John Rossman
Mach’s wie Amazon
MIT 50 ½ IDEEN ZUM DIGITALEN VORREITER WERDEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
info@redline-verlag.de
1. Auflage 2020
© 2020 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
© der Originalausgabe by John Rossman
Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei McGraw-Hill Education unter dem Titel Think like Amazon:50 1/2 ideas to become a digital leader.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Bärbel Knill, Landsberg am Lech
Redaktion: Karla Seedorf, Bischberg
Umschlaggestaltung: Marc T. Fischer, München
Umschlagabbildung: Shutterstock: Papptextur Von arigato und Stack of Amazon Prime parcels over white background von Shawn Hempel.
Satz: Daniel Förster, Belgern
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-86881-796-6
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-223-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-224-9
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.redline-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
»Was würde Jeff tun?«
TEIL I
KULTUR
Idee 1 Stellen Sie die Uhr auf null
Idee 2 Söldner oder Missionar – was treibt Sie an?
Idee 3 Nach vorne schauen und alles zurück auf Day One
Idee 4 »Obsession« ist noch mal anders
Idee 5 Nicht abnicken, um Ruhe zu haben
Idee 6 Liefern Sie Ergebnisse
Idee 7 Jeder ist ein Unternehmer
Idee 8 Meiden Sie Country Clubs
Idee 9 Lassen Sie den Elefanten tanzen
Idee 10 Sie sind der Chief Product Officer
Idee 11 Haben Sie ein dickes Fell?
Idee 12 Gemeinsam zum »Ja«
Idee 13 Sprengen Sie das Organigramm
Idee 14 Die Innovationsspiele
Idee 15 Der Tür-Schreibtisch
TEIL II
STRATEGIE
Idee 16 Einführung in die »Mission Impossible«
Idee 17 Experimentieren, scheitern, wieder aufstehen, wiederholen
Idee 18 Wollen Sie eine Plattform sein?
Idee 19 Doch, Sie sind ein Technologieunternehmen!
Idee 20 Pizza für alle!
Idee 21 Sagen Sie niemals nie
Idee 22 Relentless.com
Idee 23 Other People’s Work
Idee 24 Die Magie der Forcing Functions
Idee 25 Was ist Ihr Schwungrad?
Idee 26 Warum geht das nicht einfacher?
Idee 27 Verleihen Sie den Kunden Superkräfte
Idee 28 Denken Sie anders
Idee 29 Launch and Learn
Idee 30 Hüten Sie Ihr Betriebssystem wie Ihren Augapfel
TEIL III
GESCHÄFTSMODELL UND TECHNOLOGIE
Idee 31 Lügen, nichts als Lügen – und Kennzahlen
Idee 32 Prozess versus Bürokratie
Idee 33 Machen Sie Ihre Rechenaufgaben
Idee 34 Auf die Kundenerfahrung kommt es an
Idee 35 Haben Sie eine Just-walk-out-Technologie?
Idee 36 Die Zeit der Sicherheitsabteilung ist vorbei
Idee 37 OP1 – der anstrengende Prozess des Planens
Idee 38 Strategische Personalbedarfsplanung
Idee 39 Die Architektur ist die Geschäftsstrategie
Idee 40 Die richtigen Fragen
Idee 41 Wenn Künstliche Intelligenz nicht mehr künstlich ist
TEIL IV
ANSATZ UND AUSFÜHRUNG
Idee 42 Türen in zwei Richtungen
Idee 43 Legen Sie die Messlatte höher
Idee 44 Storytelling mit Narrativen Memos
Idee 45 Die zukünftige Pressemeldung
Idee 46 FAQs
Idee 47 Schreiben Sie die Bedienungsanleitung
Idee 48 Man ist, was man isst
Idee 49 Finanzen für Dummies
Idee 50 Das letzte Wort zur Unternehmens-Digitalisierung
Idee 50 ½ Prinzipien sind nicht nur Postersprüche
Über den Autor
Stimmen über John Rossman und Mach’s wie Amazon
Anmerkungen
In den 1990ern tauchte in den USA das Akronym »WWJD« – »What would Jesus do?« – auf Aufklebern und T-Shirts auf. Varianten davon ließen nicht lange auf sich warten. Wissenschaftler fragten: »Was würde Darwin tun?«, Fans der Rockgruppe »The Grateful Dead« fragten: »Was würde Jerry tun?«[1] Das ging immer so weiter, einmal sah ich sogar einen Aufkleber, auf dem stand: »Was würde Atticus Finch tun?«[2] Sie verstehen, was ich meine.
In den letzten fünf Jahren haben sich meine Kunden und die Leser meiner beiden vorherigen Bücher immer wieder ihre eigene Version dieser Frage gestellt, nämlich: »Was würde Jeff tun?« Wenn man mir diese Frage stellt, ist damit meist so etwas gemeint wie: »Was heißt eigentlich ›digital‹?«, »Wie schütze ich meine Firma vor Disruption?«, »Wird Amazon in unsere Branche oder in unseren Bereich eindringen?«, »Wie bringt Amazon solche Ergebnisse zustande?«, »Würde Amazon mich als Partner wollen?«, »Würde Amazon unser Unternehmen kaufen wollen?«, »Wie kann ich meine Shopping-Funktionen so einfach gestalten wie bei Amazon?« Es gibt Hunderte Fragen in dieser Richtung, aber alle können am Ende zu der einen Frage eingedampft werden: »Was würde Jeff tun?«
Wieso glaube ich eigentlich, ich könnte auch nur eine dieser Fragen beantworten? Wieso glaube ich eigentlich, ich könne ein Buch schreiben, in dem 50 ½ Ideen stehen, um im digitalen Zeitalter zu bestehen? Seit ich Amazon Ende 2005 verließ, habe ich meinen Kunden in vielen verschiedenen Branchen solche Fragen beantwortet, mit den unterschiedlichsten Zielrichtungen und für die unterschiedlichsten Bedingungen. Um die Frage »Was würde Jeff tun?« beantworten zu können, muss man nur die Muster erkennen: Jeff Bezos und Amazon haben eine auffallend konsistente Art, sich Herausforderungen zu stellen, Geschäfte zu führen und mit Technologie umzugehen, neuen Ideen und Märkten zu begegnen und mit Wachstum umzugehen.
