Die geheimen
DAKINI-LEHREN

Padmasambhavas mündliche Unterweisungen der Prinzessin Tsogyal

Ein Juwel der tibetischen Weisheitsliteratur

Übersetzt aus dem Tibetischen von Erik Pema Kunsang

Deutsch von Sabine von Minden und Corinna Chung

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Vorwort des Übersetzers

Dieses Buch ist eine Sammlung von Unterweisungen, ausgewählt aus verschiedenen Schatztexten oder Termas1. Es enthält Guru Rinpoches2 mündliche Anleitungen zur Übung des Dharma, die er im 9. Jahrhundert n. Chr. während seines Aufenthalts in Tibet gab. Sie wurden aufgezeichnet von Yeshe Tsogyal, der Prinzessin von Kharchen, seiner bedeutendsten Schülerin. Nach Jamgon Kongtruls Lebensgeschichten der einhundert Tertöns (auch «Die kostbare Lapislazuli-Girlande») war Yeshe Tsogyal eine Dakini und die Emanation des weiblichen Buddha Lochana – der Gefährtin des Buddha Ratnasambhava – sowie der Vajra-Yogini. Yeshe Tsogyal diente Guru Rinpoche während seines Aufenthalts in Tibet und widmete sich danach mit unerhörter Energie und Ausdauer der Übung des Dharma, so dass sie ihrem Meister schließlich gleichkam. Ihr Mitgefühl ist beispiellos und der Segen, der von ihr ausgeht, wird sich niemals erschöpfen.

Yeshe Tsogyal zeichnete diese Kernunterweisungen in der verschlüsselten Geheimsprache der Dakinis auf und verbarg sie als kostbare Terma-Schätze3, die Jahrhunderte später von den Tertöns, den Entdeckern der Schatztexte, offenbart werden sollten. Guru Rinpoche selbst hat die Namen der Entdecker vorhergesagt und den Zeitpunkt und die Epoche ihres Auftretens. Die von ihnen in Form von Texten oder Visionen entdeckten Lehren würden den Bedürfnissen der Menschen der jeweiligen Zeit angepasst sein. In nahezu jedem Kapitel dieses Buches heißt es, dass diese Unterweisungen zum Wohl der Praktizierenden künftiger Generationen gegeben wurden: «Mögen sie auf diejenigen Menschen der Zukunft treffen, die ihrer würdig sind.»

Das vorliegende Buch basiert auf den von Nyang Ral Nyima Öser im zwölften Jahrhundert entdeckten Terma-Schriften. Das von mir verwendete Manuskript wurde vor mehreren Jahrzehnten von einem Forschungsreisenden aus einem mongolischen Kloster nach Europa gebracht und wird heute in der Königlichen Dänischen Bibliothek aufbewahrt. Als S. H. Dilgo Khyentse 1976 diese Bibliothek besuchte, ließ er sich alle handgeschriebenen Originalmanuskripte zeigen und dann sechs Bände, die zu der Zeit in Indien nicht erhältlich waren, fotokopieren. Unter ihnen befand sich eine Sammlung verschiedener Schatztexte des Tertön Nyang Ral mit dem Titel Jomo Shulen («Die Fragen der Yeshe Tsogyal»). Dieser Band wurde später originalgetreu von Sherab Drimä, dem Verleger S. H. Khyentse Rinpoches in Delhi, nachgedruckt. Als ich später Tulku Urgyen Rinpoche ein Exemplar überreichte, gab er seiner großen Freude über die Lektüre Ausdruck und unterstützte und ermutigte mich bei der Vorbereitung der Übersetzung. Außerdem machte er mich auf eine ähnliche Sammlung von Nyang Rals Terma mit dem Titel Nyang-gyi Matri («Die direkten Anweisungen von Nyang») aufmerksam. Jamgon Kongtrul hatte dieser Schrift genügend Bedeutung beigemessen, um sie in den sechzigsten Band seines Rinchen Terdzö aufzunehmen. Beim Vergleich der Manuskripte stieß ich in beiden auf unschätzbare Unterweisungen Padmasambhavas, die teilweise identisch waren, an anderen Stellen jedoch große Unterschiede aufwiesen. Offensichtlich stammten sie aus zwei verschiedenen Quellen, von denen die erstere Jamgon Kongtrul, als er den Rinchen Terdzö zusammenstellte, nicht zugänglich gewesen sein kann.

Seit Nyang Ral Nyima Öser die Schatztexte entdeckt hat, sind nahezu achthundert Jahre vergangen und im Laufe dieser Zeit haben sich jedes Mal, wenn die Schriften von Hand kopiert wurden, einige Auslassungen ergeben und orthographische Fehler eingeschlichen. Ich habe deshalb ein drittes Manuskript hinzugezogen, eine Sammlung von Termas, die im vierzehnten Jahrhundert von Sangye Lingpa entdeckt wurden. Einige Stellen in dieser Schriftensammlung stimmen fast wörtlich mit dem Terma von Nyang Ral Nyima Öser überein. Die Erklärung hierfür ist, dass beide Meister in ihren früheren Leben zugegen waren, als Guru Rinpoche diese Lehren übermittelte. Nyang Ral Nyima Öser war eine Inkarnation von König Trisong Deutsen, während Sangye Lingpa eine Inkarnation von Murub Tsejpo, dem zweitgeborenen Sohn von Trisong Deutsen, war.

Diese drei Schriftsammlungen zusammengenommen enthalten Material für vier weitere Bände einer Übersetzung; ich habe deshalb die Teile ausgewählt, die mir für die heutige Zeit von Bedeutung scheinen.

Die folgenden biographischen Notizen über das Leben von Nyang Ral Nyima Öser (1124-1192) sind aus den Lebensgeschichten der einhundert Tertöns zusammengestellt:

Nyang Ral war der erste der fünf Tertön-Könige, deren Erscheinen von Guru Rinpoche prophezeit worden war. Er war die Inkarnation von Trisong Deutsen, jenes Königs, der Guru Rinpoche nach Tibet einlud und der auch unter dem Namen Tsangpa Lhai Metok, die «Göttliche Blume des Brahma», bekannt war.

