Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH
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Print: | ISBN 978-3-7910-4919-9 | Bestell-Nr. 10543-0001 |
ePub: | ISBN 978-3-7910-4920-5 | Bestell-Nr. 10543-0100 |
ePDF: | ISBN 978-3-7910-4921-2 | Bestell-Nr. 10543-0150 |
Gabriele Adelsberger / Claudia Muigg / Claudia Schrettl / Claudia Trenkwalder
Gesundheit – Innovation – New Work
1. Auflage, Oktober 2020
© 2020 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
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Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart
Ein Unternehmen der Haufe Group
Seit mehr als einem halben Jahrhundert beschäftige ich mich als Forscher, Lehrer und Berater mit Fragen der Führung, Zusammenarbeit und Organisation, und dabei bin ich vielen neuen Begriffen und Konzepten begegnet. Einige hatten als Modeerscheinungen nur ein kurzes Leben. Aber es gab immer wieder Modelle und Methoden, die sich in der Praxis bewährten und überlebten. Manche Konzepte hatten sogar einen prophetischen Charakter, und weil sie ihrer Zeit voraus waren, wurde ihr Wert oft erst später erkannt und geschätzt. Dazu gehören auch solche, die in diesem Buch aufgegriffen, miteinander verknüpft und weitergeführt werden. Insofern sind die meisten der hier vorgestellten Konzepte nicht wirklich neu – neu ist allerdings, dass sie hier in ein stimmiges Verhältnis zueinander gebracht werden, weil ihnen dieselben Prinzipien und Werte zugrunde liegen. Denn es geht hier wie dort um ein ganzheitliches und evolutionäres Bild des Menschen, in dem die Sinnbezogenheit des Mensch-Seins, die erlebte Sinnhaftigkeit der zu verrichtenden Arbeit und die Ausrichtung der Organisation auf den Sinn ihrer Existenz der Schlüssel für jegliche Leistung und Innovation ist.
Für die Autorinnen ist in diesem Zusammenhang Gesundheit in zweifacher Hinsicht zentral: Auf der Mikroebene geht es um die Gesundheit des Individuums und um gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen, und auf der Mesoebene ist die Gesundheit der Organisation Voraussetzung dafür, dass sie ihre Leistung erbringen und den erwarteten Kundennutzen stiften kann. Das sichert ihre Überlebensfähigkeit.
Dazu möchte ich unbedingt ergänzen, dass mit diesen beiden Bereichen der Gesundheit noch eine dritte gefördert wird: Gesundheit auf der Makroebene! Sie wird nur möglich durch eine Kultur zur freien Entfaltung von Diversität, durch demokratische Gesellschaftsformen, die jeglicher Diskriminierung begegnen, und durch eine solidarische Wirtschaft, die gesellschaftlichen Nutzen und nicht Profitmehrung zum Ziel hat – denn diese zusammen sind die Bedingungen für die dringend geforderte Nachhaltigkeit zur Rettung unseres gefährdeten Planeten.
Vieles, was der Markt wünscht und (vorläufig noch) mit Gewinn belohnt, ist weder sinnvoll noch vernünftig, sondern macht krank. Wenn aber Individuen den Sinn ihres Seins und Tuns reflektieren und sich Organisationen der Frage nach dem eigentlichen Sinn ihrer Leistung stellen, dann ist dies die Quelle wirksamer gesellschaftlicher Innovationen. Ich vertraue darauf, dass dieses Buch ein Beitrag dazu sein wird.
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Glasl
Salzburg, Juli 2020
Abb. 1: | Reisevorbereitung |
Abb. 2: | Physische und psychische Beschwerden im Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit |
Abb. 3: | Planet der Arbeitsfähigkeit nach J. Ilmarinen |
Abb. 4: | Buzzworddarstellung Innovation |
Abb. 5: | Die fünf Kriterien für Innovationen nach Schumpeter |
Abb. 6: | Die linke und die rechte Gehirnhälfte im Unternehmen |
Abb. 7: | Hierarchische Strukturen vs. Selbstorganisation und Netzwerken |
Abb. 8: | Die dunkle Seite des Mondes |
Abb. 9: | Alte vs. neue Autorität im VUCA-Umfeld |
Abb. 10: | GINO-Universum mit Energie- und Spannungsfeldern |
Abb. 11: | Schichtenmodell zur Bedeutsamkeit der Arbeit |
Abb. 12: | Meaning OF work/Meaning IN work |
Abb. 13: | Grundmotivation und Motivation/Wollen |
Abb. 14: | Stufen der Partizipation nach Wright/Block/von Unger |
Abb. 15: | Gesundheits-Krankheits-Kontinuum |
Abb. 16: | Der Weg ins GINO-Universum |
Abb. 17: | GINO-Barometer leer |
Abb. 18: | GINO-Barometer ausgefüllt |
Willkommen im 21. Jahrhundert. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ändert sich gerade sehr vieles. Auch in der Arbeitswelt, die in unserem Alltag einen hohen Stellenwert einnimmt. Immer häufiger begegnet uns der Begriff »New Work«. Gesundheit am Arbeitsplatz ist ein großes Thema. Und natürlich Innovation. Doch was machen all diese theoretischen Begriffe ganz praktisch mit einem Unternehmen und vor allem mit dessen Herzstück, den Menschen?
