1870/71
»Warum bleiben die Leute nicht einfach zu Hause,
statt in die Fremde zu ziehen
und sich gegenseitig abzuschlachten?«
William Howard Russell, Kriegsreporter der Times
VORWORT
I.RINGEN UM DIE DEUTSCHE NATION
II.DAS ZWEITE FRANZÖSISCHE KAISERREICH
III.JULIKRISE 1870
EXKURS: WAFFEN, TRUPPEN, PLÄNE
IV.DER EISENBAHNAUFMARSCH
V.DER WEG NACH LOTHRINGEN
EXKURS: HEIMATFRONT UND KRIEGSWIRTSCHAFT
VI.KÄMPFE IM ELSASS
VII.DIE SCHLACHTEN UM METZ
EXKURS: DAS ROTE KREUZ UND DAS SANITÄTSWESEN
VIII.SEDAN
EXKURS: FRANC-TIREURS
IX.DIE AUSRUFUNG DER DRITTEN REPUBLIK
X.KAPITULATIONEN
XI.KEIN ENDE IN SICHT
XII.AUF MESSERS SCHNEIDE
EXKURS: DIE MARINE
XIII.DIE NATION IST GEMACHT
XIV.PARIS KAPITULIERT
XV.FRIEDEN
XVI.DIE KOMMUNE
XVII.DAS REICHSLAND ELSASS-LOTHRINGEN
LITERATUR
»Bei euren Taten, euren Siegen
wortlos, beschämt hat mein Gesang geschwiegen:
und manche, die mich darum schalten,
hätten auch besser den Mund gehalten.«
Eduard Mörike
Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934) Adolf Hitler (1889–1945) zum Reichskanzler. Mit diesem Datum begann die Geschichte des »Dritten Reiches«, die für immer mit dem Namen des aus altem ostpreußischen Adel stammenden Generalfeldmarschall verbunden sein wird. Auch bei der Gründung des »Zweiten Reiches« am 18. Januar 1871 war Hindenburg als Statist zugegen (Pyta, S. 16). Als Vertreter seines Regiments, des 3. Garderegimentes zu Fuß, erlebte er im Spiegelsaal zu Versailles die Geburt eines Reiches, das er als propagierter Held 1914 im Osten verteidigte und letztlich als alternder »Ersatzkaiser« demjenigen anvertraute, der es und die ganze Welt in eine Katastrophe stürzen sollte.
Eben diese Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben dazu beigetragen, dass man sich fast gar nicht an den Deutsch-Französischen Krieg erinnert. Auch in der Schule wird dieser kaum gelehrt, ist oftmals nur einen Satz im Schulbuch wert. Zugleich stolpert man in vielen deutschen Dörfern oder Städten über die Mahnmale zur Erinnerung an den Krieg der Jahre 1870/71. Die wenigen, völlig überdimensionierten Monumente aus dem Deutschen Kaiserreich dienen noch als Kuriosum für Gruppen in- und ausländischer Touristen, jedoch kaum als geschichtliches Memorial. Wenn man in Rüdesheim am Rhein durch die engen Gassen schlendert, bei einem Glas Wein einkehrt, gehört eine Fahrt mit der Seilbahn zum Niederwalddenkmal dazu. Wenn man in Koblenz am Deutschen Eck dem Zufluss der Mosel in den Rhein zuschaut, hat man das Reiterdenkmal Kaiser Wilhelms I. (1797–1888) im Nacken. Wenn man den Ort der antiken Teutoburger Schlacht durchwandert, vielleicht sogar in Gedanken an die drei römischen Legionen, die hier einst mehrere Tage um ihr Leben kämpften, stößt man bei Detmold auf das Hermannsdenkmal, das Schwert mahnend nach Frankreich hin erhoben. Und die »Goldelse« auf der Berliner Siegessäule hatte jahrzehntelang vor dem Reichstag den Abgeordneten vor Augen geführt, wie das Reich geschaffen wurde, bevor man sie zur Verzierung der geplanten Welthauptstadt Germania versetzte. Heute wird sie gerne als Staffage für Großveranstaltungen genutzt, wobei oftmals die wenigsten Anwesenden wissen, woher die vergoldeten Kanonenrohre eigentlich stammen. Ist dies aber eigentlich wichtig? Warum lohnt sich die Beschäftigung mit dem letzten der sogenannten Einigungskriege?
Militärisch gesehen war der Deutsch-Französische Krieg der erste moderne Krieg auf dem europäischen Kontinent (Nipperdey, Machtstaat, S. 64). Als solcher war er ein Vorgeschmack auf den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. So gingen mit der Kapitulation von Metz an einem Tag fast 200 000 französische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft (Moltke, S. 114). Diese Zahl sollte erst im Spätsommer 1941 beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion übertroffen werden, wie bei der Doppelschlacht von Białystok und Minsk mit 300 000 russischen Gefangenen (Hart, S. 210). Dabei zeigte sich der Unterschied, dass man sich 1870 gemäß der Genfer Konvention von 1864 um die französischen Soldaten kümmerte, während man 72 Jahre später nicht nur den Tod der Gefangenen in Kauf nahm, sondern oftmals gezielt herbeiführte. Den Hass auf den anderen Soldaten als Folge einer rassistischen Indoktrinierung gab es 1870 nicht. Es gab Vorurteile vor allem deutscher Soldaten gegen die nordafrikanischen Truppen der Franzosen, die mit rassistischen Stereotypen einhergingen. Diese offenbarten jedoch keinen Willen zur Vernichtung (vgl. Ganschow, S. 338 ff.). Die Aktionen, die wir heute als Kriegsverbrechen bezeichnen, waren meistens der eigenen Hilflosigkeit und Überforderung geschuldet und lösten bereits bei einigen Zeitgenossen Empörung aus, unabhängig von der Nationalität.