Nyang Ral wurde im Jahr des Männlichen Holz-Drachen4 in der Provinz Lhodrak als Sohn eines Nyingma-Lamas namens Nyangtön Chökyi Khorlo geboren. Schon im Alter von acht Jahren hatte er Visionen von Buddha Shakyamuni, Avalokiteshvara und Guru Rinpoche und seine meditativen Erfahrungen währten einen ganzen Monat.

Eines Abends erblickte er Guru Rinpoche auf einem weißen Pferd reitend, das von den vier Arten von Dakinis getragen wurde. Aus einem vasenähnlichen Gefäß, das Guru Rinpoche hielt, trank er Nektar und empfing damit die vier Initiationen. Danach schien es ihm, als öffnete sich der Himmel und als bebten die Berge und die ganze Erde. Seit diesem Ereignis wurde sein Verhalten derart absonderlich, dass man allgemein annahm, er sei verrückt geworden.

Sein Vater gab ihm die Hayagriva-Einweihung und nachdem Nyang Ral in Klausur gegangen war, um die damit verbundene Übung auszuführen, hatte er eine Vision der Gottheit. Von seinem Phurba erschallte das Wiehern eines Pferdes und er konnte seine Hand- und Fußabdrücke im Fels hinterlassen.

Einer Prophezeiung der Dakinis folgend, begab er sich nach Mawo Chökyi Draktsa. Dort verliehen ihm die Weisheitsdakinis den Namen Nyima Öser («Strahl des Sonnenlichts»). Unter diesem Namen wurde er fortan bekannt. Guru Rinpoche selbst erschien Nyima Öser, um ihm eine Liste der Termas zu geben, die er entdecken sollte. Von den vielen von ihm entdeckten Schatztexten sind Kagye Desheg Düpa, ein Lehrzyklus, der sich hauptsächlich mit den acht Heruka-Sadhanas befasst, und eine Biografie Guru Rinpoches mit dem Titel Sanglingma die bekanntesten.

Später vermählte sich Nyima Öser mit Jobum, einer Emanation Yeshe Tsogyals, die ihm zwei Kinder schenkte. Beide Söhne, Drogön Namkha Ö und Namkha Päl, wurden Halter seiner Linie.

Nyima Öser widmete sich Zeit seines Lebens gleichermaßen der Meditation in Klausur und der Übermittlung der Lehren an andere. Sein Wirken war für den Fortbestand des Dharma von entscheidender Bedeutung. Er verschied im Jahr der männlichen Holz-Maus, im Alter von neunundsechzig Jahren. Sein Tod war von vielen wunderbaren Zeichen begleitet.

Ich selbst, Jamgon Kongtrul, habe die mündliche Übermittlung aller von Nyang Ral Nyima Öser entdeckten Termas erhalten. Ich ließ die hölzernen Druckstöcke für die neun Bände des Kagye Desheg Düpa anfertigen und habe dessen Sadhana viele Male zusammen mit anderen ausgeführt. Auf diese Weise konnte ich diesen Lehren auf bescheidene Weise dienen.

Nun folgt eine kurze Beschreibung, auf welche Weise Nyima Öser den Terma-Text entdeckte, auf dem die vorliegende Ausgabe basiert. Diese Ausführungen sind Nyang Ral Nyima Ösers Biographie Der Klare Spiegel entnommen, die sich im zweiten Band des Kagye Desheg Düpa findet.

Als ich in Klausur in der Perlen-Kristall-Höhle von Pama Gong die Guru-Sadhana praktizierte, erschien mir ein Mädchen von heller Hautfarbe, gekleidet in ein blaues Kleid mit Schürze und eine weiße Seidenbluse. Sie sagte, sie sei Yeshe Tsogyal und fragte mich: «Yogi, was wünschst du dir?»

Ich erwiderte ihr: «Ich begehre nichts außer dem Dharma!» «Also werde ich ihn dir geben», sagte sie und reichte mir eine Schatulle mit Schriften über die Dakini-Prophezeiungen und den Zyklus der 108 Fragen und Antworten.

Dann fuhr sie fort: «Mein Sohn, folge mir zur Leichenstätte von Shitavana! Acharya Padma hält dort eine Dharma-Versammlung mit den acht großen Vidyadharas und zahlreichen anderen würdigen Yogis. Wir, die Dakinis, kommen dort zu einer großen Festzeremonie zusammen. Komm mit mir!»

Als wir in Shitavana angelangt waren, erblickte ich die große Leichenstätte, die jeden, der dessen nicht würdig war, so eingeschüchtert und in Angst und Schrecken versetzt hätte, dass er sich diesem Ort unmöglich hätte nähern können. In der Mitte befand sich ein Yogi von hellbrauner Hautfarbe; er saß auf einem mächtigen juwelenbesetzten Thron. Er fragte: «Ist das nicht mein Sohn, Tsangpa Lhai Metok? Hat das Umherirren in Samsara dich erschöpft?» Dann bedeutete er mir, auf einem Haufen menschlicher Knochen Platz zu nehmen.

Vor ihm befand sich ein großes Mandala. Es war mit zahlreichen Ornamenten geschmückt und von einem Netz von Lichtstrahlen umgeben. In den acht Richtungen um das Mandala erblickte ich die acht Vidyadharas aus Indien und Tibet mit einem Lächeln auf dem Angesicht. Ich wurde erfüllt von einer überwältigenden Freude.

Wieder sprach das Mädchen zu mir: «Mein Sohn, möchtest du dich an einer Festzeremonie erfreuen oder an einer Unterweisung?» Ich antwortete ihr: «Bitte, setze das Rad des Dharma für mich in Bewegung!» Unmittelbar darauf wurden mir die Vorstufen zur Einweihung in das Große Mandala gegeben. Anschließend begab ich mich zu den Vidyadharas in den acht Richtungen des Mandala, erhielt von jedem eine ausführliche Initiation für einen der acht Lehrzyklen und wurde als Linienhalter eingesetzt.

Der Yogi in der Mitte, der sagte, er werde Padmasambhava oder auch Padmakara genannt, gab mir die große Initiation der Versammlung der friedvollen und rasenden Sugatas und lehrte mich die Tonfolge für das Singen der Gebete.

