Michael Kern

Die Stunde der Politiker

Corona - der Anfang vom Ende

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Stunde der Politiker Corona – der Anfang vom Ende

Das Spannende am Ende ist sein Anfang

Advent, Advent die Lunte brennt…

Die Stunde der Politiker

Das Handeln ist der Feind des Denkens

Mit Taktik gewinnt man eine Schlacht – Mit Strategie einen Krieg

Management by Warzenschwein

Der Generalschlüssel

Es gibt keine Krankheiten – Alles kann krank machen

Die Welt hält den Atem an, um danach noch mehr Luft zu holen

Glück – Unglück – Konfuzius lässt grüßen

Ein (Un-) Glück kommt selten alleine

Wird’s besser? Wird’s schlechter? Fragt man alljährlich -Leben ist immer lebensgefährlich – Erich Kästner

Sterben verboten

Der Inhalt des Lebens ist eine Frage des Glaubens?

Die Zauberlehrlinge

Solidarisch durch Abgrenzung und Kontaktvermeidung?

Apokalypse

Je näher der Zusammenbruch des Reiches droht, desto verrückter werden die Gesetze – Cicero

In jedem Anfang wohnt schon das Ende - Zarathustra

Impressum neobooks

Die Stunde der Politiker Corona – der Anfang vom Ende



Die Stunde der Politiker

Corona – der Anfang vom Ende


Michael Kern




Dies ist eine fiktive Erzählung aus einer erdachten Zukunft. So sind auch sämtliche Handlungen und Zitate teils bekannter Personen in dieser Geschichte frei erfunden.


Das Spannende am Ende ist sein Anfang


Das Spannende am Ende ist sein Anfang


So saß auch Peter da, zu Hause, an seinem Schreibtisch. An diesem Sonntag, dem 20. Dezember, kurz vor einem denkwürdigen Weihnachten 2020. Welches wahrscheinlich nicht nur er für lange Zeit nicht mehr vergessen würde. Um eben zu ergründen, warum und wie es zu all dem gekommen war, was diese Weihnacht jetzt zu einer derart außergewöhnlichen Zeit gemacht hatte; im Vergleich zu allen anderen, die er bis jetzt erlebt hatte. Peter versuchte, wie wahrscheinlich viele andere, sich daran zu erinnern, wann und wie das alles angefangen hatte – ja richtig, damals fast auf den Tag genau vor einem Jahr …

Er füllte sein Glas mit dem Champagner der halbvollen Flasche aus dem Sektkühler auf und ließ sich, schwer und ermattet von den Erinnerungen, in seinen Stuhl fallen, um sich zum Anfang zurück zu versetzen, zu den Ereignissen, die passiert waren, als alles so harmlos begonnen hatte …

 

Eigentlich waren sie ja schon so gut wie weg vom Fenster gewesen – also von der ersten Reihe zumindest. Ihre Bedeutung hatte in den letzten dreißig bis fünfzig Jahren Schritt für Schritt immer weiter abgenommen, genauso wie ihr Image. Natürlich waren sie noch immer permanent im Fernsehen und in den Nachrichten zu sehen und zu hören, und es wurde auch sicherlich noch vielerorts, so wie immer, von vielen Menschen über sie gesprochen. Aber es war nicht mehr so wie bis noch zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, wo alles eng verbunden war mit der existenziellen Lage des Einzelnen. Früher war es bedeutsam, ob man in Deutschland, Ungarn, Schweden oder Griechenland lebte, in welchem Nationalstaat und unter welchen politischen Führern. Heute beeinflusste das nicht einmal mehr die Entwicklung der Welt im Allgemeinen.

