utb 3068
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Hans-Helmut Decker-Voigt
Dorothea Oberegelsbacher
Tonius Timmermann
Lehrbuch Musiktherapie
3., aktualisierte Auflage
Mit 8 Abbildungen und 4 Tabellen
Ernst Reinhardt Verlag München
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hans-Helmut Decker-Voigt, 1990–2010 Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, seitdem dort Senior-Professor in der Lehre und Forschung für Künstlerische Therapien, Gast-und Stiftungsprofessuren in USA, Japan, Ungarn, Estland, Russland, Gründungsherausgeber der Zt. „Musik und Gesundsein“, freier Schriftsteller. www.decker-voigt-archiv.de
Von Hans-Helmut Decker-Voigt außerdem im Ernst Reinhardt Verlag lieferbar: „Schulen der Musiktherapie“ (ISBN 978-3-497-01574-0) und „Mit Musik ins Leben“ (ISBN 978-3-497-01928-1).
Dr. Mag. Dorothea Oberegelsbacher lehrt Musiktherapie an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien, und Psychotherapie an der Sigmund Freud Privat-Universität, Wien. Niedergelassene Musiktherapeutin und Psychotherapeutin.
Prof. Dr. Tonius Timmermann, leitete die Berufsbegleitende Musiktherapieausbildung am Freien Musikzentrum München und den Masterstudiengang an der Universität Augsburg. Zahlreiche Veröffentlichungen. Freie Praxis in München und Wessobrunn. Nähere Informationen unter www.timmermann-domain.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
UTB-Band-Nr.: 3068
ISBN 978-3-8252-5295-3
© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in EU
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Foto auf S. 51 von Ulrike Höhmann, Haslach
Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Einleitung
IGrundlagen
1Definition
von Dorothea Oberegelsbacher
2Praxisfelder und Indikation
von Tonius Timmermann und Dorothea Oberegelsbacher
3Forschungsstand Musiktherapie
von Dorothea Oberegelsbacher und Tonius Timmermann
4Forschungsstand Musikmedizin und Musikpsychologie oder:„Das Gehirn hört mehr als die Ohren“
von Hans-Helmut Decker-Voigt
5Das Instrumentarium: Streicheln und Ermorden – Musikinstrumente: ihr Appell, ihre Symbolik
von Hans-Helmut Decker-Voigt
6Praxeologie
von Tonius Timmermann
7Improvisation
von Tonius Timmermann
8Rezeption
von Tonius Timmermann
9Das Wort in der Musiktherapie
von Tonius Timmermann
10Anthropologische und ethnologische Aspekte
von Tonius Timmermann
11Historische Aspekte
von Tonius Timmermann
12Die Musiktherapie der Gegenwart
von Dorothea Oberegelsbacher und Tonius Timmermann
13Zusammenfassung
von Dorothea Oberegelsbacher,Tonius Timmermann und Hans-Helmut Decker-Voigt
IIMensch und Musik: Lebenszyklen – Klinische Praxis – Theoriemodelle
14Der pränatale Raum oder: „An-Stoß und An-Spiel“
14.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
14.1.1Der ungestörte Schwangerschaftsverlauf unter Aspekten der Entwicklungspsychologie und der Rolle der Musik
von Hans-Helmut Decker-Voigt
14.1.2Pränatale Prävention
von Dorothea Oberegelsbacher
14.2Beispiele aus der klinischen Praxis – Musiktherapie mit belasteten Schwangeren
von Dorothea Oberegelsbacher
14.3Theoriebildung
von Dorothea Oberegelsbacher
15Der perinatale, postnatale und präverbale Raum (0–2): „Da, da, da“
15.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
15.1.1Normalverlauf unter Aspekten der Entwicklungspsychologie und der Rolle der Musik
von Hans-Helmut Decker-Voigt
15.1.2Störungsmöglichkeiten
von Dorothea Oberegelsbacher
15.2Beispiele aus der klinischen Praxis
15.2.1Musiktherapie in der Neonatologie
von Dorothea Oberegelsbacher
15.2.2Musiktherapie mit einem sog. „Schrei-Baby“
von Dorothea Oberegelsbacher
15.2.3Musiktherapie mit einem autistischen Patienten
von Dorothea Oberegelsbacher
15.3Theoriebildung
15.3.1Die Sphäre des Traumatischen in der Musiktherapie
von Dorothea Oberegelsbacher
15.3.2Narzissmus:Wer klingt am schönsten im ganzen Land?“
von Hans-Helmut Decker-Voigt
15.3.3Das Spezifische des Nonverbalen in den künstlerischen Psychotherapien und die Rolle der Musiktherapie
von Tonius Timmermann
16Kleinkindphase (2–6): „Alle meine Entchen“
16.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Hans-Helmut Decker-Voigt
16.2Ein Beispiel aus der klinischen Praxis – Musiktherapie mit einem vierjährigen Mädchen nach dem Tod der Mutter
von Tonius Timmermann
16.3Theoriebildung
16.3.1Theorien zum Kleinkindalter von Kohut, Erikson, Piaget und Winnicott: „Kindsein hat viele Theorieväter“
von Hans-Helmut Decker-Voigt
16.3.2Entwicklungsretardierungen
von Dorothea Oberegelsbacher
17Späte Kindheit (6–12)
17.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Tonius Timmermann
17.2Beispiele aus der klinischen Praxis
von Hans-Helmut Decker-Voigt
17.2.1Musiktherapie mit Trennungskindern
17.2.2Musiktherapie mit einem elfjährigen Jungen
17.2.3Musiktherapie bei einem sexuell missbrauchten Mädchen
17.2.4Gruppenmusiktherapie mit kriegstraumatisierten Kindern
von Tonius Timmermann
17.3Theoriebildung
von Tonius Timmermann
18Pubertät (12–16): „Weder Fisch noch Fleisch“
18.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Hans-Helmut Decker-Voigt
18.2Beispiele aus der klinischen Praxis
18.2.1Musiktherapie mit einem 14-jährigen magersüchtigen Mädchen