Mit Paris wurde ab dem 19. September 1870 auch erstmals in der Weltgeschichte eine Millionenstadt vollständig von einem Heer eingeschlossen und belagert (Howard, S. 325). Erst am 8. September 1941 wurde mit Leningrad wieder die Bevölkerung einer Millionenstadt von der Außenwelt abgeschnitten. 1870 wollte man im deutschen Hauptquartier damit einen schnellen Friedensschluss herbeiführen und stritt monatelang heftig darüber, ob man die Stadt beschießen sollte. Das Ziel 1941 war die vollständige Vernichtung der Menschen und des Ortes. Deutsche Soldaten ließen es hingegen nicht nur zu, dass im November 1870 arme Pariser Bürger vor ihren Linien nach Essbarem suchten, sondern steckten dem ein oder anderen Hungernden etwas Tabak oder Essen zu (Arand, S. 480 f). Sie hatten Mitleid! Paris kapitulierte nach 132 Tagen, Leningrad sollte knapp zweieinhalb Jahre aushalten und nie kapitulieren. Aber beide Städte warten noch mit einem anderen Vergleich auf. Kommt einem beim Gedanken an die blutigste Revolution gemeinhin die russische Oktoberrevolution 1917 in den Sinn, die in St. Petersburg, dem späteren Leningrad, ausbrach, so wird man mit dem Blick auf Paris im Frühjahr 1871 auch dahingehend eines Besseren belehrt. Schätzungen gehen davon aus, dass zur Zeit der Pariser Kommune im Mai innerhalb einer Woche zwischen 20 000 (Koechlin, S. 35) und 35 000 Menschen (Arand, S. 601) getötet wurden. Der Bürgerkrieg zwischen den Sozialisten (Kommunarden) und den konservativ-bürgerlichen Kräften war ein kurzer, lokal begrenzter, dafür umso entfesselter, der zwischen Soldaten, Frauen und Kindern keine Unterschiede machte.
Das sind einige wenige Zahlen. Nichts weiter. Doch hinter diesen stecken menschliche Schicksale, Existenzen, die für den Rest des Lebens eine tiefe Prägung erfuhren. So war der Bürgermeister des Montmartre-Bezirks während der Belagerung von Paris und den blutigen Unruhen niemand anderes als Georges Clemenceau (1841–1929). Dieser sollte als unerbittlicher Gegner der Deutschen bei den Versailler Verhandlungen 1919 auftreten. Die größtmögliche Schwächung Deutschlands war sein Ziel und nur durch den mäßigenden Einfluss der Engländer und Amerikaner fiel der Versailler Vertrag für die Deutschen nicht noch härter aus (Winkler, S. 402). Toujours y penser, jamais en parler, ›Immer daran denken, niemals davon sprechen‹, bestimmte als Leitfaden die französische Revanchepolitik vor dem Ersten Weltkrieg und hielt damit die Erinnerung an das Trauma des verlorenen Krieges aufrecht, während die Deutschen dem unheilvollen Gedanken anhingen, dass sie die besten Soldaten der Welt hätten und deshalb den Kampf bestehen könnten, auch »gegen eine Welt von Feinden« (Wilhelm II. am 6. August 1914, zitiert nach: Krockow, Wilhelm II., S. 234). Für das Vaterland zu sterben wurde dadurch im Deutschen Kaiserreich besonders süß und ehrenvoll, weil man definitiv zu den Gewinnern zählte. Diese Erzählung fand vor allem bei den Nachkommen der Kämpfer von 1870/71 Gehör. Vom Krieg Gezeichnete und Traumatisierte schwiegen oder wurden nicht beachtet. Dass es gerade nach den blutigen Schlachten im August viele Soldaten gab, die – so würde man heute sagen – an posttraumatischen Belastungsstörungen litten, wurde im Jubel über die Siege verdrängt. Stolze Sieger durften nicht leiden.
Auch der spätere Reichspräsident von Hindenburg erfuhr in den Schlachten 1870 seine Prägung fürs Leben. So schilderte er nach der Schlacht bei Sedan: »Die Vernichtungsbilder, die ich bei diesem Vorgehen an dem Nordostrand des Bois de la Garenne sah, übertrafen alle Schrecken, die mir je auf Schlachtfeldern entgegengetreten sind« (Aus meinem Leben, S. 36). Und diese Zeilen schrieb er nach dem Ersten Weltkrieg, der an maschineller Tötung alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellte. Ins kollektive Gedächtnis der Franzosen und Deutschen im 20. Jahrhundert sind die Schreckensbilder von Verdun und Stalingrad eingegangen. In der Generation Hindenburgs war dies hingegen für die, die dabei waren, Sedan und Saint-Privat. Für Hindenburg war es immer wichtig gewesen, sich mit den Veteranen von 1870/71 zu treffen.
In den Jahren 1871 bis 1914 bestand die historische Chance, aus dem Deutsch-Französischen Krieg die richtigen Schlüsse zu ziehen. Mit diesen wäre es vielleicht zu keinem dem Ersten Weltkrieg vergleichbaren Ereignis gekommen. Doch die Generation Hindenburgs hatte dies versäumt. Man betonte lieber das Ergebnis des Krieges, statt sich dessen Verlauf und dem Leiden der Menschen zuzuwenden. Dies war höchst unpopulär in jener Zeit. Heute haben wir einen anderen Blick auf Kriege. Mit diesem lohnt es sich, auf die Ereignisse von 1870/71 zurückzublicken.
Meisenheim, 2019/20
»Die Worte ›Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter usw.‹ elektrisieren die unklaren Volksmassen noch immer weit sicherer als die Worte:
›Menschheit, Weltbürgertum, Vernunft der Söhne, Wahrheit …!«
Heinrich Heine
Im Jahr 1814 brach die Herrschaft desjenigen zusammen, der maßgeblich dafür verantwortlich gewesen war, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach fast 900 Jahren sein Ende gefunden hatte. Napoleon Bonaparte (1769–1821) war 1806 auf dem Höhepunkt seiner Macht und hatte mithilfe des neu entstandenen Rheinbundes die Herrschaft über die meisten Länder übernommen, die einst das Reich der Deutschen bildeten. Doch Napoleon wurde niedergerungen, auch von deutschen Patrioten, die sich ihrer Nationalität immer bewusster wurden. Nicht umsonst entstanden in diesen Befreiungskriegen die Farben Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck eines deutschen Nationalgefühls (vgl. u. a. Langewiesche, 2019, S. 64). Daran war Frankreich sowohl als Vorbild als auch als Gegner mitschuldig. Fast schon obsessiv sollte der Blick der Deutschen in der Folgezeit immer wieder über den Rhein gleiten.
