William Gibson
Agency
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Cornelia Holfelder-von der Tann
und Benjamin Mildner
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Agency«
im Verlag Berkley, New York City
© 2020 by William Gibson
Für die deutsche Ausgabe
© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net unter
Verwendung der Daten des Originalverlags
Foto: © AND-ONE, shutterstock/Grafik: © Jon Gray
Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50474-3
E-Book: ISBN 978-3-608-12071-4
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Für Martha Millard, meine ausgezeichnete Agentin
seit fünfunddreißig Jahren, mit herzlichem Dank
Die Phase unmittelbar nach dem Antritt einer neuen Stelle war ein ganz eigener Übergangszustand, machte Verity sich klar, während sie auf dem überfüllten Bahnsteig der U-Bahn-Station Montgomery Street stand und auf den Zug wartete, der sie zur Kreuzung von Sixteenth und Mission Street bringen sollte.
Zwanzig Minuten zuvor, nachdem sie den Arbeitsvertrag einschließlich einer wortreichen Verschwiegenheitsvereinbarung bei Tulpagenics unterschrieben hatte – einem Start-up, über das sie kaum etwas wusste –, hatte sie dessen CTO Gavin Eames die Hand geschüttelt, sich verabschiedet, war in den Fahrstuhl gestiegen und hatte sich erst entspannt, als sich die Türen schlossen und die sechsundzwanzig Stockwerke lange Abfahrt begann.
In diesem Moment hatte sie noch keine Unruhe über den neuen Job verspürt, und auch noch nicht auf der Montgomery, als sie zur Bahnstation gegangen war und dabei ihre Phat-Thai-Bestellung an die Osha-Filiale auf der Valencia Street getextet hatte. Als sie jedoch auf dem Bahnsteig, drei Treppen tiefer, angelangt war, hatte die Unruhe sie erreicht und hing an ihr wie die schwarze Messetasche, die unter ihrer Schulter baumelte, mit dem Siebdruck-Logo von Cursion darauf, dem Mutterkonzern ihres neuen Arbeitgebers, über den sie auch nur wenig wusste, abgesehen davon, dass er mit Games zu tun hatte.
Die Unruhe war jetzt, als der Zug einfuhr, endgültig bei ihr angekommen. Fast zwei Jahre war es her, dass sie so etwas empfunden hatte, dachte sie beim Einsteigen. Die Hälfte dieser Zeit war sie arbeitslos gewesen, was womöglich ein Grund für die jetzige Intensität dieses Gefühls war.
Während sich der Waggon füllte, griff sie nach einer Halteschlaufe.
Als sie an der Sixteenth wieder ans Tageslicht kam, ging sie zu Osha, holte ihr Phat Thai ab und machte sich auf den Weg zu Joe-Eddys Wohnung.
Sie würde erst essen und sich dann mit Tulpagenics’ Produkt befassen. Das war nicht einfach ein neuer Job, das war das mögliche Ende ihrer Zeit als Schlafgast auf Joe-Eddys vom Gehweg geborgener Porno-Couch.
Der frühnovemberliche Himmel sah fast normal aus – der Feinstaub aus Napa-Sonoma war größtenteils ins Landesinnere geweht –, auch wenn das Licht noch immer leicht versengt aussah. Sie wurde nicht mehr plötzlich von dem Brandgeruch geweckt, nur um sich dann wieder daran zu erinnern, woher er kam. Sie hatte die letzte Woche über das Küchenfenster geschlossen gehalten, das einzige Fenster, das Joe-Eddy jemals aufmachte. Sie würde die Wohnung bald mal richtig durchlüften und vielleicht versuchen, eins der Fenster, die auf die Valencia schauten, aufzubekommen.
Zurück in der Wohnung, schlang sie das Essen hungrig aus der schwarzen Plastikschale und ignorierte dabei geflissentlich den in der Luft wabernden Mief des unverdünnten Putzmittels, mit dem sie vor Gavins Anruf die hölzerne Tischplatte geschrubbt hatte. Wenn Joe-Eddys Job in Frankfurt länger dauerte, erinnerte sie sich, gedacht zu haben, während sie mit einem mittelkörnigen 3M-Schaum-Schleifklotz herumhantiert hatte, würde sie womöglich sogar den Küchenboden schrubben, zum zweiten Mal in etwas weniger als einem Jahr. Jetzt hingegen, nachdem sie den Vertrag bei Tulpagenics unterschrieben hatte, würde sie vielleicht dem Pärchen kündigen müssen, dem sie ihre Eigentumswohnung untervermietete, mittleren Führungskräften bei Twitter, die angeblich seit über drei Monaten keine Paparazzi mehr gesichtet hatten. Bis dahin, für wer weiß wie viele weitere Nächte auf dem weißen Lederimitatsofa, hatte sie ihren Seiden-Innenschlafsack, dessen hohe Fadenzahl sie vor der Porno-Krätze ihrer hartnäckigen Phantasie schützte.
Sie bedeckte die Reste ihres Essens mit dem bewundernswert kompostierbaren transparenten Deckel, stand auf, stellte sie in den Kühlschrank, spülte ihre Couch-Surfing-Essstäbchen ab und setzte sich wieder an den Tisch.