von Tonius Timmermann
18.2.2Musiktherapie mit einem 16-jährigen verhaltensauffälligen Jungen
von Tonius Timmermann
18.2.3Musiktherapie mit einer 15-jährigen Patientin mit Schädel-Hirn-Trauma
von Tonius Timmermann
18.2.4Gruppenmusiktherapie mit geistig behinderten Jugendlichen
von Dorothea Oberegelsbacher
18.3Theoriebildung: „Vom Kindsein im Erwachsenwerden“
von Hans-Helmut Decker-Voigt
19Adoleszenz (16–28)
19.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Dorothea Oberegelsbacher
19.2Beispiele aus der klinischen Praxis
19.2.1Musiktherapie mit einer 26-jährigen bulimischen Patientin
von Tonius Timmermann
19.2.2Gruppenmusiktherapie in der stationären Jugendpsychiatrie
von Tonius Timmermann
19.2.3Musiktherapie mit einem schizophrenen Mann
von Dorothea Oberegelsbacher
19.3Theoriebildung
von Dorothea Oberegelsbacher
20Mittlere Lebensphase (28–60)
20.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Tonius Timmermann
20.2Beispiele aus der klinischen Praxis
20.2.1Musiktherapie mit einer 29-jährigen bulimischen Patientin
von Tonius Timmermann
20.2.2Musiktherapie mit einer forensischen Patientin
von Tonius Timmermann
20.2.3Dora – Eine musiktherapeutische Aufstellungsarbeit
von Tonius Timmermann
20.2.4Gruppenmusiktherapie in der stationären Behandlung von Alkoholkranken
von Dorothea Oberegelsbacher
20.2.5Musiktherapie mit einer Dialysegruppe
von Hans-Helmut Decker-Voigt
20.3Theoriebildung: Systemische Grundorientierung in der Erwachsenentherapie und Aufstellungsarbeit
von Tonius Timmermann
21Senium (60–75)
21.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Dorothea Oberegelsbacher
21.2Beispiele aus der klinischen Praxis
21.2.1Ein Lebenslauf – musikalisch betrachtet
von Tonius Timmermann
21.2.2Eine Fallvignette aus der Einzelmusiktherapie mit einer neurologisch erkrankten Patientin
von Hans-Helmut Decker-Voigt
21.3Theoriebildung
von Tonius Timmermann
22Letzter Lebensabschnitt (ab 75)
22.1Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten
von Tonius Timmermann
22.2Ein Beispiel aus der klinischen Praxis – Musiktherapie in einem Hospiz
von Tonius Timmermann
22.3Theoriebildung
von Tonius Timmermann
IIIBerufsprofile – Ausblicke – Vernetzungen
23Berufliche Identität
von Dorothea Oberegelsbacher
24Musiktherapie – Psychotherapie – Ausblick auf die Forschung
von Tonius Timmermann
25Aspekte zu den Musiktherapie-Ausbildungen vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Rahmen der EU
von Hans-Helmut Decker-Voigt
Schlussakkord: „Lieber Herr Kohl …“ – Friedrich Fröbel im Jahre 1847 an den Komponisten Robert Kohl 306
Literatur
Anhang: Adressen von Ausbildungstätten und Organisationen
Sachregister
Vorwort
Persönliches von drei Personen … denn Sie könnten dem Irrtum verfallen, ein „Lehrbuch“ versammele alles gegenwärtige Wissen zu einem Fach, hier: zur Musiktherapie. Nicht einmal an Lexika oder Handbücher kann dieser Anspruch gestellt werden, obwohl der Anspruch „Lehrbuch“ die Denkrichtung hin zu einem Buch mit enzyklopädischem Wissensinhalt auslöst. Irrtümlicherweise. Lehrbücher zeigen auch immer nur Ausschnitte. Unser Anspruch ist am besten zu umreißen mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry:
„Vollkommenheit ist nicht erreicht,
wenn nichts mehr hinzuzufügen ist,
sondern wenn nichts mehr da ist,
was man weglassen könnte.“
Gefunden wurde das obige Zitat von Saint-Exupéry auf der Speisekarte während eines Aeroflot-Fluges von Berlin nach Moskau, und „Speisekarte“ passt gut zum Anspruch dieses Lehrbuches: Auf unserer Speisekarte stehen die Lehrpositionen und Praxisforschungen von uns drei AutorInnen, die der Ausgang für die Entwicklung dieses Buches waren. Auch vor solcher Ausgangsposition gibt es meist einen Anfang: Zunächst wurde dieses Buch vom Ernst Reinhardt Verlag bei Hans-Helmut Decker-Voigt nach seinem allgemeinen Einführungsvortrag in Musiktherapie im Münchner Gasteig in Auftrag gegeben. Bald die Unmöglichkeit einsehend, ein Lehrbuch mit dem Anspruch i. S. des Antoine de Saint-Exupéry allein schreiben zu können, begann Decker-Voigt die Suche nach Mit-TrägerInnen dieses Projekts, und so entstand unser bemerkenswertes AutorInnen-Trio. Bemerkenswert, weil wir in mehreren Jahren immer zusammenrückender Zusammenarbeit keinen einzigen wirklichen Streit hatten – und dies, obwohl unsere theoretischen und wissenschaftlichen Positionierungen nicht identisch sind. Im Blick auf Menschenbild und ethische Ziele trafen wir uns jedoch immer konsensual und in einer Schnittfläche aus folgenden inhaltlichen Positionen: Tiefenpsychologisch-phänomenologisch, besonders Individualpsychologie und Psychoanalyse, bei Dorothea Oberegelsbacher – tiefenpsychologisch orientiert, dabei humanistische und systemisch-phänomenologische Aspekte einbeziehend, bei Tonius Timmermann. Intermodal-ausdruckstherapeutisch vor dem Hintergrund humanistischer Psychologie und damit auch tiefenpsychologisch-phänomenologisch arbeitend: Hans-Helmut Decker-Voigt. Alle zusammen arbeiten wir am Brückenschlag zwischen qualitativen und quantitativen Erforschungsinstrumentarien zur Rolle der Musik im Menschsein zwischen Gesundheit und Krankheit.
