Bindung und Geschwister

Vorbilder, Rivalen, Verbündete

Herausgegeben von Karl Heinz Brisch

Impressum

Die Beiträge von Orit Cohen und Michael Katz, von Pasco Fearon, von Alexander Kriss, Howard Steele und Miriam Steele, von Thomas G. O’Connor, von Peter D. Stacy und Christine Black-Hughes sowie von Brenda L. Volling, Tianyi Yu, Richard Gonzalez, Denise E. Kennedy, Lauren Rosenberg, Wonjung Oh wurden von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

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Cover: Bettina Herrmann, unter Verwendung einer Abbildung von © S. Kobold, Adobe Stock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98375-3

E-Book: ISBN 978-3-608-12048-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20459-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Vom 13. bis 15. September 2019 wurde vom Institut für Early Life Care der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) Salzburg eine internationale Konferenz mit dem Titel »Bindung und Geschwister« (»Attachment and Siblings«) durchgeführt. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für den Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass er die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchte. Die Thematik des vorliegenden Konferenzbandes umfasst eine Vielzahl von Aspekten aus den Bereichen »Bindung«, »Geschwister«, »Kinder mit kranken Geschwistern«, »Dynamiken zwischen Geschwistern« in der Familie, ihr Wiederaufleben in Paarbeziehungen, Teams, Gruppen, »Bedeutung von Erfahrungen mit Geschwistern für die eigene Persönlichkeitsentwicklung« sowie »Psychotherapie und Intervention«.

Das emotionale Band zwischen Geschwistern ist ein besonderes, denn es geht dabei meist um die dauerhafteste Beziehung im Leben eines Menschen. Diese lebenslängliche Verbundenheit führt zu einer ganz besonderen Intimität, welche durch das gemeinsame Aufwachsen und das Teilen gemeinsamer Erfahrungen und Erinnerungen entsteht. Geschwisterkinder füllen viele unterschiedliche Rollen aus: Sie sind Vorbilder, Rivalen und Verbündete – wobei in allen Rollen die Bindung zwischen den Geschwistern zum Tragen kommt. Anders als frei gewählte Freundschaften bedeuten Geschwisterbeziehungen eine Art Schicksalsgemeinschaft, da man sich miteinander auseinandersetzen muss, auch wenn man sich unter anderen Umständen eher aus dem Weg ginge. Geschwisterbeziehungen können so einerseits in vielen Bereichen als große emotionale Ressource wirken, andererseits von tiefen und heftigen Konflikten bis zu traumatischen Erfahrungen (etwa durch eine chronische Erkrankung, den Verlust eines Geschwisterkindes oder sogar durch körperliche und sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern) geprägt sein.

Die Beiträge dieses Buches setzen sich mit helfenden, heilenden wie zerstörerischen Aspekten im Kontext von Bindung und Geschwisterbeziehung auseinander. Führende, international renommierte Fachleute, Kliniker und Forscher geben hier Antworten auf Fragen im Rahmen der skizzierten Thematik und berichten über die neuesten Erkenntnisse und Ergebnisse aus ihren Studien, die uns für die Problematik sensibilisieren sowie aktuelle Entwicklungen, auch in Therapie und Prävention, aufzeigen sollen.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben ihre Vorträge aus der Konferenz niedergeschrieben und ausgearbeitet und für die Publikation zur Verfügung gestellt – dafür gilt ihnen ein großer Dank. Herzlich danke ich Ulrike Stopfel, die wiederum, wie in den vergangenen Jahren, die englischsprachigen Beiträge in exzellenter Qualität übersetzt hat. Ein besonderer Dank gilt auch der hervorragenden Arbeit von Thomas Reichert, der die einzelnen Manuskripte rasch und sorgfältig editiert hat. Ich danke sehr Dr. Heinz Beyer sowie Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta, die mit großem Engagement die Herausgabe dieses Buches beim Verlag ermöglicht und die rasche Herstellung gewährleistet haben.

Das Buch richtet sich an Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen sowie an Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, Richterinnen und Richter, Umgangspflegerinnen und Umgangspfleger, zudem an alle, die mit der gesunden Entwicklung von Geschwisterbeziehungen in Begleitung, Beratung, Diagnostik und Therapie befasst sind. Ihr Engagement ist insbesondere dann gefragt, wenn aus Geschwisterbeziehungen und deren entsprechender Dynamik psychische Störungen entstehen.

