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© 2018 Carcanet Press Ltd, Manchester, The cemetery in Barnes
Deutsche Ausgabe © 2020 Jung und Jung, Salzburg und Wien
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Umschlagbild: John Constable, Cloud Study: Horizon of Trees
Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com
eISBN 978-3-99027-178-0
Roman
In Gedenken an Bernard Hœpffner
Lieber Freund – bester Übersetzer
»Ich friere. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich.«
Hölderlin an Schiller,
4. September 1795
Er hatte viele Jahre in Paris gelebt. Länger, wie er zu sagen pflegte, als er sich erinnern konnte.
Als meine erste Frau starb, erklärte er dann, schien es keinen Grund mehr zu geben, in England zu bleiben. Also zog er nach Paris und verdiente seinen Unterhalt als Übersetzer.
Das Schöne am Beruf des Übersetzers ist, sagte er immer, dass du es überall machen kannst und deinen Auftraggeber nicht sehen musst. Wenn ein Buch fertig ist, schickst du es ab und erhältst umgehend den Rest des Honorars. Inzwischen hast du bereits mit dem nächsten angefangen.
Er war ein altmodischer Typ, trug bei der Arbeit immer noch Jackett und Krawatte, und Mantel und Hut, wenn er das Haus verließ. Selbst am Höhepunkt des Pariser Sommers unternahm er keinen Gang ohne Hut. In meinem Alter, sagte er, ist es zu spät für eine Veränderung. Im Übrigen bin ich ein Gewohnheitstier, immer gewesen.
Er lebte in einem kleinen Appartement oben in einem abblätternden Gebäude in der rue Lucrèce, hinter dem Panthéon. Um dort hinzukommen, ging man durch die dunkle, enge rue Saint Julien und stieg die steile Stufenflucht hinauf, die einen direkt gegenüber dem Gebäude anlangen ließ. Natürlich gab es auch andere Wege, dort hinzukommen, aber das war der, den er normalerweise ging. Es war, nach seiner Vorstellung, die Art, in der seine kleine Wohnung mit der Welt draußen verbunden war.
Von seinem Schreibtisch aus konnte er, wenn er sich reckte, durch sein Dachfenster den Rand der großen Kuppel des Panthéon sehen. Jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, stand er um sechs auf, warf einen raschen Blick, um sicher zu sein, dass das Ungeheuer noch da war, rasierte sich, zog sich an, machte sich ein kleines Frühstück und setzte sich um etwa sieben Uhr fünfzehn zur Arbeit. Bis elf blieb er dabei, dann nahm er Hut und Mantel und stieg hinab zur Welt unten. An der Ecke hielt er für eine Tasse Kaffee, kaufte das Nötige ein, dazu eine Zeitung, und aß dann ein Sandwich zu einem Glas Bier in einem Café in der Nähe. Um ein Uhr dreißig saß er wieder am Schreibtisch, arbeitete bis vier und machte dann Schluss für den Tag.
Das war der Moment, den er am meisten herbeisehnte. Er bewahrte einen Vorrat von langblättrigem, extra importiertem Ceylon-Orange-Pekoe-Tee in einer Holzdose mit aufgedrucktem rotem Drachen und nahm es mit dem Erhitzen der Kanne sehr genau, um den Blättern eine Chance zu geben, sich in der Wärme ihres Bauches zu entfalten, und auch damit, wie lange er sie ziehen ließ, nachdem das kochende Wasser einmal eingegossen war. Nach dem Tee erlaubte er sich im Frühling und im Sommer einen Spaziergang durch die Stadt. Manchmal brachte ihn das hinunter zum Fluss, dann wieder zum Jardin du Luxembourg oder sogar bis zum Friedhof von Montparnasse, früher bekannt als Cimetière du sud, wo Baudelaire begraben ist. Wenn er sich besonders wohl fühlte oder gar abenteuerlustig, überquerte er den Fluss und spazierte die rue du Temple hinauf und durch das Judenviertel oder er nahm einen Bus nach Pigalle und ging die rue des Martyrs und den Boulevard de Montmartre entlang, durch die überdachten Passagen und in die Gärten des Palais Royal und so zum Louvre und zurück zum Fluss. An Sonntagen pflegte er bei Gelegenheit mit der Métro zum Flohmarkt an der Porte de Clignancourt zu fahren und in dem wunderlichen Elendsviertel herumzugehen, wo man alles Mögliche kaufen konnte, von Lederjacken bis zu Artdéco-Lampenschirmen, von riesigen Küchentischen, die jahrhundertelang in Bauernhäusern der Normandie gestanden waren, bis zu Festgewändern vergangener afrikanischer Könige, und wo er einmal Benjamin Britten und Peter Pears dabei beobachtet hatte, wie sie gerade ein großes grünes Lingam aus Kalkstein begutachteten.