Derweil hatte Preußen im Nordosten seine ganz eigenen Lehren aus dem militärischen Zusammenbruch gegen Napoleon gezogen. Die Reformen, die auf vielen Ebenen eingeleitet wurden, legten den Grundstein für den Aufstieg Preußens zur Führungsmacht innerhalb der deutschen Staaten. Gerade die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Öffnung des Offizierskorps für alle Schichten wirkten wie ein Brandbeschleuniger auf die Hoffnungen der jungen Menschen (Dierk, S. 470 ff.). Diese hatten im nationalen Kampf den Beginn größerer persönlicher Freiheiten gesehen. Waren dies nicht die revolutionären Gedanken aus Frankreich, die endlich in Deutschland, hier Preußen, Einzug hielten und für die es sich zu kämpfen lohnte? Vor allem, dass jeder »Anspruch auf Versorgung im Civildienst erhalten soll« (zitiert nach: Alter/Rumpf, S. 31), machte die Armee für die jungen Männer attraktiv. Dies hatte zum Anstieg der Freiwilligen in der preußischen Armee geführt, die im Anschluss, zusammen mit Österreich, England und Russland, Napoleon besiegen konnte.
Beim Wiener Kongress, der von September 1814 bis Juni 1815 stattfand, wurden die Hoffnungen dieser Freiwilligen auf nationale Einheit und politische Mitwirkung bitter enttäuscht. Außenpolitisch war der Kongress indes ein Erfolg. Nach Jahrzehnten des Krieges und unzähliger Kriegstoter und Verstümmelter mutet es wie eine besondere Leistung der Kongressteilnehmer an, mit dem besiegten Frankreich einen Versöhnungsfrieden ausgehandelt zu haben. Schon zu Beginn wurde eine französische Delegation unter Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838) als gleichberechtigte Verhandlungspartner eingeladen (Langewiesche, 1993, S. 7). Selbst als Napoleon, aus seiner Verbannung zurückgekehrt, während des Kongresses nochmals für hundert Tage die Macht an sich reißen konnte, wurde von dieser Haltung nicht abgerückt. Besonders wichtig – im Hinblick auf die in diesem Buch dargestellte Entwicklung – ist das fehlende Gefühl von Demütigung in einem besiegten Frankreich trotz Entschädigungszahlungen und anderen, vor allem materiellen, Forderungen nach der Unterzeichnung der Wiener Schlussakte am 9. Juni 1815. Bereits 1818 nach Erfüllung aller Forderungen wurde Frankreich wieder als vollberechtigtes Mitglied in den Kreis der Großmächte aufgenommen (ebd., S. 11). Blieb noch die Frage nach dem, was aus den deutschen Staaten werden sollte. Diese fanden sich in einem mehr oder weniger lockeren Bund aus verschiedenen Einzelstaaten mit unterschiedlicher politischer Auffassung wieder. Manche zeigten sich recht liberal, manche eher weniger. Die ständig tagende Bundesversammlung und der Bundesrat waren die gemeinsamen Organe, die in Frankfurt am Main saßen. Den Vorsitz des Rates hatte Österreich, das im Kriegsfall ein Bundesheer einberufen konnte, das sich aus den verschiedenen Ländern zusammensetzte. Eine 1821/22 eingeführte Kriegsverfassung regelte Genaueres, musste allerdings niemals ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen (Nipperdey, Bürgerwelt, S. 355). Generell kann bereits hier gesagt werden, dass die Jahre, die auf die Gründung des Deutschen Bundes folgten, eine für Zentraleuropa ungewöhnlich friedliche Zeit waren, die jedoch innenpolitisch mit Zensur und Unterdrückungsmaßnahmen einherging. Erst 1848/49 sollten in dieser Region wieder Schlachten geschlagen werden, die aber lokal sehr begrenzt blieben, wie die Italienischen Unabhängigkeitskriege oder der Schleswig-Holsteinische Krieg von 1848–51.
Preußen verfolgte bereits früh Bestrebungen, die nord- und süddeutschen Staaten zu einer Zollunion zusammenzuschließen. Am 1. Januar 1834 wurde der »Deutsche Zollverein« gegründet, der die meisten deutschen Staaten außer Österreich umfasste. Mit der Gründung des Zollvereins war Preußen endgültig zur Führungsmacht zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht aufgestiegen (Winkler, S. 85). Auch wenn sich der kleindeutsche Nationalstaat – also ein Staat ohne Österreich – damit andeutete, war noch längst nicht klar, dass dieser genauso entstehen würde.
1840 kam es zur »Rheinkrise«, der Forderung Frankreichs nach linksrheinischen Gebieten. Ihren Anstoß hatte diese zwar nicht in Europa, sondern in Frankreichs Engagement im Nahen Osten (Langewiesche, 1993, S. 17), jedoch waren die Folgen zutiefst europäisch, weil dadurch die seit 1815 abgeklungene Franzosenfeindlichkeit wieder an Nahrung gewann. Die »Wacht am Rhein«, das Lied, das zur inoffiziellen Nationalhymne im Deutschen Kaiserreich werden sollte, entstand zu diesem Anlass. Doch man war im Deutschen Bund gerade stark innenpolitisch beschäftigt, weshalb die »Rheinkrise« nur einen kurzen Aufreger darstellte. Frankreich war zu sehr Vorbild, um den deutschen Fürsten als Feindbild zu dienen. Sie hatten andere Sorgen: ein immer stärker werdendes Bürgertum, das politisches Mitspracherecht forderte, und verelendende Arbeiter, die ein menschenwürdiges Leben haben wollten. Auch dieses Mal flogen die Funken aus dem Westen herüber und entzündeten die deutschen Pulverfässer. In Berlin versammelten sich am 13. März 1848 rund 20 000 Menschen, um gegen Wucherer und Kapitalisten zu demonstrieren. In Paris war es bereits ab dem 21. Februar zu Unruhen gekommen, die nach drei Tagen den französischen »Bürgerkönig« Louis-Philippe (1773–1850) ins Exil trieben. Doch König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) in Berlin dachte nicht daran, seinen von Gott gegebenen Thron zu verlassen, und zog sein Militär zusammen. Häuserkampf, Erstürmung und Verteidigung von Barrikaden, der Einsatz von Artillerie und letztlich ein besonnener General, der seinem König davon abriet, weiter auf das eigene Volk zu schießen – das waren die Zutaten der »Märzrevolution« in Berlin (Nipperdey, Bürgerwelt, S. 599). Letztlich senkte König Friedrich Wilhelm IV. sein Haupt vor den »Märzgefallenen«. Die Revolution schien gesiegt zu haben.