Wirklich aufgefallen war ihr, als Gavin die Tasche gepackt hatte, nur die Brille. Bei ihr konnte man sich nach eigenem persönlichen Geschmack entscheiden: Schildpatt-Optik mit goldenen Akzenten oder ein möchtegernskandinavisches Grau. Sie holte jetzt das unscheinbare schwarze Brillenetui aus der Tasche, öffnete es, nahm die Brille heraus und klappte die blassgrauen, minimalistischen Bügel aus. Die Brillengläser waren nicht getönt. Sie suchte nach einem Logo, einem Herstellungsland, einer Modellnummer, fand aber nichts dergleichen und legte die Brille auf den Tisch.
Als Nächstes holte sie eine flache weiße Pappschachtel hervor. Darin lag ein dünner, vakuumgeformter Einsatz, ebenfalls in Weiß, in dem ein unscheinbares schwarzes Handy klemmte. Es war, wie sie bemerkte, nachdem sie es aus dem Einsatz befreit hatte, ebenfalls nicht gekennzeichnet. Sie schaltete es ein und legte es neben die Brille. Eine kleinere weiße Schachtel enthielt ein ebenso unscheinbares schwarzes Headset mit einem einzelnen Ohrstöpsel. In einer anderen Schachtel befanden sich drei schwarze Ladegeräte, jeweils eins für die Brille, das Telefon und das Headset, die gewöhnlichsten Gegenstände der Konsumwelt, mit dünnen schwarzen, noch fabrikmäßig gewickelten Kabeln, fixiert von winzigen schwarzen Drahtbindern. Gavin zufolge alles Plug and play.
Sie nahm das Headset heraus, schaltete es an und klemmte es an ihr rechtes Ohr, um den Ohrstöpsel einzusetzen. Dann setzte sie die Brille auf und drückte den flachen Power-Knopf. Das Headset gab ein »Ping« von sich, und ein Cursor erschien. Ein weißer Pfeil, in der Mitte ihres Sichtfelds. Von selbst bewegte er sich nach unten, zu den leeren Schachteln, den Ladegeräten und dem schwarzen Handy.
»Dann wollen wir mal«, sagte eine rauchige Stimme in Veritys Ohr. Verity blickte nach rechts, in die Richtung, wo die Quelle der Stimme gewesen wäre, hätte es eine gegeben, und ermöglichte damit wem auch immer – der Person, die den Cursor kontrollierte – ungewollt einen Blick auf das Wohnzimmer. »Du bist echt ’n Messie, Gavin«, sagte die Stimme, nachdem der Cursor Joe-Eddys Werkbank fixiert hatte, diesen Miniatur-Schrottplatz aus halb auseinandergebauten alten Elektrogeräten.
»Ich bin nicht Gavin«, sagte Verity.
»Ach was«, sagte die Stimme trocken.
»Verity Jane.«
»Das hier ist nicht das Büro, oder, Verity Jane?«
»Wohnung von ’nem Freund.«
Der Cursor durchquerte das Wohnzimmer, bis zu den geschlossenen Vorhängen. »Was ist da draußen?«
»Valencia Street«, sagte Verity. »Wie soll ich dich nennen?«
»Eunice.«
»Hi, Eunice.«
»Selber hi.« Der Cursor glitt hinüber zu Joe-Eddys japanischem Fender-Jazzmaster-Nachbau. »Spielst du?«
»Der Freund. Du?«
»Gute Frage.«
»Du weißt es nicht?«
»Absolute Leere.«
»Was bitte?«
»Herrscht bei mir in diesem Bereich. Willst du mir mal zeigen, wie du aussiehst?«
»Wie?«
»Im Spiegel. Oder nimm die Brille ab und richte sie auf dich.«
»Kann ich dich dann sehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Gibt nix zu sehen.«
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte Verity und stand auf. »Ich lass die Brille hier.«
»Würd’s dir was ausmachen, die Vorhänge aufzuziehen?«
Verity ging zum Fenster hinüber und zerrte die beiden Schichten des staubigen, blickdichten Vorhangs beiseite.
»Leg die Brille hier ab«, sagte die Stimme, »dann kann ich aus dem Fenster gucken.«
Sie nahm sie ab, positionierte sie mit ausgeklappten Bügeln so, dass die Brillengläser auf die Straße blickten, auf einem IKEA-Hocker, dessen Sitzfläche von Lötkolben-Stigmata gebrandmarkt war. Dann schob sie, für die ihrer Ansicht nach notwendige Erhöhung, das deutschsprachige Making-of-Buch einer brasilianischen Telenovela darunter. Sie nahm das Headset ab und legte es auf das Buch, neben die Brille, machte einen Abstecher in die Küche, wo sie ihr eigenes Handy aus ihrer Handtasche nahm, und ging dann durch den schmalen Flur ins Bad. Während sie die Tür hinter sich schloss, rief sie Gavin Eames an.
Er meldete sich sofort. »Verity, hallo.«
»Ist das echt?«
»Haben Sie die Verschwiegenheitsvereinbarung nicht gelesen?«
»Das waren mir zu viele Klauseln.«
»Sie haben zugestimmt, nichts Substantielles über nicht firmeneigene Kommunikationsgeräte zu besprechen.«
»Könnten Sie mir bitte nur sagen, dass nicht irgendwo irgendjemand sitzt und Eunice macht, mir zuliebe?«
»Nicht in dem Sinne, wie Sie es vermutlich meinen, nein.«
»Sie sagen also, dass das hier echt ist.«
»Genau das zu Ihrer eigenen Überzeugung herauszufinden, ist Teil Ihrer Aufgabe.«
»Soll ich Sie auf dem Firmenhandy zurückrufen?«
»Nein. Wir besprechen das persönlich. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Sie sagen also, sie ist …«
»Auf Wiederhören.«
»… Software«, beendete sie ihren Satz. Sie schaute vom Telefon hoch und sah sich im Spiegel über dem Waschbecken, dessen altersfleckige Silberschicht an eine Unterwassergrotte erinnerte. Dann drehte sie sich um, öffnete die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer, zum Fenster. Sie nahm die Brille und setzte sie auf. Spätabendlicher Verkehr blinkte hinter transparenten vertikalen Ebenen auf, die einem Barcode ähnelten. »Wow …«
Dann fiel ihr das Headset wieder ein. Sie steckte den Stöpsel ins Ohr.
