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Christian Moser-Sollmann

Ohne WHAM! und ABBA

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Dachbuch Verlag

1. Auflage: September 2020

Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-903263-17-8

EPUB ISBN 978-3-903263-18-5

Copyright © 2020 Dachbuch Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Christian Moser-Sollmann

Lektorat: Nikolai Uzelac

Korrektorat: Ines-Mercedes Freitag, Teresa Emich

Satz & Umschlaggestaltung: Daniel Uzelac

Umschlagmotiv: Akos Boekoe

Besuchen Sie uns im Internet

www.dachbuch.at

Inhalt

1 Alles, was gut aussieht, ist für die Galerie

2 Warten auf den Bus

3 Kein normaler Tiroler geht zum Zivildienst

4 Jung, hungrig und pleite oder warum Franz Innerhofer auf meine Leseliste gehört

5 Die Perle Kärntens

6 Murder Inc. forever

7 Bin ich Anne Frank oder möglicherweise gar ein entlaufener Sklave?

8 Quellenkunde

9 I am higher than the sun

10 Du bist das Land, dem ich die Treue halte

11 Tagwache

12 Disziplin ist alles

13 Lehrjahre sind keine Herrenjahre, Raggler!

14 Bart Simpsons Silvesterstreich

15 Bruce Lee fährt auch Ski

16 Weil du so schön bist, mein Tiroler Herz

17 Endstation Sainihåns

18 The Nobel Savage Caro (Call me)

19 Out of Order

Der Text ist meine Party
und mein Bild ist kein Messer

Kolossale Jugend

Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ist‘s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück suchen.

Joseph von Eichendorff

1

Alles, was gut aussieht, ist für die Galerie

Eine Faust, hart wie eine gefrorene Kartoffel, fliegt auf meine Nase zu. »Der Romed blutet! Der Romed blutet!«, schreit das einzige Mädchen unserer Taekwondo-Gruppe. Ich spüre, wie mir warmes Blut von der Lippe langsam übers Kinn rinnt. Ich liege am Boden des Turnsaals und habe gerade meinen ersten Vollkontaktkampf durch ein Knockout verloren. Verheerend für meine weitere Laufbahn als Kampfsportler! Ich war mir sicher, zu gewinnen, aber der Kollege hat eine kurze Unaufmerksamkeit beinhart ausgenützt. Ich wollte vor meinen Sportkameraden glänzen und habe meinen Gegner mit einem Luftsprung attackiert. Aber alles, was gut aussieht, ist für die Galerie und nicht effizient. Er ist ausgewichen und als ich gelandet bin, habe ich für eine Nanosekunde das Gleichgewicht verloren. Ich habe meine Deckung vernachlässigt und er hat einen kompakten Schlag in meinem Gesicht geparkt. Mit voller Wucht, ohne abzustoppen, wie wir es gelernt hatten. Ich habe ihn richtiggehend eingeladen, mich zu vernichten und kann jetzt nicht mal mehr aufstehen. Und das Beschämendste ist – der Kampf hat keine zwanzig Sekunden gedauert. So schnell zerstört sonst nur Bruce Lee seine Gegner.

Ich ignoriere die hämischen Kommentare meiner Trainingspartner und schließe die Augen, um nicht von ihren abfälligen Blicken durchbohrt zu werden. Trotzdem höre ich sie: »Voll der Anfängerfehler. Wer wie ein junger Hund losstürmt und dabei seine Deckung vergisst, verdient eine blutige Lippe.«

Mir ist schwindlig und ich übergebe mich. Meine Knie zittern wie bei einem Föhnsturm. Erst nach zwanzig Minuten Erholungspause kann ich wieder richtig stehen. Das Bluten hat aufgehört, ich muss nicht ins Krankenhaus, doch meine Lippe ist auf das Dreifache angeschwollen. Ein bisschen sehe ich jetzt aus wie Mick Jagger.

»Kühl das daheim mit Eis und geh‘ schlafen. Ab morgen trainierst du dann dreimal so hart.« Mein Trainer tröstet mich mit ein paar Weisheiten aus seinem Motivationshandbuch: »Erst durch Niederlagen wird man besser. Weißt du, dass auch Bruce Lee seine ersten zwei Kämpfe verloren hat? Ab sofort machst du jeden Tag nach dem Aufstehen hundert Liegestütze.«

Alles in allem war er zufrieden, weil ich nicht geweint habe. Ich muss noch viel härter trainieren, meinem Gegner immer in die Augen schauen und darf niemals, absolut niemals meine Deckung vernachlässigen.

Am nächsten Tag in der Schule habe ich noch immer rasende Kopfschmerzen und sehe erbärmlich aus mit meiner Schlauchbootlippe. Natürlich kommentiert meine Lieblingsmitschülerin Babsi das hämisch:

»Hey, Karate Kid! Bist in deinem Dorf gegen eine Stalltür gerannt oder hat dich ein Pferd getreten?«

Um von meiner Schmach abzulenken, muss mir dringend was einfallen.

»Ach, vergiss‘ meine Lippe. Ich hab‘ heute Nachmittag frei und du nicht. Mein Großonkel ist gestorben und ich muss zum Begräbnis. Das ist so lässig.«

»Mensch, Romed, bist du nicht traurig?«

Babsi blickt bemüht entrüstet.

»Wieso denn? War nur einer meiner hunderttausend Onkels. Ich habe eine Riesenverwandtschaft. Ich habe ihn nicht mal gekannt. Der Mann war 95. Er ist nun sicher erlöst«, sage ich und lächle Babsi entschuldigend an. Sie hätte auch gerne frei.

Babsi ist eine noch größere Minderleisterin als ich. Wir fiebern beide unserer Matura entgegen. Sie steht auf acht »Genügend«. Sie ist nicht blöd, nur faul. Seit der dritten Klasse sitze ich in der ersten Reihe rechts, direkt vor Babsi. Viele Taugenichtse denken fälschlicherweise, vorne rechts zu sitzen wäre blöd, weil man dann im Blickfeld des Lehrers ist. Doch das stimmt nur teilweise. Mein Klassenvorstand Ratzinger hat mich vor drei Jahren wegen meiner ausufernden Schwätzereien auf diesen Platz strafversetzt. Allmählich lerne ich seine pädagogisch gut gemeinte Maßnahme zu schätzen; ganz vorn kann ich ungestört schwindeln, wobei mich die Lehrer in Ruhe lassen, weil sie die Spitzbuben in den hinteren Reihen vermuten.