Mit anderen Worten, es gibt ein Playbook oder System mit Überzeugungen und Handlungsmustern dafür, wie man dort Ergebnisse erzielt und über das eigene Unternehmen denkt. Wenn Sie einmal darauf achten, werden Sie ebenfalls herausfinden, wie man denkt wie Amazon.
Unter den vielen Szenarien und Beispielen in diesem Buch finden Sie vielleicht nicht die direkte Antwort auf Ihre spezielle Frage. Aber wenn Sie Jeffs grundsätzliche Sicht auf die Welt verstehen, können Sie ein Stück weit seine Einsichten und Prinzipien auf Ihre Situation übertragen.
Warum werden in den kommenden zehn Jahren 80 Prozent der Fortune-1000-Unternehmen durch andere ersetzt sein? Warum droht Unternehmen die Disruption? Auch wenn ich damit riskiere, eine allzu simple Antwort auf eine komplexe Frage zu geben, lautet meine Antwort: Erstens, weil Unternehmen sich zu sehr verlassen auf ihre Art zu denken, auf ihre Muster und Ansätze; und zweitens, sich zu verändern ist wirklich schwierig. »Transformation« hört sich gut an, aber in Wahrheit ist dieses Konzept unglaublich schwer zu fassen. In den meisten Fällen manifestiert sich diese großartige Vorstellung von Organisationsund Geschäftsrevitalisierung lediglich in ein paar kurzfristigen Projekten und Bemühungen, anstatt dauerhafte Veränderung oder langfristige Werte zu schaffen.
»Unternehmen haben eine kurze Lebensdauer, und Amazon wird eines Tages Opfer von Disruption werden«, sagte Bezos 2013 in einem Interview. »Ich mache mir darüber keine Sorgen, denn ich weiß, dass es unvermeidlich ist. Unternehmen kommen und gehen. Unternehmen, die die glanzvollsten und wichtigsten einer Ära sind. Aber wenn man ein paar Jahrzehnte abwartet, sind sie weg. Mir wäre es lieber, dass es [die Disruption von Amazon] passiert, wenn ich schon tot bin.«1
Unternehmen, die sich nicht über ihre alten Modelle und vergangenen Erfolge definieren, bewahren ihr Potenzial, Marktführer zu bleiben, sie bestimmen die kommende Ära und sind in der Lage, sich im Laufe dieser turbulenten Zeiten zu wandeln und zu wachsen. Dieses Potenzial zu pflegen und zu erhalten erfordert eine geistige Agilität von Weltklasse. Anstatt sich also auf laufenden Geschäften auszuruhen, die nach wie vor wachsen, oder zu versuchen, die Profitabilität nach oben zu treiben, investiert Amazon heute in Initiativen, die sich jahrelang nicht auszahlen werden, wenn überhaupt jemals.
Die Akquisition von PillPack durch Amazon im Juni 2018 ist ein Beispiel dafür, dass »noch mehr Angriff der beste Angriff« ist. PillPack liefert dem Kunden genau dosierte Medikamente an die Haustür und schafft so einen kundenzentrierten Ansatz sowohl im Abpacken als auch in der Auslieferung. Wer auf viele Medikamente angewiesen ist und entweder nicht zur Apotheke gehen will oder es physisch nicht kann, für den ist PillPack eine enorme Verbesserung gegenüber den anderen Apotheken. Amazon muss jetzt nicht in den Gesundheitsmarkt einsteigen, aber sie machen diesen relativ kleinen Schritt und tasten sich vor in diese Branche. Sie finden heraus, wie man das Potenzial von Pill-Pack ausbauen kann und welche gesetzlichen Vorgaben es für die Auslieferung pharmazeutischer Produkte gibt (Potenzial für Apotheken in Whole Foods-Filialen?). All dies ist Teil einer Gesamtstrategie mit vielen Nischen und Geschäftsmodellen.
Amazon Web Services, AWS, ist das größte cloudbasierte On-Demand-Unternehmen. Es war außerdem das erste. Dieses Geschäftsmodell ergab sich jedoch nicht aus einer disruptiven Strategie der Zerstörung, indem es dem traditionellen Modell von Hard- und Software sowie Lizenzen ein Ende setzte. Diese Strategie kam erst später hinzu. Dieses Geschäftsmodell entsprang der Notwendigkeit des Handelsunternehmens Amazon, die Infrastruktur seiner Datenverarbeitung anzupassen.
Und so kam es dazu: Während der Urlaubssaison 2003 hatten wir Probleme mit der Zuverlässigkeit der Website, und das in der betriebsamsten und wichtigsten Zeit des Jahres. Nicht gut. Nachdem wir uns durch diese Urlaubszeit irgendwie durchgewurstelt hatten, wurde unverzüglich eine Taskforce gebildet, die sich um Skalierung und Zuverlässigkeit der Website kümmerte. Dieses Team beschloss, die Infrastruktur der Datenverarbeitung zu zentralisieren. Wir sollten interne Kunden bedienen. Dann stellte man fest, dass von internen Kunden keine Nachfrage ausgeht, sondern nur von externen Kunden. Daraus folgte die Anweisung, die Infrastruktur umzukehren und diese den externen Kunden anzubieten. Schon bald stellen wir fest, dass die Entwickler die On-Demand-Möglichkeiten liebten. Und ganz nebenbei hatte sich so die Strategie von AWS entwickelt.
Überlegen Sie einmal, in wie vielen Geschäftsbereichen Amazon heute tätig ist: Handel in nahezu jeder vorstellbaren Kategorie, an jedem Markt, Cloud-Technologie, Film- und Fernsehproduktion, Verlagswesen, Smart Speaker, Geräte wie Echo, Kindle oder Türklingeln, Logistik und Supply Chain, Lebensmittel, über 80 Handelsmarken und Gesundheitswesen. Amazon ist ein Unternehmenskonglomerat, das stolz von sich behaupten kann, unternehmerisch, kundenzentriert und wenig bürokratisch zu sein. Jeder seiner Geschäftsbereiche verfügt über externe Kunden und könnte vom Konzept her ein eigenständiges Unternehmen sein, das andere Amazon-Einheiten bedient, ebenso wie andere Unternehmen und Kunden. Amazon schafft das, ohne sich in unzählige Bürokratieschichten zu verzetteln, vor allem aufgrund seiner Leadership-Prinzipien – und der vielen Ideen, die wir in diesem Buch betrachten werden.