Wir schauen mit Dankbarkeit auf das halbe Jahrzehnt unserer Zusammenarbeit als Trio zurück – immerhin die Zahl, die die normalerweise anstrengendste Gruppierung im menschlichen Miteinander bedeutet.
Insgesamt haben wir vier Jahre an diesem Buch gearbeitet, geschätzt hatten wir am Anfang – ein Jahr! Bei 360 Seiten – vom Verlag vorgegeben durch den Reihencharakter bei UTB – klang ein Jahr geradezu viel: „Nur“ 120 Seiten pro AutorIn … Wir haben uns selten in unseren zusammengezählt 85 Jahren Berufs- und Publikationserfahrung derart geirrt! Denn die verabredete Pflicht, die jeweiligen Themen der beiden anderen AutorInnen zu bearbeiten, zu redigieren i. S. eines teaminternen Fachlektorats, wurde zur Lust, und zwar zur zeitraubenden. Denn diese „kreuzmodale“ Bearbeitung und Begleitung der anderen löste wiederum lebhafte tags- und nachtsüber geführte Gespräche aus. Wir gerierten zu einem Dauer-Symposion.
In diesem Zusammenhang muss unbedingt zur Lektüre unserer Danksagung motiviert werden. Denn unsere professionelle Lektorin im Verlag und unsere nächsten Menschen (Familie, KollegInnen, StudentInnen) wurden während der Dauerankündigung, wir befänden uns in der Fast-Schlussphase und das Buch erschiene in einem halben Jahr, auf eine für sie harte Geduldsprobe gestellt. Sie antworteten mit Sanftmut und Verständnis für diese Ablösungsprobleme von einem gemeinsamen geistigen Kind – gezeugt, getragen, geboren zu Dritt. Neben der Heimarbeit trafen wir uns zweimal jährlich wechselnd an unseren Wohnsitzen
●im bayerischen Wessobrunn,
●in Allenbostel/Lüneburger Ostheide und – als zugehöriges Gegenteil zum dörflichen Teil
●in der Metropole Wien.
Lachen Sie nicht: Die Orte und ihre Einbindung in unterschiedlichste Land- und Stadtschaft prägten auch dies Buch: Es ist gefüllt mit Einladungen zu Überblicken, zu Overviews, mit denen Bewohner von Flachlandschaften leben. Es ist gefüllt mit Tiefengrabungen zu vielen unserer Spezifizierungen in der Musiktherapie, zu denen der Blick von Bergen in Täler einlädt. Und es ist gefüllt mit der Dichte von beidem, Überblicke und Spezialisierungen, die sich teilweise bedingen, teilweise widersprechen, nur erkennbar in der Dichte einer lange gewachsenen Metropole.
Tiefsinnigerweise arbeiteten Dorothea Oberegelsbacher und Tonius Timmermann lange in der Stadt Sigmund Freuds mit seinen Verzweigungen zu C. G. Jung, zu Skinner. Sie, später wir drei, arbeiteten in der Stadt, in der der erste Studiengang für Musiktherapie im deutschsprachigen Westeuropa an der damaligen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst gegründet wurde; wir wanderten nach Hamburg, von wo aus die ersten Hochschulstudiengänge für Musiktherapie in der (damals westlichen) BRD gegründet wurden und trafen uns am meisten in der fast geografischen Mitte bei München, das im Freien Musikzentrum eine der führenden nicht staatlichen Ausbildungen in Musiktherapie anbietet und von dem wesentliche Impulse für neuere Studiengangsgründungen aus gingen (z. B. Augsburg).
Addiert verfügen wir drei über genau 85 Jahre musiktherapeutische und psychotherapeutische Berufserfahrung sowie pädagogische Erfahrung in der Ausbildung junger Menschen in diesem Beruf. Das machte uns angesichts des großen Netzwerks zu anderen KollegInnen und deren Institutionen auch mutig genug, verschiedene Musiktherapieströmungen in dieses Buch zu integrieren – mindestens durch eindrucksvolle Fallbeispielvignetten, die nicht unbedingt unsere eigenen musiktherapeutischen Repertoires spiegeln müssen.
Wir stellten fest, dass wir langsam „weise“ zu werden im Begriff sind – „weise“ i. S. von den beiden Baltes, die 1990 Weisheit definierten als „Expertenwissen im Bereich grundlegender Lebensfragen“ und weiter ausführten, dass zur Weisheit gehören:
●viel Faktenwissen zu verschiedenen Lebensbereichen,
●reichhaltiges Handlungswissen,
●ein hohes Maß an Verständnis der unterschiedlichen (oft widersprüchlichen) Kontextgebundenheiten des Lebens,
●Wissen, dass jedes Urteil immer nur relativ zu persönlichen und kulturellen Wertsystemen gültig ist und
●die Erkenntnis, dass jede Analyse von Lebensproblemen zwangsläufig unvollständig bleibt (Baltes/Baltes 1990).
So viel zu unserer gewachsenen und wachsenden „Weisheit“, die wir denjenigen entgegensetzen wollen, die die Weisheit aus einem Pott löffelten, dessen Inhalt bekanntlich ebenso absolut richtig wie begrenzt ist. Der immerwährende rote Faden: Wir wollten ein Lehrbuch zur Musiktherapie schreiben,
●das wir gerne in unseren eigenen Jahren als StudentIn gehabt hätten,
●das wir als Musiktherapie-Lehrende unseren heutigen Studierenden als Arbeitsmittel an die Hand geben und
●welches KollegInnen unserer und mehr oder minder benachbarter Disziplin sowie
●allgemein Interessierte als Wissens-, Anregungs- und Motivationsquelle hoffentlich mit Gewinn nutzen können.