Eine Stunde muss ich noch schwätzen, dann kann ich mich endlich niederlegen. Philosophielehrer Mayerhofer betritt die Klasse. Mit seinem Mittelscheitel, dem braunen Cordsakko und der randlosen Brille wirkt er verständnisvoll. Er schreibt mit seiner Babyschrift sein Anwesenheitszeichen in das Klassenbuch; es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich einer meiner Klassenkameraden aufrafft, um mit einer idiotischen Scheinfrage den Unterrichtsbeginn hinauszuzögern. Mayerhofer ist ein Lehrer ohne Autorität. Das weiß er selbst am besten, weshalb er sich möglichst lange ans Klassenbuch klammert.

»Romed, was ist denn mit deiner Lippe passiert? Egal, ich habe schon länger nicht mehr geprüft. Du interessierst dich doch für Philosophie, also beginnen wir gleich mit dir.«

Ich habe weder gelernt noch bin ich geistig bereit für eine Prüfung.

»Bitte heute nicht, ich hab‘ nicht geschlafen, weil ich solche Zukunftsängste wegen des sauren Regens habe.«

Mayerhofer lacht und antwortet: »Romed, diese Geschichte hast du mir schon vor zwei Wochen erzählt. Der Regen wird Osttirol schon nicht zerstören. Komm, hab‘ dich nicht so.«

Dann brauche ich eben stärkere Argumente als Umweltschutz, die Bewahrung der Schöpfung und meine schmerzende Lippe: »Das geht heute leider wirklich nicht, Herr Professor, dass sie mich prüfen, leider. Mein geliebter Großonkel ist völlig unerwartet verstorben. In zwei Stunden ist Begräbnis und ich bin voll in Trauer.«

Mayerhofer schaut betroffen. Ein Todesfall kommt ihm ungelegen. Er druckst herum:

»Mein aufrichtiges Beileid. Ein Todesfall in der Familie nimmt einen immer mit. Dann prüfen wir eben…«, Mayerhofer blickt kurz hoch, »… die Barbara.«

»Geh bitte, Herr Professor, muss das sein? Dem Romed geht es schon wieder viel besser. Der hat seine Trauerphase bereits überwunden. Schauen Sie ihn sich ruhig an. Er ist das blühende Leben trotz seiner geschwollenen Lippe.« Doch alles Jammern nützt nichts, Babsi wird geprüft. Neben ihr sitzt Johanna, schwarzhaarig und sehr hübsch, nur leider stumm. Sie geht ausschließlich mit älteren Jungs aus, die wie Italiener aussehen, mit Gleichaltrigen wie mir gibt sie sich nicht ab. Ich habe das verstanden, mein Banknachbar nicht. Der hat sich in sie verliebt und sich einen fürchterlichen Korb abgeholt. Kein Wunder, Jürgen ist Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Weil ich seine Erzählungen von der Feuerwehr alle kenne und er abseits dieses Vereins kein Leben hat, rede ich so gut wie nie mit ihm. Seit ich mich erinnern kann, bekommt Babsi ein »Wenig Zufriedenstellend« in Betragen. Manche Lehrer fürchten sich richtig vor ihr. Auch die anderen Buben lassen sie in Ruhe, jeder hütet sich vor ihrer scharfen Zunge. Mich stänkert sie nie an, außer, wenn ich gerade eine geschwollen Lippe habe.

»Ein Todesfall als Prüfungsausrede. Du wirst immer dreister. Einmal fürchtest du dich vor dem sauren Regen, dann vor der Rodung des Regenwaldes. Was kommt als nächstes? Hast du Angst, dein Bergdorf könnte vermurt werden? Egal, wie dämlich deine Ausreden sind, die Lehrer lassen dir alles durchgehen, weil du so treuherzig schaust. Vor allem die weiblichen! Das muss was mit deinem Babyspeck zu tun haben, du Unschuld vom Lande. Die Lehrer glauben, du bist einer Peter-Rosegger-Erzählung entsprungen.«

Ich seufze. Dass mir unsere Lehrerinnen zugeneigt sind, hilft mir nicht weiter. Denn ich stehe unter extremem Druck. Weniger wegen meiner schlechten Leistungen; im Umgang mit negativen Noten bin ich routiniert. Vor allem in Latein bin ich grenzwertig unterwegs. Nur mit einer strategischen Mitgliedschaft bei den Pfadfindern, wo mein Lateinlehrer Stolz auch engagierter Gruppenleiter ist, kann ich halbwegs bestehen. Nein, meine Probleme sind schwerwiegender als Noten: Ich bin noch immer Jungfrau. Und: Einer meiner zwei besten Freunde hat vor kurzem zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen – mit meiner Ex-Freundin Stella. Was bedeutet schon eine Matura, wenn ich als Einziger noch unberührt bin?

Ich sollte Barbara fragen, ob sie mit mir schläft. Mit ihren wilden Locken gefällt sie mir gut. Keiner kann so schnell und so viel reden wie sie. Wir gehen im Winter gemeinsam rodeln oder Ski fahren, im Sommer schwimmen. Ich weiß nicht, warum wir uns nie küssen. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht dauernd auf ihre Brüste zu starren. Wenn Barbara die Wahrheit sagt und die Lehrerinnen mich tatsächlich mögen, sollte ich vielleicht versuchen, mit einer Lehrerin zu schlafen. Bislang habe ich keine Eile verspürt, weil ich für mein erstes Mal verliebt sein wollte… Erst die Glocke erlöst mich von meinen trüben Gedanken.

Statt zum Begräbnis gehe ich noch auf einen Sprung ins »Alt-Lienz«. Meinen Eltern habe ich erklärt, ich kann wegen dringend anstehender Maturavorbereitungen nicht am Begräbnis teilnehmen. Ich treffe Sid dort. Er ist ein richtiger Arsch - ich bin krank im Bett gelegen und er entjungfert meine Ex-Freundin.

Ich habe Sid beim Kauf einiger seiner ausgemusterten Computerspiele kennengelernt. Damals hatte ich vor diesem 1,90 Meter großen Riesen noch eine Heidenangst. Er hatte einen Ruf als Stänkerer, der kein Erbarmen mit Schwächeren kennt. Die Übergabe der Spiele im Pausenhof war mehr Verkaufsgespräch als Freundschaftsanbahnung. Er wollte mich loswerden, ich war ihm lästig, das spürte ich. Ich erinnere mich noch genau: Sid zündete sich eine Zigarette an und bot mir höflichkeitshalber auch eine an, die ich unter Verweis auf meine Kampfsporttätigkeit ablehnte.