Mit diesem Buch nehmen wir Sie mit auf eine Reise in ein neu entdecktes Universum. Sie werden erstmals die drei großen Arbeitsplaneten Gesundheit, Innovation und New Work bereisen, auf deren Umlaufbahnen sich Unternehmen bewegen. Zusammen bilden diese Organisationen und Planeten das GINO-Universum. Mit verschiedenen Perspektiven werden wir vor Ort die Lage sondieren und dabei Mensch, Kultur, Struktur, Markt und Kunde sowie die Arbeitsumgebung in den Blick nehmen. Und wie immer, wenn Sie eine Reise unternehmen, kehren Sie etwas klüger zurück als Sie losgegangen sind. Nach dieser Reise ins GINO-Universum werden Sie Arbeit auf der guten alten Erde mit neuen Augen sehen. Sie werden nicht nur in der Lage sein, Altes neu zu bewerten, sondern auch bisher verborgenes Potenzial erkennen und nutzen können.
Sie treten diese Reise in einer Zeit an, in der sich unsere Gesellschaft im Wandel von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft befindet. Neue Technologien, die Globalisierung und der demografische Wandel verändern unsere Arbeitswelt derzeit dramatisch und erfordern Bereitschaft zur Anpassung und ein hohes Maß an Flexibilität. Sind Sie vorbereitet auf den Paradigmenwechsel? Haben Sie bereits die entsprechenden Rahmenbedingungen für den unaufhaltsamen Wandel geschaffen?
Eine Antwort auf diese bewegten Zeiten ist der Megatrend New Work, der sich in den kommenden Jahren durch die digitale Vernetzung noch verstärken wird. Die zentralen Werte der Neuen Arbeit sind Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft. Aber: Noch herrscht eine große Kluft zwischen den theoretischen New-Work-Modellen einerseits und den praktischen Umsetzungsmöglichkeiten und den unterschiedlichen Wünschen der Menschen andererseits. Unternehmen können Herausforderungen wie sich auflösende Organisationsgrenzen, offene Netzwerkstrukturen, projektbasierte Arbeitsverhältnisse und kundenorientierte Innovationszyklen können nur schwer meistern, wenn die Instrumente nicht fein kalibriert und ebenso auf die Persönlichkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugeschnitten werden wie auf die unternehmensinternen Strukturen.
In bewegten Zeiten kreative Lösungen und Innovationen zu fordern ist zu wenig. Im Allgemeinen stellen Innovationen zwar ein wichtiges Element im Hinblick auf neue Herausforderungen dar. Gleichzeitig wird Innovation am Markt aber zur Ware, die die Wettbewerbsdynamik noch weiter verschärft. War früher ausschließlich die Abteilung Forschung und Entwicklung für Neues zuständig, wird Innovation heute in der Breite verlangt. Jeder Einzelne ist gefordert, seinen Bei[14]trag zu leisten. Doch dieser wachsende Anspruch an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht nicht immer mit der nötigen Neugestaltung und Anpassung von Organisationsstrukturen einher.
Mehr noch: Bei andauernder Diskrepanz zwischen Anforderung und Möglichkeit sind gesundheitliche Auswirkungen auf die Beschäftigten – getriggert durch Zeitdruck und Stress – wahrscheinlich. Menschen, die innovativ arbeiten müssen, berichten etwa doppelt so häufig von physischen und psychischen Beschwerden. Und: Je größer das Unternehmen, je komplexer die Strukturen und je massiver die Unbeweglichkeit des Systems, desto größer ist das Risiko einer gesundheitsgefährdenden Arbeitssituation. Das ist nicht nur auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene entscheidend, sondern auch auf wirtschaftlicher. Denn ein Unternehmen ist nur so erfolgreich wie die Menschen, die dort arbeiten.
Logisch also, dass sich in Zeiten eines grundlegenden Wandels auch die Arbeitsbedingungen ändern müssen, wenn Gesundheit, Lebensqualität und Erfolg geschützt werden sollen. Doch wie? Bestehende Lösungen wirken meist nur eindimensional und stellen gewissermaßen Insellösungen dar, da sie nicht alle Bedürfnisse und Zusammenhänge in einem Unternehmen betrachten. Es stellt sich die Frage: Ist New Work zwangsläufig ungesund? Ist es ausgeschlossen, dass Menschen innovativ arbeiten und trotzdem gesund bleiben? Wir haben uns auf die Suche nach Antworten gemacht – und sind auf unserer Reise fündig geworden.
Die Coronakrise hat das Jahr 2020 massiv geprägt. Große Unsicherheit und gleichzeitige Aufbruchstimmung hatten massive Auswirkungen auf unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben. Andere Formen der Zusammenarbeit (digital im Homeoffice) wurden notwendig und zogen arbeitsrechtliche und gesetzliche Anpassungen nach sich. New Work erhielt binnen kürzester Zeit einen unvorstellbaren Schub. Spätestens jetzt ist eine massive Transformation im Gange, und sie beeinflusst, wie wir uns austauschen, absprechen, organisieren und unsere Prioritäten setzen. Also wie wir leben und arbeiten und beides kombinieren.