Mögen Sie, liebe Leserinnen und Leser, ruhig und nüchtern mit diesem Buch arbeiten, mögen Sie dieses und jenes gut finden und anderes zu einseitig – dann holen Sie sich andere Bücher zu Rate.
Gewidmet unseren Studierenden in Augsburg, Hamburg, Wien, Zürich, Tallinn, Budapest, Orenburg/Russland, München, Bozen, Assisi sowie jenen aus unseren freien Seminaren.
Hans-Helmut Decker-Voigt,
Hamburg/Allenbostel – Lüneburger Heide
Dorothea Oberegelsbacher, Wien
Tonius Timmermann, Wessobrunn, München
Einleitung
Hinweise zum Aufbau dieses Lehrbuchs
Wir gingen folgendermaßen an dieses Projekt: Weniger i. S. eines „Synkretismus der Musiktherapie“ („synkretismus“ griech. = Verschmelzung verschiedener Lehren und Kulte mit der Gefahr unkritischer Übernahme von Argumenten anderer). Vielmehr mit der Annäherung, das in diesem Lehrbuch versammelte Wissen eklektizistisch aufzubauen und zwar i. S. des ursprünglichen Ekletizismus (griech. = Denkweise, die neben den eigenen, auch die Argumente der Denkmodelle und Handlungsmodelle anderer einbezieht und den Leser auf die Suche schickt, welche Richtung ihm oder ihr gegenwärtig am nächsten kommt). Es ist diejenige Denkweise, nach der wir auch unsere Studiengänge leiten: Das Lehrbuch folgt – entfernt – dem Aufbau einer Sonate (A-B-A’):
Teil I („Exposition“) beschäftigt sich mit den Grundlagen der Musiktherapie. Hier findet man Historisches, Definitorisches, Theoretisches, Praxeologisches …
Teil II („Durchführung“) orientiert sich am Lebenskreis und wie Musiktherapie darin zu wirken vermag. Dieser Mittelteil nimmt den größten Lese- und Denkraum ein und folgt heutiger entwicklungspsychologischer Betrachtung menschlichen Lebens – bezogen auf seine ganze Lebensspanne – in unserem Kulturkreis. So folgen alle Aspekte zur Rolle und Bedeutung der Musik in der jeweiligen Lebensphase dem Dreierschritt:
●Normalverlauf und Störungsmöglichkeiten,
●Beispiele aus der Praxis,
●Theoriebildung (s. Inhaltsverzeichnis).
Teil III („Reprise und Coda“) greift das thematische Material des ersten und zweiten Teils in Form schlussfolgender Reflexionen auf: Berufliche Identität, Einordnung in den Rahmen der Psychotherapie, Ausblick auf Forschung und Ausbildung sowie Adressmaterial zu Organisationen.
Hinweise zur Benutzung
1) Lehrbücher sind nicht nur zum Durchlesen, sondern zum Nach- und Vorarbeiten und Beschäftigtsein mit Teilthemen. Deshalb verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick durch die Kenntnisnahme der Gliederung im Inhaltsverzeichnis.
2) Zur Vertiefung mit einem Teilthema finden Sie am Schluss eines jeden Kapitels Literaturempfehlungen, mit denen wir gute Erfahrungen beim Ausweiten, Vertiefen und Einbinden des Teilaspekts gemacht haben.
3) Wenn Sie zitieren, so bitten wir Sie, den Namen des jeweiligen Autors eines Kapitels zu nennen und nicht nur das Lehrbuch mit allen drei AutorInnen.
4) Der Adressteil mit Angaben zu Organisationen und Verbänden wurde im besten Wissen der Aktualität erstellt. Da sich aber Adressen am schnellsten ändern, stehen wir gerne für Auskünfte dann bereit, wenn Sie keinen sofortigen Kontakterfolg haben.
5) Wir stehen nicht nur bereit, sondern hoffen auf und danken für Feedbacks, für Anregungen aller Art – aus Ihrer Arbeit mit diesem Buch heraus!
IGrundlagen
1Definition
von Dorothea Oberegelsbacher
„Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen;
und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“
(Ludwig Wittgenstein)
Musiktherapie ist die gezielte Verwendung des Mediums Musik oder seiner Elemente zu therapeutischen Zwecken. Sie ist immer in eine bewusst gestaltete therapeutische Beziehung eingebunden und verwendet nicht sprachliche und sprachliche Kommunikation sowie psychologische Mittel und Techniken.
Musiktherapie wendet sich an Menschen mit Leidenszuständen, Verhaltensstörungen und Entwicklungsrückständen, um an der Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung von seelischer, geistiger und körperlicher Gesundheit mitzuwirken (Oberegelsbacher 2004). Ihre spezifische Möglichkeit ist, dass sie Menschen über einen präverbalen bzw. extraverbalen, emotionsbetonten Zugang erreicht, in allen Lebensaltern und Störungen einen Wiederanschluss an diesen Bereich findet und von dort aus ihr Wirken entfaltet.
präverbaler
Zugang
Musiktherapie kann einzeln, in Gruppe sowie unter Einbeziehung von Angehörigen stattfinden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen der Musik erlebende und sich durch Musik ausdrückende Mensch sowie die Resonanz, die er im Therapeuten und bei den anderen Beteiligten auslöst, mithin das Beziehungsgeschehen in all seinen Aspekten (Timmermann 2004a, 4).