Natürlich dreht sich das »Amazon-Denken« nicht nur um Innovation. Das Ganze wird von einem fanatischen operativen Bereich von Weltklasse unterstützt. Relentless.com (dt.: unermüdlich, Anm. d. Übers.) war der Name, den Bezos für sein Start-up registriert hatte, und die Web-Adresse führt noch immer zu Amazon.com. Unermüdlich ist Amazons Haltung gegenüber hervorragenden operativen Prozessen. Amazon ist eines von fünf Unternehmen, das das Forschungs- und Beratungsunternehmen Gartner als »Meister« in Supply Chain Operations anführt. Gartner erläutert, Amazon sei ein »bimodales« Supply-Chain-Unternehmen, einzigartig in seiner Fähigkeit, sich sowohl neuen Geschäftsmodellen anzupassen als auch Innovationen zu entwickeln. 2016 hatte Amazon allein im Bereich Supply Chain über 80 Patente vorzuweisen!2
Die Fähigkeit, sowohl in Weltklasse-Manier zu arbeiten als auch ein systematischer Innovator zu sein, der mit Leidenschaft seine Kunden bedient – ist das nicht genau das, was jeder CEO will? Genau deshalb ist es so wichtig, »wie Amazon zu denken«.
Ich habe in dieses Buch 50 ½ Ideen gepackt. Ich glaube nicht so sehr an massive Transformationsprogramme. Der Weg der Digitalisierung führt sowohl über Veränderung im Unternehmen als auch über Veränderung des Einzelnen. Sie müssen Ihren eigenen Weg entwickeln, Veränderungen mit Methode angehen und neue Verhaltensweisen entwickeln. Gleichzeitig müssen Sie geduldig sein und ein Gefühl der Dringlichkeit haben. Sie müssen bereit sein, das Beste aus sich selbst und Ihrer Organisation herauszuholen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Mach’s wie Amazon zu lesen. Lesen Sie es von Anfang bis Ende. Oder springen Sie zu verschiedenen Stellen im Buch. Oder Sie lesen es als Führungskraft und bringen die Ideen daraus in Ihr Team ein, wo sie gebraucht werden. Noch besser: Fördern Sie das Teambuilding, indem Sie dieses Buch in Ihrer Abteilung lesen und ein Jahr lang jede Woche einen Gedanken daraus diskutieren. Oder lesen Sie das ganze Buch in einem Zug durch und diskutieren Sie, welche Gedanken daraus angewandt werden könnten.
Was ich hören will, ist, dass zerfledderte Exemplare von Mach’s wie Amazon tiefgehende Gespräche und wichtige Gedanken bei Ihnen ausgelöst haben, dass es Ihnen und Ihrem Team dabei geholfen hat, sich auf neue Art dem Wettbewerb zu stellen, und dass es Ihnen Spaß gemacht hat. Machen Sie sich aber immer bewusst: Dies ist eine Sammlung von Ideen, kein Masterplan für eine Strategie oder den Wandlungsprozess. Den müssen Sie selbst entwickeln, indem Sie die einzigartigen Gegebenheiten Ihrer Situation nutzen, Zwänge und Chancen sowie Ihre eigenen Talente und Ideen.
»Nicht alle, die wandern, haben sich verirrt.«
– J.R.R. Tolkien
Wenn man einmal die überaus werbewirksamen Schlagzeilen weltweit beiseitelässt – worum geht es eigentlich beim »Wettkampf« der Städte um den Standort für Amazons zweites Hauptquartier? Die Initiative »HQ2« ist einzigartig in der Wirtschaftsgeschichte. Ich nahm an einem Interview des Senders CNBC über die Eigenschaften der verschiedenen Städte teil, die sich um das HQ2 bewarben. Die anderen beiden Diskussionsteilnehmer sprachen darüber, welche Location für die Generation »Selfie« wohl die attraktivste sei, ich argumentierte dagegen, es gehe hier doch vor allem um das Langzeitrisiko von Amazon und darum, wie man es schaffen kann, die besten Technologie-Talente der Welt einzustellen und zu halten. Dass Unternehmen ihr Hauptquartier verlegt haben, hat es schon zuvor gegeben. Boeing hat 2001 seinen Hauptsitz von Seattle nach Chicago verlegt. Einige Zeit danach verlegte GE sein Headquarter von Connecticut nach Boston, Massachusetts. Schon zuvor haben Unternehmen von Städten und Staaten Angebote über Steuervergünstigungen für den Bau eines neuen Standorts und die Schaffung von Arbeitsplätzen eingeholt. Doch noch nie fand die Kombination von potenziellen Jobs und öffentlich bekannten Angeboten ein solches Echo in den Medien.
Bedenken Sie: Die Stadt, die den Wettlauf um Amazon gewinnt, erringt einen weit wertvolleren Preis als Chicago, als Boeing von Seattle dorthin zog. Das HQ2 stellt eine Investition von 5 Milliarden US-Dollar in Aussicht, 50 000 gut bezahlte Jobs, ein zu erwartendes Wachstum und das sofortige Prestige des weltweit führenden Standorts in digitaler Technologie.
Welches Problem versucht Amazon denn nun zu lösen? Geht es um die wachsenden Bedenken mancher Fraktionen in Seattle gegen die lokalen Auswirkungen von Amazon? Geht es um die Spannungen mit der Stadt Seattle und dem Staat Washington? Macht man sich bei Amazon Sorgen um das diesige Wetter an der Puget-Sound-Bucht? Warum nimmt man den ganzen Aufwand auf sich?
Die Frage »Was ist Amazons wahre Motivation für den HQ2?« erfordert eine weiterführende Frage: »Was hemmt auf lange Sicht das Wachstum von Amazon?« Ich glaube, genau diese Frage hat man sich bei Amazon gestellt, und die wichtigste Antwort darauf war die Möglichkeit, Talente anzuwerben, in die Region Seattle zu bringen und sie zu halten, besonders Talente von Weltklasse im Bereich Technologie. Seattle ist ein wunderbarer Ort, aber nicht für jeden. Es ist weit entfernt von vielen Orten der Welt, die Zeitverschiebung zum größten Teil von Europa beträgt zehn Stunden, und es liegt nicht zentral im Verhältnis zum Rest der Vereinigten Staaten. Die Lebenshaltungskosten in Seattle sind explodiert. Laut einem Bericht des NW Reporter ist der durchschnittliche Preis für ein Haus in Seattle sprunghaft angestiegen auf 777 000 US-Dollar.1 Kurz, ein normales Haus in Seattle kostet etwa 100 000 US-Dollar mehr als noch vor einem Jahr.