Bestimmt interessiert es Sie, wer Ihre Reiseleiterinnen auf dieser Mission sein werden. Wir sind DIEBERATERINNEN. Vier Frauen mit unterschiedlichem beruflichem Background: eine Juristin, eine Pädagogin, eine Bankerin und eine diplomierte Krankenschwester. Was uns verbindet, ist – neben einem großen Erfahrungsschatz hinsichtlich der Führung von und der Arbeit in Teams – die Ausbildung zum Coach für Organisationsentwicklung. Mehr noch aber eint uns ein gemeinsames Ziel: Arbeit und Privatleben in Einklang zu bringen – und Menschen dabei zu unterstützen, die das ebenfalls möchten. Dieser Wunsch nach Familie, nach Weltentdeckung und nach eine Arbeit, bei der alle Talente Platz finden, stand ganz am Anfang. Mit viel Enthusiasmus haben wir am Küchentisch das Konzept für unsere Beratungstätigkeit entwickelt und schnell gemerkt: Wir wollen das gemeinsam umsetzen. Um im Team zu wachsen. Und um unsere Kundinnen und Kunden noch besser beraten zu können.
[15]Seit diesem Entschluss ist viel passiert, und wir durften mittlerweile zahlreiche Unternehmen und Organisationen begleiten. Gemeinsam haben wir immer wieder einen anderen, neuen Arbeitskosmos entstehen lassen, abgestimmt auf die Wünsche, Anforderungen und Bedürfnisse unseres Gegenübers. Unsere Missionen sind immer wieder anders – sie reichen von der Führungskräfteentwicklung bis hin zur Maßnahmenentwicklung, um psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu minimieren. Was auch immer der Grund ist, warum wir in unsere Raumanzüge steigen und uns auf die Reise machen: Vor Ort geht es stets darum, Unternehmen neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Denn meist bedienen Organisationen nur einzelne Stellhebel. Manche nehmen die Gesundheitsförderung in den Blick, andere machen sich Gedanken über neue Arbeitsweisen, wieder andere konzentrieren sich auf die Steigerung der Innovationskraft.
Ein ähnliches Bild findet sich in der einschlägigen Fachliteratur. Niemand hat bisher den Blick über den Horizont hinausgerichtet. Warum eigentlich? Wir waren schnell der Überzeugung: Da muss es mehr geben! Nach intensiven Forschungen im Rahmen unserer täglichen Arbeit haben wir schließlich hinter dem Horizont das GINO-Universum entdeckt. Gesundheit, Innovation und New Work – erst im Gleichgewicht zwischen diesen Planeten wird gutes Leben und Arbeiten im Organisationskontext möglich. Die Planeten sind verschieden, weisen aber auch einige Gemeinsamkeiten auf. Wenn Sie erst einmal wissen, wohin Sie den Blick richten müssen, werden Sie viel Spannendes entdecken. Unsere Erkenntnisse und Erfahrungen wollen wir nicht für uns behalten. Wir wollen sie mit Ihnen teilen und Ihnen im Zuge einer Rundreise durchs GINO-Universum zeigen, wie Sie nicht nur einen, sondern mehrere Hebel gleichzeitig bedienen können.
Dieses Buch ist für Sie, wenn Sie sich auch schon oft gefragt haben, wie und wozu Sie arbeiten möchten und was Menschen brauchen, um gesund, glücklich und erfolgreich arbeiten zu können. Dieses Buch ist auch dann eine gute Reisebegleitung, wenn Sie sich Inspiration und Unterstützung beim eigenen Forschen, Beobachten und Weiterentwickeln in Ihrem Unternehmen wünschen. Und Sie werden dieses Buch auch dann gerne lesen, wenn Sie einfach nur neugierig sind und mehr über die entscheidenden Aspekte des modernen Arbeitens erfahren möchten. Fakt ist: In der heutigen Zeit sind viele Modelle und Methoden nicht mehr wirksam. Manche sagen, New Work sei ein neuer Trend, andere sprechen sogar von einer Revolution. In Wahrheit aber ist New Work eine evolutionäre Entwicklung, die notwendig ist und zu jedem Zeitpunkt geschieht. Die Arbeitswelt entwickelt sich weiter, weil es immer Menschen gibt und geben wird, die etwas anders machen als bisher. Das Ergebnis ist eine Dynamik, die alles in ihrem Umfeld früher oder später in Bewegung bringt und wie eine Welle erfasst. Das ist eine Herausforderung. In jeder Herausforderung steckt aber auch eine große Chance. Für genau diese ungeahnten Möglichkeiten möchten wir mit diesem Buch Ihren Blick schulen und Ihnen zeigen, wie es gelingt, die Welle zu surfen. Also: Auf zu neuen Ufern! Auf ins GINO-Universum!
Abb. 1: Reisevorbereitung
Sind Sie bereit für eine Rundreise der etwas anderen Art? Bevor Sie an Bord gehen, möchten Sie bestimmt noch ein paar Details zur geplanten Route erfahren.
