Michael Sztenc

Embodimentorientierte Sexualtherapie

Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel

Mit einem Geleitwort von Ulrich Clement

Impressum

Dipl.-Psych. Michael Sztenc

LiebesLeben – Paar- und Sexualtherapie

www.sztenc.de

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Schattauer

www.schattauer.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Gemäldes von Jutta Herden

Lektorat: Mihrican Özdem

Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608- 40053-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11641-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20487-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Geleitwort

Na endlich! Seit Jahren sind die Vertreter des Approche Sexocorporelle dabei, in intensiven und gründlichen Weiterbildungen ihren Ansatz zu unterrichten und zu verbreiten. Mündlich. Als »oral tradition«. Warum jahrzehntelang keiner der sprachmächtigen und auftrittsstarken Hauptvertreter sich ans Schreiben gemacht hat, ist ihr gut gehütetes Geheimnis. Dabei wäre es gerade für diejenigen, die das Lesen als verbreitete Kulturtechnik schätzen und die vielleicht die im Gruppenklima des Seminars erfahrene Konzeption noch einmal in Ruhe überdenken wollen, eine gute Vertiefungsmöglichkeit.

Nun ist mit dieser Enthaltsamkeit Schluss. Und das ist gut so. Michael Sztenc hat mit »Embodimentorientierte Sexualtherapie« ein Buch vorgelegt, das theoretische Flughöhe mit praxisnaher Erdung verbindet. Dabei macht er es Leserinnen und Lesern nicht leicht. Er fordert einen ganz schön, gerade in der ersten Hälfte, in welcher er seinen Zugang zur Theorie des Embodiment sehr präzise ausführt – mit dem »Charme einer Denksportaufgabe«, wie er selbst sagt. Also ziemlich brainy. Aber es schadet ja nicht, wenn man etwas intellektuelle Anstrengung braucht, um z. B. den Unterschied zwischen enacted, extended und enagiert zu verstehen. Das ist zwar passagenweise nicht ganz süffig, aber mir gefällt es, dass Michael Sztenc den Sexocorporel-Ansatz so ausführlich theoretisch begründet, gerade weil sonst der Reichtum an körperorientierten Vorgehensweisen die weniger theorie-affinen »Tooligans« leicht verlocken kann, wahllos drauflos zu intervenieren.

Dass es um eine Theorie der embodimentorientierten Sexualtherapie geht und nicht einfach um ein paar kreative Körperübungen mehr, zieht sich als überzeugender Refrain durch das ganze Buch. Man mag ja (wie z. B. ich) die Typologie von Erregungsmodi ein bisschen überbewertet finden. Aber sie ist konsistent begründet und passt zur Theorie. Immerhin ist der Ansatz des Sexocorporel der einzige Sexualtherapie-Ansatz, der diese theoretisch begründet.

So verdient man sich das, was den zweiten Teil des Buches ausmacht: die schwungvolle Talfahrt zur Praxis! Von der Philosophie der Verkörperung zur Beckenschaukel. Vom Narziss zum Goldmund. Dieser Teil lebt vom Vergnügen an der Anschauung von lebendigen Menschen und vitalen »Aufgaben«. Die Fallbeispiele sind instruktiv und anschaulich. Auch wenn sie angenehm kurz gehalten sind, ist spürbar, dass Michael Sztenc nicht nur einen klaren Kopf für die Technik, sondern auch ein Herz für die Klient*innen hat. Da schreibt ein achtsamer Leidenschaftsermöglicher mit professioneller Klugheit und gut dosierter Empathie.

Mit ein paar abgrenzenden Sidesteps zur Systemischen Sexualtherapie und zum Hamburger Modell markiert der Autor sein Terrain, um dann gleich über schulenübergreifende Integration nachzudenken. Recht so! Praktische Integration verlangt klare theoretische Unterscheidungen. Mit diesem Buch sind jetzt aus meiner Sicht die Voraussetzungen gegeben, sich über die Unterschiede und Vereinbarkeiten der verschiedenen Sexualtherapieschulen auseinanderzusetzen. Na dann mal los!

