Prof. Dr. Gregor Hasler

Die Darm-Hirn-Connection

Revolutionäres Wissen für unsere psychische und körperliche Gesundheit

Impressum

Die Erstausgabe ist 2019 bei Schattauer in der von Wulf Bertram herausgegebenen Reihe »Wissen & Leben« erschienen. Für die Neuausgabe bei Klett-Cotta wurde der Text überarbeitet und ergänzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Annette Hauschild, Ostkreuz

Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98384-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12077-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Krankheiten beginnen im Darm.

Hippokrates

Einleitung

Im Anfang war der Darm. Die Welt ging durch den Darm. Im Darm entwickelte sich das Hirn. Dieses erweiterte sich bis in den Kopf. Neueste Forschungen zeigen: Darm und Hirn sind in vielerlei Hinsicht ein Organ. Störungen der Darm-Hirn-Connection tragen zu den häufigsten Krankheiten bei, welche die Lebenszeit massiv verkürzen: Übergewicht, Diabetes und Herzkrankheiten. Sie führen aber auch zu psychischen und neurologischen Krankheiten wie Essstörung, Depression, Autismus, posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie und Demenz. Wir leben jedoch in einer aufregenden Phase, in der ein neues Verständnis der Darm-Hirn-Connection die Medizin sowie die Psychiatrie revolutioniert. Diese Revolution ist deshalb so spannend, weil sie neue Möglichkeiten in Aussicht stellt, Hirnkrankheiten vorzubeugen und zu behandeln. Es ist nun wissenschaftlich belegt, dass Ernährungsumstellungen, natürliche Präbiotika und der Verzicht auf bestimmte Kohlenhydrate vermittels der Darm-Hirn-Connection unsere psychische und körperliche Widerstandskraft stärken.

Schon seit meinem Medizinstudium beschäftige ich mich ausgiebig mit den Zusammenhängen zwischen Körpergewicht, Fehlernährung, Darmbeschwerden und psychischen Störungen. Zu diesem Themenbereich habe ich auch meine Dissertation, meine Habilitation sowie zahlreiche wissenschaftliche Artikel verfasst. Dieses Buch vermittelt meine gesammelten Erfahrungen und verknüpft sie mit den neuesten Befunden der medizinischen Forschung.

So habe ich beispielsweise über viele Jahre die Ernährung meiner Patienten mittels Esstagebüchern erfasst und schrittweise verändert. Zuvor litten sie an Essstörungen, Übergewicht, Depressionen, Suchterkrankungen, Psychosen, Stress-, Angst- und bipolaren Störungen. Die Verbesserung des Essrhythmus, des Nahrungsspektrums und der Nahrungsmenge haben dabei maßgeblich zu einem positiven Therapie-Resultat beigetragen. Die körperliche Fitness kehrte zurück, psychische Probleme traten in den Hintergrund und das Leben eröffnete plötzlich neue, ungeahnte Möglichkeiten.

Unsere Gesundheit liegt viel mehr in unseren Händen, als wir es uns je vorgestellt haben. Deshalb gibt dieses Buch unter anderem auch viele praktische Tipps zur Verbesserung der Darm-Hirn-Connection. Denn diese Connection ist eine wichtige Voraussetzung für unser psychisches und körperliches Wohlbefinden und für ein langes Leben.

Es gibt freilich keine allgemeine Methode, die Darm-Hirn-Connection im Gleichgewicht zu halten. Jeder muss seine eigene Lösung finden, seine ideale Ernährung und seinen optimalen Essrhythmus entdecken, seine individuelle Darm-Hirn-Geschichte entwickeln und zu einem guten Ende führen. Dazu soll dieses Buch anregen und Hilfestellungen geben. Während meiner langjährigen klinischen Tätigkeit habe ich herausgefunden, dass dabei gewisse Einsichten und Regeln besonders hilfreich sind. Diese werde ich sowohl für die Ernährung als auch für die mentale Fitness ausführlich darlegen. Und schließlich werde ich auch verraten, wie es mir selbst seit meinem 43. Lebensjahr gelingt, mein Wunsch- und Wohlfühlgewicht zu halten. Doch zuerst möchte ich erzählen, was mich dazu bewegte, mich über Jahrzehnte mit der Darm-Hirn-Connection zu beschäftigen.