Unser Ziel ist das GINO-Universum, das gar nicht so weit weg ist, wie Sie im Arbeitsalltag vielleicht manchmal denken. Sie können die Reise also jederzeit antreten. Auf unserer Reise steuern wir die drei Hotspots im Universum an: die Planeten Gesundheit, Innovation und New Work. Damit Sie ein Gespür für diese Orte bekommen, erzählen wir Ihnen in den folgenden drei Kapiteln Wissenswertes zur Geschichte und zu herausragenden Ereignissen, zu prägenden Persönlichkeiten und Gepflogenheiten, die den jeweiligen Planeten so besonders machen.
So wie Sie vor jeder Reise vermutlich zu Hause erst noch Klarschiff machen, geben auch wir Ihnen in Kapitel 5 Gelegenheit, einen Moment innezuhalten, sich umzublicken und zu verinnerlichen, wie die Ist-Situation in Ihrer Organisation bzw. auf Ihrem Arbeitsplaneten Erde aussieht. Als Unterstützung finden Sie dazu in Kapitel 9 nützliche Fragebögen und Barometer.
Der Grund, warum Sie diese Reise machen, ist sicher, weil Sie sich für Arbeitsumfeld, Struktur, Kultur, Mensch sowie Markt und Kunde an anderen Orten interessieren. Um Ihnen optimale Ausblicke und Einblicke zu ermöglichen, haben wir unser Raumschiff mit fünf Bullaugen ausgestattet. Sie ermöglichen es Ihnen, aus den genannten Perspektiven auf die besuchten Planeten zu blicken. Dieser Teil der Reise macht den Hauptteil des Buches aus. In den Kapiteln 6.1 bis 6.6 erfahren Sie alles Wissenswerte über die Planeten Gesundheit, Innovation und New Work. Natürlich könnten Sie jeden einzeln bereisen und dort sehr viel Zeit verbringen. Das Besondere an unserer Rundreise ist aber, dass wir während unserer zahllosen Besuche für Sie bereits jene Orte ausfindig gemacht haben, die Sie unbedingt gesehen haben müssen. Auch wenn Umwege manchmal die Ortskenntnis erhöhen: Wenn Sie auf direktem Weg das Wesentliche erfahren [18]möchten, sind Sie bei uns an Bord richtig. Da es sich ja um eine Dienstreise handelt, werden wir Sie zwischendurch immer wieder dabei unterstützen, die Arbeitssituation auf Ihrem Heimatplaneten zu reflektieren. Das ermöglicht es Ihnen, das neuerworbene Reisewissen besser einzuordnen.
Unterwegs haben wir übrigens auch Gelegenheit, uns einige wichtige Energie- und Spannungsfelder anzusehen. Dort werden Sie mehr über die verbindenden und trennenden Kräfte zwischen den verschiedenen Planeten erfahren. Auch werden Sie einiges kennenlernen, das durchaus kritisch betrachtet werden kann und sollte. Denn nicht in allen Punkten harmonieren die drei Planeten. Hin und wieder sind auch Differenzen spürbar. Kapitel 7 liefert Ihnen deshalb wertvolle Informationen zu den Werten, die das GINO-Universum zu dem macht, was es ist.
Anschließend setzen wir Sie wieder wohlbehalten auf der Erde ab. Jedoch nicht ohne Ihnen einige Empfehlungen mitzugeben, wie Sie auf Ihrem Arbeitsplaneten für frischen Wind sorgen können. Diese Praxistipps finden Sie in Kapitel 8 am Ende des Buches. Denn unser Ziel ist es, Sie dabei zu unterstützen, den Spirit des GINO-Universums auf Ihren Planeten zu beamen. Sind Sie bereit? Dann lassen Sie uns mit einigen spannenden allgemeinen Informationen zu den Planeten G, I und N beginnen.
Willkommen auf unserem ersten Planeten im GINO-Universum. Er trägt den Namen »Gesundheit«. Was bedeutet das eigentlich, Gesundheit? Schlagen wir zuerst einige Definitionen nach, bevor wir uns aus dem Raumschiff herauswagen. »Gesundheit stellt das bedeutsamste gesellschaftliche, wirtschaftliche und persönliche Gut dar«.1 Bereits die alten Griechen achteten auf ein »gutes Leben«, da es Körper, Geist und Seele zusammenhält. Dadurch verspürt der Mensch ein hohes Maß an Lebensqualität und fühlt sich den persönlichen und beruflichen Aufgaben gewachsen. Sigmund Freud beschreibt Gesundheit demensprechend als Zustand, der es ermöglicht, »lieben und arbeiten zu können«. Auch die Definition der Weltgesundheitsorganisation von 1948 beleuchtet sowohl die physische als auch die psychosoziale Komponente: »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen«.2 Für entsprechend namhafte Autorinnen und Autoren3 bedeutet Gesundheit außerdem,
»[…] inwieweit eine Person oder Gruppe in der Lage ist, einerseits Wünsche zu verwirklichen und Bedürfnisse zu befriedigen und andererseits mit der zwischenmenschlichen, sozialen, biologischen und physischen Umgebung umzugehen. Gesundheit ist daher eine Ressource für den Alltag, nicht das Ziel des Lebens; sie ist ein positives Konzept, das soziale und persönliche Ressourcen sowie physische und psychische Fähigkeiten umfasst.«
Auch die Gesundheitswissenschaftler Badura, Münch und Ritter definieren Gesundheit als keinen festen, sondern einen sich stetig verändernden Zustand. In diesem Veränderungsprozess sind die Fähigkeit zur Problemlösung, zur Regulation der eigenen Gefühle sowie die Kompetenz zum Erhalt bzw. zur Förderung sozialer Beziehungen und Netzwerke wesentlich.4
Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf wollen wir uns nun Gesundheit aus Arbeitsperspektive näher ansehen.