Daraufhin wurde ein Jahr lang in Frankfurt heftig zwischen den Abgeordneten debattiert, bis schließlich am 28. März 1849 die »Paulskirchenverfassung« verabschiedet wurde. Diese war eine kleindeutsche Lösung ohne Österreich, bei der der preußische König als Kaiser vorgesehen war. Dieser musste nur noch zustimmen, und die Hoffnung so vieler Deutscher seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon auf Freiheit und Einheit ginge in Erfüllung. Am 3. April 1849 traf die Delegation aus Frankfurt in Berlin ein, um Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone anzubieten. Er, der König von Gottes Gnaden, sollte eine Krone tragen, die Bauern, Handwerker, einfache Bürger ihm anboten? Friedrich Wilhelm lehnte den »imaginäre[n] Reif, gebacken aus Dreck und Lettern« ab, weil der »Ludergeruch der Revolution« an ihm klebe (zitiert nach: Winkler, S. 122). Dies bedeutete das Ende der Nationalversammlung, die ohne eine Exekutive gescheitert war. Gleichzeitig sammelte sich die Gegenrevolution und es kam zu Kämpfen, die mit der Niederschlagung des Maiaufstandes am 23. Juli 1849 bei Rastatt endeten. Preußen versuchte noch im Nachgang der Revolution, einen deutschen Nationalstaat unter seiner Führung zu etablieren, was jedoch in die Herbstkrise 1850 mündete. Krieg zwischen Österreich, Russland, einigen deutsche Staaten wie Bayern einerseits und Preußen andererseits stand kurz bevor und wurde gerade noch verhindert. Im Vertrag von Olmütz, unterschrieben am 29. November 1850, gab Preußen nach und stimmte der Wiederherstellung des Deutschen Bundes zu (Gall, 1997, S. 42). Im Grunde war damit der Preußisch-Österreichische Dualismus unaufhebbar geworden – eine Entscheidung lag in der Luft.
Noch während der Revolution war es 1848 zur Schleswig-Holsteinischen Erhebung gekommen. Die Herzogtümer Schleswig und Holstein waren Teil des Deutschen Bundes, aber in Personalunion mit dem Königreich Dänemark verbunden. Im Großen und Ganzen ging es darum, dass die meist deutsche Bevölkerung sich einem deutschen Nationalstaat, der 1848 ja noch möglich war, anschließen wollte. Es wurde eine provisorische schleswig-holsteinische Regierung gebildet, die, vom Deutschen Bund unterstützt, gegen Dänemark kämpfte. Der Krieg endete nach drei Jahren mit dem Londoner Protokoll, das dem Sieger Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg garantierte, aber dennoch deren Selbstständigkeit betonte (Buk-Swienty, Düppel, S. 137 f.). Sowohl der Deutsch-Deutsche (1866) als auch der Deutsch-Dänische Krieg (1864), die beiden ersten »Einigungskriege« also, haben somit ihre unmittelbaren Vorläufer in der Revolution von 1848/49. Doch nunmehr war nicht mehr Freiheit die Triebfeder im Hintergrund des Geschehens, was sich in einer liberalen Verfassung mit Grundrechten gezeigt hätte, sondern die Einheit der Nation. Und diese sollte nun von »oben« kommen mithilfe von »Eisen und Blut« (Krockow, 2000, S. 154).
Im August 1863 lud der österreichische Kaiser Franz Joseph (1830–1916) nach Frankfurt ein, um über eine Reform des Deutschen Bundes zu beraten. Das Kaiserreich Österreich war als Vielvölkerstaat lange dem Druck der Nationalbewegungen ausgesetzt gewesen und hatte diese geflissentlich ignoriert oder bekämpft. Nun wollte man zu ersten zaghaften Reformen übergehen und auch im Deutschen Bund Zugeständnisse machen. Die Frankfurter Reformakte vom 1. September 1863 sollte der Startschuss für eine Entwicklung von einem Staatenbund hin zu einem Bundesstaat sein. Doch Preußen war den Verhandlungen ferngeblieben, weil die Vorschläge ihnen nicht weit genug gingen. Gerade die mittleren Staaten des Bundes befürchteten daraufhin eine hegemoniale Stellung Österreichs, weshalb auch sie das Projekt letztlich scheitern ließen (Winkler, S. 159). Wenn es eines letzten Beweises bedurft hätte, dass der Deutsche Bund dank des preußisch-österreichischen Dualismus nicht zu reformieren war, hatte ihn der gescheiterte Frankfurter Fürstentag endgültig erbracht.
Im Norden des Deutschen Bundes bahnte sich derweil Unheil an. Die Schleswig-Holsteinische Erhebung gegen Dänemark, die mit der Niederlage und einem Sonderfrieden Preußens mit Dänemark geendet hatte, war weder vergessen noch verarbeitet. An der Darstellung, worum es eigentlich genau ging, scheiterten bereits Fachleute. Jedenfalls wurden die jeweiligen Kriegserklärungen förmlich korrekt am 31. Januar 1864 übergeben. Auch wenn jede Polemik beiseitegelassen wird, so bleibt dennoch die Feststellung, dass sich das Königreich Dänemark selbst überschätzte. Es verließ sich auf einen jahrhundertealten Mythos, das Danewerk. Diese Befestigungsanlage aus dem Mittelalter war an die modernen Begebenheiten des Krieges angepasst worden. Schanzen und Befestigungen sollten Eindringlinge aus dem Süden aufhalten. Die beinahe 70 Kilometer langen Schanzanlagen im Süden Jütlands erwarteten im strengen Winter 63/64 die bundesdeutschen Truppen. Am 21. Dezember 1863 hatte nämlich der Deutsche Bund eine Bundesexekution über Holstein verhängt. Dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815–1898) war es damit gelungen, den Krieg gegen Dänemark zunächst nicht als preußischen, sondern als deutschen zu führen. Es wurde eine Exekutionsarmee des gesamten Deutschen Bundes in den Norden verlegt, was eine völlig legitime und auch innenpolitische Maßnahme war. Holstein gehörte zum Bund. Alles, was darüber hinausging, war keine Bundesexekution mehr, sondern der Deutsch-Dänische Krieg. Dafür wurden die preußischen und österreichischen Truppen aus den Exekutionstruppen herausgelöst.