All die Vidyadharas gaben dann gleichzeitig die Initiation für Lernen und Erinnern, die Initiation für Meditieren und Praktizieren, die Initiation für Erläutern und Lehren, die Initiation für das Schulen der Lebewesen mit Hilfe der vier Formen der Aktivität, die Initiation für die allumfassende Befehlsgewalt eines Vajra-Königs und die Dzogchen-Einweihung in die natürlich schöpferische Energie des reinen Gewahrseins.

Nachdem ich all diese Initiationen vollständig erhalten hatte, reichte man mir ein weißes Muschelhorn und hieß mich gehen. In dem Augenblick, da ich diese Weisung vernahm, schwand – wie ein Atemhauch von einem Spiegel – alles um mich herum, die Leichenstätte und die Meister. Als ich meiner Sinne wieder mächtig wurde, fand ich mich in meiner Meditationshütte wieder.

Den zweiten Terma-Text, den ich während der Arbeit an diesem Buch zum Vergleich heranzog, um Rechtschreibfehler und Auslassungen herauszufinden, wurde von dem Tertön Sangye Lingpa (1340-1396) entdeckt. Dieser wurde in Kongpo, einer Provinz im Südosten Tibets im Jahr des Männlichen Eisen-Drachen, im selben Jahr wie der vierte Karmapa Rölpä Dorje, geboren und als eine Inkarnation von Yeshe Rölpa Tsäl, dem zweitältesten Sohn von König Trisong Deutsen, angesehen. Sangye Lingpa entdeckte seinen bedeutendsten Terma, den Lehrzyklus Lama Gondü, im Jahr 1364. Er zählt, wie auch Nyima Öser, zu den fünf Tertön-Königen. Im vergangenen Jahrhundert inkarnierten sich diese beiden Meister als Jamyang Khyentse Wangpo und Terchen Chogyur Lingpa.

Das vorliegende Buch schließt mit einem Kapitel, das die letzten Unterweisungen Padmasambhavas enthält. Sie sind einem Terma von Guru Dorje Lingpa (1346-1405) entnommen, einem anderen jener fünf Tertön-Könige, die die bedeutendsten Terma-Entdecker Tibets waren.

Ich möchte allen danken, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, ganz besonders aber S. H. Dilgo Khyentse und Tulku Urgyen Rinpoche für ihre Anleitung und ihren Segen.

Erik Pema Kunsang,
Asura-Höhle, 1989

Einführende Unterweisungen

von Tulku Urgyen

In dem Weltenzyklus, in dem wir uns befinden, erscheinen eintausend Buddhas und eintausend Manifestationen von Guru Rinpoche, die das Wirken dieser Buddhas unterstützen. In unserem jetzigen Zeitalter, dem des Buddha Shakyamuni, ist eine dieser Manifestationen als Padmasambhava, der Lotusgeborene, erschienen. In Padmasambhavas Biographie heißt es, er sei ohne Vater und Mutter auf wunderbare Weise aus einer Lotusblüte inmitten eines Sees geboren. Als Mensch, der durch übernatürliche Geburt in diese Welt kam, besaß er die Macht, nicht nur Menschen, sondern auch Geister und andere nichtmenschliche Wesen auf den Weg der Befreiung zu führen. Sein Leben währte lang: Er verbrachte etwa eintausend Jahre in Indien und fünfundfünfzig Jahre in Tibet. Als er sich aufmachte, Tibet zu verlassen, begleiteten ihn der König und die anderen seiner fünfundzwanzig engsten Schüler. An der nepalesischen Grenze erwartete ihn ein Geleit von Dakinis der vier Klassen und das Wunderpferd Mahabala. Dieses erhob sich mit ihm in die Lüfte und seine Schüler blieben zurück und blickten ihm nach bis sein Bild kleiner und kleiner wurde und in der Ferne verschwand.

Der Legende nach hat sich Padmasambhava geraume Zeit in Bodhgaya aufgehalten. Dann begab er sich zu seinem reinen Land, dem Glorreichen Kupferfarbenen Berg, Sangdok Palri. Auf der grobstofflichen Ebene ist dies eine große Insel, eine Art Subkontinent im Ozean südwestlich von Bodhgaya. Diese Insel hat verschiedene Schichten. Die untersten werden von Rakshas bewohnt. In den Prophezeiungen Buddha Shakyamunis heißt es, dass diese kannibalischen Wesen eine große Gefahr sind, da sie in einer Zeitepoche der Zukunft, in der die durchschnittliche Lebensspanne des Menschen lediglich zwanzig Jahre beträgt, in die uns bekannte Welt einfallen, sich die Menschheit Untertan machen und vernichten werden. Der Buddha sagte gleichzeitig voraus, dass Guru Rinpoche sich auf diesen Kontinent begeben würde, um die Rakshas zu besiegen.

Guru Rinpoche hat diese Prophezeiung erfüllt.

Der größte Berg der Kupferfarbenen Insel reicht bis in die Tiefen des Ozeans, in die Welt der Nagas hinab. Die Bergspitze durchstößt den Himmel und ragt auf bis zur Brahma-Welt im Reich der Form. Auf dem Gipfel befindet sich ein auf wunderbare Weise erschienenes Buddha-Gefilde, das drei Ebenen hat: Buddha Amitayus, die Dharmakaya-Emanation von Guru Rinpoche, ist auf der höchsten Ebene; auf der mittleren seine Sambhogakaya-Form, Avalokiteshvara; auf der unteren Ebene Guru Rinpoche als Nirmanakaya, umgeben von seinen acht Manifestationen. Guru Rinpoche ist die Geist-Ausstrahlung von Buddha Amitabha, die Rede-Ausstrahlung von Avalokiteshvara und die Körper-Ausstrahlung von Buddha Shakyamuni. Er manifestierte sich, bevor er in dieser Welt erschien, zunächst auf der Sambhogakaya-Ebene in Gestalt der fünf Thrötreng-Tsal-Familien, danach als die acht und zwölf Manifestationen und schließlich in zahllosen weiteren Ausstrahlungskörpern.