Die Bedeutung der Gesundheit am Arbeitsplatz hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Im frühen Zeitalter der Industrialisierung war noch der vorwiegend körperliche Einsatz gefragt – vor drei Generationen waren 41 % der Erwerbstätigen mit schwerer körperlicher Arbeit beschäftigt. Mit Arbeitstagen, die 12 bis 14 Stunden dauerten, und ohne Urlaubs- und Erholungstage, die als nicht notwendig erachtet wurden.
Bedingt durch Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung entwickelt sich die Arbeitswelt weg von der physischen Tätigkeit hin zur Dienstleistungs- und Wissensarbeit. Heute sind mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor tätig.5
Im österreichischen ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG), das 1973 in Kraft trat, wurden die Beseitigung von Sicherheitsrisiken und körperlichen Gefahren am Arbeitsplatz als zentrale Aufgabe angesehen. Die Evaluierung der psychischen Arbeitsbelastungen wurde in der Novelle im Jahr 2013 verankert. Die Erhaltung der psychischen Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurde somit explizit in der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber festgeschrieben.
In der Novelle des deutschen Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) im September 2013 sind explizit psychische Belastungen benannt und in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. In der Schweiz wurde im Oktober 2015 das Arbeitsgesetz (ArG) in diese Richtung novelliert.
Psychische Belastungen am Arbeitsplatz verursachen bei den Betroffenen häufig Schlafstörungen, Bluthochdruck, Angstzustände oder Depressionen und können in weiterer Folge Auslöser für psychische Erkrankungen sein.6 So haben sich laut dem früheren Arbeiterkammer-Präsident Herbert Tumpel in Österreich die Krankenstandstage aufgrund von psychischen Erkrankungen zwischen 1995 und 2011 mehr als verdoppelt, und die Kosten durch psychische Erkrankungen schlagen mit 3,3 Milliarden € zu Buche.7
In einer Studie von Badura8 wurden die psychischen und physischen Beschwerden von Erwerbstätigen im Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit überprüft. Die häufigsten genannten Beschwerden waren Rücken- und Gelenkschmerzen (73,9 %), Erschöpfung (80,3 %) und Kopfschmerzen (51,7 %). Alarmierend dabei ist, dass drei von vier Befragten ihre Rücken- und Gelenkschmerzen, Erschöpfung, Lustlosigkeit sowie das Gefühl, ausgebrannt zu sein, unmittelbar auf ihre Arbeitstätigkeit zurückführten. Ebenso sind die hohen Werte bei Nervosität und Reizbarkeit in der Arbeitstätigkeit begründet. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass ihre Konzentrationsprobleme und Schlafstörungen in Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit ständen.
Abb. 2: Physische und psychische Beschwerden im Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die erlebten Arbeitsbelastungen unmittelbare Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Beschäftigten haben – bis dorthin, dass Menschen starke gesundheitliche Beeinträchtigungen erleben und nicht mehr ausreichend arbeitsfähig sind.
Doch der erschwerte Zugang zur Früh- oder Berufsunfähigkeitsrente und die Erhöhung des Rentenantrittsalters führen dazu, dass Menschen länger im Erwerbsleben bleiben müssen. Sie haben keine Wahl und sind gezwungen, trotz massiver gesundheitlicher Einschränkungen einer Arbeit nachgehen. Das erzeugt menschliches Leid und volkswirtschaftliche Kosten. In der Schweiz zum Beispiel werden die Kosten von arbeitsbedingtem Stress auf 4,2 Milliarden Franken geschätzt.9 Bei der Gesundheit am Arbeitsplatz handelt es sich also nicht nur um ein individuell ernst zu nehmendes Thema, sondern auch um ein volkswirtschaftliches Problem.
Umso wichtiger ist es, dass dort, wo Arbeit gestaltet wird, die psychische und physische Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer proaktiv gepflegt wird – damit die Arbeitsfähigkeit langfristig erhalten bleibt und wir nachhaltig ökonomisch und menschlich gesund wirtschaften.
Als langjährige Beraterinnen in der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) und im fit2work®-Eingliederungsmanagement begleiten wir Unternehmen und Organisationen aus allen Branchen dabei, gesundheitsförderliche Verhältnisse zu gestalten, und unterstützen Menschen, gesundheitsförderliches Verhalten auf- und auszubauen.