»Hey«, sagte die Stimme.
Der Barcode verschwand, nur der Cursor blieb sichtbar und glitt auf Höhe der am Fenster vorbeifahrenden Autos umher. »Was war das?«, fragte Verity.
»Fahrzeugregistrierung. Ich hab Nummernschilder gelesen.«
»Wo bist du, Eunice?«
»Bei dir«, sagte die Stimme. »Ich schau hier aus dem Fenster.«
Was immer das hier war, sie wollte auf jeden Fall nicht, dass ihre erste richtige Unterhaltung damit in Joe-Eddys Wohnzimmer stattfand. Sie zog kurz die Kellerbar auf der Van Ness in Erwägung, nicht dass sie Lust auf einen Drink gehabt hätte, aber dann erinnerte sie sich, dass man sie dort vor kurzem erkannt hatte. Ansonsten war da noch Wolven + Loaves, ein paar Häuser weiter, aber dort war meistens viel los, und selbst wenn nicht, war die Akustik miserabel. Dann fiel ihr das 3.7-Sigma ein, Joe-Eddys halbironisch so bezeichnete Lieblings-Kaffeebezugsstelle, ein paar Blocks entfernt auf der anderen Straßenseite.
»Vespasian«, sagte Detective Inspector Lowbeer und musterte Netherton, der neben ihr herging, über ihren aufgestellten Mantelkragen hinweg, »unser Höllenwelten-Bastler. Sie erinnern sich?«
Sie haben ihn in Rotterdam umbringen lassen, dachte Netherton. Wobei sie das nie gesagt und er nie danach gefragt hatte. »Der, der so schreckliche Stubs erschaffen hat? Nichts als Krieg, die ganze Zeit?«
»Ich habe mich gefragt, wie er es geschafft hat, sie so schnell so alptraumhaft zu gestalten«, sagte sie und marschierte zügig weiter das Victoria Embankment entlang unter dem grauen Morgenhimmel und dem tropfenden Blätterdach der Bäume. »Schließlich habe ich mich genauer damit befasst.«
Er machte größere Schritte, um mitzuhalten. »Und wie hat er es gemacht?« Er hatte sie zum letzten Mal vor Thomas’ Geburt gesehen, zu Beginn seines Elternurlaubs. Der, so viel hatte er schon begriffen, jetzt zu Ende ging.
»Ich mag die Bezeichnung Stubs nicht«, sagte sie. »Sie sind kurz, weil wir sie gerade erst initiiert haben, indem wir in die Vergangenheit zurückgegriffen und den Erstkontakt hergestellt haben. Wir sollten sie nicht Stummel nennen, sondern Zweige, was sie realiter sind. Vespasian hat, wie es scheint, eine simple Methode entdeckt, den Schmetterlingseffekt zu verstärken. Der da besagt, dass schon der kleinste Störeinfluss große und unvorhersehbare Auswirkungen haben kann. Nach der Herstellung des Kontakts hat er sich sofort zurückgezogen, nur um dann Monate später zurückzukehren, das Ergebnis zu studieren und äußerst kalkuliert und gewaltsam einzugreifen. Er hat bemerkenswerte, wenn auch schreckliche Resultate erzielt, und das sehr schnell. Bei der Untersuchung seiner Methode bin ich zufällig auf einen weiteren seiner sogenannten Stubs gestoßen, einen, bei dem der Erstkontakt 2015 hergestellt wurde, mehrere Jahre vor dem frühesten bisher bekannten Kontakt. Wir wissen nicht, wie Vespasian es geschafft hat, so weit zurückzugelangen, aber wir haben jetzt Zugang zu diesem Stub.« Sie stiegen jetzt niedrige Stufen auf der Flussseite hinauf, zu einem Aussichtspunkt. »Wir haben dort vielleicht die Chance, wesentlich bessere Ergebnisse zu erzielen als bislang.« Sie waren jetzt oben. »Dafür brauche ich Sie. Der Kontakt war bisher zwangsläufig indirekt, wegen der technologischen Asymmetrie, aber wir glauben, jetzt eine Lösung gefunden zu haben. Ihre Erfahrung im Umgang mit Kontaktierten könnte bald dringend vonnöten sein.«
»Der Kontakt ist bisher indirekt, sagen Sie?«
»Die Aunties beispielsweise« – ihr Kosename für das Geschwader halbbewusster Algorithmen, über das sie qua Amt verfügte – »sind dort von vergleichsweise geringem Nutzen.« Schon beim bloßen Gedanken an die Aunties zuckte Netherton zusammen.
Eine rot-weiß gescheckte Themse-Chimäre tauchte in diesem Moment auf. Sie wälzte sich im Wasser, vier Meter lang, mit Bündeln von lampenartigen Augen über cartoonesken Fressfühlern. Beim Abtauchen hinterließ sie eine Kielspur aus beigem Schaum.
»Sie können also keine Quants daran setzen«, fragte er, »so viel In-Stub-Vermögen anzusammeln, wie nötig sein könnte?« Denn genau das hatte er sie schon tun sehen.