Bevor Guru Rinpoche Tibet verließ, gab er zahlreiche Prophezeiungen und viele seiner Lehren wurden als Termas verborgen, um später, zu geeigneter Zeit, hervorgeholt zu werden. Guru Rinpoches engste Schüler, durch seinen Segen eins mit ihm geworden, sollten in ihren späteren Inkarnationen diese spirituellen Schätze wieder entdecken. Sie verfügten, wie Guru Rinpoche selbst, über Wunderkräfte, konnten durch die Lüfte fliegen, ungehindert durch Fels und andere feste Materie hindurchgehen und hatten die uneingeschränkte Fähigkeit, die Sutras und ihre Kommentare sowie die Bedeutung der Tantras zu erläutern. Guru Rinpoche prophezeite das Erscheinen von 108 großen Tertöns, den Entdeckern der verborgenen Schätze. Entsprechend den Umwälzungen in den verschiedenen Epochen der Weltgeschichte erscheint jeder Tertön zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Wohl aller vom Leid bedrängten Wesen.

In Kenntnis der Probleme kommender Zeiten verbarg Guru Rinpoche bestimmte Anleitungen für spirituelle Übungen, die der Zeit ihrer Entdeckung angemessen sind. Auf diese Weise kommt also jeder Tertön in den Besitz von Lehren, die frisch, unverdorben und zeitgemäß sind. So wie zum Beispiel frische, unverdorbene Nahrung gut für uns ist, sind es auch die Terma-Lehren, denen diese Qualität der Frische eigen ist. Zum einen ist ihre Übertragungslinie kurz, also unbefleckt von gebrochenen oder übertretenen Samayas, zum anderen sind Termas von nachträglichen, späteren Einfügungen verschont. Die Lehren kommen in direkter Linie von Guru Rinpoche zu uns; sie werden von seinen Schülern in ihren späteren Inkarnationen hervorgeholt und weitergegeben, damit sie unmittelbar ausgeübt werden können.

Um es noch einmal zu wiederholen: Die besondere Qualität der von Guru Rinpoche verborgenen Terma-Lehren besteht darin, dass die in ihnen enthaltenen Mittel und Wege, spirituelle Verwirklichung zu erlangen, der jeweiligen Zeitepoche und den Menschen, die auf diese Lehren stoßen, genau angemessen sind. Jeder Tertön entdeckt jeweils neue Belehrungen, die von Menschen mit dafür günstigem Karma geübt werden können. Termas, deren Entdeckung bereits längere Zeit zurückliegt, können aufgrund gebrochener Samayas der Übenden beeinträchtigt sein. Dies kann sich darin äußern, dass die Zeichen der Verwirklichung erst mit Verzögerung auftreten. Neuere Termas haben, in Hinblick auf das rasche Erlangen von Siddhis, eine größere segnende Kraft. Hinzu kommt, dass die Tibeter wie die meisten Menschen eine Vorliebe für Neuheiten haben und so wecken eben neue Termas größeres Interesse. Tibeter haben im allgemeinen eine Spur weniger Vertrauen in die alten Termas und als Folge davon stellt sich der Erfolg der Übung verzögert ein. Das größere Vertrauen in neue, unberührte Termas inspiriert zu größerem Eifer in der Übung und also auch zu rascheren Resultaten.

Dies alles zusammen sind Faktoren, die das Erscheinen neuer Termas bestimmen. Gäbe es diese Umstände nicht, würde jeweils ein Terma für Lama, Yidam und Dakini – die Drei Wurzeln – ausreichen. Doch wie gesagt, Menschen sind im allgemeinen an Neuem interessiert und das Auftreten eines neuen Tertön, der einen neuen Schatztext entdeckt hat, ruft stets Verblüffung und Freude hervor. Dass Guru Rinpoche diesen Sachverhalt als eines seiner geeigneten Mittel und Wege nutzt, ist schon etwas Erstaunliches.

Yeshe Tsogyal war eine der fünf Dakini-Ausstrahlungen der Vajra-Yogini und zugleich eine Manifestation von Guru Rinpoche. Sie erschien, um Guru Rinpoche bei der Verbreitung des Vajrayana, insbesondere der Terma-Lehren, in Tibet, dem Land des Schnees, zu unterstützen.

Die vordergründige Bedeutung des Wortes Dakini ist «die sich im Himmelsraum fortbewegt», ein Wesen also, das nicht darauf angewiesen ist, auf der Erde zu gehen. Es gibt verschiedene Klassen von Dakinis: Weisheitsdakinis, Dakinis der Aktivität und weltliche Dakinis. Die eigentliche Weisheitsdakini ist der Aspekt der Leerheit des klaren Gewahrseins. Der Leerheitsaspekt jeder Wahrnehmung ist die weibliche Eigenschaft, während die Wahrnehmung selbst als die männliche Eigenschaft bezeichnet wird. Der Urgrund aller Dakinis ist die große Mutter des Dharmakaya.

Die männlichen Buddhas der drei Kayas sind Shakyamuni, Vajradhara und Samantabhadra. Der Urgrund aller männlichen Gottheiten ist der Dharmakaya-Buddha Samantabhadra, der Urgrund aller weiblichen Gottheiten dessen Gefährtin Samantabhadri. Samantabhadra ist die Basis der Wahrnehmung, Samantabhadri der Aspekt der Leerheit innerhalb der Wahrnehmung. Samantabhadri wird als der Urgrund aller Ausstrahlungskörper bezeichnet. Eine ihrer Ausstrahlungen ist der weibliche Buddha Prajñaparamita, die große Mutter des Dharmakaya. Vajra-Varahi ist eine Sambhogakaya-Ausstrahlung der Prajñaparamita, desgleichen auch die fünf weiblichen Buddhas Dhatvishvari, Mamaki, Buddhalochana, Pandaravasini und Samayatara, die die Gefährtinnen der fünf männlichen Buddhas sind. Die Nirmanakaya-Ausstrahlung der Prajñaparamita ist Arya-Tara. Dies sind also die Weisheitsdakinis der drei Kayas.