Kurz nach dem Beginn meiner Pubertät litt ich an melancholischen Verstimmungen, romantischen Schwärmereien, Einschlafproblemen und Zukunftsängsten. Gleichzeitig entwickelte mein Bauch eine seltsame und besorgniserregende Aktivität: Er zog sich zusammen. Ich litt an Krämpfen im Unterbauch, die derart schmerzhaft waren, dass ich sie nur im Hocken überstand. Im Oberbauch bauten sich lang anhaltende Spannungen und Blähungen auf, die mich zwangen, über Stunden nur langsam und oberflächlich zu atmen. Meine gehaltvollen Fürze glichen Giftgasangriffen, vor denen ich selbst fliehen musste. Auf der Flucht betete ich, dass niemand die Ursache des ekelerregend schwefligen Gases entdeckte. Die Beschaffenheit meines Stuhls belegte endgültig die objektive Natur meiner Darmprobleme. Bald war er hart und kantig wie ein Lavastein, der die samtige Schleimhaut meines Analkanals brutal verletzte, sodass sie über Tage hinweg schmerzte und blutete. Bald war mein Stuhl so dünn, dass er wie ein schlammiger Wasserfall aus meinem Körper in die Toilette platschte. Trotz dieser Beschwerden hatte ich jedoch einen übertriebenen Hunger, sodass ich ziemlich an Gewicht zulegte. Als mir dann eine Mitschülerin sagte, ich hätte einen Spitzbauch, traf mich das sehr.

Mein Vater hatte den Verdacht, dass die schulische Herausforderung im Gymnasium die Ursache meiner Probleme war. Er half mir vermehrt bei den Hausaufgaben und Schulaufsätzen. Meine Mutter deutete sie wiederum als die Rückkehr der Bauchbeschwerden, die ich als Säugling gehabt hatte. Der seinerzeit oft herbeigerufene Kinderarzt hatte sie als eine Art »Dreimonatskrämpfe« bezeichnet, wie sie bei Säuglingen nach der Zufütterung von Breikost zur Muttermilch auftreten. Auch damals hatte ich einen schier grenzenlosen Hunger und ging auf wie ein Ofenküchlein. Also gab mir meine Mutter auch dieses Mal wieder reichlich Fencheltee zur Darmentspannung. Auf Anraten eines befreundeten Hausarztes setzte sie mich zudem auf eine faserreiche Vollkorndiät. Doch weil all diese liebevollen und gut gemeinten Maßnahmen keine entscheidende Besserung brachten, schickte sie mich schließlich zu einem Magen-Darm-Spezialisten. Um den Kapriolen meines Darms auf die Spur zu kommen, spiegelte er Magen sowie Dickdarm und röntgte den Durchlauf eines kontrasthaltigen Breis zur Überprüfung der Passagezeit des Breis vom Magen in den Dickdarm.

An diese Untersuchungen kann ich mich nicht mehr genau erinnern, wohl aber an die Szene im Wartezimmer. Dort saß eine Gruppe ziemlich alter Leute, vorwiegend Frauen, die mir ungefragt Ratschläge gaben. Eine hagere Frau mit tiefen Sorgenfalten riet mir, jede Flüssigkeit, die ich zu mir nehme, zuerst tüchtig abzukochen. »Die Keime im Trinkwasser sind schuld, sie machen uns krank!«, sagte sie mit voller Überzeugung. Eine dicke Frau mit roten Wangen hingegen schwor auf regelmäßige Klistiere. Ein Mann mit Einstein-Frisur berichtete, dass er einen Klassenkameraden gehabt habe, der wegen saurem Mundgeruch ausgelacht worden sei. Später habe dieser zu »spinnen« angefangen und lebe seither in einer psychiatrischen Klinik. »Man muss gut auf den Darm hören und ihn hegen und pflegen. Seit ich viel rohes Gemüse und frische Früchte esse und ausreichend Wasser trinke, geht es mir auch seelisch viel besser.« Eine Greisin stand immer wieder auf, um am Rollator im Wartezimmer auf und ab zu gehen. Sie ermahnte mich mit moralisch erhobenem Zeigefinger: »Sie müssen sich bewegen, junger Mann. Die Urmenschen waren dauernd in Bewegung. Der Darm braucht diese Bewegung. Alle Darmprobleme kommen vom Herumsitzen.«

Als nun der Magen-Darm-Experte alle Befunde studiert hatte, bat er mich, in sein Sprechzimmer zu kommen. Dort verkündete er erleichtert: »Alles ist gut, Sie haben nichts. Ihre Beschwerden sind rein funktionell. Das heißt, sie werden von der Psyche verursacht. Wenn Sie einverstanden sind, vereinbare ich einen Termin bei einem Facharzt für Psychosomatik. Für funktionelle Darmprobleme ist er der Experte.« Ich willigte ein und bereits eine Woche später befand ich mich in einem kleinen Altstadtzimmer in einem bequemen Ledersessel, meine Füße auf einem Teppich aus blauem Filz. Mir gegenüber saß ein freundlich lächelnder älterer Mann, der mir sehr genau zuhörte und dauernd verständnisvoll nickte.