Ich hoffe sehr, dass dieses Buch allen hilft, die im Kontext von Begleitung, Beratung und Therapie sowie sozialer Arbeit für Familien, Paare, Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig sind. Es soll auch denjenigen wichtige Anregungen geben, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen in diesem Zusammenhang befasst sind, die Präventionsprogramme entwickeln bzw. entwickelt haben, damit Störungen aus Geschwisterbeziehungen zeitig erkannt und eine primäre Prävention möglich werden. Solche frühen Hilfestellungen sind besonders dann notwendig und wichtig, wenn es zu Gewalt, Misshandlungen und Missbrauch gegenüber Geschwisterkindern durch Erwachsene, aber auch zwischen den Geschwistern kommt.

Der Band gibt durch die Vielfalt seiner Beiträge aus Forschung, Klinik und Praxis einen guten Überblick über die Thematik und sorgt für zahlreiche Anregungen.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch enthält eine Reihe von Beiträgen aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention, die sich aus den verschiedensten Perspektiven mit dem thematischen Zusammenhang von »Bindung und Geschwistern« auseinandersetzen.

Entsprechend werden sowohl Ergebnisse aus der Forschung vorgestellt als auch Erfahrungen aus der klinischen und therapeutischen Arbeit vermittelt, um die Möglichkeiten und die Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung und Therapie von leiblichen Geschwisterkindern, traumatisierten Kindern, Stief-, Adoptiv- und Pflegegeschwistern in unterschiedlichen Settings aufzuzeigen und auch Möglichkeiten der Prävention zu vermitteln. Die Beiträge machen deutlich, dass das Geschwisterthema nicht nur im privaten Bereich – mit Schwangerschaft, frühkindlicher Entwicklung, Adoleszenz, Beziehung von erwachsenen Geschwistern –, sondern auch etwa im beruflichen Kontext (Stichworte: Gruppen, Teams) Bedeutung hat. Auch für die Resilienzforschung und die Prävention sind die Themen, die mit Geschwisterbeziehungen zusammenhängen, von großer Relevanz.

Der Band beginnt mit einer grundsätzlichen Einführung in die Geschwisterthematik von Jürgen Frick, der anhand der vorliegenden Forschungsergebnisse differenziert herausarbeitet, welche Bedeutung die Geschwisterbeziehung für das Leben jedes Einzelnen hat.

Die Geburt eines Geschwisterkindes erfordert erhebliche Anpassungsleistungen vonseiten der Eltern, aber auch der schon vorhandenen Kinder. Dabei beeinflusst die Bindung an Mutter und Vater die sich entwickelnden Beziehungen zu dem gerade geborenen neuen Geschwisterkind. Brenda Volling hat sich mit dieser Thematik in einer großen Längsschnittstudie beschäftigt und stellt mit ihren Co‑Autorinnen und -Autoren eindrückliche Ergebnisse aus ihren Studien dar.

Thomas O’Connor diskutiert anhand der vorliegenden wenigen Studien die Frage, ab wann und durch welche Erfahrungen aus einer Geschwister-Beziehung eine Geschwister-Bindung wird und wodurch diese – im Unterschied zur Eltern-Kind-Bindung – geprägt ist. Hierbei werden auch Ergebnisse zur Biologie, etwa zur Bedeutung der Genetik, und zum Einfluss des von Geschwistern geteilten gemeinsamen Lebensraums in der Familie – bei jeweils individuellen Erfahrungen mit den gleichen genetischen Eltern – berücksichtigt.

Die frühkindlichen Geschwistererfahrungen – und hier besonders die sicheren Bindungserfahrungen sowie Zusammenhänge zwischen den Bindungsrepräsentationen der Geschwister – haben Auswirkungen auf die Bindungsentwicklung eines Kindes im späteren Leben, wie die Ergebnisse aus der Längsschnittstudie von Alexander Kriss sowie Howard Steele und Miriam Steele belegen. Auch Pasco Fearon beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung von Geschwisterbeziehungen für die Entwicklung von unterschiedlichen Bindungsqualitäten und Bindungsrepräsentationen bei Geschwistern.