Wozu das Ganze? Ist das Unternehmen nun auch noch für die Gesundheit seiner Leute zuständig?
Ja, und zwar in mehrfachem Sinne. Einerseits gilt für jeden Arbeitgeber die Fürsorgepflicht, die im österreichischen ArbeitnehmerInnenschutzgesetz verankert ist:
ASchG (2013) § 3 (1) Arbeitgeber sind verpflichtet, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen. … Arbeitgeber haben die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie der Integrität und Würde erforderlichen Maßnahmen zu treffen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung arbeitsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel.
Auch im deutschen Arbeitsschutzgesetz und im Schweizer Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz) finden sich gleichlautende Aussagen.
Andererseits ist das Unternehmen darauf angewiesen, dass die Beschäftigten ihre Arbeitskraft in Form von körperlichem und/oder geistigem Einsatz einbringen, damit die anfallende Arbeit erledigt wird und die Organisation ihren Auftrag erfüllen kann.
Deshalb ist es wesentlich, einen positiven Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu nehmen. Denn sind sie nicht gesund und leistungsfähig, kann der Betrieb seine Leistungen nicht erbringen.
Arbeitsfähigkeit ist demnach das Gleichgewicht zwischen dem, was Beschäftigte leisten können bzw. wollen, und dem, was der Betrieb bzw. die Organisation verlangt und an Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt.
Die Arbeitsfähigkeit ist also die Summe der Faktoren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befähigen, die an sie gestellten Anforderungen zu bewältigen. Sie ist beeinflusst von den individuellen Ressourcen des Menschen – etwa persönliche Gesundheit, Qualifikationen und Kompetenzen, Werte und Einstellungen – sowie den Rahmenbedingungen, die der Betrieb zur Ver[25]fügung stellt und die sich in der Unternehmens- und Führungskultur, in den Arbeitsbedingungen und in der Arbeitsumgebung sowie in der Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitszeiten widerspiegeln. Passen die persönlichen Ressourcen mit den Anforderungen des Betriebs zusammen, sprechen wir von einer hohen Arbeitsfähigkeit. Niedrige Arbeitsfähigkeit hat dagegen zur Folge, dass die persönliche Gesundheit und damit die Lebensqualität beeinträchtigt ist.10 Im schlechtesten Fall wird ein vorzeitiger Ausstieg aus dem Berufsleben notwendig, der für die betroffenen Personen mit großem menschlichen Leid und oftmals einer reduzierten Lebenserwartung einhergeht. Für den Betrieb wiederum bedeutet eine geringere Arbeitsfähigkeit einen signifikanten Produktivitätsverlust von bis zu 26,6 %.11 Ein großer ökonomischer Schaden!
Die eigentliche Quelle der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen ist der Mensch. Seine Leistungsfähigkeit und Bereitschaft sichern den unternehmerischen Erfolg. Deshalb bedeuten die Pflege und der Ausbau der Arbeitsfähigkeit einen doppelten Gewinn – menschlich und ökonomisch.
In unserer Praxis als Beraterinnen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung arbeiten wir gerne mit dem »Haus der Arbeitsfähigkeit«, einem Modell, das der finnische Wissenschaftler Juhani Ilmarinen begründet hat. Das Modell zeigt die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Arbeitsfähigkeit eines Menschen.
Im GINO-Universum finden wir dieses Modell auf dem Planeten Arbeitsfähigkeit, der sich nahe am Planeten Gesundheit bewegt. Der Planet Arbeitsfähigkeit ist geprägt von den individuellen Faktoren persönliche Gesundheit und Gesundheitsverhalten sowie den Faktoren aus dem Arbeitskontext der Organisation. Beide Seiten stehen in Wechselwirkung zueinander. Wie gut Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsfähigkeit entfalten können, hängt davon ab, wie ausgewogen die verschiedenen Faktoren sind. Zusammen mit dem persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Umfeld sind sie die Handlungsebenen, um eine gute Arbeitsfähigkeit auf- und auszubauen.
Ein näherer Blick auf dieses Modell bringt weitere Erkenntnisse: Die wichtigste Einflussgröße der Arbeitsfähigkeit stellt die persönliche Gesundheit des Individuums dar – sein körperliches, psychisches, geistig-mentales Leistungsvermögen. Sind die Gesundheit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, leidet immer auch die Arbeitsfähigkeit. Wenn Sie in Ihrem Unternehmen also die Gesundheitskompetenz der Menschen fördern, investieren Sie gleichzeitig in die Basis der Arbeitsfähigkeit.
Abb. 3: Planet der Arbeitsfähigkeit nach J. Ilmarinen
Die zweite und dritte Größe sind weitere individuelle Ressourcen in Form von Stärken und Bedürfnissen – von der Qualifikation über Fertigkeiten bis hin zu den Werten und Einstellungen der Person. Verfügt der Mensch in ausreichendem Maße über die notwendigen fachlichen und sozialen Kompetenzen, um seine Arbeit konstruktiv zu bewältigen, fühlt er sich handlungsfähig und bleibt gesund. Die gesundheitsförderliche Organisation sorgt dafür, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den Erwerb und Ausbau notwendiger Kompetenzen auch den zukünftigen Anforderungen gewachsen sind.