Ulrich Clement

Heidelberg, im März 2020

Zum Autor

Mein Name ist Michael Sztenc, ich bin Diplompsychologe, Klinischer Sexologe ISI (Institut Sexocorporel International), Paar- und Sexualtherapeut, Sexualpädagoge, Gastdozent an der Hochschule Merseburg für Klinische Sexologie, ISI‑Ausbilder für Sexocorporel und Alba-EmotingTM-Teacher.

Ich bin Vorstandsmitglied des Instituts Sexocorporel International und Gründungsmitglied des Instituts für Embodiment und Sexologie sowie des Instituts Sexocorporel Deutschland.

In der therapeutischen Arbeit verbinde ich systemisches Denken mit körperorientiertem Handeln. Die Theorie des Embodiment liefert mir die epistemologischen Grundlagen dafür. Seit ich 2009 mit dem Sexocorporel in Berührung kam, fasziniert mich dieser Ansatz mit seiner konsequenten Berücksichtigung der Rolle des Körpers in all seiner Vielfalt.

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei allen Teilnehmenden meiner Seminare, Weiterbildungen und Workshops sowie bei all meinen Klient*innen! Es gibt kein besseres Lernfeld für mich.

Mein besonderer Dank geht an Sergio Lara Cisternas, von dem ich nicht nur seine Variante des Alba EmotingTM lernen durfte. Er hat mir die Ideen seines Freundes Francisco Varela nähergebracht und mir gezeigt, dass Embodiment viel mehr ist als nur eine Theorie. Bei Beverly Jahn bedanke ich mich für die vielen Stunden embodimentaler Fachsimpelei in Theorie und Praxis.

Ich bedanke mich bei Adele Gerdes, die mir eine Machete samt Kompass in die Hand gegeben hat, als ich mich im philosophischen Dschungel des Embodiment verlaufen hatte. Wertvolle Rückmeldungen habe ich von meinen Probeleser*innen bekommen: Werner Huwiler, Angelika Eck, Birte Nachtwey, Christoph Burkhardt und Volker Kalmbacher. Vielen herzlichen Dank für eure Zeit und euren Hirnschmalz!

Danke auch an Yvi und Florian, in deren Garten der Großteil dieses Buches entstanden ist.

Ein großes und sehr praktisches Dankeschön geht an Heike Kusterer, (m)eine geniale Physiotherapeutin, und Katrin Scherer, die in ihrer Körperschule in Saarbrücken so wundervolle Arbeit leistet. Neben vielen Inspirationen gab es hier nach all den Schreibtischstunden immer wieder Aufrichtung.

Ein sehr spezielles Dankeschön sage ich den Maori Neuseelands, deren Haka mich seit einigen Jahren auf vielfältige Art und Weise begleitet.

Und natürlich bedanke ich mich bei den vielen Menschen, von und mit denen ich Sexocorporel lernen durfte: Werner Huwiler, Linda Andreska, Karol Bischof, Stephan Fuchs, Wolfgang Kostenwein, Peter Gehrig, Francesca Galizia Thiele, Claude Roux-Deslandes, Martine Costes-Peplinski und viele andere mehr.

Last but not least geht ein riesengroßes Dankeschön an die, die sich mit mir am meisten darüber freut, dass dieses Projekt endlich abgeschlossen ist: meine Frau Susanne. Ich danke dir für dein Geben und Nehmen, dein Machen und Geschehenlassen, dein Fördern und Fordern und für all deine Liebe!

I

Grundlagen

1 Einleitung

Man kann nicht nicht kommunizieren mit dem Körper arbeiten.

(In Anlehnung an Paul Watzlawick)

Dieses Buch überträgt die Theorie des Embodiment auf die Sexualtherapie und entwickelt anhand des Sexocorporel-Ansatzes eine embodimentorientierte Sexualtherapie. Es verbindet damit eine umfassende Theorie des Verhältnisses zwischen Körper und Geist mit einem psychotherapeutischen Spezialgebiet. Obwohl Embodiment und Sexualtherapie gut zusammenpassen und viel miteinander zu tun haben, wurden sie bisher noch nicht wirklich systematisch in Verbindung gebracht.