Wie frühkindliche Bindungserfahrungen voraussagen können, wer von den Geschwisterkindern eine Form der psychischen Resilienz entwickeln wird und wer eher nicht, berichten Peter Stacy und Christine Black-Hughes aus ihrer großen Studie zur Resilienzforschung.

Wenn ein Geschwisterkind in einer Familie an einer chronischen Erkrankung leidet, belastet dies zunächst einmal die Eltern, aber im weiteren Kontext auch jedes seiner gesunden Geschwister. Der Beitrag von Christiane Knecht beschäftigt sich gerade mit dem oft vernachlässigten Aspekt, wie gesunde Geschwisterkinder es bewältigen, wenn ein Kind in ihrer Familie chronisch erkrankt ist.

Ein großes Tabuthema ist sexualisierte Gewalt unter Geschwisterkindern; hier entsteht durch die inzestuöse Erfahrung eine besondere Psychodynamik, die die Geschwister sehr belasten kann, die daher dringend Hilfsangebote und Unterstützung benötigen, wie Monika Bormann aus ihrer langjährigen klinischen Erfahrung zu berichten weiß.

Auch andere Formen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung können Geschwisterkinder und ihre Beziehung sehr belasten. Welche Rolle hierbei Nähe, Wertschätzung und Fürsorge zwischen den Geschwisterkindern spielen, zeigt der Beitrag von Susanne Witte.

Wenn Kinder in Obhut genommen werden müssen, sind nicht selten mehrere Geschwisterkinder in einer Familie von traumatischen Erfahrungen betroffen. In diesem Kontext stellt sich immer wieder die Frage, ob Geschwisterkinder gemeinsam oder voneinander getrennt fremd untergebracht werden sollen. Welche Belastungen und Ressourcen sich hieraus ergeben, berichtet Daniela Reimer auf dem Hintergrund ihrer klinischen Erfahrung sowie ihrer Forschungsergebnisse.

Verstirbt ein Geschwisterkind, so erlebt die gesamte Familie Trauer und Schmerz. Welche Rolle spielt die Erfahrung des Verlustes für die hinterbliebenen Geschwisterkinder im Hinblick auf Bewältigungsstrategien und ihre weiteren Beziehungen? Hierzu haben Orit Cohen und Michael Katz sehr überzeugende Forschungsergebnisse vorgelegt, die auch für die Prävention von großer Bedeutung sein können.

Auch in Paarbeziehungen treten Geschwisterdynamiken in der Übertragung auf; so hat nicht selten jemand gewissermaßen den eigenen großen Bruder oder die kleine Schwester geheiratet; mit entsprechenden Konflikten und psychodynamischen Prozessen ist zu rechnen, die in der Paartherapie dann entsprechend berücksichtigt werden müssen, wie Susanne Pointner aus ihrer langjährigen klinischen Erfahrung als Paartherapeutin differenziert an Beispielen zu vermitteln weiß.

Alexander Trost sieht auf eine langjährige systemische therapeutische Erfahrung zurück, die er in seinem Beitrag fruchtbar macht. In jeder systemischen Therapie bilden die Erfahrungen der Geschwister miteinander und ihre Bindungsbeziehungen im Familiensystem einen wichtigen Fokus, wie Alexander Trost aufzeigt.

Karl Heinz Brisch beschreibt, wie sich in Teams sowie in Gruppentherapien Geschwisterdynamiken wiederfinden, die fast allgegenwärtig sind und entsprechend Teams sehr erfolgreich machen oder auch blockieren können. Im schlimmsten Fall kann es zu Mobbing und allen Formen von Gewalt zwischen den Gruppenmitgliedern kommen und unverarbeitete Geschwistererfahrungen aus der Ursprungfamilie können sich unbewusst im Team wiederholen.

Die Beziehungen von Stiefgeschwistern zu leiblichen Geschwistern sowie den leiblichen Eltern und Stiefeltern können durch konfliktreiche, belastende Erfahrungen gekennzeichnet sein. Zur Lösung dieser Dynamiken ist eine langfristige Unterstützung und auch therapeutische Begleitung hilfreich, damit aus Stiefgeschwistern im besten Fall »Bonus«-Geschwister werden können, wie Brisch in einem zweiten Beitrag verdeutlicht.