Neben den Weisheitsdakinis gibt es Dakinis, die zum Wohl aller Lebewesen erleuchtete Aktivitäten ausführen. Die Samaya-Dakinis überwachen das Einhalten der tantrischen Verpflichtungen, der Samayas. Eine andere Klasse von Dakinis lebt an den größeren und kleineren heiligen Stätten dieser Welt: Die größeren sind die zweiunddreißig heiligen Gegenden, die kleineren sind die vierundzwanzig heiligen Täler. Wenn man die acht gesegneten Leichenstätten hinzuzählt, ergibt das die vierundsechzig heiligen Stätten, an denen die vierundsechzig Dakas und Dakinis verweilen. Ihnen entsprechen auf einer subtilen Ebene die vierundsechzig Zentren unseres Körpers, in denen die gleiche Anzahl von Dakas und Dakinis als reine Essenz der Energiekanäle, Energien und vitalen Essenzen verweilen.

Yeshe Tsogyal ist ebenfalls eine Ausstrahlung der Arya-Tara. Arya-Tara wiederum ist eine Emanation von Vajra-Varahi. Prajñaparamita und Samantabhadri sind der Urgrund, aus dem Vajra-Varahi hervorgeht. Da Prajñaparamita und Samantabhadri vollkommene Buddhas sind, ist die Behauptung, dass ausschließlich Männer Buddhas werden können, unsinnig. Die fünf Aspekte der Vajra-Varahi sind ebenfalls vollkommen erleuchtete weibliche Buddhas. Arya-Tara erscheint zwar als ein Bodhisattva der zehnten Stufe, ist im Grunde aber ein vollkommen erwachter Buddha. Auch die acht weiblichen Bodhisattvas unter den zweiundvierzig friedlichen Gottheiten sind Buddhas.

Das, was ein Wesen als männlich oder weiblich kennzeichnet, ist keineswegs endgültig. Die acht männlichen und acht weiblichen Bodhisattvas unter den friedlichen Gottheiten, die im Bardo erscheinen, sind ihrem Wesen nach identisch mit den acht Mamos und den acht Yoginis, die alle weibliche rasende Gottheiten sind. Männliche Buddhas können sich als weiblich und weibliche Buddhas als männlich manifestieren. Dakinis erscheinen in allen möglichen Gestalten und Formen, einige davon schockierend und abstoßend, um dualistisches Denken und irrige Wahrnehmung zu durchbrechen.

Zum Schluss möchte ich an die Worte Guru Rinpoches erinnern, die die Besonderheit des Vajrayana-Systems der Periode der frühen Übersetzungen und ganz besonders der Dzogchen-Lehren aufzeigen: «Mit dem Verhalten aufsteigen, die Sicht herabsteigend.» Dies ist von entscheidender Bedeutung. Wenn wir gleich zu Anfang unserer Dharma-Praxis versuchen, von der höchsten Sicht her zu handeln, würden wir uns kaum von einem Verrückten unterscheiden. Halten wir jedoch an der Sicht der niederen Fahrzeuge fest, werden wir nicht Befreiung finden. Behält man nämlich die Anschauung der Shravakas und Pratyeka-Buddhas bei, kann die Erleuchtung nicht innerhalb eines Lebens, sondern erst nach drei unvorstellbar langen Zeitzyklen erlangt werden. Das Verhalten muss in Einklang mit den Lehren der niederen Fahrzeuge sein, die Sicht mit der der inneren Tantras.

Tulku Urgyen Rinpoche,
Asura-Höhle, 1989

1.
Zur Vorbereitung:
Die Lehren über das Aufsteigen mit dem Verhalten

Meister Padmasambhava ist in dieser Welt in verschiedenen Formen und Aspekten erschienen. Obwohl er die Ebene jenseits von Einhalten und Nichteinhalten der Regeln erreicht hatte, hielt er alle Gebote, von der Disziplin der Shravakas bis zu den tantrischen Verpflichtungen der Vidyadharas. Er lehrte alle neun Fahrzeuge und zeigte damit Sicht und Verhalten als Einheit, «mit dem Verhalten aufsteigen, die Sicht herabsteigen». Da er Allwissenheit erreicht hatte, umfasste er mit Bodhicitta alle Lebewesen und ihr Wohl war ihm wichtiger als sein eigenes.

Alle Anleitungen, die dieser Meister, der ein Nirmanakaya-Buddha war, über das rechte Verhalten gegeben hat, wurden von der Dakini Yeshe Tsogyal niedergeschrieben.

Der Meister Padmasambhava sprach: Ganz gleich, welche der Lehren des äußeren oder inneren Fahrzeugs du übst, als erstes musst du zu den Drei Kostbarkeiten Zuflucht nehmen. Halte dich an die Regeln, die die Grundlage für deine Geistesschulung sind,8 und nimm stets zu den Buddhas und Bodhisattvas der Himmelsrichtung Zuflucht, in die du dich gerade bewegst.

Habe stets unerschütterliches Vertrauen in die Drei Kostbarkeiten. Dadurch schaffst du eine karmische Verbindung in diesem Leben und in zukünftigen Leben wirst du ein Schüler der Buddhas sein. Den Drei Kostbarkeiten Verehrung und Geschenke darzubringen, ist daher von großer Bedeutung.

Padmasambhava sprach: Übe dich in den zehn Tugenden und unterscheide klar, was in Hinsicht auf die «weißen und schwarzen» Auswirkungen deiner Taten zu tun und zu unterlassen ist. Wenn du dies berücksichtigst, wird jede deiner Handlungen große Wirkungskraft haben.

Die Kraft der Wahrheit ist groß, entsage darum allen zerstörerischen und schlechten Taten; wende die Gegenmittel an, die die Leid verursachenden Geistesgifte bekämpfen und bemühe dich, verdienstvolle Handlungen auszuführen.

Wer kein Verdienst angehäuft hat, kann keine edle Geisteshaltung entwickeln. Wer jedoch spirituelles Verdienst anhäuft, wird mit einem edlen Geist belohnt. Sobald die edle Geisteshaltung einmal Teil deines Wesens geworden ist, lässt du von selbst von allem Üblen ab und bemühst dich, Gutes zu tun. Deshalb ist es wichtig, mit Eifer die verschiedenen Methoden anzuwenden, mittels derer du mit Körper, Rede und Geist Verdienst ansammeln kannst.