Zwischen 2015 und 2017 wuchs die Zahl der Mitarbeiter bei Amazon von etwas über 200 000 auf 541 000.2 Im Hauptquartier in Seattle schätzt Amazon diese Zahl auf etwa 40 000.3 Und man geht davon aus, dieses schwindelerregende Wachstum beizubehalten oder sogar noch zu beschleunigen (uff!).4 Wie werden sie wohl Mitarbeiter anwerben, sie halten und dabei gleichzeitig deren Lebensstandard hoch halten?
Was würden die meisten Manager und Unternehmen unter diesen Umständen tun? Manche würden das Langzeitrisiko gar nicht erst erkennen, das sich wie ein düsterer Eisberg in der Nacht vor ihrer persönlichen Titanic abzeichnet. Viele würden es erkennen und stillschweigend und zurückhaltend nach kurzfristigen Lösungen suchen. Wieso nicht einfach die Dose ans Straßenende hinunterkicken, zur nächsten Generation in der Unternehmensführung? Wieso sollten sie den Aufwand, die schlechte PR und das mühevolle Managen auf sich nehmen, wenn sie sowieso nur fünf oder zehn Jahre lang ihre Position innehaben? Das ist eine gängige Frage in der »Chief«-Abteilung und dem oberen Management.
Das zweite Leadership-Prinzip bei Amazon ist »Ownership« (Unternehmertum), und es besagt, dass Führungskräfte bei Amazon niemals langfristige Werte für kurzfristige Ergebnisse opfern. Beim HQ2 geht es genau um dieses langfristige Denken, darum, ein Thema durch eine Herangehensweise anzupacken, die viele weitere Vorteile mit sich bringt – anstatt zu warten, bis die Steuerungsmöglichkeiten auf null zurückgegangen sind. Bei solchen langfristigen Problembereichen des Unternehmens kickt man die Dose eben nicht ans Straßenende.
Jeff Bezos beurteilt Dinge in einem Zeitrahmen, der es ihm ermöglicht, langfristig zu investieren. Manchmal wirklich langfristig. Es ist allgemein bekannt, dass Bezos enge Beziehungen zu einer Stiftung namens The Long Now Foundation pflegt.
Diese Stiftung beschäftigt sich mit dem immer kurzfristigeren Blickfeld der Gesellschaft. Auf einem Grundstück im Westen von Texas, das Bezos gehört, haben sie eine Uhr gebaut, die einmal im Jahr tickt. Der Jahrhundertzeiger bewegt sich alle 100 Jahre weiter und der Kuckuck kommt nur jedes Jahrtausend heraus, und das die kommenden 10 000 Jahre lang.
Man muss nicht extra betonen, dass Jeff Symbole liebt. Die 10 000-Jahr-Uhr steht als Symbol für seinen Willen, immer groß zu denken und auf lange Sicht zu planen – als Unternehmen, als Kultur und als Welt.
»Wenn alles, was Sie tun, bis zu einem Horizont von drei Jahren funktionieren muss, dann stehen Sie im Wettbewerb mit sehr vielen anderen. Aber wenn Sie bereit sind, auf einen Siebenjahreshorizont hin zu investieren, haben Sie nur noch einen Bruchteil der Wettbewerber, weil nur sehr wenige Unternehmen bereit sind, das zu tun. Wenn Sie einfach bloß den Zeitrahmen ausdehnen, können Sie Dinge in Angriff nehmen, die Sie sonst nie angehen könnten. Wir bei Amazon möchten, dass etwas in fünf bis sieben Jahren funktioniert. Wir sind bereit, den Samen zu legen und ihn wachsen zu lassen – und wir sind sehr hartnäckig.«
– Jeff Bezos6
Wie kann man dies nun auf Ihre Digitalisierungsstrategie und den Wettbewerb im digitalen Zeitalter anwenden? Dazu müssen wir erst einmal die Frage beantworten: »Was ist digital?«
Die meisten Organisationen stehen unter dem Druck, innovativ und digital zu sein. Deshalb gehe ich meist von dieser grundlegenden Frage aus. Was heißt es nun also, »ein digitales Unternehmen zu sein«? In vielen Unternehmen glaubt man, es gehe hier um Investitionen in mobile Kommunikationswege, mobile Geräte und E-Commerce. Andere sind der Meinung, es gehe dabei um Cloud-Technologie, um On-Demand-Fähigkeit und APIs. Das sind zwar alles wichtige Hilfsmittel, aber das allein heißt noch nicht, dass man ein digitales Unternehmen ist.
Bei näherer Betrachtung bedeutet digital sein zwei Dinge: Schnelligkeit und Agilität – gegenüber Ihren Kunden und dem Markt sowie bei der Arbeit innerhalb des Unternehmens. Genauer gesagt, Schnelligkeit und Agilität, verpackt in neue Geschäftsmodelle, Innovation und das Sammeln und Nutzen von bedeutend mehr Daten. Schnelligkeit zeichnet sich aus durch ein sehr präzises und wiederholtes Vorgehen. Damit ist eine äußerst effiziente und präzise Bewegung in eine bestimmte Richtung gemeint. Operative Exzellenz bei der Datenskalierung ist das unternehmerische Äquivalent zu Schnelligkeit.