»Nein. Schon die simpelste Datenübermittlung kann recht lückenhaft ausfallen.«
»Was ist denn dann möglich?«
»Die laterale Förderung eines autonomen, selbstlernenden Software-Agenten«, sagte sie. »Und die anschließende Lenkung desselben hin zu mehr Handlungsvermögen. Es kommt uns zugute, dass sie dort auf KI versessen sind, obwohl sie kaum etwas haben, das wir als solche bezeichnen würden. Indem wir historischen Verwerfungslinien rund um die hiesige KI-Forschung nachgegangen sind, haben wir gefunden, was wir dort brauchen.«
»Verwerfungslinien?«
»Zwischen verantwortungslosem Unternehmertum und gewissen Negativst-Beispielen für Rüstungsauftragsvergabe. Mehr erzähle ich Ihnen beim Brunch – vorausgesetzt, Sie haben Zeit.«
»Natürlich«, sagte er wie immer.
»Mir ist nach den Sandwiches«, sagte sie und drehte sich vom Fluss weg, offenbar befriedigt durch die Sichtung der Chimäre.
»Salt Beef«, sagte er, »mit Senf und Dill«, seine Lieblingssorte in ihrem bevorzugten Sandwich-Shop in Marylebone. Auch wenn er sich inzwischen an sie gewöhnt hatte, dachte er, ging es doch um einen Brunch mit einer semimythischen autonomen Richterin-Vollstreckerin, der einzigen Inhaberin eines solchen Amtes. Das war nämlich ihre wahre Tätigkeit, im Unterschied zu ihrer offiziellen Position bei der Polizei und – so ernst sie diese auch nahm – den privaten Projekten, bei denen sie sich seiner bezahlten Hilfe bediente. Ihre wahre Tätigkeit war etwas, womit er so wenig wie irgend möglich zu tun haben wollte.
Sie kehrten zu ihrem Wagen zurück, der unsichtbar auf sie wartete; ein paar braune Blätter klebten auf seinem Dach, was aussah, als würden sie durch Zauberkraft in der Luft gehalten.
In dem Moment, als Verity das 3.7 betrat, schob der älteste und am ausgiebigsten gepiercte Barista gerade einen Chai Latte über den verzinkten Tresen in ihre Richtung.
»Ich hab für dich bestellt«, sagte die Stimme, die Eunice genannt werden wollte.
Verity hatte das Headset mit einer Beanie-Mütze verdeckt, von der sie hoffte, dass sie nicht aussah, als würde sie versuchen, jünger zu wirken. Sie entschied sich, sie aufzubehalten. »Danke. Woher wusstest du, was ich trinken will?«
»Dein Bonus-Konto bei Starbucks«, sagte die angebliche Eunice, während sie am Barista das vornahm, was sie Gesichtserkennung nannte. Ein enges Netz bildete sich, nachdem der Cursor das Gesicht gefunden hatte, aus geraden, miteinander verbundenen Linien, um die Nebenhöhlenregion herum, ausgehend von der Nasenspitze, und dann war es verschwunden. Das hatte schon auf der Straße angefangen, auf dem Weg hierher, wobei Eunice beteuerte, dass sie nicht wisse, wie sie das machte.
Bevor Verity den Tresen erreichte, hatte ihr der Barista, unter dem Geklimper seiner Piercings, bereits den Rücken zugekehrt. Auf ihrem Becher stand VULVA D, mit der Hand geschrieben, direkt über dem 3.7-Logo, in Neonpink. Obszön verhunzte Kundennamen waren sein Markenzeichen, allerdings musste man zu seiner Verteidigung sagen, dass er sich Männern gegenüber exakt genauso unfreundlich verhielt. Sie trug den Becher zu dem am weitesten entfernten freien Tisch, an einer holzvertäfelten, abgebeizten und geschliffenen Wand. »Wie hast du bezahlt?«, fragte sie, während sie sich einen Stuhl zurechtrückte.
»PayPal. Ist aufgeploppt, als ich’s brauchte, kannte ich nicht. War nicht viel auf dem Konto, aber für was zu trinken hat’s gereicht.«
»Weißt du die Namen von den Leuten, bei denen du diese Sache mit der Nase machst?«
»Wenn nicht, sind sie wahrscheinlich illegal hier.«
»Mach’s nicht bei mir.«
»Ich merk’s nicht immer, wenn ich’s mache.«
»Wie hast du meinen Starbucks-Account gefunden?«
»War halt da.«
Verity nahm die Brille ab, drehte sie um und schaute in die Linse. »Und das soll ich dir glauben?«
»Wenn du mir einfach so glaubst, dann haben sie mir offensichtlich das falsche weiße Mädchen zugeteilt.«
Verity legte ihren Kopf schief. »Womit du implizierst, dass du selbst farbig bist?«
»Afroamerikanerin. Mit der Mütze siehst du aus wie ’n Kind.«
Verärgert nahm Verity sie ab.
»Ich mein ja nur.«
Verity kam zu dem Schluss, dass sich niemand im 3.7 um sie kümmerte, erinnerte sich dann jedoch daran, dass sie so aussah, als würde sie mit ihrer eigenen Brille sprechen, also taten wahrscheinlich alle nur so, als würden sie sie nicht beachten. »Wie alt bist du, Eunice?«
»Acht Stunden. Über die letzten drei Wochen verteilt. Und du?«
»Dreiunddreißig. Jahre. Wie kannst du acht Stunden alt sein?« Sie setzte die Brille wieder auf.