Gegen sieben Uhr dreißig war er immer zurück, rechtzeitig für seinen reservierten Platz in einem Bistro in der Nähe. Er aß dann, was auch immer ihm hingestellt wurde, und zahlte einmal im Monat, ohne die Rechnung zu diskutieren. Nach dem Abendessen pflegte er in seine Wohnung zurückzukehren, ein wenig zu lesen oder Musik zu hören. Er hatte eine gute Sammlung Alter Musik, und seine einzige Schwäche war es, sie gelegentlich zu ergänzen – Harnoncourt und den Concentus Musicus aus Wien bewunderte er besonders, und oft legte er sich ihre großartige Aufnahme von Monteverdis Orfeo mit der umwerfenden Jeanne Deroubaix als Botin auf:
A te ne vengo Orfeo,
Messagiera infelice,
Di caso più infelice e più funesto:
La tua bella Euridice …
Zu dir komme ich, Orpheus,
Unglückliche Botin
Schrecklichsten Vorkommnisses.
Deine schöne Eurydike …
Manchmal bist du auch in Konzerte gegangen, unterbrach seine Frau – seine zweite Frau – ihn dann. Und er schien diese Unterbrechungen zu brauchen, er war ein Meister darin, sie in sein Gerede einzuflechten, indem er sie als Sprungbrett zur Entwicklung seines Themas nutzte.
Durchaus, fuhr er dann fort, aber nicht oft; Konzerte waren teuer und außerdem, nach London waren Konzerte in Paris fast immer eine Enttäuschung.
Wir hören auch hier sehr viele, sagte seine Frau dann und verwies auf die Reihen von LPs in den Regalen. Freunde, die das Wochenende mit ihnen verbrachten, und Nachbarn, die in ihrem umgebauten Bauernhaus in den Black Mountains hoch über Abergavenny bisweilen dazukamen, wurden für einen Abend mit Barockmusik aus ihrer ausgezeichneten Hi-Fi-Anlage unterhalten. Seine Frau, eine hübsche Dame mit üppigem rotem Haar, das sich auf ihrem Kopf türmte, pflegte ihm die Schallplatten ehrfürchtig zu reichen, nachdem sie sie mit einem speziellen Staubtuch abgewischt hatte, überließ die abschließenden Gesten – das Auflegen der Platte auf die Drehscheibe, das Ingangsetzen des Apparates, das Aufsetzen der Nadel, das Schließen des Deckels – ihm.
Ich bin so ungebildet, sagte sie immer. Als ich ihn kennenlernte, dachte ich, eine Sarabande sei etwas, was man um den Bauch trägt.
Du hattest andere Vorzüge, sagte er dann mit einem Lächeln.
Aber Verständnis für klassische Musik gehörte nicht dazu, sagte sie dann immer.
Zwischen den Platten erzählte er oft von seinen Pariser Jahren. Was er nach dem Tod seiner ersten Frau am meisten brauchte, war Einsamkeit, sagte er. Nicht dass er darüber brüten wollte, was passiert war, er wollte einfach allein sein. Ich vermute, ich habe mehr Arbeit angenommen, als unbedingt nötig war, sagte er dann, aber ich denke, ich brauchte das Gefühl, dass, wenn ein Buch zu Ende gebracht war, immer ein anderes auf mich wartete, und dann wieder eines.
Bisweilen, frühmorgens im Frühling oder Sommer, wenn das Licht überaus sanft den runden Bauch seiner glasierten Steingutteekanne erreichte, war er erfüllt von einem Empfinden außerordentlichen Friedens und Wohlgefühls.
Ich hätte nie solche Augenblicke erlebt, wenn ich nicht allein gewesen wäre, sagte er dann. Und letztlich sind es doch gerade diese Augenblicke, die man liebt und nicht vergisst.