Am 1. Februar marschierten diese in Schleswig ein und bereits am 2. Februar mussten die Truppen unter Prinz Friedrich Karl von Preußen (1828–1885) bei Missunde an der Schlei feststellen, dass es kein Spaziergang werden würde. Die Preußen wurden zurückgeschlagen. Trotzdem ließ der dänische General Christian Julius de Meza (1792–1865) vier Tage später die Befestigungen des Danewerks räumen und zog sich nach Norden zurück (Buk-Swienty, Düppel, S. 177 ff.). Bei Düppel erwartete er in gut ausgebauten Schanzanlagen die heranrückenden Truppen unter dem Neffen des preußischen Königs. Am 14. April erstürmten die Preußen die Düppeler Schanzen und entschieden damit den Krieg. Schon am 12. Mai fanden in London Verhandlungen statt. Nach kurzer Wiederaufnahme der Kämpfe schwiegen die Waffen endgültig ab 20. Juli und am 30. Oktober wurde der »Friede von Wien« geschlossen. Im folgenden Jahr am 18. August einigten sich Preußen und Österreich in einem Hotel in Bad Gastein darauf, dass Preußen Schleswig und Österreich Holstein verwalten sollte. Im »Kondominium« wurde die wechselseitige Verwaltung der Herzogtümer geregelt und die Pflicht festgeschrieben, bei Streitfragen in den verwalteten Gebieten gemeinsam abzustimmen. Konflikte waren dabei vorprogrammiert. Der Gasteiner Vertrag begünstigte Preußen, das natürlich auch geografisch näher an seinem Verwaltungsgebiet war, und machte es leicht, Österreich zu provozieren. Was wollte Wien überhaupt mit der Enklave im hohen Norden?
Für Preußen bedeutete der Deutsch-Dänische-Krieg die erste militärische Aktion, wenn man von der Niederschlagung der 48er-Revolution absieht, seit den Kämpfen gegen Napoleon Bonaparte. Er war dahingehend für Preußen wichtig, die militärische Stärke zu testen und Selbstbewusstsein in einer Welt zu erlangen, in der Krieg ein übliches Mittel der Politik war. Nebenbei konnten die Kanonen der Firma Krupp aus Essen ihre Leistungsfähigkeit beim Beschuss der Düppeler Schanzen zeigen. Der dänische Kriegskorrespondent Grove beschreibt aus zehn Kilometer Entfernung ihre Wirkung: »Wer dies nicht miterlebt hat, kann sich keine Vorstellung von einem derartigen Beschuss machen. Es ist, als wären Himmel und Erde in Aufruhr, als hätte die Hölle die Pforten geöffnet und ihre Teufel losgelassen, die nun mit einem dämonischen Heulen umherfahren, um das Menschengeschlecht zu vernichten und es in seinen Qualen zu verspotten. Man empfindet Entrüstung, Entsetzen über diese Macht, die den Tod verspricht, den Einzelnen aber nicht warnt, wen der Tod ereilen wird« (zitiert nach: ebd., S. 246 f.). Der maschinelle, anonyme Tod hatte die Schlachtfelder Europas bei Düppel das erste Mal erreicht.
Hinsichtlich des Deutschen Bundes zeigte sich, dass die beiden tonangebenden Mächte, Preußen und Österreich, ihre eigene Politik verfolgten. Auf wirtschaftlicher Ebene war der »Deutsche Zollverein« das preußische Instrument, um eine Entscheidung über das künftige Deutschland herbeizuführen. Diesen richtete Berlin nach Westen hin aus; Österreichs Beitritt war nie eine ernsthafte Option, weil Wiens Interessen eher in Mittel- und Osteuropa lagen. Bereits im März 1862 war zwischen Preußen und Frankreich ein Handelsvertrag geschlossen worden, der im Prinzip nur noch die Frage ungeklärt ließ, welche von den übrigen deutschen Staaten sich auf wessen Seite, Österreich oder eben Preußen, stellen würden. Traditionsgemäß standen die süddeutschen Staaten Österreich näher. Als eine Art inoffizielle Grenze zwischen den Blöcken galt der Main, zumal ab 1864 alle nördlich des Mains gelegenen deutschen Staaten dem preußisch-französischen Freihandelsbund beitraten. Im Prinzip war damit bereits das Territorium des »Norddeutschen Bundes« abgesteckt. Bismarck konnte den nächsten Schritt machen zur Verwirklichung einer alleinigen preußischen Vormachtstellung in Deutschland. Und dies war der sogenannte Deutsch-Deutsche Krieg, der sich an der Schleswig-Holsteinischen Frage entzündete.
Am 7. Juni 1866 waren preußische Truppen in das Herzogtum Holstein einmarschiert. Damit reagierte Berlin auf den Bruch des »Gasteiner Abkommens«, als Wien die Weisung an den Statthalter Holsteins gab, die Ständeversammlung möge den Bundestag in Frankfurt über die Zukunft des Herzogtums entscheiden lassen. Österreich tat nach dem preußischen Einmarsch nun das, was im Deutschen Bund in einem solchen Fall zu tun war. Es beantragte am 9. Juni in Frankfurt die Mobilisierung der Bundestruppen zum Zwecke einer Bundesexekution gegen Preußen. Auf diesen Antrag hin tagte der Bundestag am 14. Juni, wobei Preußen den österreichischen Antrag bereits im Vorfeld als rechtswidrig ansah (Neuhold, S. 57).
Am 14. Juni 1866 wurde auf Antrag Österreichs der Kriegszustand mit Preußen beschlossen. Der damit verbundenen vertraglichen Bündnispflicht kamen alle großen Staaten nach. Kleinere Mitgliedsstaaten, die nahe an Preußen lagen, wie die Hansestädte, verweigerten sich diesem Bündnisfall und hielten zu Preußen, wobei man an deren freiwilliger Entscheidung durchaus zweifeln darf. Preußen trat mit diesem Tag offiziell aus dem Deutschen Bund aus, sodass man korrekterweise nun von einem Krieg zwischen dem Deutschen Bund und Preußen sprechen muss. Aber natürlich war es der seit Jahrzehnten erwartete Krieg zwischen Österreich und Preußen um die endgültige Vorherrschaft in Deutschland.
Die Entscheidung des Krieges sollte jedoch nicht im hohen Norden, sondern in Böhmen fallen. Maßgeblich dafür war das strategische Konzept der »Äußeren Linie«, das der preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke (1800–1891) in Anlehnung an Clausewitz’ »Innerer Linie« entworfen hatte. Dafür ließ er drei Armeen getrennt voneinander konzentrisch aufeinander zumarschieren – eine riskante Strategie, die den Österreichern lange das Gefühl des Sieges gab. In achteinhalb Korps eingeteilt sollten sich die drei Armeen zwischen Elbe und Schlesien nach Böhmen hineinbewegen. Die größte Gefahr war dabei, dass die Österreicher die Armeen einzeln schlagen würden. Die Möglichkeit lag hingegen in einer Einschließung der Gegner.