Es waren ja hauptsächlich die Älteren, die sich noch intensiv über sie unterhielten und ihre Veranstaltungen besuchten, sowie ein Teil der Beamten, einige Aktivisten und Arbeitslose. Oder auch Randgruppen und Minderheiten, die sich noch Hilfe von ihnen erhofften, einem letzten Strohhalm gleich. Den Berufstätigen, egal in welchem Land, fehlte dazu meist die Zeit, weil sie entweder zwei bis drei Jobs brauchten, wenn sie – warum auch immer – einfacher bewertete Tätigkeiten verrichteten. Andererseits, wenn sie das Glück hatten, zur Creme der weitaus Überbezahlten zu gehören, jetteten sie um die Welt, hetzten von Termin zu Termin. Völlig unerheblich, ob beruflich oder privat. So viel Geld wollte verwaltet, abgesichert, international zu niedrigsten Zinsen, bei höchster Wertsteigerung angelegt sein, um so luxuriös wie möglich zwischen Zermatt und den Seychellen verbraucht zu werden. Was nicht immer einfach war, denn die Politiker konnten ihnen, auch wenn sie sie noch so sehr an diesem Schauspiel beteiligten, meist nicht wirklich dabei helfen – zumindest nicht offiziell. 

Und die Jungen? Na gut, die ganz Jungen, also so bis zum Ende ihrer Schulzeit, waren zum Großteil noch nie wirklich an Politik interessiert gewesen. Sie mussten sich um die Feierlichkeiten zu ihrem sechzehnten Geburtstag kümmern. Sie hatten genug Probleme mit ihrer sexuellen Entwicklung und den sich daraus ergebenden Verstrickungen. Außerdem mussten sie sich über alles für ihre Altersgruppe Wichtige permanent am Laufenden halten, um ja überall ganz vorne dabei sein zu können. Genauso wie das für alle jungen Menschen nach der Schule oberste Priorität hatte. Denn sie galten immerhin als die Gestalter ihrer Zukunft. Dabei konnten ihnen die politischen Parteien und deren Politiker schon seit Langem weder helfen noch als Vorbilder irgendwelche Führungsfunktionen erfüllen. Nicht einmal in der opportunistischen Art und Weise, die seit Jahrtausenden in allen Kulturen gang und gäbe war. Junge Menschen im Erwachsenwerden hatten sich gerade gegen ihre politischen Führer aufgelehnt, um sich im Kampf mit ihnen und ihren Ansichten zu messen. Je nachdem, in welcher Welle sie sich gerade befanden. Also: Wenn die Politik, das Establishment, die Alten zur Zurückhaltung, zum Rückzug in die biedere Häuslichkeit riefen, dann wollten die Jungen den offenen Kampf, um die Welt zu erobern. Wie auch umgekehrt, wenn die Politiker zu Aufbruch und Aktion mahnten. Denn dann forderten die Jungen erst mal detaillierte, intellektuelle Aufklärung und Besinnlichkeit beziehungsweise flüchteten sie sich verträumt in romantische Welten.

Oder aber, wie seit der Erfindung mobiler Telefone und der massenhaften Darstellung jeglicher Geschehnisse auf allen Arten von Bildschirmen, lebten und agierten sie seither hauptsächlich in all ihren Bildern und Stories. Auf ihren Displays, die sie mittlerweile überallhin, von morgens aufstehen, zum Pinkeln in die Toilette, den ganzen Tag über auch beim Essen, beim Geschlechtsverkehr und beim Arbeiten, bis mit zum Einschlafen – begleiteten. Ohne Pause, außer vielleicht während des Duschens oder zum täglichen kurzen Aufladen. Sie wurden wie Zombies magisch von ihnen geführt, und von den „Messages“, die diese elektronischen Wundergeräte ihnen pausenlos sandten. Sie glaubten immer stärker an diese neuen Führer, die ihnen ja zweifelsohne durch die millionenhafte Bestätigung von   „Likes“ ganz klare Botschaften in einfacher, einprägsamer Form von maximal zweihundert Zeichen schickten. Für die ganze Wahrheit gabs ja dann die uneingeschränkte Möglichkeit, den auch noch so größten Schwachsinn, je nach Intellekt, selbst für den größten Vollidioten aufzubereiten. Um das in abenteuerlichsten Videobotschaften aller Art auf      YouTube ungehindert in die immer „aufgeweichteren“ Gehirne, der immer größeren Schar der „Displaygeschädigten“ einzutrichtern.