Agilität hingegen ist die Fähigkeit, Schlüsselfaktoren, Indikatoren und Marktverschiebungen wahrzunehmen und schnell Veränderungen und Anpassungen vorzunehmen. Die Agilität ist der Motor für die Innovation in Ihrem Unternehmen, die Fähigkeit, Veränderung im Kleinen und im Großen zu bewirken. Die DNA von Amazon ist von diesen beiden Eigenschaften bestimmt – Schnelligkeit und Agilität. Aber wie kriegen sie es hin, gleichzeitig im operativen Bereich und der Datenskalierung auf Weltklasse-Niveau zu sein und dabei Jahr für Jahr systematisch innovativ zu sein? Und das geschieht ja nicht nur einmal oder zufällig. Für die meisten Organisationen wäre das wie Kettensägen jonglieren auf Schlittschuhen. Doch Amazon hat sein weltbestes System aus Schnelligkeit und Agilität geschaffen, indem sie viele der Ideen genutzt haben, die in diesem Buch vorgestellt werden und in ihren Leadership-Prinzipien geschrieben stehen. Wenn Ihr Unternehmen ein digitales Unternehmen werden soll, müssen Sie diese Eigenschaften in Ihrem Unternehmen aufbauen und auf andere Weise im Wettbewerb antreten.
Diese Eigenschaften in Ihrer eigenen Organisation zu entwickeln ist kein einzelnes Projekt. Es ist schwierig, einen maßgeschneiderten Weg zu entwickeln, die Ergebnisse zu prognostizieren, und es wird alles schwer vorherzusagen sein. Aber Sie müssen glauben – an die transformativen Kräfte von Daten, Technologie, Innovation und an das Streben nach Perfektion – angewandt in jedem Arbeitsbereich.
Wenn Sie Erfolg haben wollen, ist es lebenswichtig, langfristig zu planen. Ständige übers Knie gebrochene Aktionen im Quartalsdenken, wie sie für die meisten amerikanischen Unternehmen typisch sind, sind nicht nur ineffizient, sie sind sogar toxisch für Ihre Kultur. Machen Sie sich frei von diesem Denken! Wenn Sie die Digitalisierung für eine kurzfristige Maßnahme halten oder glauben, innerhalb kürzester Zeit einen Nutzen davon zu haben und entsprechende Ergebnisse zu bekommen, dann haben Sie nicht verstanden, welchen Weg Sie hier eingeschlagen haben, und dann haben Sie auch nicht die Geduld und den Rückhalt, ihn so lange zu gehen, bis er Früchte trägt.
Wir starten unsere Entwicklung zu Schnelligkeit und Agilität, indem wir über Kundenobsession sprechen. Damit hat Amazon nämlich auch angefangen.
»Der Mensch ist so gemacht, dass, wenn seine Seele für irgendetwas brennt, nichts mehr unmöglich ist.«
– Jean de La Fontaine
In der ersten Klasse hatte ich einen Freund, der wusste, dass er Chirurg werden wollte. Nicht nur Arzt, nein, Chirurg. Und er wurde einer. Ich war immer neidisch auf die Sicherheit und Klarheit, mit der er seine Mission verfolgte. Wie schafft man Leidenschaft und entwickelt eine Mission, wenn der Weg nicht von vornherein klar ist? Diese Frage habe ich mir selbst gestellt, und ich stelle sie Führungskräften. Ich sage ihnen dann, vielleicht besteht die Kunst der Mitarbeiterführung darin, die Leidenschaft jedes Einzelnen zu entdecken und Wege zu finden, die Stärke jedes Einzelnen für die Mission der Organisation einzusetzen und Wert daraus zu schöpfen.
Es ist schon in Ordnung, andere Prioritäten zu haben, wie die Möglichkeit, persönliche Leidenschaften zu verfolgen, Macht und Einfluss zu gewinnen oder finanzielle Sicherheit. Für viele Geschäftsmodelle, berufliche Laufbahnen und Lebensentwürfe sind diese Dinge wohl der Beweis für den Erfolg. Wenn ich auf meine eigene Laufbahn zurückblicke, wird klar, dass mein Hauptinteresse darin bestand, die Unternehmensleistung durch drei Ansätze zu verbessern:
Effizienz, das heißt, Prozesse schaffen, die mit weniger Kosten bessere Qualität erzeugen,
Integration von Prozessen, Daten, Systemen und Ökosystemen, um nahtloses Arbeiten zu ermöglichen, und
das Entwickeln neuer Geschäftsmodelle und Fähigkeiten, durch die sich das Unternehmen im Wettbewerb abhebt.
Ein Kollege von mir definierte einmal einen Söldner als jemanden, der funktioniere wie ein Münzautomat. Damit meinte er, das Einzige, was Söldner interessiere, sei Geld. Das ist ein Stück weit negativ besetzt. Wenn Sie eine starke Kultur aufbauen wollen, suchen Sie sich dazu wahrscheinlich nicht einen Haufen Söldner.
Letztlich sind finanzieller Gewinn und Verkauf Ergebniszahlen. Als Führungskraft haben Sie keine direkte Kontrolle darüber. Sie sind das Ergebnis von vielen anderen Dingen, die Sie tun. Was Sie aber sehr wohl unter Kontrolle haben, ist der Input. Um in der digitalen Wirtschaft erfolgreich zu sein, müssen Sie eng verbunden sein mit Ihren Kunden und Usern, denn hier liegt das Wissen.
Bei aller Fairness wird Erfolg doch primär in finanziellen Ergebnissen gemessen. Shareholder mögen Söldner oft, weil ein Team aus Söldnern mal schnell einen kurzfristigen Gewinn einfahren kann. Es ist also vielleicht gar nicht so schlecht, Angestellte zu haben, die einen gewissen Söldneranteil in sich tragen. Man könnte eine Art Hybrid schaffen. Dabei ist es nur wichtig, sicherzustellen, dass Ihr Söldner auch ein Patriot ist. Und was ist ein Patriot?
Jeff spricht viel davon, dass Teams, die eine Mission haben, bessere Produkte herstellen. Das ist ja ganz toll, aber was heißt das nun, eine Mission haben?
Kriege werden von Patrioten gewonnen, nicht von Söldnern, heißt es immer. Wir kämpfen anders und stehen mehr dahinter, wenn es uns um etwas geht, wenn das Engagement von persönlichem Interesse untermauert wird. Es ist schon sehr gut, wenn der Zement für diese Untermauerung mit großer Leidenschaft für den Kunden angerührt wird. Ein Zement mit anderen Zutaten kann aber ebenso stark und nützlich für die Sache sein.