Am Abend des 3. Juli 1866 ging eine der größten Schlachten des 19. Jahrhunderts zu Ende, bei der sich rund 440 000 Soldaten 24 Stunden lang gegenübergestanden und versucht hatten, sich gegenseitig zu töten. Dementsprechend sah es auf den wenigen Quadratkilometern zwischen Elbe und Bistritz auch aus. Kronprinz Friedrich (1831–1888) war erschüttert vom Anblick. »Das Schlachtfeld zu bereiten war grauenvoll, und es lassen sich die entsetzlichen Verstümmelungen, die sich dem Blicke darstellten, gar nicht beschreiben. Der Krieg ist doch etwas furchtbares, und derjenige Nichtmilitär, der mit einem Federstrich am grünen Tisch denselben herbeiführt, ahnt nicht, was er heraufbeschwört« (Friedrich, 1929, S. 450). Wahre Worte, die keinen Nachhall fanden.
Die Preußen trieben die Reste der österreichischen Nordarmee vor sich her und standen Mitte Juli an den Vororten Wiens. Nun begann im Grunde bereits die Vorbereitung des Krieges gegen Frankreich. Bismarck musste seinen König von einem raschen und mäßigenden Frieden mit Österreich überzeugen. Dieser war im Siegestaumel und wollte die Österreicher weiter über die Donau verfolgen. Sogar der ansonsten eher kühle von Moltke stimmte dem König zu, doch Bismarcks Hinweis auf die Nachschublinie brachte die Herren zum Nachdenken: »Sind wir ganz drüben, so verlieren wir die Verbindungen nach rückwärts; es würde dann das geratenste sein, auf Konstantinopel zu marschieren, ein neues byzantinisches Reich zu gründen und Preußen seinem Schicksal zu überlassen.« (zitiert nach: Krockow, 2000, S. 203). Auch wenn Bismarck hier weniger mit Argumenten als mit Emotionen begründete, so konnte schließlich vor den in den preußischen Truppen ausbrechenden Cholera-Erkrankungen niemand mehr die Augen verschließen (ebd.). Im Süden wartete die österreichische Südarmee unter Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen (1817–1895), der vom geschlagenen Ludwig von Benedek (1804–1881) den Oberbefehl übernommen hatte, hinter gut ausgebauten Stellungen an der Donau.
Der preußische König forderte ganz im Stile des 19. Jahrhunderts Gebietsabtretungen von Österreich und Sachsen. Am 24. Juli kam es zu einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bismarck und Wilhelm. Jeder Punkt eines eventuellen Friedens wurde ohne Konsens durchgegangen, bis man sich im Streit trennte, »und ich mit dem Eindruck, meine Auffassung sei abgelehnt, das Zimmer verließ mit dem Gedanken, den König zu bitten, daß er mir erlauben möge, in meiner Eigenschaft als Offizier in mein Regiment einzutreten.« (Bismarck, Gedanken, S. 332). Sogar Selbstmordgedanken will Bismarck gehabt haben, doch sein König gab nach. Am 26. Juli wurde zwischen Österreich und Preußen der Vorfriede von Nikolsburg geschlossen. Dabei sollte Preußen nicht völlig ohne Annexionen bleiben. Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt gehörten fortan zu Preußen. Ebenso stimmte Österreich zu, dass der Deutsche Bund aufgelöst wurde und es selbst bei einer Neugestaltung keine Rolle spielte. Der Prager Frieden vom 23. August 1866 bestätigte dies alles nochmals.
Mit den norddeutschen Staaten schloss Preußen am 18. August das »Augustbündnis«, das als militärischer Beistandspakt die Vorstufe zum Norddeutschen Bund war. In einem norddeutschen Reichstag wurde eine Verfassung vorbereitet. Im »Frieden von Prag« war ein Südbund vorgesehen (Artikel 4), der jedoch nicht realisiert werden konnte. Bis zum 21. Oktober 1866 schlossen 21 deutsche Staaten ein Bündnis mit Preußen, das den Namen »Norddeutscher Bund« erhielt (Krockow, 2000, S. 214 f.).
Gerade die Uneinigkeit, die sich beim Mainfeldzug unter den Süddeutschen auf militärischer Ebene gezeigt hatte, wurde nun auf die politische Ebene übertragen. Insbesondere Bayern, das sich als größter Staat in einem solchen Bund sah, gelang es nicht, seinen Anspruch als Führungsmacht auch durchzusetzen. Da der Friedensvertrag einen Beitritt zum Norddeutschen Bund untersagte, die Auflösung des Deutschen Bundes die süddeutschen Staaten aber ohne militärischen Schutz gegen Frankreich zurückließ, wurden mit Preußen einzelne Verträge geschlossen. Diese »Schutz- und Trutzbündnisse« waren rein defensiver Natur und wurden vom französischen Kaiser Napoleon III. (1808–1873) und seinen militärischen Beratern nicht besonders ernst genommen (Arand, S. 72). Das sollte sich noch als fatal erweisen.
»Frankreich war nie republikanisch, weil es das Reich der Eitelkeit ist. […]
Der Kaiser ist ein Überlebender von Waterloo: unter diesem Gesichtspunkt und keinem andern ist die Rolle zu beurteilen, die er in der Welt verkörpert. Es ist zugleich seine Entschuldigung, seine Schwäche und seine Größe.«
Horace de Viel-Castel
Die Geschichte des zweiten französischen Kaiserreiches begann mit der Präsidentschaftswahl am 10. Dezember 1848. Bei ihr setzte sich Charles Louis Napoleon Bonaparte knapp durch. Er wurde als Neffe des großen Napoleon Bonaparte geboren und hatte bereits 1836 vergeblich gegen den Bürgerkönig Louis-Philippe geputscht, was ihm die Verbannung bescherte. Aus dem Exil in England versuchte er dies abermals 1840, und da er nun zweimal gescheitert war, schien seine politische Karriere in Frankreich beendet. Zumal er zu lebenslanger Festungshaft verurteilt worden war, aus der er nach sechs Jahren nach England fliehen konnte. Doch die Februarrevolution 1848 brachte ihm nun die Möglichkeit, auf legalem Wege die Macht in Frankreich zu erlangen (vgl. Fontane, Okkupation, S. 169). Neben seinem berühmten Namen sprach bei seiner Wahl auch sein Programm die Menschen an, das den Spagat zwischen Wiederherstellung nationaler Größe und sozialen Reformen versprach. Jedoch hatte er nur den Namen seines Onkels geerbt – nicht dessen kriegerischen Charakter.
