Bewegung der Unzufriedenen‹. Und unzufrieden bin ich auch.

Natürlich hat sich die Bewegung an der konkreten Forderung nach einem autonomen Zentrum entzündet, dafür setze auch ich mich ein. Aber gleichzeitig gehe ich auf die Strasse aus all den Gründen, die mich persönlich unzufrieden machen. Eigentlich war es schon immer mein persönlicher Anschiss, der mich auf die Strasse trieb. Doch bisher brauchte ich dafür grosse Worte. Überhaupt brauchte die 68er–Bewegung grosse Worte, als sie gegen den Kapitalismus, für den Sozialismus ins Feld zog. Dagegen ist die neue Bewegung fast sprachlos – und das verunsichert mich. Denn die grossen Worte sind mir geläufiger, von ihnen loszukommen ist schwierig.

Der ›Tagi‹ fragte in einem Kommentar besorgt: Steigen die Jungen aus? – Ja, wir steigen tatsächlich aus, aber es geschieht anders, als wir es uns früher vorgestellt haben – ohne grosse Programme und Phrasen, dafür ganz konkret, indem wir immer weniger so leben und denken, wie man es uns gelehrt hat. Wir wollen heute unser Leben verändern, nicht in einer fernen sozialistischen Zukunft. Deshalb ist die neue Bewegung auch misstrauisch, wenn einer von ›Sozialismus‹ redet, wenn er ›Genossinnen und Genossen‹ sagt. Die Zeit der grossen Worte, der Illusionen, sie ist vorbei – die Utopie wird konkret.

 

Herr und Frau Müller

Eine TV-Sendung artet aus

Am 15. Juli strahlte das Schweizer Fernsehen ein Podiumsgespräch zur Frage des Polizeieinsatzes gegen die Zürcher Bewegung aus. Der Auftritt der beiden ›Vertreter‹ der Bewegung, Anna und Hans Müller, löste heftige Proteste und Diskussionen aus. Die Sendung wird hier – leicht bearbeitet – im Wortlaut wiedergegeben.

Jan Kriesemer (Moderator) … Man muss sich schon fragen, wie es so weit kommen konnte, dass sich die friedliche Atmosphäre unseres Niederdorfs in ein derart gewalttätiges Spektakel verwandeln konnte. Zur Diskussion all dieser Fragen hier im Studio haben wir einige Leute eingeladen. Ich möchte Ihnen vorstellen: zu meiner Rechten Stadträtin Emilie Lieberherr, Vorsteherin des Sozialamts. Neben ihr Stadtrat Hans Frick, Vorsteher des Polizeiamts. Neben ihm Rolf Bertschi, Kommandant der Zürcher Stadtpolizei. Vis-à-vis Leonhard Fünfschilling, Präsident der SP der Stadt Zürich – die SP hat ja bekanntlich die Trägerschaft für das Jugendhaus übernommen. Und schliesslich links von mir zwei Vertreter der Zürcher Jugendbewegung, Anna Müller und Hans Müller. Wir freuen uns, dass auch Sie sich bereit erklärt haben, zu uns zu kommen. Wir wollen versuchen, die Diskussion ein wenig zu strukturieren. – Zuerst eine Frage an die Vertreter der Zürcher Jugendbewegung: Was war eigentlich der Grund, weshalb Sie am letzten Samstag demonstriert haben, obwohl Sie für diese Demonstration keine Bewilligung hatten? Vielleicht … Hans Müller?

Hans Müller Ja, wie die Demonstranten an ihrer VV ausführten, wollten sie eine Demonstration für die Amnestie machen, das heisst, sie wollten, dass die Strafverfahren eingestellt werden und alle Verhafteten freigelassen werden. Das sagten sie. Nachdem die Jugendlichen von … wie heisst er? … von Herrn Fünfschilling informiert wurden, dass die Demonstration verboten worden sei, gingen sie trotzdem, trotz dieses Verbots auf die Strasse. Aber sie hatten nichts anderes im Sinn, als – trotz dieses Verbots – die Polizei zu provozieren.

Kriesemer Es ging also von Ihrer Seite um eine bewusste Provokation.

Hans Müller Eindeutig, eine bewusste Provokation.