In einem weiteren, klinischen Beitrag beschäftigt sich Brisch mit der Frage, wie früh traumatisierte Geschwisterkinder in der stationären Intensiv-Psychotherapie entsprechend dem MOSES-Therapiemodell behandelt werden können. Aus der frühen Traumatisierung ergeben sich besondere Herausforderungen für die Behandlung, die schon bei der vorstationären ambulanten Abklärung und noch mehr während der stationären Behandlung berücksichtigt werden müssen. Dies zeigt Brisch an verschiedenen Fallbeispielen nachvollziehbar auf.

Alle Beiträge dieses Bandes, seien sie aus der Klinik, der Forschung oder auch der Prävention, geben einen eindrücklichen Überblick, welche große Bedeutung die Geschwisterbeziehungen – von frühester Zeit an – auf unsere Entwicklung haben. Sie prägen unsere Persönlichkeit und unseren Lebenslauf von Anfang an.

Jürg Frick

Ich mag dich – du nervst mich!

Geschwisterbeziehungen und ihre Bedeutung: Ein Einblick

Einleitung

Geschwisterbeziehungen sind wie Eltern-Kind-Beziehungen als Primärbeziehungen von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. Die Position in der Geschwisterrangfolge lässt zwar manchmal Tendenzen von bestimmten Verhaltens- und Erlebensmustern – als Älteste, Jüngste usw. – erkennen; ob und wie sich die Position auswirkt, ist aber vor allem von der subjektiven individuellen Wahrnehmung des betreffenden Geschwisters sowie von weiteren Faktoren wie z. B. dem jeweiligen elterlichen Erziehungsstil abhängig. Bevorzugung durch Eltern ist ein wichtiger Faktor für Eifersucht und Rivalität.

Geschwistererfahrungen bieten vielfältige Aspekte für die Identitäts- und Selbstentwicklung und sind wichtig beim Erlernen von vielfältigen grundlegenden horizontalen Beziehungsmustern. Auswirkungen von ungeklärten Geschwisterbeziehungen in Form von Übertragungen, Konflikten und Neuinszenierungen werden in diesem Beitrag an konkreten kurzen Fallbeispielen dargestellt. Für die beraterische Arbeit (Einzelarbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Familienberatung) ist es zentral, immer eine individuelle Analyse der familiären Situation (alle Beziehungen, Systeme und Subsysteme) und insbesondere der persönlichen subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Betroffenen vorzunehmen. Und: Geschwisterbeziehungen später neu zu gestalten, zu verändern ist möglich!

Zum Einstieg

Haben Sie gewusst, dass für das mittlere Kind der beste Lebenspartner ein Erst- oder Letztgeborener ist (Leman 1995) oder dass die Inhaberinnen von Schönheitssalons meistens als zweite Kinder auf die Welt kamen/kommen (Forer & Still 1991)? Solche und ähnliche Mythen und Behauptungen (vgl. auch Blair 2012, S. 40: »Sandwichkinder sind gute Partner für Erstgeborene«) waren und sind bis heute zum Thema »Geschwister« gang und gäbe – allerdings ohne jede empirische Grundlage! Dieser Beitrag fasst eine kleine Auswahl wichtiger Erkenntnisse über Geschwisterbeziehungen zusammen und zeigt an kurzen Fallbeispielen praktische Konsequenzen in der Beratungspraxis. Drei ausführlichere Fragebogen zur Erfassung von Geschwisterbeziehungen in Beratung und Therapie finden sich im Anhang meines Buches Ich mag dich – du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben (Frick 2015).

Keine Nicht-Beziehung möglich!