Und hier geht es schon los: Die meisten Angestellten sind zu Anfang nämlich keine Patrioten. Normalerweise sind sie dankbar für den Job, aber eher mäßig interessiert an der Mission, und meistens ist ihnen gar nicht klar, wie diese Mission überhaupt aussehen soll. Wenn sie keine Inspiration bekommen, zucken sie mit den Schultern und konzentrieren sich darauf, den Job gut genug zu machen, um alle zwei Wochen ihren Gehaltsscheck zu bekommen.
Als Führungskraft liegt es in Ihrer Verantwortung, aus diesen selbstbezogenen Söldnern waschechte Patrioten zu machen. Wie geht das nun, diese mäßig interessierten Typen in die leidenschaftlichen Botschafter zu verwandeln, die man braucht, um im digitalen Zeitalter mithalten zu können? Sie müssen die Mission klar definieren. Sie müssen sie mit einem Gefühl von Vermächtnis und Bedeutung aufladen. Und dann müssen Sie herausfinden, wie Sie jeden Einzelnen von ihnen für diese Mission begeistern können.
Anfang 2002 kam ich zu Amazon, um den Launch des Bereichs Amazon Marketplace zu leiten. Heute macht der Bereich über 50 Prozent Geschäftsanteil aus, und es gibt über drei Millionen Anbieter auf der Plattform. Aber als ich an Bord kam, waren bereits zwei frühere Versuche gescheitert, ein Geschäft mit Dritten aufzubauen, und eBay schien eine unanfechtbare Position einzunehmen. Man brauchte eine andere Strategie, und das gesamte Führungsteam bei Amazon hoffte, dass der dritte Versuch den Durchbruch bringen würde. Als ich ankam, begegnete man mir natürlich mit Skepsis. Die »Kundenbesessenheit« war zwar vorhanden und lebendig, aber ich beobachtete eine tiefe innere Apathie gegenüber den Verkäufern. Ich hatte das Gefühl, meine Organisation betrachtete Verkäufer als Bürger dritter Klasse. Und dabei waren das die Leute, die das Geschäft, das wir aufbauten, populär machen sollten. Sie mussten doch unser Lebenselixier sein.
Amazon musste diese Händler überzeugen, ihr Geschäft auf Amazon-Kunden auszurichten. Wir mussten ihnen die tollen Tools und Möglichkeiten verkaufen, die wir für ihren Erfolg geschaffen hatten. Wir mussten sie unterstützen, soweit wir nur konnten, und ihnen helfen, den anspruchsvollen Standard zu erfüllen. Kurz, wir mussten – fast von null an – eine Besessenheit für die Händler entwickeln.
Ich fing damit an, diese Vision schriftlich auszuarbeiten, und hielt mehrere große Mitarbeiterversammlungen ab. Ich machte deutlich, dass die »Händler-Besessenheit« der Schlüssel dafür war, diesen Geschäftsbereich zum Laufen zu bringen. Und bei Gott, wir mussten dieses Geschäft zum Laufen bringen. Der Druck war enorm.
Während ich das Händlerwesen aufbaute, benötigte ich von meinen Leuten eine Menge Sachverstand, von Technik über Projektmanagement bis zum eigentlichen Geschäft. Ich hätte natürlich verlangen können, dass jeder eine Wahnsinns-Leidenschaft für Kunden und Verkäufer entwickelt (vielleicht hätte ich das auch sollen). Aber ich wollte nicht, dass es bei uns hieß: »Perfekt ist der Feind von gut genug.« Wenn ich motivierte, engagierte und talentierte Leute einstellte, dann würde ich sie für die Mission begeistern können. Es war unumgänglich, mit jedem einzelnen Angestellten eine persönliche Beziehung aufzubauen. Ich musste erfahren, welche Leidenschaften sie hatten, welche Stärken und welche Motivation. Der Schlüssel zum Erfolg lag darin, bei jedem einen persönlichen Bezug zur Mission herzustellen und ihre Leidenschaft damit zu verknüpfen. Das war ein Prozess, der nie zu Ende war. Er erforderte, dass ich vor der Nase der Mitarbeiter permanent das Banner der »Leidenschaft für Verkäufer« schwang – als ständige Erinnerung und Inspiration, dass wir hier etwas Revolutionäres, Weltveränderndes taten.
Jeff spricht davon, dass ein Team engagiert und besessen vom Kunden sein muss. Ganz ehrlich, das ist einer seiner größten Hits, und er spielt ihn oft.
»Ich glaube fest daran, dass Missionare die besseren Produkte herstellen. Sie geben sich mehr Mühe. Für einen Missionar geht es nicht nur ums Geschäft. Es muss ein Geschäft geben, und dieses Geschäft muss sinnvoll sein, aber das ist nicht der Grund, warum man es macht. Man macht es, weil man etwas von Bedeutung hat, das einen motiviert.«1
Jeffs Argument ist nachvollziehbar und kaum zu bestreiten. Aber es ist auch unvollständig. Es erklärt nicht, ob die Mission des Unternehmens oder Teams mit der Mission jedes Einzelnen in Übereinstimmung gebracht werden muss. Außerdem, falls das bedeutet, dass Menschen diese Mission nicht entwickeln können, sondern sie bereits haben müssen, wenn sie ins Unternehmen kommen, wird es schwierig, ein Team zusammenzustellen. Definieren Sie die Mission, finden Sie heraus, wie Sie sie mit den Leidenschaften, Interessen und Missionen der Einzelnen verknüpfen können, und integrieren Sie die Mission konsequent in jede Kommunikation und jedes Meeting. Damit werden Sie das Team weit besser mitnehmen.
Wenn Sie Begeisterung und eine übergeordnete Zielsetzung bei sich selbst und Ihrem Team immer weiter aufbauen, werden Sie bessere Produkte entwickeln, bessere Erfahrungen machen und Ihr Unternehmen wird besseren Kundenservice leisten. Und Sie werden die besten Voraussetzungen dafür schaffen, ein »Day-One-Business« zu sein.