Und die Politiker? Ja, die spielten schon mit in diesem Theater, aber eben mehr so auf der Stufe von Promis aller Art und Couleur. Genauso wurden sie auch in den Medien dargestellt. OK, vielleicht nicht so sehr in den Nachrichtensendungen der gesetzlichen Sender, doch wer guckte die in normalen Zeiten schon, außer den braven Oberspießern. Selbst die schalteten danach nur allzu gerne auch mal auf die „Privaten“ um. Sodass sich nach einiger Zeit dann die Botschaften vom braven Olaf oder dem neuen Outfit von „der Mutti“, auf einer Ebene mit den knackigen Ansagen vom Dieter, dem knappen Auftritt von der Daniela und den hochintellektuellen Texten vom Alpenhansi mischten. Wie auch in den Zeitungen die neueste Schlagzeile: „Pocher schlägt Wendler“ doppelt so dick und viel weiter vorne war als: „Spahn schlägt Erhöhungen für rezeptpflichtige Arzneimittel vor“.

Für die Comedians und Kabarettisten dienten sie natürlich teilweise als Vorgaben für die zu pointierenden Figuren in ihren Parodien. Selbst diese Art der Vorstellung nahm aber an Anzahl und Prestige, wie ebenso an Sendezeit, immer weiter ab. Auch hier waren ausufernde Sendungen mit ständig wachsender Zahl von C-Promis (das sind Leute, die wirklich gar nichts können und sich damit profilneurotisch überall permanent zur Schau stellen) fast schon omnipräsent. Nun gut, vielleicht bot das Fernsehen einmal pro Woche auf einem weniger populären Sender oder im Zweiten, irgendwann nach zweiundzwanzig Uhr, mal für eine Stunde gesellschaftspolitisches Cabaret an, in dem auch die Politiker eine gewisse Rolle spielten. Das musste aber wirklich genügen. Letzteres kam aber natürlich nicht einmal annähernd an die Quoten der täglichen TV-Highlights heran; täglich mindestens drei Stunden zur besten Sendezeit, irgendwelchen C-Promis beim Kakerlakenmampfen beizuwohnen, oder eine halb nackte Blondine bei ihrer aufsehenerregenden Auswahl nach dem perfekten Männerarsch, per Online-Voting zu unterstützen.

Ja, es war schon wirklich hart für den „Fern-Seher“ sich zu entscheiden, ob man den Bauern bei seiner Auswahl der richtigen Frau beobachten sollte. Ein gesellschaftlich äußerst wichtiges Thema, wenn man sich morgens im Büro mit den Kollegen über Allgemeines unterhalten wollte; oder ob man bei der bösen Heidi mitfiebern durfte, welche der dürren Kleiderstangenzicken am Ende von fünf Stunden nervtötenden Schwachsinns heute kein Foto von der weltwichtigsten Kreischhexe bekam. Dagegen war das einzige, noch einigermaßen präsentable Format für gewisse Politiker, also die bekannten, medientauglichen eben, denn die SPD Vorsitzenden mit Doppelnamen erfüllten beide Kriterien nicht, die Talkshows. Wo sie von wirklich wichtigen, äußerst bekannten Starmoderatoren hin und wieder gezielt eingeladen wurden, um zu aktuellen Themen möglichst respektlos befragt beziehungsweise vorgeführt zu werden. So zum Beispiel: „Ist die Sozialdemokratie noch gesellschaftsfähig?“ Oder: „Ist die Politik noch Herr der Lage?“ etc.