Beide Felder sind alles andere als neu. Die Frage, ob und was Körper und Geist miteinander zu tun haben, beschäftigt Philosoph*innen sowie Forschende der ganzen Welt seit der Antike. Und wenn man Sexualtherapie als eine Sonderform der Psychotherapie betrachtet, hat auch diese eine lange Tradition.

Mit der Entwicklung von neueren Theorien über z. B. dynamische Systeme oder über künstliche Intelligenz, durch Erkenntnisse der (Epi-)Genetik oder auch der Neurobiologie wurde die alte Diskussion über das Verhältnis von Materie/Körper und Geist wieder neu aufgelegt und lange geltende Sichtweisen wurden in Frage gestellt. Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass der Körper-Geist-Dualismus, die »gute alte cartesianische Spaltung«, ersetzt werden sollte durch eine Sichtweise, die Körper und Geist nicht mehr grundsätzlich trennt, sondern als Einheit betrachtet.

In der Psychotherapie ist ein ähnliches Umdenken am Werk. Die Psychoanalyse, wie Freud sie formulierte, war stets körperorientiert. Es ging Freud immer um eine Verankerung des psychischen Erlebens in körperimmanenten Trieben und Kräften. Auch seine Phasenlehre entwickelte sich entlang der körperlichen Entwicklung von oral über anal zu genital.

Der Behaviorismus als Gegenbewegung dazu orientierte sich am Pragmatismus: klare Reiz-Reaktions-Ketten, durch Lerngesetze determiniert und beschreibbar. Das subjektive Erleben wurde der Blackbox zugeordnet, von deren Komplexität man besser die therapeutischen Finger lässt. Die zweite Welle der Verhaltenstherapie hat die Blackbox geöffnet und zumindest die Kognitionen herausgeholt. Die neue, damals revolutionäre Idee war, dass Gedanken durchaus in der Lage sind, die Reiz-Reaktions-Kette zu modifizieren. Die dritte Welle der Verhaltenstherapie öffnet die Blackbox noch weiter und berücksichtigt auch die Emotionen. Womit sie zwangsläufig beim Körper landet. Das Neue daran war bzw. ist die Vorstellung, dass sich Verhalten gestalten lässt, indem die innere Aufmerksamkeit, die sogenannte Achtsamkeit, auf die körperlichen Prozesse gerichtet wird, die mit Emotionen und Kognitionen einhergehen.

Damit hat die moderne Verhaltenstherapie eine Wirkweise entdeckt, derer sich die humanistischen Therapien schon lange bedient haben. Den humanistischen Vertretern war es allerdings bisher nicht überzeugend gelungen, ihrem Handeln ein theoretisches Gerüst zu unterlegen, das den jeweils zeitgenössischen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit genügte. Gerade im Bereich der körperorientierten Psychotherapien, die überwiegend den humanistischen Ansätzen zuzuordnen sind, wurde oft auf ein ursprünglich von Reich entwickeltes Konzept einer allgemeinen Lebensenergie zurückgegriffen. Das passte zwar sehr schön zu Ideen der östlichen Philosophien, konnte aber in der westlichen Wissenschaft nie Fuß fassen.

Innerhalb der Psychotherapie hat die Sexualtherapie eine Sonderstellung. Lange galt sie nur als Nebendisziplin, denn die grundlegende Idee war, dass sich Sexualität wie selbstverständlich durch eine erfolgreiche Psychotherapie mitentwickelt.

In den 1970er-Jahren wurde die Sexualtherapie eine eigenständige Therapieform, die inzwischen zahlreiche Veränderungen und Entwicklungen durchlaufen hat. Allerdings findet sich in keinem der aktuell renommierten Systeme eine Berücksichtigung des Körpers in der Art, wie es das Modell des Embodiment beinhaltet. Eine Ausnahme ist zu nennen: der Ansatz des Sexocorporel.

Dieser Ansatz wird seit 2004 in Deutschland in Ausbildungen gelehrt und konnte sich inzwischen innerhalb der Sexualtherapien etablieren. Er ist nicht unumstritten, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass viele Behauptungen aufgestellt werden, ohne sie wissenschaftlich kausal zu begründen. Das Konzept des Embodiment als Metatheorie füllt genau diese Lücke und macht den Sexocorporel anschlussfähig an bestehende wissenschaftliche Theorien.