Ausdruck und
Resonanz
Die Resonanz umfasst die äußere und innere Wirklichkeit der Beziehung, also die Realbeziehung und auch die begleitend auftretenden Phantasien dazu. In der musiktherapeutischen Situation wird der behandelte Patient/Klient in seinem Umgang mit Musik und seinen Reaktionen auf das musikalische Geschehen wahrgenommen. Besondere Berücksichtigung finden dabei die sich herausbildenden Erlebens-, Einstellungs- und Verhaltensmuster, unbewusste (Re-)Inszenierungen, aber auch psychovegetative und physiologische Reaktionen. Der Therapeut gestaltet die musikalischen Handlungen oft aktiv mit, beachtet dabei die Indikation und den Zeitpunkt im therapeutischen Prozess. Spielen, Reden und Zuhören wechseln einander ab.
Beziehungs-gestaltung durch Musik
Die Angebote der Musiktherapie, aktiv – auf leicht spielbaren Instrumenten und mit der Stimme – oder rezeptiv – im vorbereiteten Hören gezielt angebotener Musik –, dienen folgenden Zielen:
Ziele der
Musiktherapie
●Anbahnung von Kommunikation und Beziehung;
●Öffnung von psychovegetativen Kommunikationskanälen;
●Offenlegung und Veränderung sozialer Interaktionsmuster;
●Nachreifung krankheitswertiger früher Defizite;
●Probehandeln im Dienste von Problemlösung (Oberegelsbacher 2004, 1555).
Weitere Ziele sind:
●klinische Diagnostik;
●kathartisches Freilegen verschütteter Emotionen und Traumata;
●Darstellung intrapsychischer Zustände und Konflikte;
●nonverbale Konfliktbearbeitung;
●Transformieren und Strukturieren von Desintegrationszuständen bei Zerfall der Persönlichkeit;
●Herstellung von Realitätsbezug über Symbolisierung;
●Anregung freier Assoziation; Bewusstmachung von krank machenden Einstellungen;
●Förderung der Erlebnis- und Genussfähigkeit.
Die Definition der Musiktherapie im Rahmen von Psychotherapie bedarf einer Abgrenzung zu entwicklungs- und persönlichkeitsfördernden Methoden (Fitzthum et al. 2000, 445); zu Psychotherapien oder Kunsttherapien, die fallweise Musik verwenden, sowie zur Musikmedizin (Oberegelsbacher/Rezzadore 2003, 98).
Als Pioniere einer psychotherapeutischen Musiktherapie in Europa können Edith Lecourt, Gertrud Loos, Mary Priestley, Alfred Schmölz, Christoph Schwabe und Harm Willms genannt werden. Viele ihrer Gedanken bereiteten eine Kultur, die dem heutigen „Mainstream“ der Musiktherapie zugrunde liegt.
Pioniere
Die Kasseler Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland hat zehn Kasseler Thesen zur Musiktherapie vorgestellt (1998, 232 f.): Musiktherapie gilt dort als Sammelbegriff für eine praxisorientierte Wissenschaft, die interdisziplinär und – in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie – psychotherapeutisch ist.
Kasseler Thesen
Es wird von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ausgegangen und von einem Methodensystem, das sich auf therapeutische, rehabilitative und präventive Aufgaben einstellen kann. Die Methoden sind abhängig von Theorie und Kontext, vor allem bei Indikation, Zielen, Praxeologie, Umgang mit Dynamik der Gruppe und Dyade. Es bedarf eines Settings und einer therapeutischen Beziehung, damit sich die Wirksamkeit der Therapie im Wahrnehmen, Erkennen und Handeln des Patienten entfalten kann. Niemals wirkt dabei nur ein Faktor.
Die gestaltete Musik mit ihren Tönen, Klängen und Geräuschen, mit Rhythmus, Melodie und Harmonie ist zeitstrukturierend. Sie artikuliert menschliches Erleben, hat die Funktion von Ausdruck, von Kommunikation und ist ein subjektiver Bedeutungsträger für verinnerlichte Erfahrungen. Musik wird als präsentatives Symbolsystem verstanden, aber auch unter semiotischen und ästhetischen Aspekten betrachtet.
Die musiktherapeutischen Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Theoriebildungen und Handlungskonzepten. Gefordert wird auch eine eigene musiktherapeutische Diagnostik, welche Krankheitsbild, Therapieprozess und musikalische Phänomene mit den körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen in Verbindung bringt.
Ein Versuch, die Definitionen verschiedenster Musiktherapien zu kommentieren, wurde im angloamerikanischen Raum von Kenneth Bruscia (1989) unternommen.
Bunt, L. (1998): Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe. Beltz, Weinheim/Basel
Decker-Voigt, H.-H. (1993): Aus der Seele gespielt. Eine Einführung in die Musiktherapie. Goldmann, München
Timmermann, T. (2004): Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Reichert, Wiesbaden
2Praxisfelder und Indikation
von Tonius Timmermann und Dorothea Oberegelsbacher
„Die Zukunft der Medizin als Heilkunst
liegt in der Reaktivierung der Künste.“
(James Hillman)
Musiktherapie hat sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zunehmend in einer breiten Skala von Tätigkeitsbereichen etabliert, und zwar dort, wo Klienten oder Patienten zu finden sind, bei denen eine musiktherapeutische Behandlung indiziert ist. Dies ist der Fall, wo psychotherapeutische Behandlung bzw. psychohygienische Begleitung krankheits-, behinderungs-, störungs- oder krisenbedingter körperlich-seelisch-geistiger Zustände und Prozesse am wirkungsvollsten unter Einbezug des Mediums Musik geschehen kann. Hier ein erster Überblick, der Altersstufen und klinische Bereiche unterscheidet:
Überblick Praxisfelder
Babys, Kinder, Jugendliche: Neonatologie, „Schrei-Babys“, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Psychotherapie und Psychosomatik: die klassischen Indikationen für psychotherapeutische Maßnahmen: neurotische und Essstörungen, Belastungs-, Persönlichkeits- und somatoforme Störungen.