Das Giftgas, das Blut, die Lavasteine – all das interessierte ihn erstaunlich wenig. Für ihn waren diese Dinge nichts weiter als der Ausdruck eines tiefergehenden psychischen Problems, das er mithilfe meiner Familiengeschichte aufdecken wollte. Er war so überzeugt von seiner Theorie, dass er alles, was ich sagte – vom sauren Aufstoßen bis zu meiner Hock-Strategie bei Darmkrämpfen – ignorierte. Am meisten störte mich, dass er in Sekundenschnelle auf jede Frage eine Antwort parat hatte, für jedes Symptom eine Deutung. Denn von meinem Vater, der Sozialwissenschaftler war, hatte ich gelernt, wie wenig wir wissen und wie wichtig es ist, Unwissenheit auszuhalten, um offen für neue Einsichten zu sein. Am Ende der Besprechung gab mir der Arzt einen Termin für ein weiteres Gespräch, den ich aber absagte. Ich war nicht bereit, meinen Darm als blutenden, stinkenden Sklaven meiner Psyche zu betrachten.

Am Gymnasium lief es derweil immer besser für mich. Meine Klasse wählte mich sogar zum Klassensprecher. Zudem nahm ich mir den Rat der Greisin am Rollator zu Herzen und begann, öfter Sport zu treiben: Rennen im Wald und Tischtennis mit meinen Freunden. Auch trank ich deutlich mehr Wasser. Für das Abkochen hatte ich allerdings keine Zeit. Außerdem gab mir meine Mutter regelmäßig Knochenmark zu essen (dazu später mehr). Durch diese Veränderungen meines Lebensstils entspannte sich mein Darm. Die Beschwerden verschwanden vollständig.

Was blieb, war die unangenehme Erinnerung an zwei Ärzte, die mich nicht verstanden. Der Magen-Darm-Experte interessierte sich ausschließlich für greifbare »strukturelle« Krankheiten. Ein Darm, der von Typhus-Bakterien angefressen war, hätte ihn sicherlich begeistert. Auch eine Schleimhaut, aus der eine faustgroße Geschwulst spross. Derartiges hatte ich zum Glück nicht zu bieten. Dem Psychosomatiker wiederum dienten meine Symptome als willkommene Beweisstücke, um seine Seele-ist-Chef-von-allem-Theorie zu bestätigen. Genau genommen jedoch interessierten sich beide nicht dafür, woran ich wirklich litt. Mehr noch: Für mich interessierten sie sich überhaupt nicht.

Nach dem Gymnasium überlegte ich, Psychologie zu studieren, und besuchte auch mehrere Vorlesungen. In einer Einführungsveranstaltung machte der Professor uns klar, dass wir in diesem Studium keine Lösungen für unsere persönlichen Probleme finden würden. »Psychologie ist eine exakte Wissenschaft, die sich mit der Messung von mentalen Fähigkeiten wie Intelligenz und Gedächtnis befasst«, sagte er stolz. In der kognitiven Psychologie erhitzte sich eine Debatte über parallele und serielle Informationsverarbeitung. Und all diese abstrakten Dinge fanden ausschließlich im Kopfhirn statt. Ich musste also schnell einsehen, dass der Darm kein wichtiger Gegenstand dieses Faches war.

Eine ehemalige Klassenkameradin aus dem Gymnasium lud mich ein, mit ihr in eine Medizin-Vorlesung zu gehen. Sie war überzeugt, dass mich Medizin interessieren würde, weil ich mich als Klassensprecher um meine kranken oder verletzten Mitschüler gekümmert hatte. Gemeinsam nahmen wir an einer Reihe von Anatomie-Vorlesungen teil. Am spannendsten fand ich dabei jene über den Verdauungstrakt. Der Assistent schob eine unter einem weißen Tuch versteckte Leiche auf einem Rollwagen in den Hörsaal. Der Professor nahm das Tuch weg, und ein blasser, dicklicher Mann kam zum Vorschein. Ein ätzender chemischer Geruch machte sich breit. Die Bauchdecke des Körpers war bereits entfernt, sodass wir die Innereien sehen konnten, die von einem Rahmen aus Fett umgeben waren. Der Dozent zeigte uns, wie Leber, Gallenblase, Milz, Magen, Dünn- und Dickdarm zueinander in Position lagen. Besonders beeindruckte es mich, als er den Darm samt Gekröse aus dem Bauchraum hob und erklärte, dass dieser ein eigenes Nervensystem habe, das älter und ursprünglicher sei als das Gehirn. »Unser Gehirn ist eine Weiterentwicklung des Darmnervensystems. Deshalb sind sich Darm- und Hirnnerven so ähnlich«, dozierte er. Zur Veranschaulichung zeigte er uns einen kurzen Film über einen Polypen, der wild umherzuckte. »Sehen Sie, dieser Polyp hat kein Kopf-Nervensystem. Das Darmrohr, aus dem er hauptsächlich besteht, kann sich aber bereits koordiniert bewegen. Unsere Intelligenz ist im Darm entstanden.«