Padmasambhava sprach: Das Wichtigste, bevor man mit einer Übung beginnt, ist das Erwecken von Bodhicitta, jener uneigennützigen Geisteshaltung, die ganz auf die Erleuchtung ausgerichtet ist. Wer Bodhicitta entwickelt, bemüht sich, alle Wesen ohne Ausnahme als seine Mütter anzusehen, um ihnen allen vorurteilslos und ohne Parteilichkeit dienen zu können.

Kein einziges Lebewesen im Kreislauf der Wiedergeburten war uns nicht bereits einmal Vater oder Mutter. Aus Dankbarkeit, um ihnen ihre Fürsorge und Güte zu entgelten, setze dich von jetzt an für ihr Wohlergehen ein.

Entwickle Liebe, Freundlichkeit und Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen. Übe dich ständig in Bodhicitta und darin, jede deiner Handlungen anderen zugutekommen zu lassen. Gewöhne dich daran, andere wichtiger zu nehmen als dich selbst.

Kurz, der feste Entschluss, Bodhicitta zu entwickeln, muss dem äußeren und inneren Teil der Übung und der Entwicklungs- und Vollendungsstufe vorangehen. Das ist entscheidend.

Das Entwickeln von Bodhicitta ist die Grundlage jeder Dharma-Praxis.

Padmasambhava sprach: Wenn du die Allwissenheit der Buddhaschaft erlangen möchtest, dann vertiefe dein Verständnis davon, dass weder das Ich noch alle anderen Phänomene eine eigenständige, ihnen innewohnende Existenz besitzen.

Ganz gleich, welche verdienstvolle Handlung du gerade ausführst, erkenne, dass alle Phänomene wie Träume und magische Illusion sind.

Befolge meine mündlichen Unterweisungen und meditiere über die Leerheit aller Phänomene ohne an den sechs Paramitas oder am großen Mitgefühl anzuhaften.

Kraft der Meditation über die Leerheit solltest du zu der Erkenntnis gelangen, dass auch die sechs Paramitas und das erzeugte tiefe Mitgefühl magischen Illusionen gleichen.

Wenn du die Meditation über Leerheit übst, achte gleichzeitig darauf, dass diese Meditation dein tugendhaftes Handeln fördert und den Geistesgiften entgegenwirkt.

Verstärke alle Handlungen, die Wurzeln des Heilsamen sind, mit Bodhicitta und sei niemals getrennt von den sechs Paramitas.

Habe stets bei allem was du dann tust die Absicht, Heilsames zu fördern und Übel zu verringern.

Mache jede Handlung, die du mit deinem Körper begehst zu einer guten Tat, jedes Wort, das du aussprichst zu einem heilsamen. Lass all deine Gedanken zu tugendhaften Gedanken werden.

Kurz, bemühe dich, mit deinem Körper, deiner Rede und deinem Geist nur Heilsames, nur tugendhafte Handlungen auszuführen und vermeide selbst die kleinste unheilsame Tat.

Wenn du nicht die Rüstung der geistigen Präsenz und Wachsamkeit anlegst, werden dir die Waffen der Geistesgifte die Lebensader durchtrennen, die das Erlangen höherer Daseinsebenen und der Befreiung ermöglicht. Schütze dich deshalb mit dieser Rüstung, während du die vier alltäglichen Tätigkeiten ausführst.

Padmasambhava sprach: Als erstes musst du von der Wirksamkeit des Gesetzes von Ursache und Wirkung hinsichtlich deiner Taten überzeugt sein.

Vergiss nie, dass auch du in absehbarer Zeit sterben musst. Dieses Leben währt nur kurze Zeit, trachte also nicht nach Dingen, die nur in diesem Leben etwas gelten.

Vergiss nie, dass es zukünftige Leben geben wird und strebe nach dem, was dir in späteren Leben helfen wird.

Triff jetzt die nötigen Vorkehrungen, um in zukünftigen Leben nicht auf einen Weg zu geraten, der abwärts führt.

Bilde dir auf nichts etwas ein. Wenn du hochmütig bist, weil du meinst, gelehrt, großartig oder edelmütig zu sein, wirst du niemals gute Eigenschaften entwickeln. Lass ab von Arroganz und übe dich im Dharma ohne auch nur einen Augenblick des Zauderns.

Wende die Hilfsmittel gegen zerstörerisches Verhalten an. Das kleinste Aufsteigen der Geistesgifte oder die geringfügigste Fehlhandlung solltest du als einen unerträglichen Schmerz, gewaltig wie der Berg Sumeru, empfinden.

Taten, die du halbherzig ausführst, erreichen nichts; streife deshalb jeden Zweifel ab.

Solange du das Festhalten am Ich nicht aufgegeben hast, werden schlechte Taten, so geringfügig sie auch sein mögen, immer Folgen haben. Hüte dich deshalb vor schlechten Taten!

Padmasambhava sprach: Nachdem du die Gelübde des Großen oder Kleinen Fahrzeugs9 abgelegt hast, darfst du sie, selbst um den Preis deines Lebens, nicht mehr aufgeben. Wenn du gegen sie verstoßen hast, ist es sehr wichtig, sofort deine Fehler zu bekennen und deine Gelübde zu erneuern.

Einige Menschen fühlen sich, wenn sie gegen ihre Gelübde verstoßen haben, derart entmutigt, dass sie daraufhin immer weitere Übertretungen begehen. Du solltest deinen Geist jedoch reinigen, als wärest du in Schmutz gefallen und würdest dich nun waschen und mit wohlriechendem Wasser besprengen, auf dass sich niemals mehrere gebrochene Gelübde und Befleckungen anhäufen.

Begib dich nicht in Gesellschaft von Menschen und freunde dich nicht mit solchen an, deren Gelübde oder Samayas verletzt sind. Wenn man in einem weißen Gewand durch einen öligen Sumpf geht, wird es mit Sicherheit schmutzig werden. In ähnlicher Weise wirst du von den gebrochenen Samayas anderer in Mitleidenschaft gezogen, selbst wenn deine eigenen ohne Fehl sind. Haben die eigenen Samayas bereits einen Makel, könnte man sagen, Schwarz kann Schwarz nicht beschmutzen. Sei vorsichtig!