Psychiatrie: große Bandbreite von Erkrankungen und Störungen: verschiedene psychotische Krankheitsbilder wie Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, affektive Störungen; Suchterkrankungen; zunehmend gerontopsychiatrische Patienten; zunehmend psychotherapeutische Stationen mit Borderline-Störungen.
Menschen mit Behinderung: geistige, körperliche und mehrfache Behinderung.
Neurologische Rehabilitation: z. B. Schädel-Hirn-Traumen, Komata, Aphasien.
Innere Medizin: emotionale Verarbeitung körperlicher Erkrankungen.
Onkologie: Coping, Akuthilfe bei der Krankheitsbewältigung, insbesondere bei schweren, lebensverändernden Krankheiten.
Geriatrie: Betreuung und Behandlung alter Menschen.
Palliativmedizin: moribunde Patienten.
Hospiz: Begleitung beim Sterbeprozess.
Im Bereich Kinder und Jugendliche finden wir zunächst den Einsatz von Musiktherapie bei neugeborenen und frühgeborenen Kindern in der Neonatalogie (Nöcker-Ribaupierre 2003a). In der Altersentwicklung danach anzusetzen ist die musiktherapeutische Arbeit mit sog. „Schrei-Babys“ (Lenz 2001). In der Folge sind alle Formen von Entwicklungs-, Verhaltens- und emotionalen Störungen, alle Krankheitsbilder der Kinder- und Jugendpsychiatrie relevant. Musiktherapie kann ambulant oder in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen durchgeführt werden. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spielt die Arbeit mit Medien, wie z. B. Musik oder Malstiften, eine besondere Rolle, da spontanes unbewusstes Ausdrucksverhalten, die Gestaltung von Konflikten und die Suche nach Lösungen hier im Allgemeinen sinnvoller ist als das Reden über Konflikte (s. Füg 1991; Mahns 1997; Haffa-Schmidt et al. 1999; Büchele 2000; Aurora/Seidel 2002). Ein Schwerpunkt liegt auf Nachreifung, beispielsweise bei autistischen Kindern (Schumacher 1994; 2004).
Im Bereich Psychotherapie und Psychosomatik werden im Allgemeinen sprachfähige erwachsene Menschen behandelt, bei denen jedoch die Ursache ihrer Konflikte sehr häufig in frühen, vorsprachlichen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung liegt – man spricht daher von frühen Störungen oder Grundstörungen. Die präverbalen Schichten der Persönlichkeit haben also wesentlichen Anteil an der psychischen Erkrankung oder Störung. Deswegen wird Musiktherapie angeboten, um Zugang zu diesen Schichten zu ermöglichen. Nonverbaler musikalischer Ausdruck und Kommunikation ist hierbei Mittel der Wahl, da sie eine erlebnishafte Analogie zu frühen lautmalerischen Dialogen mit der Mutter und das schwingungsmäßige Sicheinstellen i. S. von Sterns (1992) „tuning in“ auf Kommunikationspartner darstellen (s. z. B. Schmölz 1985; Loos 1986; 1996; Gathmann et al. 1990; Schmidt 1999; Kächele et al. 2003). Musiktherapeuten arbeiten in den entsprechenden Kliniken in einem Team aus Ärzten, Psychologen, verschiedensten Therapeuten, Schwestern und Pflegern.
Psychotherapie, Psychosomatik
Aufgrund der großen Bandbreite von Erkrankungen und Störungen werden in der Psychiatrie Patienten auf den verschiedenen Stationen mit unterschiedlichen therapeutischen Konzepten behandelt, auf die der Musiktherapeut sich jeweils einstellen muss. Außer auf den explizit psychotherapeutischen Stationen ist Musiktherapie oft die einzige Form von Psychotherapie (also nicht medikamentöser Therapie), die diese Patienten erhalten. Insofern ist dieser Bereich für die Musiktherapie wichtig und zukunftsträchtig (Willms 1977; Strobel 1985; Baumgartner/Mahns 1986; Strobel/Huppmann 1991; Burghardt 1996; De Backer 1996; Metzner 1997; Storz 2003).
Psychiatrie
Die Arbeit mit geistig, körperlich und mehrfach behinderten Menschen ist eines der ältesten musiktherapeutischen Betätigungsfelder, da diese im Allgemeinen sehr stark auf Musik ansprechen (Koffer-Ullrich 1971; Rett/Wesecky 1975). Gerade im Hinblick darauf, dass Musiktherapie an frühe Interaktion anknüpft, ist sie für die Arbeit in diesem Bereich besonders gut geeignet (Alvin 1988; Becker 2002; Oberegelsbacher 2001, Halmer-Stein 2001; Orff 1985; 1990; Schumacher 1994; Niedecken 2003).
Behinderung
Seit etwa 20 Jahren wird Musiktherapie, und zwar in zunehmendem Maße, in der Neurologischen Rehabilitation eingesetzt. Die speziellen nonverbalen Qualitäten kommen gerade den Patienten zugute, bei denen aufgrund ihrer Hirnverletzung das Sprachzentrum gestört ist (Gadomski/Jochims 1986; Jochims 1990; 2005; Gustorff/Hannich 2000).
Neurorehabilitation
Für die Bereiche Onkologie, Palliation und Hospiz wurde in den letzten Jahren zunehmend das sog. Coping in seiner Bedeutung für ein humanes Gesundheitssystem erkannt. Dabei handelt es sich um ein Angebot seelischer Begleitung bei schweren, lebensverändernden Krankheiten, wie z. B. Krebs (Steidel-Röder 1993; Bossinger/Griessmeier 1994; Verres 1999), und beim Sterbeprozess. Es geht um das Recht auf einen würdigen Tod daheim bei den Angehörigen oder in speziell dafür eingerichteten Häusern, sog. Hospizen. In diesen arbeiten seit einigen Jahren zunehmend MusiktherapeutInnen, da sich künstlerische Medien hier oft besser eignen als klassische verbale Psychotherapie (Munro 1986; Dehm 1997; von Hodenberg 1999; Heinze 2003).