Nach dieser Vorlesung sagte mir mein Bauchgefühl unmissverständlich: »Du musst Medizin studieren.« In den ersten Jahren hatte ich die Gelegenheit, das Hirn und seinen Vorgänger, den Darm, mit eigenen Händen anzufassen und mithilfe von Gewebeschnitten zu inspizieren. Unter dem Mikroskop sahen die Nervenzellen von Darm und Hirn tatsächlich fast identisch aus. Nur war der Darm etwas klarer und logischer aufgebaut als das Gehirn. An einer Leiche präparierten wir den (1)Vagus-Nerv, der den Darm mit dem Hirn verbindet. Er hat seinen Ursprung im Hirn und schlängelt sich im Inneren des Halses bis zum Brustkorb hinab, meistens an der Seite großer Blutgefäße. Danach begleitet der Vagus die Speiseröhre und teilt sich anschließend in viele kleine Äste auf, die zum Magen und den Därmen führen. Stolz hielt ich einen wichtigen Pfeiler der Darm-Hirn-Connection in der Hand, die fortan eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielen sollte.

Im klinischen Unterricht stellten die Ärzte immer wieder Patienten vor, deren Beschwerden auf bekannte Krankheiten wie einen Herzklappenfehler, eine Nierenschwäche oder einen Hirninfarkt zurückgeführt werden konnten. Als Unterassistent fiel mir dann aber zunehmend auf, dass Patienten mit klaren Krankheitsbildern eher die Minderheit darstellten. Viele litten dagegen an Beschwerden, welche die Ärzte nicht erklären konnten. Und noch seltsamer: Viele hatten objektive Befunde, ohne entsprechende Symptome. Das Röntgenbild einer Patientin zeigte zum Beispiel starke Verformungen der Wirbelsäule, Rückenschmerzen hatte sie aber keine. Sie litt jedoch an Atembeschwerden, obwohl Bronchien und Lunge unauffällig aussahen. Ein anderer klagte über unerträgliche Schlafstörungen. Die Untersuchung im Schlaflabor ergab jedoch keine anormalen Befunde. Besonders große Mühe, die Beschwerden ihrer Patienten zu erklären, hatten die Magen-Darm-Spezialisten. »Die Hälfte spinnt einfach«, sagte mir lachend ein Konsiliararzt der Gastroenterologie.

Nach dem Studium übernahm ich die Leitung einer Studie, die den Verlauf unklarer Körpersymptome untersuchte. Ich durfte mehr als hundert Patienten über drei Jahre hinweg begleiten, deren körperliche Beschwerden trotz aufwendigen Abklärungen mit Röntgenstrahlen, Spiegelungen, Herzkathetern und Ultraschalluntersuchungen keine Befunde ergaben, welche die Symptome erklärten. Die meisten hatten Magen-Darm-Probleme, die ich ja aus eigener Erfahrung gut kannte. Im Gegensatz zu mir litten die Patienten allerdings oft über Jahre an den Beschwerden. Und viele von ihnen verfügten über ausgiebige Therapieerfahrung. Eine Patientin gab ihr halbes Vermögen für eine Handvoll kleiner Kügelchen aus, die aber leider weder ihr Unwohlsein im Unterbauch noch ihr saures Aufstoßen linderten. Eine andere versuchte, mit Akupunktur ihren geblähten Bauch zu entspannen. Auch das blieb erfolglos. Ein Mann mit Oberbauchkrämpfen suchte über 50 verschiedene Fachleute auf, vom Trauma-Therapeuten über einen Tantra-Heilpraktiker bis hin zu einem heilkundigen Chinesen. Doch all diesen Experten gelang es nicht, seine Krämpfe wegzuzaubern.

Mir fiel nun die Aufgabe zu, mit den Patienten die Enttäuschung auszuhalten, dass auch die Schulmedizin nicht immer helfen konnte. Darmbeschwerden, Angst, Scham und sozialer Rückzug waren bei vielen von ihnen aufs Engste miteinander verknüpft, wodurch sich mir abermals die Vorstellung aufdrängte, dass Hirn und Darm ein zusammenhängendes Organ bildeten. Damals gab es jedoch noch kaum Forschung zur Darm-Hirn-Connection. Es frustrierte mich, den Patienten mit ihren unklaren Bauchsymptomen, die ich so gut verstand, nicht besser helfen zu können.

Als Assistenzarzt wandte ich mich deshalb einem objektiven und, wie ich dachte, einfacheren Problem zu: dem Körpergewicht. Gleichzeitig war ich zuständig für die psychiatrische Abklärung bei Übergewicht und Magersucht. Meine übergewichtigen Patienten riefen mich oft an, reklamierten über Wartezeiten, konnten laut und impulsiv werden, lebten meist in funktionierenden Beziehungen und kannten viele Menschen. Im Gegensatz dazu waren meine untergewichtigen Patienten schüchtern, schämten sich für alles und jedes, zogen sich sozial eher zurück, hatten oft keinen Partner, reklamierten fast nie und riefen mich nur selten an. Es schien mir offensichtlich, dass Körpergewicht und Persönlichkeit voneinander abhängig waren.