Die meisten Menschen unterschätzen den Einfluss, den die Erfahrungen mit Geschwistern in der Kindheit und Jugendzeit in positiver wie negativer Hinsicht auf sie gehabt haben – und indirekt oder direkt, meistens unbewusst, immer noch auf sie haben. Auch in der Psychologie wurde erstaunlicherweise der Einfluss von Geschwistern auf die psychische Entwicklung des Menschen lange Zeit vernachlässigt oder als gering eingestuft. Dabei hatte Dreikurs schon 1933 lapidar festgehalten, dass man kein Kind unabhängig von seinen Geschwistern verstehen könne. Seit einigen Jahren ist für Fachleute klar, dass nicht nur Eltern, sondern auch die Geschwister für unsere Individual- und Sozialentwicklung von enormer Bedeutung sind. Nach Papastefanou (2002, S. 192 f.) herrscht »im aktuellen Forschungsgeschehen Übereinstimmung dahingehend, dass Geschwister eine herausragende Rolle im Lebenslauf spielen. […] Neben Eltern und Peers haben sie eine wichtige Funktion als Sozialisationsagenten, weil Geschwister im täglichen Zusammenleben sich gegenseitig anregen und lernen, sich zu verstehen und auseinanderzusetzen.« Also: Nicht nur Eltern erziehen ihre Kinder, die Kinder erziehen auch die Eltern und insbesondere sich gegenseitig als Geschwister (Kreuzer 2016).

Geschwisterbeziehungen reichen – außer für die ältesten Kinder – in die ersten vorsprachlichen Tage der Kindheit zurück und sind in der Regel die dauerhaftesten und längsten Bindungen im Leben eines Menschen: Eltern sterben, Freunde verschwinden oder werden verlassen, Intimbeziehungen lösen sich auf – aber Geschwister bleiben einem Menschen meistens lebenslänglich erhalten, rechtlich wie emotional, auch wenn unter Umständen die Kontakte auf ein Minimum beschränkt oder gar abgebrochen wurden. Man kann, um das berühmte Axiom von Watzlawick (2000) zu variieren, nicht eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben. Gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band. Unzählige Erlebnisse, Gefühle, Reaktionsmuster und sogar den Charakter prägende Erfahrungen sind mit Geschwistern verbunden, auch wenn ein erheblicher Teil davon vergessen, verdrängt oder gar verleugnet werden kann. Geschwisterbeziehungen sind also wie Eltern-Kind-Beziehungen genau genommen ebenfalls in der Regel Primärbeziehungen – außer man hat mit Geschwistern aufgrund eines sehr großen Altersabstandes oder eines getrennten Aufwachsens wenig bis kaum Kontakt.

Wichtige Aspekte zum individuellen Verständnis von Geschwistern

Natürlich tragen krasse Simplifizierungen in der Ratgeberliteratur – wie einleitend erwähnt – wenig zur sachlichen Erhellung der Geschwisterthematik bei. Stattdessen geht es vielmehr darum, die individuelle Situation und Perspektive des einzelnen Kindes zu erfassen und zu verstehen (Dunn & Plomin 1996). Genauer formuliert geht es um individuelles Verstehen statt Schablonendenken:

Was bedeutet es in dieser konkreten Familie mit diesen Eltern und unter diesen Bedingungen als ältestes, zweitgeborenes, mittleres, jüngstes oder Einzelkind aufzuwachsen? Wie interpretieren Kinder ihre persönliche familiäre Konstellation, ihre (auch geschlechtliche) Stellung und Rolle darin? Welche Schlüsse – bewusste und unbewusste – ziehen sie daraus? Wie handeln sie auf dieser Basis?

Ein kurzes Beispiel aus der Praxis: Die 21-jährige Marina,1 heute Erzieherin in einer Vorschuleinrichtung, war über viele Jahre fast geblendet von der älteren Schwester, von der sie über lange Zeit fast alles unkritisch übernahm:

»Der Reiz, genau gleich wie meine Schwester zu sein, war bei mir schon immer vorhanden. Ich wollte immer so sein wie sie. Ich glaubte, alles, was sie tat, sei gut, und sie hätte alles, was man braucht. Wenn sie sich breite Hosen kaufte, wollte ich unbedingt auch breite Hosen. Hörte sie Punk-Musik, begann ich auch Punk-Musik zu bevorzugen. Ich merkte nie, dass sie mich auch ab und zu bewunderte (das sagte mir später meine Mutter); ich konnte beispielsweise besser auf Leute zugehen, und wenn sie etwas haben wollte, schickte sie mich los. Ich merkte aber nicht, dass ich ihr überlegen war. Erst jetzt merke ich, dass sie mich auch in vielen Dingen bewundert und mir nacheifert. Dieses Gefühl ist sehr schön! Ich glaubte immer, ich sei weniger wert als sie. Ich wünschte mir sehnlichst auch eine kleine Schwester zu haben, welche mir nacheifert und mich bewundert. Ist das vielleicht auch ein Grund, warum ich diesen Beruf gewählt habe?«