Es ist von größter Bedeutung, dich nicht mit schlechten Menschen anzufreunden oder Umgang mit denen zu pflegen, die ihre Gelübde vernachlässigen.

Auf jeden Fall sollte man sich nicht vor sich selbst schämen müssen.

Padmasambhava sprach: Lass dich niemals auf etwas ein, das im Widerspruch zum Dharma steht und dem Vermehren von Verdienst oder Weisheit nicht dienlich ist.

Verlange nach nichts als nach der Allwissenheit der Buddhaschaft und danach, anderen Lebewesen von Nutzen zu sein.

Klammere dich an nichts, denn Anhaften ist der Ursprung der Unfreiheit.

Kritisiere niemals andere Lehren und sprich nicht abschätzig über andere Menschen. Die verschiedenen Lehren sind alle letzten Endes so unteilbar wie der Geschmack von Salz.

Übe weder an den höheren noch an den niederen Fahrzeugen Kritik, denn sie sind insofern identisch, als sie allesamt einen Teil des spirituellen Weges ausmachen, den man erklimmt wie die Stufen einer Leiter.

Du kannst niemals wissen, was in einem anderen Menschen vorgeht, es sei denn, du bist im Besitz von übernatürlichen Kräften. Vermeide deshalb, andere zu kritisieren.

Alle Lebewesen sind ihrem wahren Wesen nach spontan vollendete Buddhas. Alle besitzen die Buddha-Natur. Untersuche nicht die Fehler und Verirrungen anderer.

Beschäftige dich nicht mit den Begrenztheiten anderer, sondern damit, wie du deine eigenen verändern kannst.

Untersuche nicht die Mängel anderer, sondern deine eigenen.

Das größte Übel ist, Vorurteile gegenüber anderen spirituellen Traditionen zu haben und andere zu kritisieren, ohne zu wissen, was in ihrem Geist vorgeht. Hüte dich vor Voreingenommenheit und vor Vorurteilen, als wären sie Gift.

Padmasambhava sprach: Obwohl du seit undenkbaren Zeiten unzählige Male wiedergeboren wurdest, hast du dies weder zu deinem Wohl noch zu dem der anderen genutzt. Jetzt aber, in diesem Leben, solltest du dein Wohl und das der anderen erfüllen.

Obgleich du schon so zahllose Male wiedergeboren wurdest, hattest du nie die Gelegenheit, den Dharma zu praktizieren. Du bist nur immer tiefer im Kerker des Samsara versunken. Scheue deshalb in dieser kurzen Zeitspanne, da du mit dem Dharma zusammengetroffen bist, keine Anstrengungen, den Mahayana-Lehren zu folgen.

Halte dich an Menschen, die das Heilsame fördern. Trenne dich von Freunden, die zu schlechten Taten verleiten.

Renne nicht rastlos wie ein Hund oder ein Hungriger Geist hinter den Dingen her. Bleibe mit Hilfe der Gegenmittel gelassen und ruhig. Von deinem rastlosen Hinterherjagen erschöpft, wirst du schlechte Taten begehen, die deinen Geist aufwühlen, was wiederum den Geisteszustand anderer Menschen beeinflusst. Auf diese Weise häufst du Übles an.

Wenn du schon kleine Unbequemlichkeiten als Leiden ansiehst, werden sie dir bald schwer erträglich werden. Solange du deinen Geist nicht in offener Entspanntheit lässt, wirst du niemals Frieden finden.

Beschäftige dich nicht mehr mit vergangenen Leiden. Ob gut oder schlecht – was vergangen ist, ist vergangen. Male dir auch nicht Leiden aus, das die Zukunft bringen könnte.

Ganz gleich, welches Leid dich befällt, gib ihm nicht nach, verdopple vielmehr deinen Mut.

Leiden wird niemals enden, es sei denn, du wendest die Gegenmittel an.

Überlasse deinen Geist seinem natürlichen Zustand, ohne ihn korrigieren und ändern zu wollen und wende ihn dann behutsam dem Heilsamen zu.

Padmasambhava sprach: Wenn du wirklich den Dharma üben willst, ist es von entscheidender Bedeutung, jedes körperliche, sprachliche oder geistige Tun, das dein Verdienst mehrt, dem Wohl der anderen zu widmen.

Übe dich hierin zunächst mit kleinen Taten. Prüfe dann von Zeit zu Zeit, ob du von eigennützigen Gedanken geleitet wirst. Wenn du auch nur mit dem kleinsten Makel der Selbstsucht behaftet bist, wird dein Wirken erfolglos bleiben. Achte also darauf, nicht von diesem Makel befleckt zu sein.

Der Unterschied zwischen Großem und Kleinem Fahrzeug liegt nicht in der Anschauung oder Sicht, sondern im Entwickeln von Bodhicitta. Bewahre deshalb die Sicht des natürlichen Zustands des Geistes und übe dich dazu im großen Mitgefühl.

Zu deinem eigenen Wohl und dem der anderen: Wende dich für immer vom Elend des Samsara ab. Fasse immer wieder aufs Neue den festen Entschluss, dich aus Samsara zu befreien.

Übe dich darin, die Leiden anderer auf dich zu nehmen. Zu Anfang versuche zu sehen, dass alle Lebewesen dir gleichen. Versuche das Leiden der anderen zu fühlen, als sei es dein eigenes. Gehe dann dazu über, andere wichtiger zu nehmen als dich selbst.

Übe dich im großen Mitgefühl, das ganz von selbst zum Wohl der anderen handelt.

Das Wort Mahayana beinhaltet nichts anderes, als andere wichtiger zu nehmen als sich selbst. Mahayana schließt aus, für sich allein nach Glück zu suchen, weil man sich für wichtiger hält, ohne an die Leiden anderer zu denken.

Padmasambhava sprach: Wenn du deinen Geist in Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta übst, ist Wiedergeburt in den drei niederen Daseinsbereichen ausgeschlossen. Darüber hinaus wirst du von diesem Augenblick an niemals mehr zurückfallen. So lautet meine Kernunterweisung.