Mittels einer repräsentativen Studie konnte ich zeigen, dass mein Eindruck korrekt war: Viel Körperfett ging mit extravertierten, impulsiven Persönlichkeitszügen einher, während Untergewicht mit Ängsten und Sorgen verknüpft war.[1] In meiner Habilitation untersuchte ich dann die Zusammenhänge zwischen Gewicht und Psyche über die Zeit. Mein Hauptbefund war, dass Menschen, die vor dem Alter von siebzehn Jahren depressiv waren, später im Erwachsenenleben jedes Jahr 40 Prozent mehr an Gewicht zunahmen als Personen, die nicht depressiv waren, selbst dann, wenn ihre Jugenddepression vollständig verschwand. Dies führte dazu, dass die Hälfte von ihnen im Alter von 40 Jahren übergewichtig war.[2] Vier andere Studien bestätigten meinen Befund und damit meine Vermutung, dass Psyche, Hirn, Darm, Körperfett und Ernährung ein zusammenhängendes System sind. Es dämmerte mir, dass aufgrund dieses Wissens grundlegend neue und revolutionäre Therapien entwickelt werden konnten.

Während meines Forschungsaufenthalts am National Institute of Mental Health in den USA publizierte ich eine Studie, die belegte, dass eine kurze Schlafdauer die Gewichtszunahme steigert und zu Übergewicht führt. Dieses Ergebnis fand ein enormes Medienecho und kann seither in jeder Frauenzeitschrift und in jedem Gesundheitsratgeber nachgelesen werden. Darüber hinaus konnte ich zeigen, dass Asthma, Depression und Übergewicht auf komplexe Art miteinander verknüpft sind. In den USA lernte ich zudem neue Methoden kennen, die mir später halfen, Botenstoffe, Verdauungshormone und Hirn-Aktivität bei Essstörungen und Depression zu untersuchen.

Weil es in den USA keine gesunden, über Jahrhunderte entwickelten Esstraditionen gibt, sondern die Ernährung ganz der Industrie überlassen wird, begann ich allerdings auch, mich ungesund zu ernähren. Ich trank bereits am Morgen gesüßte Limonaden, aß Sandwiches mit einem Pfund Erdnussbutter und Konfitüre, Brot zu allen Mahlzeiten, schlief wenig, nahm koffeinhaltige Getränke im Übermaß zu mir und rauchte auch wieder regelmäßig. Dies führte dazu, dass ich nicht nur zum Körpergewicht forschte, sondern selbst übergewichtig wurde. Diese persönliche Erfahrung gab mir allerdings die Gelegenheit, bewusst Strategien zu entwickeln, um Gewicht zu verlieren und das Rauchen endgültig aufzugeben.

Zurück in der Schweiz baute ich ein Forschungsteam auf, mit dem ich das Hirnbelohnungssystem bei Menschen mit Bulimie untersuchte. Die Bulimie zeichnet sich durch unkontrollierte Essanfälle – sieben Cremeschnitten und ein Gugelhopf innerhalb von einer Viertelstunde sind nicht selten – und gegenregulierende Maßnahmen aus, die horrende Kalorienzufuhr sofort wieder loszuwerden, zum Beispiel durch Erbrechen oder Abführmittel. Ein derart gestörtes Essverhalten hat immer eine massive Beeinträchtigung des Gefühlslebens zur Folge. Oft führt es auch zu Depressionen, zur Abnahme sozialer Interessen, zu Beziehungsproblemen und zur Störung des Knochenaufbaus.

In diesem Rahmen interessierte ich mich besonders für Dopamin, weil dieser Botenstoff sowohl im Hirn als auch im Darm eine große Rolle spielt und mit dem Körpergewicht und der Depression in Zusammenhang steht. Wir fanden heraus, dass Patientinnen mit (1)Bulimie einen Dopamin-Mangel aufwiesen. Dieser förderte die Essanfälle, aber auch die Unfähigkeit, das Interesse vom Essen auf andere Dinge zu lenken. Zudem entdeckten wir, dass ein Dopamin-Mangel zur Ausschüttung des Hormons Ghrelin führte, was nicht nur Hunger, sondern auch eine depressive Stimmung mit sich brachte. Es bestätigte sich also einmal mehr, dass wir Hirn und Darm zusammendenken müssen. Und da Medikamente, Nahrung und Psychotherapie die Dopamin-Ausschüttung in Hirn und Darm beeinflussen, konnte ich auf der Basis unserer Befunde die Behandlung meiner Patienten maßgeblich verbessern.