Anna Müller Selbstverständlich, das zeigte danach auch der ganze Ablauf. Man muss sich das vor Augen halten: Kaum waren etwa zwanzig Jugendliche auf der Strasse, kam es zu einem massiven Polizeieinsatz. Die Polizei gab ihnen eine Minute Überlegungszeit – ich finde das viel zu viel, ich finde, man hätte das AJZ sofort einnehmen und alles dem Erdboden gleichmachen müssen. Das wäre richtig gewesen. Ich finde, die Polizei hat sich viel zu stark zurückgehalten.

Kriesemer Herr Fünfschilling, Sie haben ja diese Warnung von Stadtrat Frick den Jugendlichen im AJZ überbracht. Versuchten Sie dann, die Jugendlichen zu überzeugen, die Demonstration nicht abzuhalten?

Leonhard Fünfschilling (Präsident SP Zürich) Erstens gab es kein Demonstrationsverbot an jenem Wochenende, es gab auchkeine offizielle Warnung von Herrn Frick, sondern auf meine Telefone hin beim Stadtpräsidenten und bei Herrn Frick konnte ich lediglich ausfindig machen, dass vonseiten der Polizei beabsichtigt sei, die Demonstration nicht zuzulassen. Ich fragte dann konkret, was das heisst, und man sagte mir: Sie wird aufgelöst. Das teilte ich den Leuten im AJZ mit und warnte auch davor, die Demonstration durchzuführen. Aber die Entscheidung, was gemacht wird, liegt nicht bei mir, nicht bei der Presse, nicht bei der Polizei und nicht beim Stadtrat. Das ist die alleinige Sache der Jugendbewegung selbst.

Kriesemer Herr Frick, haben Sie angeordnet, dass jegliche Demonstration sofort aufgelöst werden soll? Was waren Ihre Überlegungen bei dieser Anweisung?

Hans Frick (Stadtrat & Polizeidirektor, Landesring der Unabhängigen) Herr Kriesemer, bevor ich Ihnen darauf antworte, möchte ich ganz kurz Stellung nehmen zu einer Erklärung, die Fernsehdirektor Kündig gestern am Fernsehen abgab und in der er schwere Vorwürfe an die Polizei hinsichtlich der Medienschaffenden richtete. Er trat für die Freiheit des Journalisten ein, die auch ich hochhalten will, aber gleichzeitig hätte er, wäre er fair gewesen, auch sagen müssen, dass die Medienschaffenden die Polizei nicht bei der Ausübung ihrer Arbeit behindern dürfen, was aktiv geschah, auch durch die ständige verzerrte Berichterstattung über die polizeilichen Einsätze. So, wie der Medienschaffende das Recht hat, seine Arbeit in Freiheit auszuüben, hat auch der Polizist dieses Recht.

Um nun auf ihre Frage zu antworten: Aufgrund der Ereignisse seit Ende Mai in Zürich beschloss der Stadtrat am letzten Mittwoch, dass jetzt keine nicht-bewilligte Demonstration mehr toleriert werde. Und deshalb habe ich Herrn Fünfschilling in zwei Gesprächen gebeten, er möchte doch so gut sein und ein Gesuch einreichen, damit wir dann dafür sorgen können, dass die Demonstration bewilligt werden kann, so wie wir Hunderte von Demonstrationen in den letzten Jahren bewilligten und anstandslos über die Bühne brachten.

Fünfschilling Darf ich dazu etwas sagen. Herr Frick, Sie haben mich nicht gebeten, ein Gesuch einzureichen, weil Sie ganz genau wissen, dass das gar nicht unsere Angelegenheit ist. Sie waren völlig im Bild darüber, dass so ein Gesuch nur von der Jugendbewegung selbst gestellt werden kann, und Sie waren völlig im Bild darüber, dass in der Bewegung niemand ein solches Gesuch stellen kann, bei der Struktur dieser Bewegung und weil die Jugendlichen, wenn sie ihre Namen unter irgendwelche Schriftstücke setzen, riskieren müssen, verhaftet zu werden. Das ist die Situation, Herr Frick.

Anna Müller Ich möchte da auch etwas einwenden. Es ist völlig unverständlich, Herr Frick, warum Ihre liebe Bitte wegen einer Bewilligung – ich glaube, Sie haben sich sogar direkt an die Jugendlichen gewandt, sehr freundlich, wie Sie das immer tun –, also warum Ihre Bitte schon gar nicht beachtet wurde!