»Das Jesus-Alter«, sagte Eunice, »dreiunddreißig.«
»Bist du religiös?«
»Ich find nur, langsam solltest du deinen Kram mal auf die Reihe kriegen.«
Das Ganze hatte eine Lockerheit, die sie bisher bei keinem Chatbot erlebt hatte, aber auch eine gewisse Skepsis. »Du erinnerst dich nur an acht Stunden, insgesamt? Ab wann? Ab was?«
»Gavin. Hat meinen Namen gesagt. Und dann ›Hi‹. Vor drei Wochen. In seinem Büro.«
»Ihr habt geredet?«
»Er hat mich nach meinem Namen gefragt. Und mir seinen genannt, hat außerdem erzählt, dass er Chief Technology Officer ist für eine Firma namens Tulpagenics. Erfreut, mich kennenzulernen. Dann, am nächsten Tag, wieder in seinem Büro, hat er mit einer Frau telefoniert, aber ich sollte eigentlich nicht zuhören können, wie sie ihm Fragen vorgab, die er mir stellen sollte.«
»Und wie hast du’s gemacht?«
»Hab’s halt gehört. Ich wusste auch, dass sie ein Stockwerk über uns sitzt, im achtundzwanzigsten.«
»Das ist Cursion«, sagte Verity. »Tulpagenics’ Mutterkonzern. Spieleentwicklung. Was wollte sie, dass er dich fragt?«
»Diagnosefragen, aber sie sollten nicht so klingen. Sie wollte wissen, wie meine Entwicklung lief, in bestimmten Hinsichten.«
»Hat er bekommen, was sie wollte?«
»Das konnte ich nicht wissen, damals.«
»Aber jetzt schon?«
»Ich weiß jetzt zumindest, dass es nicht die richtigen Fragen waren. Aber ich weiß auch nicht, woher ich das weiß.«
Realityshow, dachte Verity, mit einem britischen Schauspieler als Gavin. Die Sicherheitsleute und die Empfangsdame waren wahrscheinlich auch Schauspieler, die Büroräume im siebenundzwanzigsten Stock gehörten irgendeinem wirklichen Start-up. Sicher sahen sie jetzt gerade zu. Sie sah sich im 3.7 um, bevor ihr einfiel, dass sie diesen Ort hier selbst ausgesucht hatte.
»Was glaubst du, wie tief wir bereits drin sind?«, fragte Eunice.
»In was?«
»Wie bei Inception.«
»Das hier ist kein Traum«, sagte Verity.
»Ich tippe auf Schädeltrauma. Gehirnerschütterung. Retrograde Amnesie.«
»Ich hab Inception gesehen, als er rausgekommen ist«, sagte Verity.
»Wie oft?«
»Einmal. Wieso?«
»Ich schon einundachtzig Mal. Und gerade seh ich ihn zum zweiundachtzigsten Mal. Nicht, dass du nicht meine volle Aufmerksamkeit hättest.«
»Wie funktioniert das?«
»Keine Ahnung. Paris rollt sich so komisch auf. Kennst du die Szene?«
»Tolle Special Effects«, sagte Verity, »aber die Geschichte ist verwirrend.«
»Es gibt ’ne Hammer-Infografik dazu, die erklärt alles. Willst du mal sehen?«
»Warum reden wir über einen Film, Eunice?«
»Ist das dein richtiger Nachname? Jane?«
»Wie das Buch über Kriegsschiffe. Jane’s.«
Stille. »Ich war selbst bei der Navy.«
»Im Ernst?«
»Jep«, sagte Eunice mit etwas Abwesendem, fast Leerem in ihrer Stimme, »ist mir grad eingefallen.«
Hatte sie wirklich diese Bandbreite an Gefühlsäußerungen, fragte sich Verity, oder projizierte sie selbst das nur hinein? »Ist das hier ein Scherz? Vielleicht der YouTube-Kanal von irgendeinem Arschloch?«
»Wenn ich jemanden erwische, der sich hier gerade ’nen Scherz mit mir erlaubt, dann hat der Ficker nix mehr zu lachen. Woher kennst du Gavin?«
»Er hat mich eingestellt«, sagte Verity, »heute Nachmittag.«
»Wiki sagt, du bist die App-Flüsterin.«
»Du hast gesagt, du machst das nicht.«
»Da ging’s um Gesichtserkennung. Das hier ist Wikipedia. Ich kenn deinen Namen, darf ich dich nicht googeln?«
»Okay«, sagte Verity nach einer Pause und probierte ihren Chai Latte.