Was immer du unternimmst, halte stets Bodhicitta in deinem Geist wach und lass niemals davon ab.

Übe dich darin, jede Tat, die du ausführst, zum Wohl der Wesen zu vollbringen. Übe dich darin, andere wichtiger zu nehmen als dich selbst. Viele Eigenschaften wie die Reinheit der Samaya und Gelübde werden dir dadurch zu eigen werden.

Selbst wenn du zu einem Meister des Mantra wirst und große Macht hast, ohne Bodhicitta wirst du niemals Erleuchtung erlangen.

Alle gewöhnlichen und besonderen Siddhis entstehen als Folge des in dir erwachten Bodhicitta. So lautet meine Kernunterweisung.

Padmasambhava sprach: Sofern Meditation über die Leerheit oder über etwas anderes nicht als wirksames Mittel gegen die Geistesgifte und den gewöhnlichen Geisteszustand wirkt, ist sie falsche Meditation. Alles, was den Geistesgiften und dem gewöhnlichen Geisteszustand nicht entgegenwirkt, wird zur Ursache für das Fallen in die Daseinsbereiche des Samsara. Wenn eine Belehrung, die du studierst, über die du nachdenkst oder die du erläuterst, zu einem wirksamen Mittel gegen deine Geistesgifte wird und bewirkt, dass der wahre Dharma in dir erwacht, dann ist sie ohne Fehl und verdient, Mahayana genannt zu werden.

Ganz gleich, wie viel Anerkennung man dir aufgrund deiner Gelehrtheit, deiner gewandten Erläuterungen oder deiner Meditationspraxis entgegenbringt: Wenn deine Absicht auf die acht weltlichen Anliegen10 zielt, ist all dein Wirken schwarze Dharma-Praxis.

Auf jeden Fall ist entscheidend, über das Universum mit all seinen Daseinsformen als magische Illusion zu meditieren. Auf diese Weise kannst du verhindern, dass Anhaften und Festhalten ständig zunehmen.

Was einen «großen Yogi» ausmacht, ist nichts anderes als das Freisein von Anhaften und Festhalten.

Padmasambhava sprach: Wohl und Glück aller Lebewesen wird durch die Lehren des Buddha erreicht. Studiere deshalb die Tantras, Sutras und heiligen Schriften und lausche den Worten der Meister.

Alle Handlungen sind wie Samen, aus denen entweder Glück oder Leid erwächst. Unterscheide deshalb zwischen heilsamen und schädigenden Taten.

Wenn du die Gelübde nicht hältst, verfault die Wurzel deiner Dharma-Praxis. Hüte deine Samayas und Gelübde so sorgfältig wie dein Augenlicht.

Eines ist sicher: Übst du dich im Dharma ohne Vertrauen in das, was du tust, ist deine Mühe vergeudet und alles wird umsonst sein. Du musst also bei dem, was du tust, frei von Zweifeln und Unsicherheit sein.

Padmasambhava sprach: Einige Menschen behaupten, Tantra zu üben und gestatten sich unflätiges und grobes Benehmen. Dies ist jedoch nicht das Verhalten eines Tantrikers.

Mahayana bedeutet, allen Wesen gleichermaßen Mitgefühl entgegenzubringen.

Man kann sich nicht als Tantriker bezeichnen, dann aber gute Taten unterlassen und schlechte Taten nicht meiden. Die Entwicklung des großen Mitgefühls ist für jeden, der Tantra praktiziert, das Entscheidende.

Wenn du kein Mitgefühl entwickelst, wirst du zu einem Nichtbuddhisten mit falscher Sichtweise, auch wenn du behaupten magst, ein Übender des Geheimen Mantra zu sein.

Padmasambhava sprach: Geheimes Mantrayana ist Mahayana und Mahayana heißt, das Wohl der anderen zu bewirken.

Um anderen helfen zu können, musst du die drei Kayas der Frucht erlangen. Um diese drei Kayas zu erlangen, musst du die zwei Ansammlungen vermehren. Um diese zu vermehren, musst du dich in Bodhicitta üben. Den Pfad der Entwicklungs- und den der Vollendungsstufe musst du als Einheit üben.

Auf jeden Fall ist ein Tantriker, dem Bodhicitta fehlt, gänzlich ungeeignet; er praktiziert nicht Mahayana.

Padmasambhava sprach: Man spricht vom Geheimen Mantrayana und dem Fahrzeug der Philosophie,11 als wären es zwei verschiedene Wege; letzten Endes sind sie jedoch eins. Wenn dir entweder die Sicht oder das Verhalten fehlt, wirst du auf die Ebene der Shravakas herabsinken; deshalb musst du mit dem Verhalten aufsteigen und mit der Sicht herabsteigen. Dies beides als Einheit zu üben ist das Entscheidende. So lautet meine Kernunterweisung.

Samaya.

Hiermit enden die Lehren über das, was unter dem Aufsteigen mit dem Verhalten verstanden wird.

Diese Unterweisungen wurden in der oberen Einsiedelei von Chimphu, am achten Tag des letzten Sommermonats im Hasen-Jahr niedergeschrieben.

Siegel des Schatzes.
Siegel der Verborgenheit.
Siegel des Anvertrauens.

8 Die verschiedenen Gelübde der drei Fahrzeuge, die man abgelegt hat.

9 Das Zufluchts- und Bodhisattva-Gelübde; später werden auch die Gelübde der individuellen Befreiung einbezogen.

10 Angenehme Worte erhalten und schmerzhafte Worte vermeiden wollen, nach Ruhm streben und Schande vermeiden, ebenso Lob und Tadel, Gewinn und Verlust. Für eine ausführliche Beschreibung der weltlichen Aktivitäten siehe Kapitel 1 u.a. Aus dem Hangepäck eines tibetischen Yogi von James Low, Theseus Verlag, 1996, überarbeitete Neuauflage in der edition khordong im Wandel Verlag, 2013 (Anm. d. Hrsg.)

11 Ein anderer Name für die Mahayana-Lehren oder das Fahrzeug der Paramitas.