Onkologie, Palliation, Hospiz
Ebenfalls ein eher neuerer Arbeitsbereich für die Musiktherapie ist die Innere Medizin. Auch hier geht es um die emotionale Verarbeitung körperlicher Erkrankungen. Dies soll den Heilungsprozess unterstützen, indem der Patient Kontakt zu seinen gesunden Anteilen (Ressourcen) findet und Blockaden gelöst werden, die dem im Wege stehen (Röhrborn 1992; Decker-Voigt/Escher 1994; Aldridge 1999).
Innere Medizin
Moderne technologische Gesellschaften mit hoher medizinischer Kompetenz bei gleichzeitig geringer Zahl von Neugeburten sind überalternde Gesellschaften. Daher ist die Versorgung, Betreuung und Behandlung alter Menschen in Einrichtungen der Geriatrie eine zentrale Zukunftsaufgabe. Unser Gesundheitssystem hat die ethische Aufgabe, für das Senium einen würdigen Rahmen anzubieten. Musiktherapie kann helfen, Momente von Lebendigkeit und Heiterkeit zu spenden, wo Ermüdung und Depressionen leicht das Leben quälend werden lassen (Bright 1984; Aldridge 2000; Themenheft der Musiktherapeutischen Umschau 1997/2, Nr. 18). Musiktherapie kann darauf eingehen, dass die Erinnerung bei alten Menschen eine zentrale Rolle spielt. Musik und Lieder aus wichtigen Lebensphasen (Muthesius 2003), aber auch eine adäquate Aktivierung durch eigenes Musizieren und achtsame Bewegung wird angeboten. Neben der psychiatrischen Geriatrie geschieht dies in speziellen Institutionen wie Altenheimen oder geriatrischen Rehabilitationskliniken.
Geriatrie
Das Grundrepertoire an musiktherapeutischen Vorgehensweisen (s. Kap. 6 Praxeologie) wird in den verschiedenen Bereichen in jeweils der Situation adäquater modifizierter Form angeboten. Auf bestimmte Angebote muss dabei dann auch verzichtet werden, ohne dass dabei auf die Musiktherapie überhaupt – i. S. einer Kontraindikation – verzichtet werden muss. Bei genauerer, differentialdiagnostischer, Betrachtung werden auch die Möglichkeiten und Grenzen der Musiktherapie im Vergleich zu anderen nicht sprachlichen, zu leiborientierten und zu anderen künstlerischen Therapien deutlich, z. B., wann es für den Patienten in seiner momentanen Verfassung sinnvoller sein kann, in Stille für sich ein Bild zu malen und dabei ein konstantes Objekt zu schaffen (s. Timmermann 2004a, 166 ff.)
Indikation
Die Indikation zu Musiktherapie kann neben den dargestellten Praxisfeldern auch aus einer phänomenologischen Beschreibung von typischen Patienten der Musiktherapie sichtbar werden. Es sind dies:
●Menschen, mit denen sprachliche Kommunikation erschwert oder unmöglich ist, wie etwa Mutisten und Autisten, deren Verbalisierungsfähigkeit reduziert ist oder deren Störungen und Defizite aus der präverbalen Zeit stammen. Personen, die auch Bedarf an Nachreifung und Weckung von Ressourcen haben (Strobel 1990, 334 f.);
●Menschen, die einen erhöhten Bedarf an Ausdruck und Gehörtwerden haben; bei geringer Fähigkeit zu Triebaufschub und erhöhtem Bedarf an Katharsis und Regression; bei fehlender Symbolisierungsfähigkeit, Alexithymie; bei schwerster Ich-Desintegration; in existenziellen Extremsituationen (Oberegelsbacher 1998, 64);
●Menschen, die zu den benachteiligten psychosozialen Randgruppen unseres Gesundheitswesens zählen, weil sie wegen der oben beschriebenen Defizite von der Gesundheitspolitik als nicht therapiefähig eingestuft und damit von Therapie ausgeschlossen werden (Jochims 2001).
Auch die Frage der Kontraindikation von Musiktherapie stellt sich mit zunehmender Spezifität des Verfahrens. Allgemeine Kontraindikationen können sein: fehlende Motivation des Patienten; sehr hoher sekundärer Krankheitsgewinn oder Rentenwunsch; wenn Musiktherapie institutionell dauerhaft als Ersatz für mögliche reale Beziehungen dient oder aus Prestigegründen angeboten wird. Musiktherapie ist beispielsweise nicht indiziert als Kompensationsangebot für strukturelle Mängel in der Gesellschaft oder in ihren Institutionen, wie z. B. Behindertenwerkstätten (Oberegelsbacher 1990, 176). Oft werden auch bestimmte Personengruppen genannt, etwa akute Psychotiker, Berufsmusiker, suizidale Patienten, Suchtpatienten, die Musik wie eine Droge verwenden (Schroeder 2000, 289 f.). Bei vielen dieser Beispiele gilt, dass mit zunehmender Berufserfahrung die nötige Feinabstimmung und Dosierung des musiktherapeutischen Angebotes ein solches durchaus sinnvoll erscheinen lässt.
Kontraindikation
allgemein
Damit kommt die differentielle Kontraindikation in den Blick. Diese gilt viel häufiger als eine umfassende und wird als ein selektiver, maßgeschneiderter Verzicht auf gewisse Angebote unter bestimmten Umständen verstanden.