Das Beispiel zeigt zudem, wie subjektiv die Wahrnehmung des Geschwisters ist – und wie diese persönliche Wahrnehmung alle Erfahrungen entsprechend filtert. Menschen, die sich – z. B. durch eine Beratung – dieser Zusammenhänge bewusster werden, können ihre Einstellung sowie ihr Verhalten ändern und mit der Zeit die neuen Erfahrungen in ihr Selbst integrieren, wichtige Reifeschritte in ihrer Entwicklung vollziehen.

Für die beraterische Arbeit (Einzelarbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Familienberatung) ist es deshalb zentral, immer eine individuelle Analyse der familiären Situation (alle Beziehungen, Systeme und Subsysteme, subjektive Wahrnehmungsmuster usw.) vorzunehmen. Dazu gehören weitere zum individuellen Verständnis grundlegende Aspekte (vgl. Frick 2015) wie:

  1. die einzelnen Rollen, Nischen und Charaktere der Geschwister in der Familie,

  2. der Geschlechterkontext (z. B. bezüglich Rollenzuschreibungen und Rollen-Übernahmen),

  3. die Beziehungen und der individuelle Zugang zu den einzelnen Geschwistern,

  4. die Beziehungen von Mutter und Vater zu den einzelnen Geschwistern mit ihren individuellen – bewussten und unbewussten – Erwartungen und Reaktionen, etwaige Präferenzen sowie der Erziehungsstil,

  5. weitere wichtige einflussreiche Personen wie Großeltern oder Lehrpersonen,

  6. die individuelle, subjektiv-persönliche Wahrnehmung der einzelnen Geschwister sowie die (mehrheitlich unbewusste) Interpretation der eigenen Geschwistersituation.

Geschwisterrollen, Geschwisterpositionen und Geschwisterkonstellationen

Es erweist sich als schwierig, allgemeingültige Aussagen aus empirischen Fakten und Zahlen abzuleiten; feste Zuordnungen zwischen Charaktereigenschaften und einer bestimmten Position in der Geschwisterfolge sind beispielsweise nicht möglich (Rohrer et al. 2015; Damian & Roberts 2015), wie das etwa noch ein Pionier der Geschwisterpsychologie, Alfred Adler (1973), postuliert hat. Dafür spielen zu viele und zu variantenreiche, komplexe, direkte wie indirekte Faktoren (neben den vorhin schon aufgeführten) im Rahmen der Familienkonstellation eine Rolle, wie: Zahl und Geschlecht der Kinder, ihr Altersabstand und das Temperament, der Charakter der Geschwister, das Verhältnis zu weiteren Personen wie Großeltern, Halb- oder Stiefgeschwistern, kulturelle Werte u. v. m. Das Spektrum individueller Abweichungen ist so groß, dass wir es hier nur mit schwachen Durchschnittswerten zu tun haben. Auch die zentralen Charakterzüge bzw. Persönlichkeitsdimensionen (»Big Five«) wie Extraversion vs. Introversion, emotionale Stabilität vs. negative Emotionalität, Offenheit vs. Unbeweglichkeit, Verträglichkeit vs. Antagonismus und Gewissenhaftigkeit vs. Nachlässigkeit hängen nicht mit einer bestimmten Position unter den Geschwistern zusammen. Entscheidend ist vielmehr, wie Geschwister ihre spezifische Familiensituation – und die ist immer individuell und einzigartig! – empfinden, interpretieren, und welche Charakternischen sie sich letztlich suchen: ein Prozess, der im Übrigen weitestgehend unbewusst verläuft.