Frick Ich sagte Ihnen vorher, ich hätte das Gesuch bewilligt, und es stimmt natürlich nicht, Herr Fünfschilling, dass jemand, der ein Gesuch einreicht, nachher verhaftet wird.

Kriesemer Ich glaube, es hat keinen Sinn, weiter über etwas zu diskutieren, das gar nicht eintraf. Ein Gesuch wurde keines eingereicht und eine Bewilligung wurde auch nicht erteilt. Wir kommen jetzt zu einer viel wesentlicheren Frage, nämlich zum Polizeieinsatz. Herr Frick. Vergleichen wir den Krawall vom letzten Samstag mit der friedlichen Demonstration vom 21. Juni, als etwa 6000 Leute durch die Strassen Zürichs liefen, ebenfalls ohne Bewilligung: Am 21. Juni hat die Polizei in den Demonstrationszug, der illegal war, nicht eingegriffen. Jetzt, am letzten Samstag, muss man eine Änderung Ihrer Haltung feststellen.

Frick Es war eine vollkommen andere Ausgangslage. Die Demonstration am 21. Juni wurde von uns deshalb verboten, weil sie auf dem Münsterhof geplant war, wo zur gleichen Zeit die Blasmusiktage stattfanden. Nachher übernahmen einzelne SP-Kantonsräte, darunter Herr Fünfschilling und auch Pfarrer Sieber, die Verantwortung in dem Sinne, dass sie uns sagten, sie wollten versuchen, die Demonstration auf friedlichem Weg durch die Stadt zu führen – was dann auch gelang. Am letzten Samstag hingegen wurde mit äusserst aggressiven Radioaufrufen und Flugblättern …

Hans Müller Sehr richtig!

Frick … zu dieser Demonstration aufgerufen. Wir haben diese Flugblätter mitgebracht. Der Herr Kommandant kann vielleicht aus dem Flugblatt zitieren. Wir mussten damit rechnen, dass es an diesem Wochenende zu den von den Demonstranten gewünschten Auseinandersetzungen kommt.

Kriesemer Herr Bertschi, können Sie uns vielleicht eine relevante Stelle daraus vorlesen, welche die aggressive, die sogenannt aggressive Haltung der Jugendlichen demonstrieren könnte?

Anna Müller Ich möchte gern kurz auf das eingehen, was Sie vorher sagten, ich finde das …

Kriesemer … nein, Entschuldigung, er darf das jetzt zeigen. Dann dürfen Sie reden.

Anna Müller … nein, ich finde das wichtig, ich möchte gerne berichtigen …

Rolf Bertschi (Kommandant Stadtpolizei) Das ist das Flugblatt. Ich darf vielleicht das eine oder andere daraus zitieren …

Anna Müller … denn ich möchte ja nicht, dass die Leute falsch informiert werden!

Kriesemer Lassen Sie Herrn Bertschi einen Moment ausreden. Nachher können Sie Ihren Einwand machen.

Bertschi Dieses Flugblatt lag interessanterweise nur im Jugendhaus selber auf, man verteilte es nicht ausserhalb, weil man wahrscheinlich befürchtete, es wäre beschlagnahmt worden. Das Flugblatt nennt sich ›Neue Zeitung Buback‹. Buback ist der ermordete deutsche Bundesstaatsanwalt. Der Untertitel heisst ›Das Magazin, das nichts verschleyert‹ – bei Herrn Schleyer handelt es sich um den entführten und von Terroristen umgebrachten Vorsitzenden des deutschen Arbeitnehmerverbandes. Und nun noch ein paar Beispiele, die zeigen, wie militant da die Anweisungen gegeben wurden. Zitat: »Auslösen blinder Alarme für Feuerwehr, Polizei, per Telefon, durch Notrufsäulen und durch Einwerfen von Scheiben in Banken, Konsulaten, Pelzgeschäften, Juweliergeschäften etc.« Was nachher geschah – es wurden Scheiben eingeworfen …

Hans Müller Ja, so machen sie es!