»Trinken tust wohl auch nichts, oder wie? Bist‘ leicht ein Gesundheitsapostel?« Auch meine Kleidung kommentierte er herablassend: »Sag mal, zieht dich noch deine Mutter an? Deine Turnpatschen sind echt scheiße.«

Ich grinste verlegen, über Mode spricht in meinem Dorf niemand. Sid trug ein schwarzes Lederarmband, einen Totenkopfring, ein Flinserl, Jeans mit Karottenschnitt und Markenschuhe. Dieser Stadtmensch verhielt sich anders als meine Klassenkollegen. Ich starrte auf seine Schuhe.

»Das sind Doc Martens, du Träne. Was treibst du in deinem Scheißkaff, außer Schafen nachzurennen und Kühe zu melken?«

Sid hat eben eine schroffe Art. Hinter seiner rauen Schale ist er aber sanftmütig, das habe ich schnell herausgefunden. Er ist der Sohn meines Physiklehrers und deshalb zeigt er wenig Achtung vor den Professoren, während für mich ungebildetes Landkind Lehrer allwissende Autoritäten darstellen.

Sid spielte mit zwei Typen Karten. Einen kannte ich flüchtig vom Ministrieren, er heißt Rahim. Mit seinen Bundfaltenhosen, dem karierten Hemd, dem Mittelscheitel und dem zarten Oberlippenflaum sah er aus wie alle in unserem Alter. Der neben ihm wirkte hingegen wie ein Wesen von einem fremden Planeten. Das war Breiti. Er hatte seine blonden Haare auftoupiert – mindestens fünfzehn Zentimeter hoch und wild durcheinander; die Stirnfransen hingen ihm bis weit über die Nasenspitze. Er trug schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd, schwarze Socken und schwarze Schuhe. Ich fragte mich, warum Breiti schwarz angezogen war. War er in Trauer? Er sah im Ganzen irgendwie zerknautscht aus, so, als ob er gerade aufgestanden wäre.

Ich war eifersüchtig. Während ich bieder wie Rahim ausschaute, waren Sid und Breiti cool. Ich kannte kein Kleidergeschäft, wo es solche Sachen gab. Die drei verloren bald das Interesse am Kartenspiel und Rahim verabschiedete sich.

»Was hörst du denn so für Musik?«, fragte mich Breiti.

»Wham, Nena, Kim Wilde, Madonna, Falco und manchmal Abba, weil das die Lieblingsband meiner Mama ist. Hitparade halt.«

»Ich habe dich gefragt, welche Musik du hörst und nicht, ob du hirnamputiert bist. Wir sind Underground.«

»Was ist denn Underground?«

»Der Sound, den sie nicht im Radio spielen. Wir stehen auf The Cure und The Sex Pistols.«

»Kenne ich nicht«, sagte ich und lief rot an.

»Ist doch egal«, sprach mir Breiti Mut zu, »wir sind selbst erst seit einem halben Jahr Indie. Früher habe ich Grönemeyer gehört, wegen meiner Schwester. Geh‘ am Freitag mit uns weg, dann geb‘ ich dir eine Kassette. Wir treffen uns hier um sieben, dann gehen wir in den ›Club K2‹, da kostet das Bier nur 1,50 Euro1

»Ich weiß nicht, ich darf noch nicht ausgehen und Alkohol trinke ich keinen. Ich mach‘ Kampfsport. Wer Taekwondo lernt, darf nichts trinken, sagt unser Trainer.«

Sid unterbrach mich: »So ein Quatsch. Ich kenne deinen Trainer. Dieser Rollmops trinkt oft Bier in der ›Bahnhofsreste‹.«

»Das glaube ich nicht. Wir leben nach dem alten koreanischen Ehrenkodex.«

»Dem ist doch scheißegal, was du treibst. Machst du einen auf Samurai?«

Es folgten keine weiteren Beleidigungen und seitdem sind wir drei unzertrennlich. Das war vor einem halben Jahr.

Sid, der Draufgänger, hat also meine Ex-Freundin flachgelegt. Während ich zögerte, weil ich Stella nicht drängen wollte, wie mir meine Mama geraten hatte. Ich sollte auf den Arsch angefressen sein, aber mit meinem Zaudern habe ich es eindeutig selbst vergeigt.

»Mit einer Frau zu schlafen ist das Beste, was man sich überhaupt vorstellen kann.« Sid ist verständlicherweise gut drauf. Kaum hatte er einmal Sex, wirkt er viel erwachsener. »Das Blut stört nicht im Geringsten«, sagt er, »im Gegenteil, das ist der Beweis ihrer Jungfräulichkeit.«

Sid sagt, eine Jungfrau zu finden, sei seltener als ein Lottogewinn. Ich schlucke.

1Im Osttirol der 1990er Jahre zahlte man wie in ganz Österreich noch mit Schillingen und Groschen, was des besseren Leseverständnisses Willen vom Autor allerdings auf Euros und Cents umgemünzt wurde.

2

Warten auf den Bus

Blöde herumstehen und warten auf den Schulbus. Warten ist meine Hauptbeschäftigung. Wenn ich Glück habe, sehe ich an der Haltestelle ein hübsches Mädchen aus einer anderen Landgemeinde. Nur meine Tagträumereien machen dieses sinnlose Herumstehen erträglich.

Bei der Heimfahrt genieße ich die Winterlandschaft. Die Fichten und die Landstraße sind mit Schnee bedeckt, die Felder glitzern wie Discokugeln. Selbst die Strommasten strahlen heute gold-weiß. Im Februar ist es zum Aushalten am Land. Wenn es schneit, fahre ich mit meinen Skiern oder mit der Rodel bis vor unsere Haustür. Wintersport ist unsere Freiluftdisco. Aber damit ist bald endgültig Schluss. Anfang Juni maturiere ich und dann beginnt mein Leben. Ich werde Tirol Richtung Wien verlassen, falls mir das mein Vater erlaubt. Noch streiten wir über meinen Studienort. Wie alle Tiroler hasst er Ostösterreich und will mich lieber nach Innsbruck schicken. Was soll ich in Innsbruck? Da kann ich gleich in Lienz bleiben.