Dieses Buch verfolgt drei Ziele:

Die Quintessenz des Buches lässt sich auf einen Satz reduzieren: Sexualität ist verkörpert. Das klingt so banal und simpel, dass die meisten Sexualtherapeut*innen erst einmal zustimmen könnten. Natürlich hat Sex mit dem Körper zu tun, aber: Wieso muss man über eine Selbstverständlichkeit ein Buch schreiben?

Gegenfrage: Wenn das so selbstverständlich wäre, wieso wird der Körper dann in Sexualtherapien so wenig berücksichtigt? In der Sexualtherapie wird viel von Begehren gesprochen, dabei wird die Intentionalität der Beteiligten fokussiert: Was wollen die? Was sind ihre wahren Bedürfnisse, Motivationen und Absichten, die sie in sexuelle Handlungen bringen – oder sie vermeiden lassen? Der Körper hat dabei die Rolle der Trägersubstanz, die den Kopf trägt, in welchem sich das Hirn befindet, in dem sich das Wichtige abspielt.

Es ist nicht so, dass der Körper gar nicht in die Sexualtherapie einbezogen wird – schließlich sitzen ja Körper im Therapieraum und tun etwas miteinander. Aber auch wenn auf das körperliche Tun fokussiert wird, wie z. B. in den Übungen des »Sensate Focus«, wird das Geschehen auf seine Bedeutung untersucht, die es für die gemeinsame Beziehung hat. Die direkte Interaktion »Wer tut was wie? Welche Handlung entsteht, welches Erleben?« bildet nur den Hintergrund, von dem auf Bedeutung geschlossen wird. Diese Bedeutung ist, wie im Folgenden dargestellt wird, eine verkörperte.

Wer die Hoffnung hat, innerhalb der körperorientierten Psychotherapie das Thema Sexualität ernsthaft behandelt zu finden, wird ebenfalls enttäuscht. Im »Handbuch der Körperpsychotherapie« (Marlock & Weiss, 2006) gibt es eine umfassende Darstellung bestehender körperpsychotherapeutischer Systeme. Es gibt darin ein einziges Kapitel1 mit 11 Seiten, das sich explizit mit Sexualität beschäftigt. Das Buch hat 999 Seiten.

Die Perspektive, die hier entwickelt wird, geht weit über eine simple Einbeziehung des Körpers hinaus. Sie legt den Körper, oder besser gesagt das Körperliche, dem sexuellen Geschehen zugrunde. Bei dem Tanz von Körper, Emotion, Kognition und Umwelt schreibt sie dem Körper die führende Rolle zu.

Dieses Buch versteht sich als ein erster Entwurf, der weiterentwickelt werden will. Der hoffentlich polarisiert und zu Widersprüchen ver-führt, der neue Fragen eröffnet und zu weiteren Er-Forschungen anregt.

Lässt man den Satz »Sexualität ist verkörpert« etwas wirken, taucht die Frage auf »Verkörpert? Was soll das sein?« Verkörperung bedeutet – ganz allgemein gesagt –, dass die Art und Weise, mit der die vorhandene körperliche Ausstattung genutzt wird, das Erleben und Verhalten dieses Organismus in seiner Umwelt bestimmt. Auf den Kontext menschlicher Sexualität in einer industrialisierten Leistungsgesellschaft übertragen: Die Art und Weise, wie ein Mensch etwas macht, also wie er mit seinem Körper seine Sexualität in Szene setzt (inszeniert/enagiert), geht damit einher, was er dabei körperlich wahrnimmt, fühlt und denkt. Gleichzeitig wirkt sich das, was ein Mensch während einer sexuellen Interaktion fühlt und denkt, auf seine körperlichen Prozesse aus. Das heißt, die Ebenen der Handlung, der körperlichen Wahrnehmung, des emotionalen und kognitiven Geschehens werden stets in ihren Wechselwirkungen berücksichtigt. Und das vor dem Hintergrund der Einbettung in einen soziokulturellen Kontext. So geht ein Kuss mit offenem Mund, weichen Lippen und tiefem Atem mit anderen Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken einher als eine kurze Lippenberührung mit geschlossenem Mund und Spannung in den Lippen. Ein leidenschaftlicher Zungenkuss unterscheidet sich auf allen Ebenen von einem schnellen Verabschiedungskuss.