Aber was hätten sie auch tun können, die Herren und Damen Politiker? In Zeiten der weltumspannenden Globalisierung, der Globalisierung von Geld und Wirtschaft; der fortschreitenden Globalisierung von Mode, Verhalten, Handeln, Festen? Zum Beispiel, feierten immer mehr Deutsche Thanksgiving. Warum? Die meisten wussten noch nicht einmal, weshalb dieser amerikanische Feiertag gefeiert wurde. Nur eben, dass man dabei alle Arten von amerikanischen Accessoires zur Schau stellte und Truthähne verspeiste. Immer mehr Asiaten feierten Weihnachten, obwohl sie keine Christen waren und damit auch nichts am Hut hatten! Ja nicht einmal die ursprünglichsten Bräuche blieben einem Land und seiner Bevölkerung manchmal noch erhalten, oder alleine und ursprünglich vorbehalten. Denn, worüber verfügten der Staat und seine Politiker noch? Außer wie seit Ewigem und wie in jedem Staat immer das Gleiche: Natürlich viel zu viel Geld durch viel zu hohe Steuern, für viel zu wenig Leistung! Grund und Boden? Kaufte man sich auf dem Immobilienmarkt und bei den Banken! Züge, Straßen, Post, Strom, etc.? Alles entweder schon privatisiert oder kurz davor! War es wichtig, ob man in diesem oder jenem Land wohnte? Sah man sich nicht längst sehnsüchtig den Globus an und überlegte, wohin man in ein paar Jahren in der Rente auswandern sollte? War man als Student überhaupt noch vermittelbar, wenn man nicht zumindest ein Auslandssemester absolviert hatte? Verdiente man als Arzt oder Ingenieur nicht gerade in diesem oder jenem Land so viel mehr, dass man dahin einfach auswandern sollte wie so viele? Hatte nicht sogar der Minister gesagt, man dürfe sich nicht mehr nur auf den Staat und seine gesetzliche Rente verlassen? War nicht die Entwicklung der Aktienkurse der internationalen Börsenkonzerne wichtiger für den persönlichen Wohlstand als das Bruttosozialprodukt des eigenen Staates? Inwieweit war BMW noch ein deutsches Unternehmen? Oder hing auch GM nicht schon weit mehr vom chinesischen Markt ab als vom Amerikanischen?

Ja, die Grenzen waren fast grenzenlos und weltumspannend offen für Waren und Menschen jeglicher Art. Verbunden einzig und allein durch das neue Hauptprodukt Informationen. Diese bestimmten, unfassbar von jeglichen Politikern oder Institutionen, digital von Google aufbereitet, mittels Microsoft auf den Geräten von Apple und Samsung implementiert, Form und Takt des Geschehens aller Menschen weltweit. Siemens wollte nicht länger Kühlschränke und Kaffeemaschinen bauen. Mit Stahlverarbeitung verdiente man schon lange kein Geld mehr. Die nationalen Währungen, die vertrauten Münzen und Scheine des klassischen Geldes, standen auch schon kurz vor dem Aus. Die letzten arbeitenden Menschen sollten von Industrie 4.0 abgelöst werden. Und die Intelligenz stand gar vor dem unbegrenzten Durchbruch zur Künstlichkeit. Wofür konnte man, sollte man bei diesem gigantischen Schauspiel irgendwelche Staaten oder Politiker brauchen?!

Aber dann kam „Das Virus“ und mit ihm die Stunde der Politiker.

Das hatte aber auch Peter, der eigentlich über eine sehr scharfe Beobachtungsgabe verfügte, erst viel später begriffen …

Advent, Advent die Lunte brennt…


… und tut sie das zur Weihnachtszeit, hört keiner hin, weil bis zur Bombe ist’s noch weit …

Peter war als Ingenieur und weltoffener, da international erfahrener Business Manager, der sich regelmäßig über die jeweiligen Nachrichten der Länder informierte, mit denen er täglich geschäftlich rund um den Globus zu tun hatte, nicht nur über das tägliche Weltgeschehen gut informiert. Er verfügte auch über ein recht umfangreiches Allgemeinwissen sowie eine gute Beobachtungs- und Kombinationsgabe.

Will heißen, dass Peter als studierter Metallurge und Kaufmann nicht nur über einen hohen Bildungsstandard verfügte, sondern dass er auch privat, und in seinem beruflichen Werdegang, immer größten Wert auf eine möglichst breite Offenheit in seinem Denken und Handeln gelegt hatte. Deshalb war er ein sehr widersprüchlicher Mensch, was auch sein recht unsteter, aber ebenso erfahrungsreicher Lebenslauf dokumentierte. Beruflich hatte er sich aber bis Weihnachten letzten Jahres, nach allen bisher durchlebten Höhen und Tiefen, relativ sicher gefühlt. So kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, wo er schon auf das in greifbare Nähe rettende Ufer des sicheren Hafens der Pensionierung schielen durfte. Privat fühlte er sich am Beginn seiner letzten Lebensphase, alleinstehend, nach zwei gescheiterten Ehen, doch manchmal ziemlich einsam. Zu seinen nicht nur örtlich weit entfernt lebenden Söhnen pflegte er einen eher dürftigen Kontakt. Die meisten seiner nicht unerheblichen Anzahl an Kontakten waren jedoch größtenteils auf seinen Beruf zurückzuführen und damit relativ oberflächlich und vor allem endlich.