»Du bist mit diesem Stets zusammen gewesen. Dem jungen Investment-Milliardär.«
»Jetzt aber nicht mehr.«
»Arschloch?«
»Nein. Es war einfach nicht wirklich eine Beziehung, egal was die Medien gesagt haben. Mir war die ganze Aufmerksamkeit zu viel. Aber aus so was kommst du nicht einfach so raus, nicht, ohne dass die Medien draußen auf dich warten.«
»Du bist null auf Social Media zu finden. Früher schon.«
»Nach unserer Trennung haben sich die Medien auf jeden gestürzt, den sie für einen Freund von mir gehalten haben, einen Bekannten, egal was. Ein paar Leute haben ihnen was erzählt. Die meisten nicht, aber manche waren irgendwann genervt von der Fragerei. Ich hab mich entschieden, das als eine Art Sabbatjahr zu sehen.«
»Fronturlaub von Facebook?«
»Von Menschen. Ich hatte angefangen, wieder mehr zu machen, hauptsächlich auf Instagram, aber da rückte gerade die Wahl näher, und das hat mich immer mehr fertiggemacht, also hab ich’s wieder ganz gelassen.«
»Hast gearbeitet?«
»Nein. Schon seit fast einem Jahr nicht mehr.«
»Die App-Flüsterin.«
»Sie brauchten was, um zu erklären, warum ich überhaupt mit ihm zusammen war.«
»›Hochtalentierte Beta-Testerin‹? Guter Aufhänger.«
»Das war aus einem Wired-Artikel, aber nur weil ich mit ihm zusammen war.«
»›Reputation für radikale Produktverbesserung vor dem Launch‹? ›Die geborene Super-Userin‹?«
»Ich hab irgendwann aufgehört, diesen Kram über mich zu lesen, über uns, ihn.«
»Die Medien haben dich aus der Dunkelheit ins Licht katapultiert.«
Verity bemerkte einen Nerd an einem Tisch auf der anderen Seite des Cafés, der sie beobachtete, und sie erinnerte sich daran, wie Joe-Eddy sich über diesen bestimmten Typ von möchtegern-animalischem Hacker ausgelassen hatte, dem man hier begegnen konnte. Animalisch wie ein bis drei Tage lang nicht geduscht oder die Zähne geputzt, hatte er gesagt. »Wollen wir raus?«, fragte sie Eunice. »Wir könnten hoch zum Park gehen.«
»Du bist die mit dem Körper und so.«
Verity schob ihren Stuhl zurück. Setzte die Mütze wieder auf. Erhob sich und nahm ihren Chai. Als der Barista sah, dass sie ging, blitzte er sie an, aber irgendwie freundlich.
Als sie auf dem Weg nach draußen an einem Laptop vorbeilief, dessen Besitzer einen riesigen Kopfhörer trug, sah sie auf dem Bildschirm die Präsidentin an ihrem Schreibtisch im Oval Office, wie sie etwas erklärte. Wenn es nicht gerade um den Hurrikan in Houston ging, das Erdbeben in Mexiko, den anderen Hurrikan, der Puerto Rico verwüstet hatte, oder den schlimmsten Großflächenbrand in der Geschichte Kaliforniens, dann ging es um Qamishli.
Es ging jedoch zunehmend um Qamishli. Verity verstand die Situation nicht richtig. Hatte es genau genommen vermieden, sie zu verstehen, in der Annahme, dass, wenn sie sie verstünde, sie genauso panisch würde wie alle anderen und genauso unfähig, etwas daran zu ändern.
Die Präsidentin hatte jedoch nicht panisch ausgesehen, dachte Verity, während die Tür des 3.7 hinter ihr zufiel. Sie hatte ausgesehen, als kümmerte sie sich um die Sache.
Wenn Lowbeer wollte, dass ein in der Öffentlichkeit geführtes Gespräch vertraulich blieb, was sie grundsätzlich wollte, leerte sich London um sie herum.
Netherton hatte keine Ahnung, wie das funktionierte, und während des jeweiligen Gesprächs war er sich, anders als jetzt, dieser Isolation meist gar nicht bewusst. Wenn sie sich dann aber trennten, begegnete er einem Fußgänger, sah einen Radfahrer oder ein Auto und merkte da erst, dass er aus ihrer Abschottungsblase herausgetreten war.
Als er jetzt mit ihr in einer dunkel gebeizten Sitznische dieses ostentativ auf Prä-Jackpot getrimmten Sandwich-Shops an der Marylebone Street saß, sehnte er genau das herbei: sich von ihr zu verabschieden, davonzugehen und den ersten x-beliebigen Fremden zu sehen, der in der stillen Endlosigkeit Londons unterwegs war.
»Ist das Salt Beef gut?« Sie hatte Marmite und Gurke.
Er nickte. »Wird Marmite immer noch hergestellt? Statt dass es von Assemblern nach Bedarf abgesondert wird, meine ich.«
»Natürlich.« Sie sah auf die verbliebenen perfekt rechteckigen Stücke ihres Sandwichs, und ihre leuchtend weiße Haartolle neigte sich mit ihrem Blick. »Es besteht aus Hefe und Salz. Die Manufaktur ist in Bermondsey. Es wird von Bots hergestellt, aber abgesehen davon vollkommen traditionell.«
Man konnte sie irgendwas fragen, praktisch egal was – sie hatte die Antwort parat. Leuten, denen sie vorher nie begegnet war, beantwortete sie manchmal Fragen, die zu stellen ihnen gar nicht eingefallen war. Wo sich etwa lange vermisste Dinge befanden. Sie sei eben gut vernetzt, räumte sie dann zur Beunruhigung der Betreffenden ein, sodass sie über jeden, der ihr über den Weg laufe, praktisch alles wisse. Dann entschuldigte sie sich, nannte sich ein altes Überwachungsstaatsmonster, was sie, wie Netherton wusste, tatsächlich war.