Noch trauriger als mein ereignisarmer Schulalltag und mein Dasein als Jungmann ist mein Wohnort. Ich wohne nicht mal in der Bezirksstadt, nein, ich wohne in einem vier Kilometer entfernten und auf tausend Meter Seehöhe gelegenen, kaum erschlossenen Bergdorf namens Oberdrum in einem kleinen, von meinem Vater selbst erbauten Einfamilienhaus, umgeben von Misthaufen und arbeitsamen Bauern. Täglich pendle ich mit dem Schulbus, um die vierhundert Meter Höhenunterschied zu überwinden. Drei Stunden Fußmarsch sind mir zu anstrengend, obwohl das für meine Ausdauer beim Kämpfen gut wäre. Wegen dieser Distanz ist den Kindern aus unserem Dorf der Besuch höherer Schulen übrigens lange verwehrt geblieben.

Busfahrten sind die einzige Fluchtmöglichkeit aus meinem 350-Seelen-Dorf, wo es mehr Kühe als Frauen gibt. Drei meiner fünf Nachbarn sind Landwirte, der vierte ist einer meiner vielen Onkels, der fünfte ist mein Opa und der Rest unserer Dorfgemeinschaft setzt sich folgendermaßen zusammen: Vierzehn Vollerwerbsbauern, zwanzig Nebenerwerbsbauern, ein paar Dutzend Einfamilienhäuser - welche die Zweit-, Dritt- und Viertgeborenen der jeweiligen Bauerndynastie auf den Grundstücken erbauten, die ihnen der Altbauer nach alter, nie hinterfragter Tiroler Tradition zuteilte - und ein paar zugezogene deutsche Pensionisten, die in der Abgeschiedenheit dieses, vom Massentourismus verschont gebliebenen, Herrgottswinkels ihren dritten Lebensabschnitt mit Gartenarbeiten, Spaziergängen und Bergsteigen verbringen. Bis auf meine Cousinen gibt es bei uns im Dorf keine feschen Mädchen. Die Väter meiner Volksschulfreunde reden lieber mit ihren Rindern und Schafen als mit ihren Frauen.

Mit zehn besuchte ich entgegen dem ausdrücklichen Rat meines Volksschullehrers das neusprachliche Gymnasium. Weniger aus einem ungebührlich großen Wissensdrang heraus; ich wollte endlich in Kontakt mit Stadtmenschen treten. Wäre ich in die Hauptschule gegangen, hätte ich nämlich weiterhin mit den Dorfkindern meine Zeit verbringen müssen. Das wollte ich vermeiden, obwohl meine Freunde schwer in Ordnung sind und ich meine Kindheit genossen habe: Heuhüpfen in den Silos der Bauern, ministrieren und vorbeten, Obst stehlen sowie abwechselnd schlägern und Fußball spielen mit den gezählt dreizehn gleichaltrigen Burschen meines Dorfes. Massenschlägereien bildeten den Höhepunkt meiner Kindheit. Wir Oberdrumer raufen gerne und sind in ganz Osttirol berüchtigt für unsere unbändige Kraft. Wir sind waschechte Tiroler: stolz, treu und ein bisschen geistig unterbelichtet. Die Bewohner der umliegenden Gemeinden nennen uns »Oberdrumer Wölfe«. Wir prügeln uns mit allen und gerne auch grundlos. Einmal verteidigen wir die Ehre unserer Elternhäuser, dann müssen wir unsere Siedlung gegen umherschweifende Eindringlinge aus anderen Dorfteilen behaupten. Wenn meine Nase blutet, fühle ich mich erhaben.

Nur noch ein paar Monate, dann sehe ich diese verschneite Landschaft nie wieder. Den Schnee und die Berge werde ich vermissen. Mein Drang, wegzugehen ist aber stärker. Ich weiß gar nicht, ob ich Tirol hasse. Ich liebe mein Dorf, die Berge und meine Freunde. Auch meine Schulzeit verläuft eigentlich prima. Meinen Geschichtslehrer Wassermann verehre ich sogar.

Als Kärntner lästert er gerne über den Tiroler Freiheitskampf von 1809. Er behauptet, Andreas Hofer war ein bigotter Frömmler und geldgieriger Weinbauer, der nur in Ruhe den Franzosen Wein verkaufen wollte. Mit heimatkritischen Aussagen wie dieser hat er mich für die Methoden der mündlichen Geschichtsschreibung sensibilisiert. Ein weiterer Verdienst Wassermanns ist es, mich zu politisieren. Er borgt mir in unregelmäßigen Abständen anarchistische Klassiker aus seiner erstklassig sortierten Privatbibliothek. »Auf die Bäume, ihr Affen«, eine Streitschrift gegen Noten- und Leistungszwang hat mich besonders überzeugt. Ich liebe die abgegriffenen Wälzer meines Lehrers. Von ihm und seinen Büchern fühle ich mich verstanden. Die anderen Lehrer vertreten einen komischen Bildungsbegriff: Wir Schüler sollen nicht nachfragen. Wassermann sagt, mit der Schule wollen die Politiker nur die soziale Reproduktion der Stände erreichen und nicht die Mündigkeit des Einzelnen. Seine Theorie habe ich nicht ganz verstanden, also hat er sie mir mit folgenden Worten erklärt: »Die oben sind, wollen oben bleiben, die unten sind, sollen unten bleiben. Du als Dorfkind sollst dein ganzes Leben lang unten bleiben. Wer denkt, ist verdächtig.«

Unsere Schule hat trotz Wassermanns Kritik auch Vorteile. Übertriebener Lerneifer ist nicht notwendig. Egal, wie wenig ich auch lerne, ich habe es bislang nicht geschafft, sitzen zu blieben. Nur zehn Jahre früher hätte ich als Landkind kein Gymnasium besuchen dürfen, denn Dorfkinder hat der Lehrer alle automatisch in die Hauptschule geschickt, außer wenn sie Pfarrer werden wollten. Erst Bruno Kreisky schaffte die bis in die 1970er-Jahre verpflichtende Aufnahmeprüfung ab und hat damit die Anforderungen ins Bodenlose gesenkt. In seiner Güte war dem Mann auch egal, mit welchen Noten man maturierte – Hauptsache positiv. Warum soll ich mich also anstrengen? Mein Ehrgeiz beschränkt sich auf die gekonnte Vermeidung von Nachprüfungen. Ich will mit möglichst vielen Vierern durchkommen, darin sehe ich das Vermächtnis Kreiskys am besten gewürdigt. In Österreich darf sowieso jeder Idiot studieren. Ich habe mir sogar schon ausgerechnet, wieviel Studienbeihilfe ich bekommen werde. Mein Leben ist für die nächsten Jahre ausfinanziert, obwohl mir meine Eltern eigentlich gar kein Studium finanzieren könnten. Ich liebe Österreich.