»Schmerz geht vorüber. Aufgeben ist für immer.«
– Lance Armstrong
Ich bin ein Fahrrad-Fan. Viele Jahre bin ich auf dem Road Bike mit Begeisterung Hügel und Berge im Pazifischen Nordwesten hinauf- und wieder hinuntergespurtet. Meine Frau und ich wurden Fans von Lance Armstrong, als er sich das Regenbogentrikot überzog, nachdem er 1993 die Fahrrad-Weltmeisterschaft in Oslo gewonnen hatte. Das war noch lange, bevor er seine erste Tour de France 1999 gewann. Unser erster Sohn wurde 1998 geboren, und wir hätten ihn beinahe Lance genannt – Gott sei Dank haben wir es nicht getan. Es schüttelt mich, wenn ich an den armen Jungen mit dem Namen »Lance Rossman« denke. Ein düsteres, komplexes Vermächtnis, das man herumschleppt, nur weil die Eltern sich so gerne Fahrradrennen ansahen.
Lance Armstrong gewann die Tour de France siebenmal in Folge, von 1999 bis 2005, und stellte damit einen Rekord auf. Doch 2012 wurde er lebenslang vom olympischen Sport ausgeschlossen wegen des Vorwurfs von Langzeit-Doping, und seine Tour-de-France-Siege wurden ihm aberkannt. Damit wurden all seine Siege ab dem Jahr 1998 für nichtig erklärt.
Heute lebe ich in Südkalifornien und verbringe zu viel Zeit mit Autofahren. Ich höre gerne Podcasts und bin stets auf der Suche nach guten Inhalten, bei denen man etwas lernt. Als mir ein Freund den Podcast »The Forward« von Lance Armstrong empfahl, hörte ich widerwillig einmal zur Probe hinein, und – war begeistert. »The Forward« handelt davon, dass man seine Vergangenheit akzeptiert und dann – nach vorne blickt. Egal wie Ihre Vergangenheit aussieht, Sie entscheiden, wie Sie damit umgehen und wie Sie Ihre Geschichte weiterschreiben wollen. Wenn Sie glauben, Ihre beste Zeit schon hinter sich zu haben, dann ist es Ihre Entscheidung, ob Sie resignieren, die schmerzliche Tatsache allmählich akzeptieren und langsam abbauen, oder ob Sie einen Weg finden, sich selbst neu zu erfinden und nach vorne blicken. Das ist das ganze Geheimnis. Mit diesem Thema ist Armstrong offenbar sehr vertraut.
Armstrong macht ganz ausgezeichnete Interviews mit seinen Podcast-Gästen. Er taucht ab in ihre Vergangenheit, geht ihre Geschichte durch und zeigt, wie sie weiter voranschreiten. Inzwischen geht er offen, ehrlich und ganz bescheiden mit seiner eigenen schwierigen Vergangenheit um. Der Podcast hat für ihn ganz klar eine Therapiefunktion.
Egal, wie die Vergangenheit aussieht; ganz gleich, wie viel Sie erreicht haben; Sie entscheiden, wie Sie weitermachen. Ob bewusst oder unbewusst – diese Entscheidung findet auf jeden Fall statt.
Jeff Bezos ist der Ansicht, es gibt zwei grundlegende Arten von Unternehmen: Day-One-Unternehmen und Day-Two-Unternehmen. Im Amazon-Aktionärsbrief von 2016 schreibt er:
»Jeff, wie sieht Day Two aus? Diese Frage stellte man mir bei unserer letzten Mitarbeiterversammlung. Ich habe die Leute daran erinnert, dass es mehrere Jahrzehnte lang immer Day One ist. Das Gebäude, in dem ich arbeite, heißt Day One, und als ich in ein anderes zog, nahm ich den Namen mit. Ich denke immer wieder eine Zeit lang darüber nach.
Day Two ist Stagnation. Gefolgt von Bedeutungslosigkeit. Gefolgt von qualvollem, schmerzhaftem Niedergang. Gefolgt vom Tod. Und darum ist immer Day One. Sicher würde diese Form von Niedergang extrem langsam vor sich gehen. Ein etabliertes Unternehmen kann jahrzehntelang von Day Two leben. Doch das Endergebnis würde in jedem Fall kommen.
Was mich interessiert, ist die Frage: Wie kann man Day Two abwenden? Mit welchen Techniken und Taktiken? Wie kann man die Vitalität von Day One aufrechterhalten, auch in einer großen Organisation? Auf so eine Frage gibt es keine einfache Antwort. Sie wird zahlreiche Elemente enthalten, vielfältige Wege und viele Fallen. Eine erschöpfende Antwort darauf habe ich auch nicht, aber vielleicht Teile davon. Ein grundlegendes Startpaket zur Aufrechterhaltung von Day One enthält Folgendes: Leidenschaft für Kunden, Skepsis gegenüber Proxys, begeistertes Annehmen externer Trends und schnelles Entscheiden.«1
Was ich an Jeffs Grundlagen-Startpaket interessant finde, ist, dass dies allesamt Dinge sind, die die Kultur betreffen. Sie definieren unsere Prioritäten und wie wir zusammenarbeiten. Es sind weder finanzielle Ziele noch Marktziele. Und die Führungskraft hat sie voll und ganz unter Kontrolle, nicht der Markt und nicht der Wettbewerb.
Jeff konzentriert sich darauf, wie er Day Two abwenden kann. Ich dagegen stelle mir die Frage: »Was tut man, wenn man schon ein Day-Two-Unternehmen ist?« Wie ändert man den Kurs? Oder fügt man sich einfach in sein Schicksal? Und wäre das dann nicht eine Form von Aufgeben? Oder nimmt man Risiko und Leiden in Kauf und findet heraus, wie es vorwärtsgehen kann?
Wenn Ihr Unternehmen schon ein Day-Two-Unternehmen ist, dann ist dieses Buch genau das Richtige für Sie! Wenden Sie die Gedanken daraus mit Verstand und Geduld an. Thomas Wolfe hat sich getäuscht. Es führt ein Weg zurück.[3] Und so kehren Sie zurück zu Day One:
Natürlich können und sollen Erneuerung und Innovation von irgendwo innerhalb oder außerhalb Ihrer Organisation kommen. Doch nur das Führungsteam und die Unternehmensleitung können zielgerichtet und konkret handeln. Wahrscheinlich wissen Sie schon, welche schmerzlichen Schritte Sie unternehmen müssen, um in Gang zu kommen; Sie haben sich nur bisher davor gescheut. Ziehen Sie Ihren Weg durch, schlucken Sie die bittere Pille beizeiten und fangen Sie dann an mit der Innovation. Das bedeutet vielleicht, einen Geschäftsbereich zu verkaufen, sich von einer Führungskraft zu trennen oder zuzugeben, dass ein Geschäftszweig ausgehöhlt ist.