Den intensivsten Austausch pflegte er, seit dem Tod der Eltern vor fast zehn Jahren, zu seiner Schwester Dora, die noch immer in Kratstein lebte. Sie war mit ihrer Familie, deren Freunden und dem engeren Umfeld das Letzte und Einzige, was ihm, wie durch eine Verbindung mit einer unsichtbaren Nabelschnur an seine Heimat, noch ein Gefühl von zu Hause geben konnte. Sie war als Pflegedienstleiterin im dortigen Seniorenstift tätig. Ihr Mann Herbert war der örtliche Polizeihauptmann. Sie hatten zwei Töchter und alles andere, was sonst noch zu einem durchschnittlichen, anständigen Leben, wie er es von seiner Kindheit her gekannt hatte, gehörte. Er fuhr gerne zu ihnen nach Österreich. Er fühlte sich dort mehr als Familienmitglied und zu Hause als irgendwo sonst. Aber er reiste genauso gern nach ein paar Tagen wieder ab nach München, Frankfurt oder Braunschweig, wo auch immer er sonst gerade seinen Wohnort hatte oder geschäftlich bedingt hinmusste.

Er lebte still und redlich, sein Geld verdienend, zwar relativ gefahrlos und ohne besondere Höhen und Tiefen, aber doch auch relativ inhaltsleer und nichtssagend, so vor sich hin. Immer im gleichen Trott bereitete ihm das Arbeiten wenig Mühe, da es in seinem Alter von einer wohltuenden Routine bestimmt wurde. Jedoch brachte sein Job auch keine neuen Motivationsschübe mehr, da er ziemlich perspektivenlos schon auf die Rente guckte. Oder er war wie meistens irgendwo auf der Welt unterwegs auf Dienstreise. Das hieß im Klartext: stundenlanges Herumhocken in Lounges auf irgendwelchen Flughäfen, Abendessen mit Kollegen und Kunden, an guten Tagen ein Buch lesen in einer Hotelbar. Falls er doch wieder einmal zu Hause war, brachte er seine Sachen in Ordnung, traf sich endlich wieder einmal mit Freunden und ging vielleicht mal auf einen Berg. Oder er plante eine Radtour in den Biergarten, ein Wochenende an die See oder eine Skitour im Winter; wie nach Griechenland in eine schöne Bucht für zwei Wochen im Frühsommer oder Herbst, um die Seele dort einfach baumeln zu lassen.

Mit Frauen war, abgesehen von kurzzeitigen Affären mit gelegentlichen oder auch regelmäßigen Treffen, wenn es sich beiderseitig einrichten ließ, seit Jahren nichts Ernstes mehr dabei gewesen. Das war den Frauen, die Peter dabei kennengelernt hatte, offensichtlich genauso wenig wert und ausreichend wie ihm. Für höhere Ziele hatte man in seinen Kreisen für gewöhnlich kein wirkliches Bedürfnis mehr. So wie man auch weder den Willen noch den Aufwand aufbringen mochte, seine Angewohnheiten noch einmal nach irgendjemand anderem als sich selbst auszurichten. Man wollte auch kein Risiko mehr eingehen. Außerdem wusste man in diesem Alter nach all den Enttäuschungen schon zu viel und erahnte schon im Anfang all das Negative, das einen in Zukunft erwartete. Man war zufrieden mit einem schönen Abend, mit einem einigermaßen zufriedenstellenden sexuellen Erlebnis. Das höchste der Gefühle, das man sich erlaubte, war mal ein verlängertes Wochenende am Gardasee oder ein paar Tage zum Skilaufen. Erfüllt war dieses Leben zwar nicht unbedingt, aber es war praktisch und vor allem funktionierte es relativ reibungslos und gut. Deshalb war Peter doch einigermaßen zufrieden damit, was er erreicht und wie er sich alles so eingerichtet hatte. Denn auch ihm würde die Endlichkeit und Bedrohung dieser Existenz, wie vielen Menschen, wohl nur in Zeiten von lebensbedrohlichen Krisen, eindrucksvoll bewusst werden.