Ich bin gut integriert in die Klassengemeinschaft, obwohl mir der Einstieg als Dorfdepp nicht leicht fiel. Seit drei Jahren bin ich Klassensprecher. Die Wahl verlief eigenartig: Die weiblichen Mitschülerinnen wählten mich einstimmig, aber nur knapp die Hälfte der Buben. Ich vertrage mich einfach besser mit den Mädchen und dennoch hab‘ ich noch mit keinem geschlafen. Vielleicht bin ich zu nett…

Als ich unsere Haustüre aufsperre, ist das Kopfweh weg und meine Eltern noch beim Begräbnis. Ich bin schmerzfrei und kann deshalb zur Taekwondostunde. Weil nach sechs kein Bus mehr nach Oberdrum fährt, düse ich mit 20 km/h mit meinem Mofa los. Anders komme ich im Winter nicht zum Kampfsport. Meine Eltern spielen für mich nicht Privattaxi. Um mir mein Mofa zu finanzieren, arbeitete ich schon mit vierzehn illegal auf einer Tankstelle. Von meinem Fünf-Euro-Stundenlohn habe ich mir schließlich ein gebrauchtes Mofa um 250 Euro gekauft. Es ist ein hässlicher, weiß-orangefarbener Klotz. Da Radfahren von Lienz in unser Bergdorf mit seiner achtzehnprozentigen Steigung verbunden ist, ist es so kräftesparender. Ich lasse selbst an den kältesten Wintertagen nie eine Einheit ausfallen. Wenn ich bei minus 14 Grad mit dem Mofa fahre, frieren mir fast die Knie ab. Meine Mama hat mir deshalb eigens Knieschoner gestrickt.

Das Training ist höllisch anstrengend. Ich darf am Tag vorher nichts trinken, sonst halte ich mit den Kollegen nicht mit. Bechere ich Bier, schaffe ich nicht mal vierzig Liegestütze zum Aufwärmen. Mein Trainer lacht mich dann aus und nennt mich »Mädchen«. Fortschritte beim Taekwondo sind mir wichtiger als Bier. Wir beginnen das Training mit Dehnen. Mein großes Ziel bleibt der Herrenspagat, worauf mir nur noch fünf Zentimeter fehlen. Nach dem Aufwärmen geht es weiter mit Schattenboxen und Formen, wo man die Abläufe diverser Schlagkombinationen übt. Mit jedem Hyong werden die Schlagkombinationen technisch anspruchsvoller. Formenüben ist wie Beten - je mehr man übt, desto besser wird man. Weil ich schon sechs beherrsche, einen Bruchtest sowie drei Sparrings erfolgreich gemeistert habe und nur gestern unglücklich meinen Kampf verloren habe, bin ich stolzer Träger des blauen Gürtels. Als ich mein erstes Brett zertrümmert habe, war ich richtig glücklich. Wenn man schnell schlägt, ist so ein Bruchtest aber einfach, muss ich zugeben. Schnelligkeit ist wichtiger als rohe Kraft. Nach den Formen üben wir Freikampf mit Körperkontakt. Die meisten Taekwondo-Techniken bestehen aus Fußtritten. Ich würde eigentlich lieber einen Kampfstil erlernen, der mehr mit den Händen arbeitet; aber Boxen erlauben mir meine Eltern nicht und Kung-Fu-Schule gibt es bei uns keine.

Nach dem Training gehe ich noch Schattenboxen und eine Runde spazieren, weil so viele Sterne am Himmel sind und ich mir keine Erzählungen vom Begräbnis anhören möchte. Papa ist sicher traurig, er kannte seinen Onkel im Unterschied zu mir ja. Die Sterne sind meine Freunde. Wenn ich bei minus zehn Grad alleine im Wald boxe, wirkt das bestimmt lächerlich. Durch das viele Training ist meine Kondition durchaus beachtlich. Eine Stunde Dauerlauf schaffe ich locker, obwohl mein Trainingsehrgeiz nachgelassen hat, seit ich Sid und Breiti regelmäßig treffe. Für Sport interessieren die sich nämlich überhaupt nicht.

Meine Lehrer tun so, als ob die Reifeprüfung etwas Besonderes wäre. Sie wollen mir einreden, dass ich zur Bildungselite meines Jahrgangs gehöre. Ich bin ins Gymnasium gegangen, weil ich nicht arbeiten will und nicht, weil ich besonders schlau bin. Elite, was soll das überhaupt heißen? Wassermann hat mir erzählt, dass 1990 jeder Fünfte eines Jahrgangs maturiert, um die Jahrhundertwende war es nur jeder Hundertste. Ist die Menschheit heute etwa um das Zwanzigfache klüger als damals? Wohl kaum. Unser Klassenvorstand Ratzinger bläut uns hingegen ein, wir als Schüler der Klasse 8A seien die Besten unserer Schule. Die Lehrer sollten sich nicht vom Fernsehen blenden lassen: Lateinlehrer Stolz hat seine Unterrichtsmethoden komplett umgestellt, seitdem er den bescheuerten Film »Club der toten Dichter« gesehen hat. Er klettert nun öfters ungefragt aufs Lehrerpult, um uns so einen Perspektivenwechsel zu veranschaulichen. Oft sperrt er den Klassenraum zu und unterrichtet während der Pause weiter, weil er meint, Wissensvermittlung ende nicht nach einer 45-Minuten-Einheit. Er wäre so gern charismatisch! Er hat uns ernsthaft gebeten, das derbe Wort »ficken« nicht mehr zu verwenden. Nicht, weil es frauenfeindlich sei, sondern weil es aus dem Mittelhochdeutschen kommt, von »mit dem Besen fegen« abstamme und daher eine mechanistische Reduktion des Geschlechtsaktes darstelle. Der Mann hat Sorgen.