Aktuell führe ich eine große Studie zur psychischen Gesundheit, Hirn-Aktivität, Verdauung und zum Metabolismus durch. Dabei setzen wir neueste Methoden ein, zum Beispiel Untersuchungen der Darmbakterien, der Entzündungsproteine im Blut und epigenetischer Veränderungen von Wachstumshormonen des Gehirns. Diese Messungen werden uns helfen, Störungen der Darm-Hirn-Connection bei häufigen Gesundheitsproblemen wie Übergewicht, Angst und Depression zu erkennen.

Wie schon erwähnt, sprach ich vor mehr als zwanzig Jahren als frischgebackener Arzt mit über hundert Menschen, die an Über- und Untergewicht sowie an unerklärlichen Magen-Darm-Beschwerden litten, wodurch ihr psychisches Wohlbefinden massiv eingeschränkt wurde. Ihre und meine Ratlosigkeit erlebte ich als quälend. Was ich damals jedoch in keiner Weise ahnen konnte, ist die Revolution des Wissens über die Darm-Hirn-Connection, die sich im Moment abspielt.

Der Darm ist ein wichtiges Sinnesorgan. Darmbakterien und -parasiten bestimmen die Persönlichkeit mit. Essstörungen wie (2)Bulimie können die Folge einer Entzündung im Darm sein, die das Hirn angreift. Olivenöl, Walnüsse und Kastanien wirken antidepressiv. Ein übermäßig durchlässiger Darm kann zu Psychosen führen. LSD (1)hilft, die Darm-Hirn-Connection zu erkunden. Klingt wie Science-Fiction. Aber genau das belegen neueste Studien und meine klinischen Erfahrungen. Bisher hat man den Darm als fleißigen Diener der Verdauung und als lästige Alarmanlage für seelische Konflikte missverstanden. Nun zeigt sich, dass der Darm ein zentraler Knotenpunkt der Balance zwischen Krankheit und Gesundheit ist. Dies betrifft den Körper, aber auch die Psyche. Deshalb verwende ich nicht den geläufigeren Begriff »Hirn-Darm-Connection«, sondern spreche von »Darm-Hirn-Connection«. Denn der Darm tritt sowohl bei der Evolution als auch bei vielen Krankheiten als Erster auf die Bühne.

Die Darm-Hirn-Connection beinhaltet verschiedene Teile. Sie besteht aus einer nervlichen Achse vom Darm zum Hirn und vom Hirn zum Darm, die ich im Vagus-Kapitel beschreiben werde. Darüber hinaus besteht sie aus einer hormonellen Achse und gemeinsamen Botenstoffen. Darauf gehe ich im Hormon-Kapitel ein. Das Hirn verfügt über spezielle Regionen, die sich besonders mit dem Darm beschäftigen. In den Kapiteln über die Inselrinde und das Hirnbelohnungssystem erkläre ich die Aufgaben dieser Regionen, und warum sie für unsere Gesundheit so wichtig sind. Im Kapitel über die Darmbakterien beschreibe ich deren essenzielle Funktion in der Kommunikation zwischen Darm und Hirn. Ferner gibt es eine Immun-Achse, über die wir immer mehr wissen und die uns hilft, die Ursachen von schweren psychiatrischen und neurologischen Krankheiten zu entdecken. Auf sie gehe ich im Kapitel über die Darmbarriere ein. Und schließlich leben Parasiten im Darm, die versuchen, unser Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen. Ihnen ist das letzte Kapitel gewidmet.

Abb. 1 Das Darmgesicht.

© Erwin Wurm: Darmgesicht 2017. Farbstift auf Papier. Courtesy of Kunstmuseum Luzern/Schweiz. Sammlung Kunstmuseum Luzern/Schweiz

Der Vagus-Nerv: Beruhigende Darm-Kommunikation

mit Sigrid Breit und Aleksandra Kupferberg

Der (2)Vagus-Nerv ist ein wichtiger Teil der Darm-Hirn-Connection. Er arbeitet mit vielen anderen Nerven zusammen, die man die »nervliche Darm-Hirn-Achse« nennt. Darm- und Stresshormone(1) sowie das Immunsystem(1) sind andere wichtige Teile. Doch diese sind deutlich langsamer. Beim Sezieren der Leiche im Anatomie-Unterricht beeindruckte mich der Vagus-Nerv besonders, weil er in zahlreichen Windungen durch den gesamten Körper wandert. Das Halten dieses Nervs gab mir ein beruhigendes Gefühl: Darm und Hirn waren miteinander verbunden, und diese Verbindung war nicht nur theoretisch oder spirituell, sondern ganz handfest. Das Berühren und Umfassen dieser Verbindung gab mir die Zuversicht, dass eine Ganzheit aus Körper und Geist möglich ist. Zu meinem glücklichen Erstaunen stellte ich viele Jahre später fest, dass dieser Nerv tatsächlich für Vertrauen, Wohlgefühl und Beruhigung zuständig ist.[1]