Schon im April 1849 hatte Napoleon Gelegenheit zu außenpolitischen Aktionen, als er nach der Ausrufung der Römischen Republik den Papst unterstützte und dessen Kirchenstaat mit Truppen wiederherstellte. Fortan sah er sich als Schutzmacht des Vatikans. Dennoch stand zunächst die innenpolitische Machtsicherung auf seiner Agenda. Während seiner ersten Jahre tauschte Napoleon die Minister immer wieder aus, bis er eine ihm loyale Basis für sein nächstes Vorhaben hatte. Kurz vor Ablauf seiner Amtszeit putschte er ein drittes Mal und diesmal erfolgreich. Als Zeitpunkt hatte er sich den 2. Dezember gewählt, den Tag, an dem sich sein Onkel 1804 die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt hatte. Mit einer Volksabstimmung verschaffte sich Napoleon die Legitimation seiner Herrschaft. Am 21. Dezember 1851 stimmte ein Großteil der Wahlberechtigten für eine neue Verfassung, die ihm diktatorische Vollmachten garantierte. Ein knappes Jahr später, am 21. November 1852, ließ er abermals abstimmen, diesmal über die Frage, ob das Kaisertum wiederhergestellt werden sollte. Auch hier stimmte eine große Mehrheit dafür und Napoleon ließ sich am 2. Dezember 1852 zum Kaiser ausrufen (Langewiesche, 1993, S. 109). Als Namen trug er fortan »Napoleon III.« – Nach Napoleons I. Abdankung hatte dessen Sohn Napoleon Franz Joseph Karl Bonaparte (1811–1832) als kurzzeitiger Titularkaiser Frankreichs den Namen »Napoleon II.« geführt.
Da sich Napoleons III. Staatsstreich hauptsächlich auf das Militär gestützt hatte, musste er diesem nun etwas bieten. Auch das übrige Volk wollte den Beweis geliefert bekommen, dass das nunmehr Zweite Kaiserreich mit dem ersten, was Ruhm und Ehre anbelangte, mithalten konnte. Deswegen kam dem Kaiser der Krimkrieg gerade recht. Als neunter in der langen Reihe der russisch-türkischen Kriege nahm dieser 1853 seinen Anfang und hatte seine Ursache vor allem im Niedergang des Osmanischen Reiches und dem kulturellen und religiösen Gegensatz zu Russland. Da aber vor allem England um seine Macht im östlichen Mittelmeer bangte, stellte es sich auf die Seite der Osmanen, um eine Erweiterung des russischen Einflusses zu verhindern. Als ein »echter« Napoleon hatte man seit 1812 mit Russland sowieso noch eine Rechnung offen, und so gelang es dem Kaiser mühelos, die französische Öffentlichkeit für ein militärisches Eingreifen zu begeistern. Der Konflikt gipfelte in der Belagerung von Sewastopol auf der Krim, die von Oktober 1854 bis September 1855 dauerte. Am 30. März 1856 wurde in Paris der »Dritte Pariser Frieden« geschlossen, der den Krieg schließlich beendete. Hinsichtlich des bis dahin auf dem Kontinent herrschenden Mächtegleichgewichtes war der Friedensvertrag eine Zäsur (Gall, 1997, S. 43). Die 1815 geschlossene Heilige Allianz zwischen Österreich, Russland und Preußen zerbrach, und Frankreich wurde die neue (alte) Großmacht, ganz wie es Napoleon III. versprochen hatte.
Doch auch hinsichtlich der Geschichte der Kriegsführung war der Krimkrieg eine Zäsur. Er gilt als erster »moderner« Krieg und hält alle Zutaten künftiger militärischer Auseinandersetzungen bereit. Es tauchten gepanzerte Dampfschiffe auf, Geschütze mit immenser Sprengkraft und großer Reichweite kamen zum Einsatz, Gewehre mit gezogenen Läufen stabilisierten die Flugbahn der Projektile und erhöhten somit die Durchschlagskraft und Reichweite, die Eisenbahn wurde militärisch genutzt und Befehle wurden per Feldtelegrafen weitergegeben (Arand, S. 80).
Napoleon III. konnte mit den eingerichteten Telegrafenleitungen unmittelbar per Befehl eingreifen, obwohl er sich weit entfernt aufhielt – nicht immer zum Vorteil der eigenen Truppen. Auch die Nachrichten von der Front kamen schneller in die europäischen Hauptstädte, sodass die Bevölkerung gut und zeitnah über die Vorgänge informiert war. Die erste echte unmittelbare Begegnung mit dem modernen Krieg sollte Napoleon 1859 bei Solferino haben. Beim Ritt über das Schlachtfeld am 25. Juni, einen Tag nach der Schlacht, war er so schockiert, dass er zusammenbrach. Offensichtlich fehlten ihm die Kaltblütigkeit und Nervenstärke seines Onkels (ebd., S. 81).
Dennoch erlebte Frankreich und insbesondere Paris unter seiner Herrschaft eine wirtschaftliche Blütephase. Die Stadt wurde neben London zum wichtigsten Finanzzentrum Europas. Am offensichtlichsten kann man jene Jahre des Zweiten Kaiserreiches in der Architektur noch heute sehen. Georges-Eugène Baron Haussmann (1809–1891) wurde die Neugestaltung übertragen. Die »Transformation von Paris« sollte stärkster Ausdruck seiner Herrschaft werden und der Stadt ein modernes Antlitz geben. Doch damit ging nicht nur eine ästhetische Überlegung einher, sondern auch eine machtpolitische, weil man auf den breiten Boulevards – die breiteste Straße, die er anlegen ließ, war 120 Meter breit! – unmöglich effiziente Barrikaden errichten konnte (Willms, S. 150 ff.). Aufständische hatten so weniger Möglichkeiten zum Widerstand.
Die Krux der napoleonischen Herrschaft war, dass es Stagnation nicht geben durfte. Sichtbare Erfolge waren die Legitimität der Herrschaft, ganz gleich in welcher Hinsicht. Wer sich davon nicht blenden ließ, konnte die nahende Katastrophe sehen. Selbst der Kaiser überspielte seine stetig zerfallende Gesundheit, wobei immer stärker seine Frau, Kaiserin Eugénie (1826–1920), das Zünglein an der Waage spielte. Sie war es, die die Bälle und Soireen organisierte und es gar soweit brachte, dass sich ihre modische Extravaganz in der Wirtschaft, eben der Textilwirtschaft positiv niederschlug. Jede Frau, die etwas von sich hielt, musste dem kaiserlichen Vorbild folgen und stets über den neuen Stil informiert sein (Arand, S. 75). Dafür wurde sie bereits von Zeitgenossen kritisiert, aber man sollte ihr zugutehalten, dass eben die gesamte Herrschaft auf jener Repräsentation aufbaute. Dass sie alles andere als nur ein modisches Aushängeschild des Zweiten Kaiserreiches war, sollte ihre Rolle in der Entstehung des Deutsch-Französischen Krieges zeigen. Bis dahin musste das Kaiserpaar jedoch darauf achten, dem Glanze Frankreichs Erfolge jeder Art zuzuführen (Gall, 1997, S. 44). Doch es kam anders.