Wie alt ich beim ersten Mal sein werde, hat mich bis zu Sids Heldentat keine Sekunde beschäftigt. Doch jetzt kann ich mit meiner Schande nicht mehr länger leben. Ich bin ein sexueller Spätzünder. Ich bin erst in der siebten Klasse gewachsen, vorher hatte ich weder Stimmbruch noch Haare am Sack. Noch mit vierzehn habe ich lieber »Die Jungen von Burg Schreckenstein« gelesen als an Mädchen zu denken. In meinem Kopf war kein Platz für Sexualität. Als ich irgendwann verstanden hatte was Pubertät heißt, habe ich meine Mutter um ein Aufklärungsgespräch gebeten. Sie hat mir empfohlen, nur mit Frauen zu schlafen, die mich gerne haben und die ich gerne habe. Sie ist überzeugt, es wäre für meine Seele schlecht, wenn ich einfach so mit Frauen schlafe. Ihre Botschaft: Sex ist etwas Wertvolles und ich soll damit warten, bis ich die Richtige finde. Ihre Erklärung stellte mich vollkommen zufrieden. Das bisherige Schuljahr verläuft, was Frauen betrifft, nicht schlecht. Babsi schreibt mir meine Italienischaufsätze, die ich dann für die Schularbeiten verwende. Ihre Banknachbarin bereitet mir sorgfältig Themenblöcke für Englisch auf, die ich mikrokopiere und in meinem Brillenetui verstaue. Ich trage Brillen nur während der Schularbeiten und wundere mich, warum das keinem der Lehrer auffällt. Mit Hilfe meiner strebsamen Mitschülerinnen bekomme ich meistens ein »Befriedigend« oder »Genügend«, ohne eine Ahnung zu haben, was genau ich da niederschreibe. Ja, die Frauen verwöhnen mich richtiggehend. Seitdem mir Babsi und Johanna helfen, habe ich nie mehr ein »Nicht Genügend« geschrieben. Wenn meine Mitschülerinnen freiwillig für mich arbeiten, meine Lehrerinnen mich wegen meines unschuldigen Lächelns nie prüfen, und ich mit 100 Prozent aller weiblichen Stimmen zum Klassensprecher gewählt werde, kann ich kein Versager sein.

Gelegentlich steckt mir ein Mädchen einen Brief zu, wo es mir nette Sachen schreibt und fragt, ob ich mit ihm weggehen will. Ich gehöre nicht zu jener Sorte Männer, die für Frauen nur Schultaschenträger sind. Meine Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen, wie ich es im Philosophieunterricht bei der Einführung im logischen Schließen gelernt habe, kann also nur lauten: Es liegt an mir selbst, dass ich in Liebesangelegenheiten bislang nur kümmerliche Erfolge vorweisen kann.

Weil ich mit meinem freundlichen Wesen nichts erreicht habe, ändere ich ab sofort mein Verhalten. Wenn ich als netter Junge von nebenan versage, probiere ich es eben mit Weltschmerz. Sid und Breiti helfen mir bei meiner Verwandlung. Sie ziehen mich richtig an: Statt roter Wangen und der von der Höhensonne braun gebrannten Haut kultiviere ich nun eine vornehme Blässe, die ich geschickt mit schwarzen Hemden, schwarzen Pullovern, schwarzen Socken, schwarzen Schuhen und einem kleinen Totenkopfring kombiniere. Ich kämme mich auch nicht mehr. Grufti bin ich aber keiner. Das ist auch nicht mein Ziel, ich möchte wie ein depressiver französischer Schriftsteller aussehen. Ich habe »Der Fremde« von Albert Camus gelesen und ähnlich entfremdet fühle ich mich augenblicklich von Oberdrum, weshalb ich unseren Ortsnamen häufig englisch ausspreche, was aber niemand außer Sid und mir lustig findet. Sogar ein altes, schwarzes, etwas zu großes Sakko habe ich mir gekauft. Ich müsste nur noch anfangen Gitanes zu rauchen wie Breiti, dann wäre meine Verwandlung vom fröhlichen Landbuben zum, von Frauenabweisung und Umweltzerstörung, gepeinigten Verlierer abgeschlossen. Er hat mir Kleidung gekauft und gezeigt, wie ich mir die Haare toupieren muss. Wenn ich mir auch noch ein wenig Kajal unter die Augen schmiere und diesen verwische, macht mich das geheimnisvoll. Breiti zeigt mir, wie ich auffalle. »Mode ist demokratisch«, meint er, »man braucht nicht viel Geld, um gut auszusehen. Nur Zeit und ein gutes Händchen.« Neben dem neuen Outfit bekomme ich Nachhilfestunden in Musikgeschichte. Breiti und Sid überspielen mir die wichtigsten Kassetten. Mit der Rolle des Nachahmers habe ich mich noch nie zufrieden gegeben. Mein Forscherehrgeiz ist entbrannt. Ich gebe Breiti Bestellungen nach Villach mit, wo er zur Schule geht. Musik ist in unserer Prioritätenliste nach Frauen und mittlerweile Trinken die klare Nummer drei. Aber leider hören die Frauen nur Hitparadenscheiß und fürchten sich vor unseren schwarzen Uniformen. Wir besitzen zwar die beste Musik, nur können wir sie nirgendwo anhören. In den zwei Lienzer Diskotheken wird Kuschelrock und Wham gespielt. Wir sind schon froh, wenn wir einmal pro Abend einen Cure-Song hören. Diese Situation ist für alle äußerst unbefriedigend. »Wir müssen uns unsere Freiräume selber schaffen«, schlage ich Sid und Breiti deshalb vor, »uns fehlt ein Ort, wo wir machen können, was wir wollen.«

Ich muss also mein Organisationstalent unter Beweis stellen, denn obwohl Sid und Breiti mir Musik, Mode und Biertrinken beigebracht haben, stört es sie nicht, dass wir keinen Rückzugsort haben. Bevor wir ausgehen, treffen wir uns meistens bei Breitis Mutter, weil es ihr egal ist, wenn wir dort laut Musik hören. Aber natürlich ist diese Wohnung wegen ihrer Anwesenheit nicht perfekt. Was wir brauchen, ist ein zentral in der Stadt gelegener Platz für uns allein. Wir brauchen einen Ort, wo wir laut Musik spielen, spontan Partys organisieren und bei Bedarf mit Mädchen Zeit verbringen können.