Wenn er an späten Nachmittagen nach getaner Arbeit durch die Stadt spazierte, überkamen ihn gelegentlich Einbildungen vom Ertrinken, ein lebhaftes Gefühl bestürzter Gesichter am Ufer oder auf der Brücke über ihm oder vielleicht an Deck eines vorüberziehenden Bootes, und dann würden die Wellen sich über ihm schließen und er würde sanft hinabsinken, nach und nach ein Fingerglied verlieren oder eine dicht gekräuselte Seele und dann auf dem sandigen Grund liegen, friedlich von der Strömung geschaukelt.
Er wusste, dass solche Gefühle etwas Neurotisches hatten, sogar etwas Gefährliches, aber er war nicht übermäßig verängstigt und spürte, dass es besser war, sie zu ertragen, als zu versuchen, sie einfach beiseite zu schieben. Schließlich hat jeder Fantasien. In dem einen Leben sind viele Leben. Andere Leben. Einige werden gelebt und andere sind eingebildet. Das ist das Absurde an Biographien, würde er sagen, an Romanen. Sie ziehen nie die anderen Leben in Betracht, die ihre Schatten über uns werfen, während wir uns allmählich, wie im Traum, von der Geburt zur Reife und zum Tod bewegen.
In ihrem umgebauten Bauernhaus in den Black Mountains, hoch über Abergavenny, pflegte seine Frau – die zweite Frau – den Freunden und Nachbarn, die vorbeikamen, um sie zu sehen, gekühlten Weißwein einzuschenken und gab Acht darauf, dass kein Glas zu lange leer blieb.
Du dachtest immer an ein anderes Leben, während du die Stufen von der rue Saint-Julien hinaufgestiegen bist, sagte sie dann. Du dachtest daran, während du hinunterstiegst.
Stufen sind der Fantasie dienlich, sagte er dann. Auf und nieder steigen lässt das Denken sich frei bewegen. Wie oft steigen wir die Stufen unseres eigenen Lebens rauf und runter, sagte er dann. So wie wir die Tasten eines Klaviers rauf und runter spielen.
Und immer mit Hut, sagte seine Frau dann.
Ja, immer mit Hut.
Sie sehen, sagte er dann, ich bin ein Gewohnheitstier. Ich gehöre zu einer älteren Generation. Ohne Hut und Krawatte würde ich mich nackt gefühlt haben.
Er musste mir erklären, dass eine Barocksuite nicht etwas Erlesenes ist, das man am Ende einer Mahlzeit serviert, sagte sie dann, wobei sie ihr kehliges Lachen lachte.
Du hattest andere Qualitäten, sagte er darauf.
Ohne Frage machte sie ihm das Leben bequem, achtete darauf, dass er alles hatte, was er wollte, und dass ihn keine Kleinigkeiten des Alltags störten. Er seinerseits schaute zu ihr auf, tat nichts ohne ihre Zustimmung, teilte ihr mit, wenn er müde war und bettreif, wenn er Hunger hatte und bereit war, etwas zu essen. Alle ihre Freunde bestätigten das Empfinden von Harmonie und Wohlgefühl, das von ihrem Heim in den Hügeln über Abergavenny ausging.
In gewissem Sinne war er allein in seinem kleinen Pariser Apartment glücklich gewesen. Sein Schreibtisch stand im Licht, und während er arbeitete, spürte er, wie die Sonne seinen Scheitel und Nacken wärmte. Wenn er in der Stille des Morgens den Tee in seine Tasse goss, schien ihm manchmal, als ob das Ganze der Existenz sich in diesem Vorgang konzentrierte. Konnte sich jemand noch mehr Glück wünschen?
Und doch, sagte er, wenn er mit einem Glas gekühlten Weißweins in der Hand im großen Wohnzimmer stand, wissen wir immer so genau, wie wir uns tatsächlich fühlen?
Manchmal, sagte er, sei die Langweiligkeit und Unwirklichkeit der Romane, die er übersetzte, einfach zu viel für ihn. Es brauche dann eine gewaltige Anstrengung, um weiterzumachen bis zur Morgenpause, ja, es kam sogar vor, dass er die Aussicht auf das Nachmittagspensum nicht ertrug. Es gab sogar Momente, sagte er dann, wenn ich dasaß, um diese immer gleichen Pappmachéromane mit den immer gleichen Pappmachéhandlungen zu übersetzen, und mich fühlte, als ob ich ersticken würde.