In das zweite Jahrzehnt der Kaiserherrschaft fällt ein äußerst desaströses außenpolitisches Abenteuer, das man durchaus als beginnenden Niedergang deuten kann. Nach dem Bürgerkrieg in Mexiko von 1857–1861 war das Land unter der liberalen Regierung Benito Juárez’ (1806–1872) wirtschaftlich am Boden und beschloss, alle Zahlungsverpflichtungen einzustellen. Frankreich hatte, wie England und Spanien auch, Kredite gegeben und beschloss nun, eine Strafexpedition nach Amerika zu schicken. Zusammen mit den Alliierten besiegten die Franzosen die Mexikaner rasch und handelten neue Zahlungsmodalitäten aus. Nachdem die Engländer und Spanier sich wieder aus dem Land zurückgezogen hatten, beschloss Napoleon III., seine 7000 Mann starke Truppe im Land zu belassen, um ein politisches Gegengewicht zu den USA aufzubauen. Natürlich sollte dies unter französischer Kontrolle geschehen und da die Vereinigten Staaten gerade ihren Bürgerkrieg ausfochten, sah der Kaiser die Gunst der Stunde, ein mexikanisches Kaiserreich zu errichten. Eine lateinamerikanische Republik in eine europäisch geprägte Monarchie umzuwandeln, darf durchaus als tollkühn bezeichnet werden. Dennoch fand sich ein europäischer Monarch, der sich auf den mexikanischen Thron setzte. Erzherzog Ferdinand Maximilian Joseph Maria von Österreich (1832–1867) bestieg am 10. April 1864 den neu geschaffenen mexikanischen Kaiserthron als Kaiser Maximilian I. Um seine Herrschaft gegen ein wütendes mexikanisches Volk zu sichern, befanden sich bald 50 000 französische Soldaten im Land, die unter dem Kommando Marschall François-Achille Bazaines (1811–1888) standen. Bazaine war ein erfahrener General, der schon im Krimkrieg und bei Solferino gekämpft hatte. Doch bereits ein Jahr nach der Thronbesteigung wendete sich das Blatt, und die Mexikaner, von den USA nach Beendigung ihres Bürgerkrieges unterstützt, entfachten einen entnervenden Guerillakrieg gegen die Franzosen. Auch die explodierenden Kosten brachten Napoleon III. letztlich zu der Einsicht, dass das Vorhaben abzubrechen sei. Anfang 1866 wurde der Rückzug der französischen Truppen aus Mexiko begonnen. Kaiser Maximilian I. konnte sich noch ein knappes Jahr mehr schlecht als recht auf dem Thron halten, dann wurde er gestürzt und am 19. Juni 1867 erschossen. Der impressionistische Maler Édouard Manet (1832–1883) hat die Hinrichtung Maximilians in mehreren Bildern verewigt, in denen die erschießenden Soldaten Uniformen tragen, die den französischen ähneln. Ein Soldat trägt die Züge Napoleons III., weshalb das Bild der Zensur zum Opfer fiel. Jedoch gab das Bild gut die Stimmung in Frankreich wieder, wo das gescheiterte mexikanische Abenteuer dem Ansehen des Kaisers ungemein schaden sollte (Bremm, 2019, S. 25).
Es musste dringend ein außenpolitischer Erfolg für den Kaiser her. Jedoch befand er sich in der Lage, dass er einen weiteren Krieg nicht so leicht im Volk durchsetzen konnte nach dem kostspieligen Mexikoabenteuer. Der Erfolg musste also auf einem anderen Weg her, und der französische Kaiser gedachte, sich den Deutsch-Deutschen Krieg 1866 zunutze zu machen (Ohnezeit, S. 35). Als militärisch stärkste Macht auf dem Kontinent hatte Frankreich bei jedem militärischen Konflikt gewissermaßen ein Mitspracherecht. Die rasche Entscheidung im Deutsch-Deutschen Krieg verhinderte dieses zwar nicht, schränkte aber die Möglichkeiten des Kaisers ein. Immerhin konnte er durch Einspruch verhindern, dass sich Preußen Sachsen einverleibte und seinen Machtbereich südlich des Mains ausdehnte.
Bismarck hatte Kaiser Napoleon III. Kompensationen in Aussicht gestellt für den Fall, dass das Kaiserreich eine Intervention im Krieg gegen Österreich unterließ. Ohne konkrete Zusage stellte Bismarck Belgien und Luxemburg als möglichen französischen Erwerb dar; genau wie es der französische Botschafter in Berlin, Graf Vincent Benedetti (1817–1900), im August 1866 vorgeschlagen hatte (ebd., S. 34). Einzige Bedingung: Preußens Beteiligung musste geheim bleiben. Der Kuhhandel, der diskutiert wurde, war ganz simpel und völlig im Geiste der Zeit: Frankreich könne sich Belgien und Luxemburg aneignen, wenn es selbst wohlwollend einer Eingliederung der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund gegenüberstehe. Doch bald erhöhte der französische Botschafter die Forderungen nach linksrheinischen Territorien. Angedacht waren die Grenzen von 1814, was unter anderem die französische Annexion Saarbrückens, Saarlouis’ und Landaus bedeutet hätte (Nipperdey, Band II., S. 17). Von Österreich hatte sich Napoleon im Falle dessen Sieges als möglichen Preis die Errichtung eines Klientelstaates links des Rheines versprechen lassen, was aber mit der Niederlage von Königgrätz hinfällig geworden war. Inwiefern der Kaiser in die Gespräche in Berlin involviert war, ist unklar, immerhin sollte sich im Sommer 1870 zeigen, dass Benedetti ganz gerne Anordnungen des Kreises um die Kaiserin entgegennahm, die einen Krieg durchaus begrüßten. Er selbst legte nach dem Krieg dar, dass die gesamte französische Regierung involviert gewesen sei (Benedetti, S. 177). Jedenfalls gab Bismarck deutlich zu verstehen, dass das Abtreten linksrheinischer Gebiete nicht infrage komme. Hinsichtlich Luxemburg und Belgien blieb er vage, ohne abzulehnen (Ohnezeit, S. 34).