Einen solchen Sehnsuchtsort gibt es und er wird mir quasi am Silbertablett serviert. Ich bin Mitglied bei den Pfadfindern und diese besitzen ein großzügig bemessenes Vereinslokal mitten im Stadtzentrum. Das Innenstadtjuwel mit zwei Räumen verfügt als Glanzstück sogar über ein zehn Quadratmeter großes Hochbett, wo man mit einer Leiter raufklettert. Hier können locker zehn Leute schlafen. Das Vereinshaus beherbergt neben den Pfadfindern noch die katholische Studentenverbindung Salurn und einen Jugendklub namens Club K2, steht ansonsten aber leer. Dieses Haus, fünf Gehminuten vom Hauptplatz und je drei Minuten von unseren beiden Stammlokalen »Alt Lienz« und »Hoppla« entfernt, erfüllt also alle Anforderungen einer selbstverwalteten Feier- und Übernachtungszone. Es gibt Strom, einen Kühlschrank, um Bier einzukühlen, und was noch viel wichtiger ist, eine Musikanlage. Mein Plan steht also fest: Beim jährlichen Vereinsfest der Pfadfinder melde ich mich zur Überraschung aller freiwillig zum Auf- und Abbauen des Verkaufsstandes und bekomme dafür den Schlüssel zum Vereinsheim ausgehändigt. Eine Woche später halte ich zwei Ersatzschlüssel, die ich mir um 5 Euro beim örtlichen Schlüsseldienst habe nachmachen lassen, in meinen Händen. Die Mühen des zehnstündigen Standaufbaus wiegt meine kleine städtische Zweitwohnung mehr als auf, die noch dazu den Vorteil hat, gratis zu sein.

Die von uns an den Wochenenden bewohnte Bude entwickelt sich schon bald zur Zentrale unserer nächtlichen Aktivitäten. Wie bei den Schularbeiten, die mir meine Mitschülerinnen vorbereiten, frage ich mich, warum meine Eltern, meine Lehrer, die Eltern meiner Freunde, mein Pfadfindergruppenleiter und Lateinlehrer Stolz, sowie die Nachbarn gegenüber vom Vereinshaus noch keinen Verdacht schöpfen. Ich erkläre mir das mit meinem unschuldigen Äußeren. Ich schaue trotz meiner schwarzen Kleidung einfach noch immer zu brav und wohlerzogen aus, niemand verdächtigt mich eines liederlichen Doppellebens.

3

Kein normaler Tiroler geht zum Zivildienst

In unserer Clique steige ich zum allseits anerkannten Mitglied auf, während Sid Rahim nicht aufgenommen hat. Sid will unsere Gang exklusiv halten. Meinem Vater gefällt meine neue Kleidung weniger und er hasst meine Frisur. Beim gemeinsamen Frühstück, wo wir grauenhafte Volksmusiksender hören müssen, nervt er mich:

»Warum versteckst du deine Augen hinter deinen Haaren? Willst du zu einem Begräbnis gehen, weil du ganz in schwarz angezogen bist?«

Er findet solche Fragen witzig.

»Schwarz symbolisiert mein langsames Sterben, Papa«, versuche ich ihn zu ärgern. Auf so einen Schwachsinn antwortet er nicht.

Meinem Vater ist meine Kleidung eigentlich egal. Mode ist ihm so fremd wie mir früher.

Ich habe keine Probleme mit meinen Eltern. Sie sind nur etwas streng. Ich muss selbst in der achten Klasse noch um Mitternacht zu Hause sein, wenn ich freitags und samstags ausgehe. Doch sie lassen mich Bier trinken, bei Freunden übernachten und fragen auch nie nach. Ich kann mich nicht beschweren. Mein Erzeuger trinkt nicht, geht nie aus und hat keine Affären; er arbeitet in seiner Freizeit gerne im Garten und wir gehen manchmal gemeinsam rodeln und bergsteigen. Er steckt mich nie in lächerliche Trachtenkostüme oder zwingt mich, den Schützen beizutreten oder sonst den Paradetiroler zu spielen. Er ist stolz, weil ich als erster in seiner Familie die Matura mache. Nur beim Frühstück meckert er gerne, weil ich immer so stumm bin. Was soll ich schon groß erzählen? Dass ich Jungmann bin? Dass mein Freund Sid den Job statt mir erledigt hat? Ich finde es angenehm, wenn wir uns anschweigen. Die Stille hat nur einen gravierenden Nachteil: Ich höre die Volksmusik. Noch ein Grund, auszuwandern…

Für das heutige Frühstück hat sich mein Vater allerdings ein Thema aufgespart, welches ihm im Unterschied zu meiner missglückten Frisur wirklich am Herzen liegt.

»Romed, magst du dir deinen Entschluss wegen des Zivildienstes nicht noch einmal überlegen? Ich war selber bei den Pionieren und da bist du viel an der frischen Luft in den Bergen. Kein normaler Tiroler geht zum Zivildienst! Bei mir in der Klasse haben zwei Kameraden geweint, als sie damals erfahren haben, dass sie untauglich sind.«

Ich muss grinsen.

»Geweint vor Freude? Nein, Papa, ich bin eben kein richtiger Tiroler. Was soll ich beim Heer? Da muss ich mir die Haare schneiden und mich rumkommandieren lassen. Außerdem bin ich Pazifist.«

Mit dieser Antwort ist er nicht zufrieden.

»Du trainierst doch diesen komischen asiatischen Kampfsport.«

»Das ist was anderes. Ich sehe nur keinen Sinn darin, für ein Land zu kämpfen. Sein Leben für eine Nation oder eine Republik zu opfern, ist schwachsinnig. Opa erzählt mir oft, wie erbärmlich es in Russland war, und dass ihn in seiner Gefangenschaft in Frankreich nur die schwarzen amerikanischen Soldaten menschlich behandelt haben. ›We are slaves too‹, haben sie zu ihm gesagt. Das sind die einzigen vier englischen Wörter, die er bis heute kann. Ich habe keine Lust, Kanonenfutter für die herrschenden Klassen abzugeben.«

Papa versucht einen weiteren Anlauf: »Der Krieg ist lange vorbei. Das Heer braucht gebildete Menschen. Ich bin ja auch kein Militarist.«

»Stimmt schon, nur hat es bei dir noch keinen Zivildienst gegeben. Und ich habe bereits ein staatlich geprüftes Gewissen. Es war nicht einfach bei den Innsbrucker Pfeifen von der Kommission. Vertrau mir, in einem Jahr bist du stolz auf mich, wenn du siehst, wie gut mir die Arbeit mit Behinderten tut. Dort lerne ich Verantwortung.«

Das klingt nach einem versöhnlichen Schlusswort. Es benötigte einiges an Recherche, Gutachten und Zeitaufwand, bis ich überhaupt zum Zivildienst zugelassen worden bin, aber nun ich besitze ein staatlich geprüftes Gewissen. Ich bin offiziell vom Wehrdienst befreit und darf Behinderten den Hintern auswischen, statt in Wiesen herumzurobben. Mein Vater nimmt diese Entscheidung nur widerwillig zur Kenntnis. Er kann sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen:

»Die Tiroler Damenwelt weiß Uniformen zu schätzen. So eine schneidige Uniform verkörpert Eleganz.«

Mit diesem Makel kann ich ausgezeichnet leben.