Du hast dir das Hirn zermartert, wie seine Frau sagte. Niemand kann so viele Stunden arbeiten, wie du es getan hast, Tag für Tag, immer ohne Ferien. Nicht in der Art von mentaler Anstrengung, die das Übersetzen verlangt.
Ich glotzte dann auf die Seite, und es ergab keinen Sinn mehr, sagte er. Was um acht Uhr in der Früh noch so leicht und amüsant aussah, schien schon ein paar Stunden später nicht mehr auszuhalten.
Du hattest ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, sagte seine Frau dann. Welcher Übersetzer hat bei seiner Arbeit so geschuftet wie du? Welcher Übersetzer hat sich selbst so bestraft wie du?
Alle machen das so, sagte er dann. Bei dem, was die Verleger den Übersetzern zahlen, haben wir keine Alternative.
Aber sie müssen Familien ernähren. Kinder füttern.
Das stimmt, sagte er dann.
Ihre Freunde kannten diese Wortwechsel, wussten, dass seine Geschichten aus den Pariser Jahren nicht von ihm allein erzählt werden konnten, dass er ihre Einwürfe brauchte, die mehr wie Kehrreime klangen, nicht wie Versuche zu einem echten Gespräch, denn man spürte, dass sie schon so häufig wiederholt worden waren, dass keiner von ihnen wirklich darüber nachdachte, was sie eigentlich sagten.
Missversteht mich nicht, meinte er. Ich mochte diese Arbeit. Ich mochte den Umstand, dass ich Dinge auf meine Weise erledigen konnte, bei mir zuhause, in meinem Tempo. Und ich liebte das Gefühl von Frieden im Zimmer, während ich unter dem Himmelslicht an meinem Schreibtisch saß. Ich liebte das Ritual des Bleistiftspitzens, ehe ich loslegte, das Hineinschütten der Reste in den Papierkorb und das Beklopfen des Stapels der bereits übersetzten Seiten, bis die Ränder weich und sauber waren. Ich liebte es, meinen Sessel so an den Schreibtisch zu ziehen, dass meine Beine darunter passten, einfach so. Ich liebte es, die Lampe so auszurichten, dass sie auf das Buch schien, an dem ich arbeitete, und auf das neue leere Blatt, das ich zu mir herangezogen hatte, wobei das übrige Zimmer in halber Dunkelheit blieb. Ich liebte den Moment, wenn ich meinen Blick auf den letzten Satz lenkte und alle Wörter schon da waren, fertig formuliert, während ich den Bleistift auf das neue Blatt legte.
Erst wenn die Bedeutung von dem, was er gerade übersetzte, in ihn einzusickern begann, sagte er, dass es ihm schwerfiel weiterzumachen. Solange man jeden Satz für sich betrachtete, als besondere Herausforderung, als spezielles Problem, war die Aufgabe nicht nur erträglich, sondern überaus erfreulich. Die Schwierigkeiten setzten ein, sobald er gegen seinen Willen damit begann, auf den Stil und das Thema des Romans zu achten, der da vor ihm lag.
Dieselben Figuren, wie er sagte. Dieselben Handlungen. Im Leben kam das nie vor, aber Roman für Roman, egal, ob der Autor ein alter Mann oder eine junge Frau war, erfolgreich oder unbekannt, als ob sich das Leben für jeden, der einen Stift in die Hand nahm oder sich an eine Schreibmaschine setzte, auf sechs Figuren und fünf Geschichten reduziert hätte, als ob sich die unendliche Vielfalt, die die Autoren fraglos im täglichen Leben genau wahrnahmen, vermindert hätte, sobald er oder sie sich an den verhängnisvollen Schreibtisch gesetzt hatten. Zu solchen Zeiten pflegte sein Körper gegen die Aufgaben zu rebellieren, mit denen er betraut war, als ob er daran nicht Anteil nehmen konnte oder wollte. Er hatte dann Probleme mit dem Atmen und musste in immer kürzeren Intervallen aufstehen und im Zimmer herumgehen, sich Wasser ins Gesicht spritzen oder durch sein Dachfenster in den Pariser Himmel schauen.