Sind die persönliche Einstellung zur Arbeit und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter positiv und stimmen die persönlichen Wertvorstellungen mit den in der täglichen Arbeit erlebten überein, wirkt sich das auf die Arbeitsfähigkeit und das Arbeitsklima in Ihrem Unternehmen aus. Diese Ebene ist eng verbunden mit dem vierten Faktor: den Ressourcen des Betriebs in Form von Arbeitsumgebung, Arbeitsinhalt und Arbeitsorganisation.
Vielfältige, anspruchsvolle Aufgaben mit ausgewogenen Handlungsspielräumen, störungsfreies Arbeiten sowie ausreichend Arbeitsraum und Arbeitsmittel stellen positive Bedingungen für die Arbeitsbewältigung dar. Die Ressource Führung hat jedoch den größten Einfluss auf die Motivation und Einstellung und somit auf die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. So beeinflusst zum Beispiel ein positives, wertschätzendes Führungsverhalten die Arbeitsfähigkeit doppelt so stark wie vermehrte körperliche Aktivität.
Es braucht also individuelle Gesundheitskompetenzen und gesundheitsförderliche Verhältnisse, damit Arbeitsfähigkeit erhalten bleibt. Die betrieblichen Verhältnisse tragen zu 60 % dazu bei, der Mensch mit seinem Verhalten zu 40 %. Indem sowohl Ihre Organisation als auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter proaktiv Verantwortung übernehmen und menschliche sowie betriebliche Ressourcen laufend angepasst werden, wird das Haus der Arbeitsfähigkeit zu einem Wohlfühlort, der menschliche und ökonomische Erfolge ermöglicht.
[27]TO THE POINT
Wir achten in der Beratung zur Betrieblichen Gesundheitsförderung besonders darauf, dass die Maßnahmen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene stimmig sind, also zum jeweiligen Unternehmen und zu den Personen passen. Wie Sie in Ihrem Unternehmen darauf achten können, lesen Sie in den folgenden Kapiteln.
1 Bruch und Kowalevski (2013).
2 Bruch und Kowalevski (2013).
3 Shilton et al. (2011).
4 Badura, Münch und Ritter (1999).
5 Deutsche Gesellschaft für Personalführung (2004).
6 Schulze und Eidenmüller (2013).
7 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/oesterreich/449937_Mehr-Stress-mehr-Kosten.html(letzter Zugriff: 20.07.2020).
8 Waltersbacher et al. (2018).
9 Ramaciotti und Perriard (2003).
10 Kloimüller und Czeskleba (o. J., 2013).
11 Erasmus Medical Center Rotterdam, T. Vandenberg, 2009.
Nach einem ersten Blick auf die Gesundheit widmen wir uns nun dem nächsten Planeten im GINO-Universum. Sein Name fällt nicht selten im beruflichen Bullshit-Bingo. Denn in den vergangenen Jahren haben die Buzzwords »Innovation« und »Digitalisierung« anderen Begriffen des Wissensmanagements deutlich den Rang abgelaufen. Unzählige Bücher wurden veröffentlicht, und Preise für Innovation sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Laufend gewinnen neue Start-ups Investoren und holen sich staatliche Förderungen im Millionenbereich. Sogar die Unterhaltungsindustrie hat das Thema aufgegriffen und lässt Jungunternehmer in Fernsehshows mit ihren innovativen Produkten und Dienstleistungen auf die Bühne treten. Was noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war, zeigt sich nun vermehrt auch anhand der Erfolgsgeschichten von Start-ups: Ressourcenschwachen, aufstrebenden Unternehmen gelingt es schneller, erfolgreiche Produkte auf den Markt zu bringen als ressourcenstarken Marktführern.12
Wo sich einst Wettbewerbsvorteile auf Faktoren wie Kosten und Qualität zurückführen ließen, sind es heute Indikatoren wie Innovation, Kreativität und Entwicklung, die über den Erfolg eines Unternehmens entscheiden.13 Namhafte Firmen wie OSRAM haben bereits begonnen, diesen Innovationsgeist ins Unternehmen zu holen: Fluxunit heißt die Venture-Capital-Einheit von OSRAM mit Sitz in München. Der unternehmenseigene Accelerator wurde 2016 gegründet, um innovative Geschäftsmodelle für OSRAM zu entwickeln. Fluxunit arbeitet fachlich eng mit der Innovations- und Strategieabteilung des Mutterunternehmens zusammen. Dabei liegt der Fokus auf Minderheitenbeteiligungen an innovativen Early-Stage-Start-ups, aber auch innovative Teams innerhalb von OSRAM sollen aktiviert werden.