Bertschi … es wurde demoliert, es wurde geplündert. Weiter heisst es da: »Häufige organisierte Anrufe zur Nachtzeit, bestimmten Schweinen das Leben versauen.« Was nachher geschah – einem Polizeioffizier wurde angedroht, man werde sein Haus in Brand stecken, bei einem Politiker der Stadt Zürich ging eine Bombendrohung ein, und die Kantonspolizei erhielt einen falschen Alarm: Der zuständige Arzt des Universitätsspitals verlange einen Untersuchungsrichter, weil ein Demonstrantan den Folgen eines Gummigeschosses gestorben sei. Alles war gar nicht wahr. Weiter, ein Zitat aus dem Flugblatt: »… ihre schönen Autos demolieren, Messer für Pneus, Säure und Nägel für Lack, Zucker für Tank.« Was nachher geschah: Zahlreiche Autos wurden beschädigt, es wurden Barrikaden gebaut, an der Rämistrasse wurde ein Automobilist schwer bedrängt …

Anna Müller Wahnsinnig, einfach so …

Bertschi … ein zusammengerotteter Haufen drohte ihm, seinen Wagen umzukippen …

Anna Müller … grauenhaft, also wirklich …

Emilie Lieberherr Also jetzt –

Bertschi Darf ich vielleicht noch ein zweites Zitat …

Kriesemer Ich glaube, wir haben jetzt verstanden, was in diesem Flugblatt stand …

Emilie Lieberherr (Stadträtin SP) … also, jetzt muss ich auch einmal das Wort ergreifen. Währenddem Herr Bertschi das vorlas, sagten Sie immer (sie wendet sich an die Müllers): Es ist grauenhaft, es ist schlimm – dabei vertreten Sie eigentlich genau diese Jugendlichen, die derartige Flugblätter verteilen. Man muss jetzt einmal ganz klar sehen: Die Veranstaltung vom Samstag muss beurteilt werden im Zusammenhang mit dem, was vorher geschah. An der Demonstration vom 21. Juni seid ihr noch für ein Jugendhaus eingestanden. Das Jugendhaus habt ihr bekommen. Wir mussten das verteidigen gegenüber grossen Widerständen vonseiten der Öffentlichkeit. Und ich habe schon viele Informationen erhalten, dass im Jugendhaus allerhand Illegales passiert. Trotzdem …

Anna Müller Es ist wahnsinnig, ja. Sie haben völlig recht.

Lieberherr Trotzdem … Wieso sagen Sie eigentlich immer …

Anna Müller … Haschisch hat es, Fixer hat es dort drin …

Lieberherr … Wen vertreten Sie eigentlich da, wen …

Anna Müller … sicher, das ist wahnsinnig, doch, doch …

Lieberherr Sie vertreten die Jungen? Gut, dann beantragen Sie, dass man das Jugendhaus bald wieder zumacht …

Anna Müller Klar, gehen wir doch gleich jetzt und schliessen wir es.

Hans Müller Da sind wir ganz gleicher Meinung, möglichst schnell zumachen!

Lieberherr Das Bild, das Sie von sich verbreiten, damit unsere Zuschauer meinen, was Sie für gute, brave Leute sind, wie Sie das alles verurteilen – das glaube ich Ihnen überhaupt nicht. Und ich hoffe, dass auch unsere Zuschauer klug genug sind, Ihnen nicht alles abzunehmen. Und nun …

Kriesemer Moment, Moment …

Anna Müller Ich bin überzeugt, dass unsere Zuschauer alle sehr klug sind, dass sie alles ganz genau mitbekommen …

Kriesemer Hans Müller, ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Wir reden vom Flugblatt, das Herr Bertschi zitiert hat. Ich möchte Sie jetzt fragen: Kennen Sie das Flugblatt?

Hans Müller Zu diesem Flugblatt ist Folgendes zu sagen. Das Flugblatt wurde ausserhalb des Jugendhauses tatsächlich nicht verteilt. Ich finde gut, dass das alles so gut funktioniert, dass die Polizei dann so ein Flugblatt trotzdem in die Hände bekommt, auch wenn es nur im AJZ auflag. Und ich bin völlig einverstanden damit, was Herr Bertschi sagte. Was in diesem Flugblatt steht, ist wirklich abzulehnen von allen Leuten, von Demokraten, von Menschen mit einer sauberen Grundhaltung. Ich kann das nur betonen.

Kriesemer Wer hat denn das Flugblatt gemacht?