Der Vagus-Nerv-Stimulator

Eine interessante Fallgeschichte, die im Herbst 2017 in einer renommierten Fachzeitschrift publiziert wurde, zeigt eindrücklich die große Bedeutung des Vagus(3)-Nervs für unsere Verbindung mit uns selbst und unserer Umwelt.[2]

Pierre hatte im Alter von zwanzig Jahren einen katastrophalen Autounfall. Sein Hirn wurde dabei schwer verletzt. Er verlor vollständig die Fähigkeit, mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Selbst wenn seine Mutter seinen Namen rief und ihm liebevoll über die Stirn strich, zeigte er keine Reaktion, nicht einmal das Zucken eines Lides oder die minimale Veränderung der Mimik. Fünfzehn Jahre lang lebte er in diesem Zustand, den man »Wachkoma« nennt. Bereits nach einem Jahr Wachkoma gehen Neurologen von einer sehr schlechten Prognose aus. Das heißt, die Chance wieder zu erwachen, ist verschwindend klein. Besonders gering ist sie, wenn der Kontakt zwischen Thalamus(1) und Hirnrinde(1) vollständig unterbrochen ist. Dies war bei Pierre der Fall. Der Thalamus ist ein Kern im Zentrum des Gehirns, der Empfindungen aus dem Körper und Informationen aus den Sinnesorganen sammelt und an die höheren Zentren des Gehirns in der äußeren Hirnrinde weiterleitet.

Pierre hatte das Glück, dass seine Ärzte ihn nicht aufgaben. Sie hegten die Hoffnung, dass man die Verbindung zwischen Thalamus(2) und Hirnrinde(2) auch nach Jahren des Wachkomas noch verbessern kann. Sie betrachteten den Vagus(4)-Nerv, und damit die Darm-Hirn-Connection, als zentralen Kontakt zur Umwelt und gingen davon aus, dass diese Connection die Voraussetzung dafür ist, dass sich das Hirn nach einer schweren Verletzung neu organisieren kann. Wie bei einem Kind, bei dem die Liebe, und damit die Hirnentwicklung, vorwiegend durch den Darm geht, dachten sie, dass der Vagus-Nerv der Schlüssel zum Erwachen aus dem Koma ist. Deshalb setzten sie Pierre einen Vagus-Nerv-Stimulator ein. Dies ist ein Gerät, das im Brustbereich unter die Haut implantiert wird. Es verfügt über eine Elektrode, die spiralförmig um den Vagus-Nerv gewickelt wird, und einen Stromgenerator, der regelmäßig elektrische Impulse sendet, die den Nerv stimulieren. Ursprünglich wurde diese therapeutische Methode entwickelt, um über den Vagus-Nerv das Hirn von Menschen mit Krampfanfällen zu beruhigen.

Bei Pierre waren die Ärzte besonders vorsichtig, weil es bis dahin keinerlei Erfahrungen gab, wie man ein Koma mit Vagus(5)-Nerv-Stimulation behandelt. Zuerst gaben sie nur sehr geringe elektrische Impulse und sahen keine Wirkung. Dann steigerten sie die elektrische Intensität. Bereits nach einem Monat beobachteten sie mit Begeisterung erste Veränderungen von Pierres klinischem Zustand. Wenn seine Mutter ins Zimmer kam, zeigte er Anzeichen von Wachheit und Erregung. Wenn sie ihm zuwinkte, folgten seine Augen ihren Bewegungen. Er versuchte sich aufzurichten, wenn sie zu ihm sprach. Vor Freude hatte seine Mutter Tränen in den Augen, als sie diesen neuen Zugang zu ihrem Sohn erleben durfte.

Eine Hirnuntersuchung mittels Elektroenzephalogramm (EEG), das elektrische Signale des Gehirns auf der Kopfhaut misst, bestätigte die Veränderungen. Pierres Hirn war allgemein aktiver. Thalamus(3) und Hirnrinde(3) kommunizierten vermehrt. Die größte Zunahme der Hirn-Aktivität fanden die Ärzte in der Inselrinde(1), dank der wir überhaupt etwas fühlen und erleben können. Die spannende Verbindung zwischen Darm, Inselrinde und bewusstem Erleben erkläre ich ausführlich im dritten Kapitel. Trotz des unerwarteten Erfolgs in Pierres Behandlung bleibt sein Weg zur Gesundung langwierig und unsicher. Sein Beispiel gibt aber Hoffnung, dass wir durch die Beeinflussung der Darm-Hirn-Connection Krankheiten heilen können, die bisher als unheilbar gegolten haben.