Was ist typisch für ein Day-Two-Unternehmen? Oft ist es ein verlangsamtes Wachstum, die Tatsache, dass Dienstleistungen und Produkte zum Standard werden, eine steigende Verlustrate bei neuen Geschäftsbereichen oder Dinge, die man von den eigenen Kunden so hört.
Sie müssen nicht nur die Situation anerkennen, sondern auch die Verantwortung dafür übernehmen. Sie müssen wissen, woran Sie glauben, und was Sie bereit sind zu tun. Das, wofür Sie bereit sind, sich zu engagieren, wird im Großen und Ganzen auch der Bereich sein, in dem Sie etwas ausrichten können. Indem Sie die schlechten Nachrichten offenlegen, erklären Sie sie zur Vergangenheit. Sie sagen: »Wir haben eine neue Mission, und wir müssen es besser machen.« Und die aktuelle Situation ist nicht mehr akzeptabel. Das Leadership-Prinzip Nr. 11 bei Amazon lautet: »Sei vertrauenswürdig«, und das heißt, »offen selbstkritisch zu sein, auch wenn es unangenehm und peinlich ist. Führungskräfte machen sich nicht vor, dass ihr Schweiß oder der ihres Teams nach Parfüm riecht. Sie messen sich selbst und ihre Teams an den Besten.«2 Beginnen Sie Ihren Geschäfts- oder Lagebericht zum Beispiel mit: »Ich erkläre Ihnen nun, inwieweit mein Team/Geschäftsbereich versagt hat«, und dann führen Sie die Zahlen und Ursachen auf. Besprechen Sie, wie Sie dies in Ordnung bringen werden und was Sie von anderen dazu brauchen. Beginnen Sie gleich mit: »Werfen wir einen Blick auf die schlechten Nachrichten«, und das Stigma ist weg. Doch das erfordert eine mutige Führungskraft.
Fragen, die zwingende Folgen nach sich ziehen (»Wie würden wir unser Produkt/unseren Service/unser Angebot komplett auf Selfservice umstellen?«). Fragen, die mehr Kundenempathie schaffen (»Wie sieht der schlimmste Tag für unseren Kunden aus?«). Fragen, die eine andere Realität vor Augen führen (»Wie würde unser Produkt oder Service komplett digital aussehen?«). Entwerfen Sie gezielt und bewusst Szenarien und potenzielle Antworten auf diese Fragen. Setzen Sie dazu Narrative Memos (Idee 44) oder zukünftige Pressemeldungen (Idee 45) ein.
Mit Ihrem Team, Ihren Investoren, Ihrer Führungsebene, Ihren Kunden – jede Führungskraft muss ihre Kommunikation als Aufgabe verstehen und immer aktuell halten. Veränderung bewirkt man nicht mit einem einzigen Memo oder einem Meeting und einer Erklärung. Ihre Prioritäten, Ihre Handlungen, Ihre Kommunikation müssen immer auf Linie mit Ihrem Plan sein. Die Kommunikation muss sowohl einem Zeitplan folgen als auch spontan stattfinden. Stellen Sie für sich und Ihre Führungskräfte eine Liste von Inhalten auf, die bei allem, was Sie und die anderen tun, aktualisiert wird. Wiederholen Sie Ihre Botschaften.
• • •
Dennoch dominiert in der Geschichte der Unternehmen, die eine Gezeitenwende herbeiführen und sich neu erfinden wollten, das Scheitern. Zwei Beispiele für Unternehmen, die sehr erfolgreich ihr Geschick gewendet haben, sind Apple und, in jüngerer Zeit, Microsoft. Dabei geht es nicht nur um neue Produkte, sondern um einen Kulturwandel. Dieser Wandel ist schwer herbeizuführen, und er ist riskant. Vielleicht ist es einfacher, ihn der nächsten Management-Generation zu überlassen. Sie könnten das noch jahrelang überstehen. Aber könnten Sie mit dem Wissen leben, dass Sie einem Day-Two-Unternehmen vorstehen?
Selbst Amazon hat dieses Problem. Von den Unternehmen auf der Fortune-1000-Liste kommt nur Walmart über 400 Milliarden US-Dollar Jahreseinkommen. Es wächst im Schnitt weniger als 2 Prozent in fünf Jahren. Inzwischen beträgt das 2018 erwartete Einkommen von Amazon 240 Milliarden US-Dollar, bei einer jährlichen Wachstumsrate von 38 Prozent. In ein paar Jahren, wahrscheinlich weniger als drei, wird das Jahreseinkommen von Amazon über 400 Milliarden US-Dollar betragen. Man stellt sich die Frage, wie man ein solches Unternehmen führen soll, denn das haben noch nicht viele Führungsteams getan, besonders bei dieser Wachstumsrate. Dessen ungeachtet bleiben sie der langen Sicht auf die Dinge und dem Prinzip »Day-One-Unternehmen« treu.
Jenseits von Amazon wendet Jeff Bezos in einem aufkommenden sozialen Bewusstsein viele seiner Grundsätze und Werte an, um die große Vision zu verwirklichen und sich selbst zum Wohle des Kunden neu zu erfinden. Im September 2018 wurde angekündigt, dass sich der Bezos Day One Fund um die grassierende Obdachlosigkeit und Kindergärten kümmern wird. In seiner Ankündigung auf Twitter schrieb Jeff: »Wir werden dieselben Prinzipien anwenden, mit denen wir Amazon gesteuert haben. Das wichtigste davon wird aufrichtige, intensive Obsession für den Kunden sein. Das Kind wird der Kunde sein.«3
Es wird nicht einfach sein, ein Day-One-Unternehmen zu bleiben. Sie werden gute und schlechte Tage erleben. Sie werden auf dem Weg manche Leute verlieren. Sie müssen eine Obsession entwickeln. Zum Glück reden wir davon im nächsten Kapitel.
»Besessenheit ist die Quelle von Genie und Wahnsinn.«
– Michel de Montaigne
Kapitän Ahab, der manische Protagonist von Herman Melvilles Roman Moby Dick