»Papa, du kommst ja aus der Steinzeit.«

Ich kenne keine Frauen, die für das Heer schwärmen. Durch meine schwarze Kleidung spreche ich einen anderen Frauentyp an als früher. Aktiv auf Frauen zuzugehen, hat sich für mich als die falsche Taktik herausgestellt. Viel effizienter erledigen meine Freunde das Verkuppeln für mich. Außerdem ist das aktive Frauenanbraten unnötig; wenn ich gelangweilt rumstehe, umgibt mich eine spezielle Aura und die Frauen kommen von selbst, weil sie denken, ich sei geheimnisvoll. Um Frauen kennenzulernen, muss ich in keiner Band spielen. Unsere Dreierbande mit ihren billig zusammengebastelten Outfits und den auftoupierten Haaren ist Blickfang genug. Wir benehmen uns wie Rockstars, ohne in einer Band zu spielen. Wir sind auch kein Teil einer Jugendbewegung. Wir ziehen uns freiwillig komisch an, um leichter Mädchen kennenzulernen.

Meine Freunde bemühen sich redlich, gestört auszusehen. Sid trägt eine Krankenkassenbrille, schwarze Hemden und schwarze Jeans mit neongrünen Hosenträgern. Seine Schläfen rasiert er sorgfältig aus und seine Kopfhaare toupiert er zu einem Turm. Am besten gefällt mir seine Lederjacke, die er regelmäßig an der Stadtmauer abwetzt, damit sie speckiger aussieht. Breiti trägt im Gegensatz zu uns keine Doc Martens, sondern Creepers und mit seinen blonden Haaren und den Koteletten sieht er aus wie ein Rockabilly, der keinen Rock mag. Man kann es drehen und wenden, wie man will, als Vertreter einer amtlichen Jugendkultur gehen wir keinesfalls durch. Wir sehen aus wie drei Tiroler Landjugendliche, die sich weigern, wie Tiroler Landjugendliche auszusehen. Im Prinzip ist Mode nur unser Ventil, um Leute zu ärgern. Gründe, zu protestieren gibt es genug: zu wenig gute Lokale, zu frühe Sperrstunden, keine taugliche Disco, zu wenig Frauen. »Lienz, die Schlampe, unterhält uns zu wenig«, sagt Sid oft und findet das eher lustig als provokant. Ich glaube, er mag es einfach, wenn er Wörter sagt, die andere schockieren.

Seitdem ich den Schlüssel zur Pfadfinderbude besitze, haben wir unsere eigene spießerbefreite Zone geschaffen, wie Sid das etwas hochgestochen nennt. Hier werden wir nicht schief von irgendwelchen Tränen angesprochen und wir hören die Musik, die uns gefällt. Das hat sich herumgesprochen. Wir trinken regelmäßig in der Bude Bier und etablieren eine richtige Wochenendroutine: Wir beginnen mit dem Biertrinken im »Alt-Lienz«, schauen weiter ins »Hoppla«, um kurz in die 1960er Jahre abzutauchen und gehen dann in den Jugendklub »T3«, weil dort die überheblichen Hübschen aus den Tälern herumstehen. Gegen zehn besuchen wir die Diskothek »Stadtkeller«. Dort spielen sie Musik, die so scheiße klingt wie der Name des Lokals, aber da gehen eben alle Mädchen hin und die Musik ist laut. So können wir sie ausgiebig anstarren, ohne mit ihnen reden zu müssen.

Wenn wir Frauen finden, die auch uns gut finden, besorgen wir uns ein paar Flaschen Bier vom Würstelstand vorm »Stadtkeller«, gehen in die Pfadfinderbude, legen eine Kassette ein, lassen den Raum verdunkelt und knutschen mit den Mädchen herum. Leider muss ich immer als Erster nach Hause. Jedes Wochenende bei einem Freund, also auf der Bude zu übernachten, traue ich mich nicht. Meine wenig glaubwürdigen Ausreden, warum ich bei Freunden übernachten will, funktionieren deshalb so gut, weil ich sie nur gelegentlich verwende. Ewig lange kann ich die Lieblingscomputerspiele meines besten Freundes nicht testen und wie oft findet das englische Cup-Finale im Jahr statt?

Im Alt-Lienz habe ich Stella vor ein paar Monaten angesprochen. Ehrlicher gesagt, fand ich sie so hübsch, dass sie Breiti auf mich aufmerksam gemacht hat mit ein paar einfühlsamen und motivierenden Worten. Mit ihren langen, glatten, schwarzen Haaren, schwarzem Lippenstift, schwarz lackierten Fingernägeln und einer vornehmen Blässe wirkte sie sehr städtisch. Nur ein paar Sommersprossen verrieten ihre ländliche Herkunft. Ich war schon entmutigt, weil sie mich zu ignorieren schien, doch Breiti klärte mich über Stella auf: Er kennt sie aus Villach. Sie besucht dort eine Modeschule. Deswegen ist sie so gut angezogen. Sie fahren zusammen Zug, auch dort redet sie wenig bis auf ›Hallo‹ und ›Ciao‹. Ich besorgte mir ihre Adresse und schrieb ihr einen Brief mit einer selbst aufgenommenen Kassette. Und sie hat mir geantwortet! Sie will später einmal Modedesignerin werden und hat dem Brief deshalb ein paar selbst gezeichnete Kleiderentwürfe beigelegt. Die Designs gefallen mir und sie hat Talent, sofern ich das überhaupt beurteilen kann.