Somatisches und vegetatives Nervensystem(1)

Wir unterscheiden ein somatisches und ein vegetatives Nervensystem(2). Das somatische ist zuständig für die bewusste Wahrnehmung der Umwelt durch Sehen, Hören und Fühlen. Zudem steuert es die absichtlichen Bewegungen der Muskeln. Der Vagus(6)-Nerv hingegen ist ein Teil des vegetativen Nervensystems. Man nennt es auch »viszerales« oder »autonomes Nervensystem«. Viszeral kommt von »viscus«, dem lateinischen Wort für Eingeweide. »Vegetativ« und »viszeral« weisen darauf hin, dass dieses Nervensystem für die inneren Organe zuständig ist, wobei die Verbindungen zum Darm besonders groß sind. »Autonom« wiederum bezieht sich darauf, dass dieses System nicht direkt unserem Willen unterworfen ist. Unsere bewussten Kontrollmöglichkeiten sind schon deshalb eingeschränkt, weil viele vegetative Prozesse unbewusst ablaufen. Wir wissen also gar nichts davon.

Neue revolutionäre Befunde zeigen, dass das vegetative und das somatische Nervensystem viel enger zusammenarbeiten, als man früher gedacht hat. Wenn wir in der Gartenmauer eines Hauses im Tessin eine Schlange sehen, nehmen wir diese vielleicht bewusst wahr. Das braucht Zeit. Ist es eine echte Schlange oder ein Plastikspielzeug oder nur ein Schlauch? Was sind die Merkmale von Giftschlangen? Weil das für eine Notreaktion viel zu langsam geht, aktiviert das Sehsystem auf unbewusstem und sehr schnellem Weg den Mandelkern(1) im Schläfenlappen(1). Dieser gibt daraufhin reflexartig Impulse an das vegetative Nervensystem(3) weiter. Deshalb weiß der Darm manchmal schneller Bescheid als unser Bewusstsein, dass eine mögliche Lebensgefahr besteht. Übelkeit kommt auf. Unruhe breitet sich in der Magengegend aus. Das bewusste Hirn nimmt erst diese über den Vagus(7)-Nerv vermittelten Darmsignale wahr und beendet unter dem Druck dieses Notrufs die Überlegungen zu den Giftschlangenmerkmalen. Wir treten angsterfüllt ein paar Meter zurück. Doch dann kommt ein Mädchen aus dem Haus gelaufen und lacht: »Die Schlange heißt Linda. Sie ist ganz harmlos. Wir schlafen im gleichen Bett.« Das bewusste Gehirn gibt Entwarnung. Die Kontrollzentren im Vorderhirn(1) befehlen dem Mandelkern(2) runterzufahren. Nun entspannt sich auch der Bauch, und wir kriegen Lust auf die warmen Maroni, die das Mädchen uns hingestellt hat.

Stimulation aus dem Darm

Das vegetative Nervensystem(4) enthält zwei Teile, den Sympathikus(1) und den Parasympathikus(1). Der Parasympathikus befindet sich vorwiegend im Vagus(8)-Nerv, der die inneren Organe mit dem Hirn verbindet. Der Vagus wird auch als »Hirnnerv« bezeichnet, weil er dem Hirn entspringt und nicht, wie die meisten Nerven, dem Rückenmark(1). Das belegt seinen direkten Draht zu den obersten Instanzen. Der untere Teil des Dickdarm(1)s wird nicht vom Vagus-Nerv bedient, sondern von Nerven aus dem untersten Teil des Rückenmarks, die aus dem Kreuzbein kommen. Weil der Parasympathikus seinen Ursprung ganz oben im Gehirn und ganz unten im Kreuzbein hat, wird er auch als »kraniosakrales System« bezeichnet, von lateinisch »cranium«, dem Schädel, und »os sacrum«, dem Kreuzbein. Man nennt ihn auch »Erholungsnerv«.

Der Sympathikus(2), der Stressnerv, entspringt nicht dem Hirn, sondern dem Rückenmark(2). Allein dieser Ursprung zeigt schon, dass er primitiver und weniger tiefgründig ist als der Vagus(9)-Nerv. Im Rückenmark geht es vor allem um Reflexe, nicht um Reflexion. Vom im Rückenmark gelegenen Nervenzellen gehen Ausläufer seitlich weg und bilden neben der Wirbelsäule mit den dort angesiedelten Nervenzellen symmetrisch einen rechten und einen linken Strang. Diese sympathischen Grenzstränge sind wichtige Relaisstationen. Das heißt, dass eine Nervenzelle dort endet und ihre Information an die nächste weitergibt. Innerhalb einer Zelle findet die Kommunikation elektrisch und digital statt, zwischen den Zellen dagegen chemisch und analog. Mit dieser Kombination aus digitalen und analogen Elementen erreicht das Nervensystem selbst im relativ einfachen Stressnerv eine Komplexität, von der ein normaler Computer nur träumen kann. Vom Grenzstrang neben der Wirbelsäule führen die Endnerven des Sympathikus zu den inneren Organen: Blutgefäße, Herz, Lungen, Kehlkopf(1), Tränen-, Speichel(1)- und Schweißdrüsen, Blase, Magen(1)(2)(1)(1)