Kontraindikation
differentiell
In der Neurorehabilitation ist z. B. für einen Komapatienten im künstlichen Tiefschlaf Musiktherapie für jenen Zeitraum tabu, in dem er noch Sedativa erhält. Diese halten ihn in Ruhe, während Musik ihn gleichzeitig aktivieren würde. Das wäre eine gegensätzliche Botschaft (Gustorff/Hannich 2000). In der stationären Psychotherapie ist für eine angespannte Borderline-Patientin eine abendliche letzte Therapiestunde, in der sie kathartisch frei trommelt, zu spät. Sie kann anschließend die Kontrolle über ihren Triebdurchbruch vielleicht nicht mehr wiedergewinnen und riskiert einen Zusammenbruch, selbstdestruktive Handlungen bis hin zum Suizidversuch (Oberegelsbacher 2003, 100). Die vorübergehende emotionale Destabilisierung durch Musiktherapie und Ergotherapie – beide sind nicht so reflexiv wie eine analytische Gesprächstherapie – wurde bei dieser Störung in der Psychotherapieforschung von Löffler-Stastka und Kollegen festgestellt (2003; 2006).
Im interkulturellen Vergleich kann es ebenfalls Kontraindikationen geben. Der Ausdruck von Emotionen, der in einer extravertierten Kultur problemlos zugelassen wird, kann in einer introvertierten mehr Vorbereitung benötigen. Denken wir an die verbale Aufarbeitung nach einer Musikrezeption durch sofortiges Reden über intime eigene Empfindungen. Eine europäische aufdeckende Fragetechnik ist für den asiatischen Kulturkreis ungeeignet, wenn sie nicht abgewandelt wird. Stattdessen kann das Beschreiben von Gemütsbewegungen oder deren instrumentaler Ausdruck über Metaphern, Farben und Naturbilder angebahnt werden, wofür die japanische Kultur eine große Neigung hat (Shiobara 2006).
kulturelle
Kontraindikation
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3Forschungsstand Musiktherapie
von Dorothea Oberegelsbacher und Tonius Timmermann
„Die Brille des Forschers steuert seinen Gegenstand,
weswegen der Forscher erforscht werden muss.“
(Wissenschaftstheorie nach Maturana)
Wenn man an eine musiktherapeutische Wirkung denkt, scheint es zunächst immer um eine musikalische Wirkung zu gehen. Ist das wirklich so? Ist die Musik das Medikament in der Musiktherapie? Sind die Worte das Medikament in einer Gesprächstherapie? Oder was alles wirkt da in hoher Komplexität zusammen?
Unbestritten ist zunächst einmal die Musik als Medium in der Musiktherapie – wie auch immer mit diesem Medium konkret gearbeitet wird (s. Kap. 6 Praxeologie). Auch gibt es in zeitgenössischen Richtungen der Musiktherapie Ansätze, die sich auf spezifische Wirkfaktoren musischer Elemente (z. B. bestimmter Intervalle, Skalen bei bestimmten Beschwerden) bzw. daraus resultierende methodische Systeme begründen, z. B. die Anthroposophische (s. Ruland 1981) und Altorientalische (Tucek 1997) Musiktherapie. Allerdings stehen noch immer kontrollierte Studien aus, die sich der psychischen Wirkung der verwendeten musikalischen Elemente systematisch annehmen. Somit bleiben die postulierten Wirkqualitäten bislang Arbeitshypothesen, die allerdings im jeweiligen Setting auch ohne Objektivierbarkeit durchaus wirksam sind.
Es mag an der Sehnsucht des Menschen nach schmerzfreien Heilungsprozessen liegen, jedenfalls nimmt die Suche nach universellen Wirkfaktoren in der langen Geschichte der musiktherapeutischen Literatur einen relativ breiten Raum ein (s. a. Kap. 16 und Timmermann 1983b). Immer wieder geht es dabei um Grundfragen an das Medium, mit dem therapeutisch umgegangen werden soll: Wie wirkt Musik bzw. ihre Elemente? Gibt es verlässliche Standards oder ist alles beliebig oder nur situationsabhängig?
Spezifischer
Wirkfaktor
Musik?
Die Mehrzahl der heutigen MusiktherapeutInnen stimmt darin überein, dass Verallgemeinerungen bezüglich der Musikwirkung in der alltäglichen Erfahrung nicht bzw. nur sehr begrenzt feststellbar sind. Gleichzeitig will auch moderne Musiktherapie nicht ohne funktionelles Wissen über Musikwirkung im Bereich der Stimulation oder Relaxation auskommen, also beispiels-weise
keine
generalisierte
Wirkung
„ohne den beruhigenden Sechsachteltakt eines Wiegenliedes, ohne ein Metrum in der Frequenz des Ruhepulses, ohne tranceinduzierendes Klanggeschehen, ohne sinnstiftende Melodieverläufe oder auch Textpassagen“ (Oberegelsbacher/Timmermann 1999).
Hegi entwickelt in seinen Büchern (1986; 1998) fünf Wirkungskomponenten der Musiktherapie: Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form (1998, 51 f.). Diese können in musiktherapeutischen Interventionen gezielt eingesetzt werden. Allerdings gilt auch hier, dass die Intention des Therapeuten bezüglich des musikspezifischen Effektes und die tatsächliche Wirkung beim Klienten von vielen weiteren Faktoren abhängen.
Der Beweis einer Objektivierbarkeit von Musikwirkung ist der Musikpsychologie und ihren wissenschaftlichen Metho-den der empirischen Wirkungsforschung bisher nicht gelungen (Gembris 1996). Zu groß ist die Zahl von Variablen, so dass man die Wirkung einer Musik kaum trennen kann von der Wirkung der Umstände, unter denen sie gehört wird (persönliche Erlebnisse mit dieser Musik, Geschmacksfragen, momentane Stimmung, die Beziehung zum Versuchsleiter und den anderen Versuchspersonen, die Atmosphäre der Testsituation usw.). Gleichzeitig erhebt sich aber auch die Frage, inwieweit ein moderner Musiktherapeut überhaupt an einer messbaren Objektivierung von Musikwirkung interessiert ist, wenn es ihm eigentlich um die individuellen Erfahrungen des Klienten geht?