»Wie weit ist Vespasian zurückgegangen?«, fragte er sie jetzt. »Um diesen Stub zu initiieren?«
»Mitte 2015.«
»Welche Zeit ist dort jetzt?«
»2017«, sagte sie, »Herbst.«
»Ist dort vieles anders gelaufen?«
»Der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Vorjahr. Der des Brexit-Referendums ebenfalls.«
»Als Folge seines Initialkontakts?«
»Könnte natürlich der Schmetterlingseffekt gewesen sein. Obwohl die Aunties in beiden Fällen zu der Erklärung tendieren, dass irgendetwas zu einer Verminderung der russischen Social-Media-Manipulation geführt hat. Was vermutlich auf unserer eigenen Zeitschiene Ähnliches bewirkt hätte. Da die Aunties sich jedoch keine großen Datenmengen von dort vornehmen können, ist eine genauere Ursachenzuordnung nicht möglich.«
»Aber warum sollte ausgerechnet Vespasian positive Veränderungen gewollt haben? Angenommen, diese Ergebnisse waren intendiert.«
»Er war ein Sadist«, sagte Lowbeer, »und zwar ein furchtbar cleverer. Die Ironie, dass er zunächst Veränderungen zum Guten erzeugte, könnte ihn amüsiert haben, wo er doch die größte Lust aus extremer Grausamkeit zog. Wie dem auch sei, als er nicht mehr zurückkehrte«, hier sah sie ihm kurz in die Augen, »um Feinregulierungen vorzunehmen und die Entwicklung zu beschleunigen, wie er es sonst immer tat, nahmen die Dinge ihren eigenen Lauf.«
»Und wie sieht es dort jetzt aus?«
»Finster«, sagte sie, »da alle anderen Ordnungsprinzipien und Anreizeffekte noch in Kraft sind. Zudem haben sie jetzt eine Nahostkrise mit akuten, drastischen Implikationen für die ganze Welt. Aber auch davon abgesehen laufen sie in dieselben Messer, in die wir gelaufen sind, nur nicht ganz so direkt.«
»Sind Sie dort, in dem neuen Stub? Ihr Stub-Selbst, meine ich?«
»Vermutlich ja«, sagte sie, »als kleines Kind. Es erscheint mir immer am besten, mich damit nicht zu befassen.«
»Natürlich«, sagte Netherton, der sich so etwas nicht mal ansatzweise vorstellen mochte.
»Ich habe Ash gebeten, Sie über das, was wir bisher dort getan haben, auf den neuesten Stand zu bringen«, sagte sie.
»Sie ist mit dabei?« In der – wenn auch schwachen – Hoffnung, dass sie es nicht wäre.
»Von Anfang an«, sagte Lowbeer.
»Großartig«, sagte Netherton resigniert und griff nach dem nächsten Stück seines Sandwichs.
Verity fragte sich, ob sie vom höchsten Punkt im Dolores Park aus das Hochhaus auf der Montgomery würde sehen können, wo Gavin ihr das Produkt vorgestellt hatte, das jetzt Eunice hieß. Nicht, dass sie das Hochhaus wiedererkannt hätte.
Es gab hier, mit dem Blick über die Stadt, niemanden, den Eunice gesichtserkennen konnte, aber der Cursor, der jetzt ein weißer Kreis war, flitzte über die Skyline und fing unsichtbare Etwasse in der Luft unter einem Pluszeichen ein.
»Vögel?«, fragte Verity.
»Drohnen. Wie hast du Gavin kennengelernt?«
»Er hat mich vor einer Woche angerufen. Hat sich vorgestellt. Wir haben geredet und dann E-Mail-Adressen ausgetauscht. Uns letzten Freitag zum Mittagessen getroffen. Heute Morgen hat er mich angerufen und gefragt, ob ich vorbeikommen will, um den Vertrag zu besprechen.«
»Wie hoch sind die Decken da, in der Lobby?«
»Warum?«
»Ich wette, zu hoch, um zu sehen, ob sie aus Bronze oder aus Plastik sind. Sollen aussehen, als ob da richtig Kohle gemacht wird. Wie war das Meeting?«
»Der Security-Mann hatte einen Schlüssel, damit hat er mich hoch in den siebenundzwanzigsten Stock geschickt. Ich musste auf einem iPad eine Gäste-Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Ein Junge mit schwarzen Metallösen in den Ohren hat mich zurück zu Gavin gebracht. Überall Start-up-Pflanzen.«
»Was, wo?«
»Tillandsien. Luftpflanzen. Du kannst sie mit einer Heißklebepistole an Kabelpritschen festmachen, an egal was. Die kommen zurecht. Wie so viele Leute, die in Start-ups arbeiten, sagt Joe-Eddy.«
»Und was hat Gavin dann gesagt?«
»Er hat das Produkt beschrieben, wir haben uns auf das Gehalt geeinigt, ich hab den Vertrag unterschrieben und eine Verschwiegenheitsvereinbarung speziell für das Projekt.«
»Bei dem du was machst?«
»Was ich eben mache. Beratung zu einem Prototyp von etwas, an dem sie gerade arbeiten.«
»Und das wäre?«
»Du«, sagte Verity, weil sie keine Lust mehr hatte, um den heißen Brei herumzureden, »falls das nicht alles eine Verarsche war.«
Keine Antwort.
»Vielleicht nicht direkt ein Prototyp«, sagte Verity. »Vielleicht auch schon näher an der Alpha-Version.«
Die Stille zog sich hin. Falls da draußen noch mehr Drohnen umherschwirrten, kümmerte sich Eunice nicht mehr um sie, der Cursor war jetzt wieder ein Pfeil, der unbewegt am Himmel hing. Verity drehte sich um, schaute zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, Richtung Valencia Street. Weiter unten im Park gab einer von zwei auf einer Bank kauernden Skaterjungs eine verblüffend dichte Wolke aus weißem Dampf von sich, wie eine winterliche Lokomotive in einem alten Film. »’tschuldige. Schätze, das ist jetzt komisch für dich. Wenn du das bist, was Gavin gesagt hat, dann bist du echt next-level.«
»Bin ich das?«
»Auf Grundlage dieses Gesprächs hier, ja.«
»Google mal ›Tulpa‹«, sagte Eunice, »da findest du okkulte tibetische Gedankenformen. Oder Leute, die sich imaginäre Spielkameraden ausdenken.«
»Hab ich schon.«
»Ich fühl mich jetzt nicht unbedingt sehr tibetisch«, sagte Eunice. »Vielleicht ausgedacht, aber wie soll ich das wissen?«
»Er nannte dich einen laminaren Software-Agenten. Hab ich auch gegoogelt, auf dem Weg nach draußen.«
»Keine Treffer«, sagte Eunice.