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine exponentiell steigende und stark ausdifferenzierte Bandbreite an Innovationsmanagementliteratur, -trainings und -beratungsangeboten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden auf Schulungen geschickt, Tischkicker aufgestellt und Beratungsleistungen eingekauft. Evaluierungen haben jedoch ergeben, dass diese gut gemeinten Initiativen oft ins Leere laufen und Ergebnisse und Veränderungen nicht sichtbar werden. Salopp formuliert: Es ist immer blöd, wenn Bemühungen zu nichts führen. Nicht nur ärgerlich, sondern auch gefährlich wird es allerdings, wenn zu kurz gegriffene Innovationsmaßnahmen Teil eines Innovationstheaters sind, in dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach außen brav mitspielen, hinter vorgehaltener Hand aber die Sinnhaftigkeit bezweifeln und innerlich den neuesten Veränderungstrend vorbeziehen lassen. Ganz nach Professor Kruses 8 Regeln für den totalen Stillstand: »Bei uns ist das mit Veränderungen wie mit der Grippe: Das [30]dauert mit Arzt 14 Tage, ohne Arzt zwei Wochen. Da musst du warten, das geht vorbei.«14 Selbst der teuerste Tischkicker macht also nicht automatisch innovativer.
Abb. 4: Buzzworddarstellung Innovation
Der Begriff »Innovation« wird in Theorie und Praxis sehr breit ausgelegt. Dabei fehlt es an einer einheitlichen Definition und damit auch an einem allgemeingültigen Verständnis. Wir möchten mit diesem Buch keine weitere Definition hinzufügen, sondern die Relevanz von Innovationen in Unternehmen aus Sicht der Organisations- und Personalentwicklung schärfen.
Wenn Sie sich vertieft mit dem theoretischen Begriff beschäftigen möchten, dann legen wir Ihnen die Arbeiten von Joseph Schumpeter, dem Gründervater der Innovationstheorie, ans Herz. Der Großteil der in den letzten Jahren veröffentlichten Literatur zu Innovation im Unternehmen lässt sich von seinen Theorien ableiten. Schumpeters Definition eines innovativen [31]oder dynamischen Unternehmens, das Möglichkeiten erkennt und neue Ideen verwirklicht, ist zudem fast identisch mit dem heutigen Begriff des Unternehmertums (= Entrepreneurship).
Zum besseren Verständnis hier die fünf Kriterien für Innovationen nach Schumpeter:15
Abb. 5: Die fünf Kriterien für Innovationen nach Schumpeter
Durch diese Systematisierung wird deutlich, dass Innovation in allen Unternehmensbereichen relevant und wirksam sein kann – bei bestehenden ebenso wie neu gegründeten Unternehmen.
In unseren Coachings und Workshops beobachten wir, dass Führungskräfte, Entscheiderinnen und Entscheider oft abwinken, wenn wir auf das Thema Innovation zu sprechen kommen. Bei Innovation denken sie häufig an große internationale Konzerne, die die neuesten Produkte und Dienstleistungen auf den Markt bringen. Dass sie tagtäglich mit der erhaltenden Innovation konfrontiert sind, ist ihnen häufig nicht bewusst. Bestehendes kontinuierlich zu verbessern und weiterzuentwickeln bezeichnen wir gerne als natürlichen Vorgang, der – bewusst oder unbewusst – im Unternehmen spürbar ist. Gefährlich wird es dann, wenn darauf nicht eingegangen wird, sondern Führungskräfte diese Zeichen ignorieren. Die inkrementelle Innovation, bei der bestehende Prozesse, Organisationsstrukturen bzw. bereits existierende Produkte und Dienstleistungen schrittweise verbessert werden, ist Voraussetzung für das Überleben aller Unternehmen.
Bei radikalen Veränderungen oder disruptiven Innovationen handelt es sich hingegen um Innovationen, die für das Unternehmen oder den Markt neu sind. Oft entstehen sie in Segmenten oder durch Organisationsformen, die für renommierte Unternehmen aktuell nicht interessant sind, da sie nicht lukrativ erscheinen.16
In Anbetracht dieser Unterscheidung von Innovationen fragen Sie sich vielleicht, welche Innovationsart denn nun die nachhaltigste und effektivste ist. Sollten Sie eher auf inkrementelle Innovationen setzen oder sich doch besser dem radikalen Innovationspotenzial widmen? Ist es ertragreicher, auf Produktinnovationen zu bauen, oder besser, Prozessinnovationen voranzutreiben? Wäre es nicht sinnvoll, sich Marketinginnovationen anzunehmen oder Ressourceninnovationen zu implementieren? Genauso gut ließe sich argumentieren, dass nachhaltige Innovationsfähigkeit nur im Zuge von Organisationsinnovationen entstehen kann.
Standardisierte und patentierte Lösungen gibt es viele, und es ist verlockend, auf diese zurückzugreifen. Doch es wäre ebenso populistisch wie absurd und allzu stark vereinfacht, auf diese Weise an die Sache heranzugehen. Eine Reihung der Lösungen nach Wertigkeit vorzunehmen und den »one best way« zu beschreiben, wäre unseriös und wenig zielführend. Denn mit Unternehmen ist es wie mit Schneeflocken: Sie sind organische Materie, und es lassen sich nie exakt zwei identische finden. Vergessen Sie nicht: Die Einzigartigkeit und Individualität Ihres Unternehmens steht über jeder standardisierten Handlungsimplikation. Denn die Innovationskraft eines Unternehmens obliegt letztlich immer nur der Innovationskraft seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der vorherrschenden Kultur und Struktur.