Das Buch beginnt mit einer Darstellung der Theorie des Embodiment und leitet daraus relevante Aspekte für die Sexualtherapie ab. Obwohl (bzw. weil) es um körperliches Erleben geht, hat die theoretische Ebene des Embodiment stellenweise den Charme einer Denksportaufgabe. Anschließend werden Forschungsergebnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wiedergegeben, die die Grundannahmen des Embodiment veranschaulichen.

Das 5. Kapitel überträgt die Annahmen des Embodiment und Enaktivismus auf den Bereich der Sexualtherapie. Hier werden die Ableitungen aus dem theoretischen Grundgerüst für den Kontext Sexualtherapie konkretisiert und anhand des Sexocorporel sexualtherapeutisch umgesetzt. Daran schließt eine Beschreibung des therapeutischen Vorgehens an. Kapitel 6 beschreibt die prozesssteuernden Leitlinien und die grundlegenden Prinzipien der Interventionen. Im 7. Kapitel werden die klassischen sexuellen Funktionsstörungen aus einer embodimentalen Perspektive betrachtet. Daraus ergeben sich eine veränderte Einteilung und eine neue Kategorie der sexuellen »Störungen«. Eine Darstellung der Vor- und Nachteile der Kombination von Embodiment und Sexocorporel schließt das Buch mit den Kapiteln 8 und 9 ab.

Die wichtigsten Prinzipien wiederholen sich in den einzelnen Kapiteln, sodass die Kapitel auch einzeln lesbar sind. Diejenigen, denen die Unterschiede zwischen Extended- und Enacted-Mind geläufig sind, können die Kapitel 2 bis 4 getrost überspringen.

2 Embodiment: Theorie

Untersuchen Sie ein Baby, so viel Sie wollen, Sie finden niemals heraus, dass es ein Zwilling ist.

(Ezequiel Di Paolo)

2.1 Zum Begriff Embodiment

Embodiment ist ein sehr inflationär benutzter Begriff. Google findet über 35 Millionen Ergebnisse für den Suchbegriff Embodiment. Gerne wird es als Begründung für körperorientiertes Vorgehen oder Einbeziehung des Körpers herangezogen. Allerdings ist Embodiment ein sehr großes Feld, sodass mit der bloßen Erwähnung des Begriffes alles und nichts gesagt ist.

Eine erste Annäherung an eine befriedigende Definition von Embodiment liefert Geuter (2015, S. 82). Er nennt drei Ebenen, auf denen der Begriff verwendet wird:

Jede der drei Ebenen bildet nur einen Teil des Embodiment ab und auch in ihrer Gesamtheit fehlen wichtige Aspekte.

Das verwirrende am Begriff Embodiment ist die Tatsache, dass er sowohl eine Gruppe von Ansätzen (der 4-E-Ansatz, ▶ Kapitel 2.2) als auch einen Ansatz innerhalb dieser Gruppe selbst bezeichnet, wodurch Kategorienfehler unvermeidlich sind. Leider wird dadurch oft unklar, auf welcher Ebene des Embodiment sich ein Autor befindet, wenn er von Embodiment spricht, und was genau damit gemeint ist.

»In a nutshell«, auf das Wesentliche reduziert, besteht die Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze lediglich in der Aussage: Körper und Geist haben »etwas« miteinander zu tun. Die einzelnen Ansätze unterscheiden – und widersprechen – sich zum Teil sehr in ihren Ansichten, was denn genau Körper und Geist miteinander zu tun haben, was für das Verständnis nicht gerade hilfreich ist.

Als Bezeichnung für ein grundlegendes Paradigma umfasst Embodiment Theorien aus der Philosophie, der Kognitionspsychologie, der Emotionstheorie, der Soziologie, der Biologie, der Theorie dynamischer Systeme, der Informatik, der Künstlichen Intelligenz (KI) und anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Des Weiteren haben sich verschiedene Forschungsbereiche dem Embodiment gewidmet. In den Kognitions- und Emotionswissenschaften, der KI-Forschung sowie auch in der Psychotherapieforschung wurde das Konzept aufgegriffen (▶ Kap. 3).