Bei aller Vorsicht lassen sich in der Einzelfallanalyse trotzdem einzelne Verhaltens- und Erlebnistendenzen im Sinne von etwas häufigeren Möglichkeiten in Kombination mit bestimmten Geschwisterpositionen beobachten. Dabei gilt es immer zu beachten: Geschwisterpositionen stellen nur einen Einflussfaktor im individuellen Einzelfall dar, um Verhaltensmuster und Lebensstile verstehen zu können. Vor allem Sulloways große Studie (Sulloway 1997) mit rund 10 000 Lebensläufen hat trotz gewisser Einschränkungen einige Tendenzen – nicht Gesetze! – festgestellt, die allerdings neuerdings aufgrund seiner zu einseitigen Schlussfolgerungen zu Recht hinterfragt werden (z. B. Rohrer et al. 2015).

Was heißt das? Erstgeborene markieren etwas häufiger Pfade für die jüngeren Geschwister, fungieren etwas eher als Vorbilder, können/müssen – weil sie älter sind – eher Verantwortung für Jüngere und Pflichten ihnen gegenüber übernehmen (das elfjährige Geschwister kann das Baby, während die Eltern ins Kino gehen und daher zwei Stunden abwesend sind, durchaus betreuen, aber umgekehrt geht das nicht!), was in der Regel mit dem Erwerb von sozialen Kompetenzen verbunden ist. Ob das Ältere diese Aufgabe mit Stolz oder als Pflicht ausübt, ist allerdings wiederum individuell verschieden. Nicht selten spielen Älteste die dominantere Rolle, wollen führen, bestimmen – aber auch da finden sich viele Gegenbeispiele: ein geringer Altersabstand mit einem jüngeren Geschwister »auf der Überholspur« kann das auch umkehren.

Die Geburt des zweiten Kindes bewirkt in der Regel weitreichende Veränderungen auf allen Ebenen des Familiensystems; das Erstgeborene erlebt einen grundlegenden Rollenwechsel: Es verliert die Stellung als einziges Kind, muss sich in die neue Rolle als ältestes Kind einleben sowie die Aufmerksamkeit der Eltern mit dem Neuankömmling teilen. Diese Veränderungen bergen je nach Konstellation unterschiedliche Vor- und Nachteile; entsprechend unterschiedlich fallen auch die Reaktionen des Erstgeborenen aus und reichen von Trennungsangst, Rückzug oder Regression, Wutausbrüchen bis zu psychosomatischen Reaktionen, aber auch Freude, Stolz, Kooperation, Außenorientierung oder Rollenumkehr: Die kürzer- wie längerfristigen Reaktionen sind sehr vielfältig und individuell (vgl. ausführlicher: Frick 2015). Die Reaktionen des Erstgeborenen auf ein jüngeres Geschwister hängen auch stark von der bisherigen Beziehung zu Vater und Mutter, von der Art der Bindung, dem Geschick der Eltern u. v. m. ab: Fühlt es sich im neuen Setting bedroht oder gut aufgehoben? Im Verlauf der Integration des zweiten oder weiterer Geschwister bilden sich ein oder sogar mehrere Geschwistersubsysteme (und/oder Eltern-Kind-Subsysteme) heraus, was neue Dynamiken in der Familieninteraktion entstehen lässt.

Bei Zweit- und Spätergeborenen findet sich nicht selten ein Nacheifern gegenüber dem Ältesten und/oder ein Zusammenschluss mit jüngeren Geschwistern – sie bilden in Familien mit diesem Geschwister eine Geschwister-Subgruppe. Diese Kinder entwickeln manchmal als gute Beobachterinnen und Beobachter auch diplomatische Fähigkeiten und lernen mit »Doppelrollen« – als Jüngere und Ältere – umzugehen. Einige »Sandwichkinder« beklagen sich, sie kämen zu kurz, andere erleben sich als den besten Teil im Sandwich! Auch hier zeigt sich: Definitive Zuordnungen zu bestimmten Geschwisterpositionen sind nicht möglich, immer muss für eine Einschätzung die individuelle Situation berücksichtigt werden.

Jüngste Kinder befinden sich zumindest in der frühen Kindheit meistens in der Lage des kleinsten und schwächsten Familienmitgliedes: Diese »Froschperspektive« kann ein Gefühl der Unterlegenheit hervorrufen, das nach Kompensation (Adler 1973