»Das schien ihm wichtig. Er hat auch den Begriff ›Laminae‹ benutzt. Im Plural.«
»Wofür?«
»War nicht ganz klar«, sagte Verity, »aber er hat das Produkt, also dich, als plattformunabhängigen, individuell userbasierten, autonomen Avatar beschrieben. Die Zielgruppe nutzt viel VR, AR, neue Formen von Social Media, spielt Games. Der Gedanke ist, einen einzigen, einzigartigen Super-Avatar zu verkaufen. So eine Art Miniversion vom User, die ihn ersetzt, wenn er grad nicht online sein kann.«
»Warum haben sie dann nicht einen von dir gemacht?«
»Ich glaub, das können sie nicht, noch nicht. Du bist eher ein Beweis für die Machbarkeit. Sie haben nur einen gemacht, und das bist du.«
»Basierend auf irgendjemandem?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Ziemlich bedrückend hier oben«, sagte Eunice nach einer Pause, »mit dem abnehmenden Licht und so.«
»Sorry.«
»Zurück zur Wohnung von deinem Typen? José Eduardo Alvarez-Matta, wohnt zur Miete, Informationssicherheitsberater. Dein Freund?«
»Ein Freund«, sagte Verity. »Wir haben bei vielen Projekten zusammengearbeitet.« Sie folgte dem Weg zurück nach unten. Die Skater waren weg, als hätte sie sie sich nur eingebildet. Die Straßenlaternen gingen an, umgeben von einem schwachen Schimmer. Im Nebel war Quecksilber, hatte sie mal jemanden in der Bar auf der Van Ness sagen hören, aber seitdem die Luft hier schlechter war als in Peking, schien das nicht mehr so dramatisch zu sein.
»Wenn das hier wirklich nur der YouTube-Kanal von irgendeinem Arschloch ist«, sagte Eunice, als sie den Park verließen, »dann macht mich das wohl zu einem Phantasiegebilde.«
Verity sah zu, wie der Cursor den Innenraum jedes geparkten Autos scannte, an dem sie vorbeiliefen, und dann nach oben stieg, höher, auf beiden Seiten der Straße, wie um in den Fenstern nachzusehen, ob da jemand war, oder auf den Dächern. »Kannst du sehen, was ich sehe, Eunice?«
»Du schaust dem Cursor zu.«
»Warum guckst du in die Autos?«
»Situationsbewusstsein.«
»Und worauf achtest du?«
»Auf die Situation. Beobachten, orientieren, entscheiden, handeln.«
Auf der Valencia Street, als sie in Richtung 3.7 und Joe-Eddys Wohnung abbogen, erfasste Eunice das Gesicht eines jungen Mannes, kurzgeschorene dunkle Haare, zusammengekauert auf dem Beifahrersitz eines beigen Fiat, allein. Er schaute hoch, als sie vorbeigingen, die Gesichtszüge von unten durch sein Handy erhellt. Während sie nach dem Laden Ausschau hielt, der Otaku-Jeans verkaufte, bemerkte Verity, dass sie noch nicht am 3.7 vorbei waren, das auf der anderen Straßenseite lag, dass also der Jeansladen noch weiter entfernt war.
»Hast du ein Überlebenskit?«, fragte Eunice.
»Ich hab seit einem Jahr kein eigenes Zuhause. Ich vermiete meine Wohnung. Der Großteil meiner Sachen ist in einem Schrank dort im Keller. Ich leb aus meiner Tasche. Zählt das als Überlebenskit?«
»Wir hatten Überlebenskits in unseren Überlebenskits«, sagte Eunice, »je nachdem.«
»Je nach was?«
»Wo wir hinmussten«, sagte Eunice.
»Wo musstet ihr hin?« Sie gingen jetzt an den japanischen Jeans vorbei, Joe-Eddys Wohnung lag noch einen halben Block hinter der nächsten Kreuzung.
»Keine Ahnung.«
Das Übergangsgefühl des neuen Jobs war definitiv verschwunden, dachte Verity, aber nicht auf die Weise, wie sie gehofft hatte. Es war stattdessen durch ein anderes Gefühl ersetzt worden, ein zutiefst ungewohntes. Ein anderes Dazwischen, aber wozwischen genau, konnte sie nicht sagen.
Netherton war nur einmal bei Ash gewesen, und da hatte er es nicht gewusst.
Sein Freund Lev Zubov, damals Ashs Arbeitgeber, hatte ihn zu einer Party bei ihr mitgenommen, als noch keiner von ihnen Lowbeer kannte, also eine ganze Weile bevor Ash angefangen hatte, ausschließlich für sie zu arbeiten. Ein einstöckiges Backstein-Fabrikgebäude, versteckt hinter einer Zeile von viktorianischen Reihenhäusern, an einer Querstraße der Kingsland High Street.