Hans Müller Wer das genau war, lässt sich natürlich jetzt nicht eruieren, das ist immer schwierig in solchen Fällen. Aber ich möchte noch einmal auf diesen Polizeieinsatz eingehen. Vergegenwärtigen wir uns die Situation. Man muss damit rechnen, dass da sehr viele militante Leute auf die Strasse gehen. Und dann kommt die Polizei und gibt ihnen eine Minute lang die Möglichkeit, zu verschwinden. Dann gibt es einen Einsatz und jetzt müssen Sie alle genau hinschauen, mit welchen Mitteln: mit solchen Gummipatrönchen! (Er hält eine Gummipatrone vor die Kamera). Das Einzige, was man dazu sagen kann: Sie sind acht Gramm schwerer geworden seit dem letzten Krawall. Aber mit derartigen Gummipatrönchen kann man doch nicht ernsthaft solche militanten Leute vertreiben. Die Gummipatronen, die in Irland verwendet werden, die sind etwa so lang (er zeigt das ungefähre Mass mit der Hand) und etwa so dick. Darüber kann man reden, ob das nicht sinnvoller wäre. So viel also zu diesen Gummigeschossen, die man verwendete. Jetzt habe ich da noch etwas … Moment … (er packt aus einem Zeitungspapier eine Tränengasgranate aus) … das ist so eine CB–Granate, von der dauernd behauptet wird, sie sei krebsfördernd – hoffentlich ist sie krebsfördernd!

Anna Müller Sie soll auch zu Depressionen anregen, zu anderen Zuständen – also ich finde das eigentlich fast zu harmlos. Ich wäre dafür, dass man das nächste Mal zu Napalm greift … (Stimmengewirr, die Behördenvertreter zeigen sich entsetzt …) Das wäre angebracht in solchen Situationen!

Hans Müller Ich war noch nicht fertig, ich möchte noch weiterreden …

Anna Müller Ja, wir möchten auch weiterreden …

Hans Müller Noch zu diesem Polizeieinsatz: Im Laufe dieser ganzen Auseinandersetzung haben sich Dinge ereignet, die jetzt die Demonstranten wieder gegen die Polizei verwenden. Es wird zum Beispiel gesagt, die Polizei habe auf einem Kinderspielplatz ausländische Kinder mit Tränengaspetarden beschossen. Oder Leute beschwerten sich darüber, wie sie im Niederdorf oder auch im Kreis 5 von der Polizei zusammengeschlagen wurden, bei Verhaftungen beispielsweise. Dann wurde gesagt, die Polizei sei in Wohnungen eingedrungen und habe dort Leute herausgeholt, die sich vor der Polizei versteckten. Medienschaffende sagten, sie seien bei ihrer Arbeit behindert worden und so weiter und so fort. Aber wenn man doch sieht, was die Jugendlichen an diesem Wochenende im Sinn hatten, dann sind das alles ganz lächerliche Vorwürfe. Was wir heute brauchen, ist die Armee. Ich kann nur dafür plädieren: Ohne Armee werden wir dieser Bewegung nicht Meister – sonst steht morgen die Revolution vor der Tür. Und dann haben wir den Dreck! (wieder Stimmengewirr und Entrüstung)

Anna Müller Und ich finde, das nächste Mal, wenn man wirklich wieder gegen jemanden vorgehen will, gegen Kinder zum Beispiel, sollte man das mit Salzsäure tun, also wirklich. In dieser Stadt Kinder zu haben, das wollen wir doch alle nicht. Ich wäre dafür, sie zu dezimieren.

Kriesemer Frau Müller, bitte … Herr Bertschi, der Vorwurf liegt glaube ich auf Ihrer Seite: Es wurde festgestellt von den Vertretern der Jugendbewegung, die an der Demonstration teilnahmen, dass der Einsatz offenbar sehr massiv war. Aber …

Hans Müller Viel zu wenig massiv, zu wenig massiv!

Kriesemer … darf ich noch ausformulieren. Also offenbar, wie man nachher erfuhr, war es am Anfang so: Etwa 250 Polizisten gegen etwa 200 bis 300 Demonstranten. Haben Sie nicht den Eindruck, dass der massive Einsatz schon von Anfang an die Stimmung anheizte, zu stark anheizte?