Aber welche Krisen? Wo man doch alles so gut abgesichert hatte! Trotz oder wegen der geschäftlichen Sauferei und Fresserei, hatte Peter meistens sogar seine Laufschuhe dabei, um auf Dienstreisen im Hotel immer mal wieder wenigstens für eine Stunde aufs Laufband zu gehen. Er absolvierte sogar regelmäßig ganz ordentlich seine Vorsorgeuntersuchung. Was sollte da schon lebensbedrohlich werden können?

Das schien ja so unmöglich, so unvorstellbar und weit weg zu sein, bis letztes Jahr zu Weihnachten. Ja, wer hätte sich das letzte Weihnachten vor einem Jahr auch in seinen kühnsten Träumen so dramatisch ausmalen können?! Der Dow Jones stand wie fast alle Börsenindizes auf Höchststand. Die Leute kauften wie verrückt für die bevorstehenden Feiertage ein. Alle Kreuzfahrschiffe, die Skigebiete und Restaurants waren über den Jahreswechsel ausgebucht. Der Winter war wieder mal viel zu warm, aber die Umweltaktivisten nervten seit Monaten mit ihren Protesten, weswegen auch die meisten Feuerwerke abgesagt waren. Australien hätte eigentlich ohnehin keines gebraucht, weil der halbe Kontinent seit Tagen brannte. Die Engländer hatten die Schnauze voll von dem Zirkus um den Brexit, deshalb sollte der wilde Boris jetzt endlich einen Schlussstrich darunter machen. Die Demokraten wollten in Amerika wirklich dem Präsidenten mit einem Impeachment ans Bein pinkeln. Einige Experten warnten vor einem neuen Börsencrash a la 2008. Der Siegeszug der Elektromobilität stand vor dem Durchbruch, auch wenn es niemand kümmerte, wo das ganze Lithium und Kobalt dafür herkommen sollte.

Und in China war in irgendeiner nordöstlichen Provinz irgendein neuer Virus aufgetreten, an dem sogar schon einige gestorben waren. Natürlich waren die Presse und sämtliche Nachrichtendienste weltweit auf diese Sensation aufgesprungen. Es gab mittlerweile die wüstesten Verschwörungstheorien und Geschichten darüber. Die wildeste hatte Dora an Weihnachten, welches Peter wie immer selbstverständlich bei ihnen in Österreich verbracht hatte, erzählt. Sie hatte die Geschichte natürlich von Elena, ihrer Heimleiterin, und wohl auch besten Freundin. Die beiden verbrachten ja, wie Herbert, ihr Mann, auch immer wieder feststellte, mehr Zeit miteinander als mit ihren Männern. Aber es lag nicht nur an der gemeinsamen Zeit, die sie durch ihre enge Zusammenarbeit im Seniorenzentrum so zusammengeschweißt hatte, sondern auch an ihrer gleichen Auffassung von Hingabe und Professionalität, mit der sie das Heim führten. Dadurch waren sie im Laufe der Jahre zu wirklich mehr als nur Freunden geworden. Da Elena ursprünglich aus Weißrussland stammte, wo sie noch immer Kontakt zu früheren Freunden pflegte, war sie natürlich immer bestens über die russischen und weißrussischen Nachrichten informiert. Und als frühere Medizinerin – sie konnte zu ihrem Leidwesen ihr Studium damals nach dem politischen Umbruch nicht beenden – informierte sie sich gerne aus dem Internet über alles Interessante von russischen Ärzten und Wissenschaftlern. So gelangte sie zu dieser abenteuerlichen Verschwörungstheorie, dass dieses Virus, das natürlich aus einem geheimen Labor für chemische Kampfstoffe stammte, von ausländischen Agenten gezielt in China platziert worden war, um deren Wirtschaftsmacht endlich mal wieder zurückzustutzen. Aber warum dann irgendeine Stadt in Hubei? In Peking und Schanghai war offensichtlich noch alles in Ordnung, und in den Wirtschaftshochburgen in Guangzhou und Shenzhen lief alles wie immer auf Hochtouren.

Andere Gerüchte kramten wieder einmal die alten Geschichten von Schweine- und Vogelgrippe aus. Auch den gewohnten Vorwurf, dass die Chinesen ja bekannt dafür waren, alles, was sich irgendwie bewegte, auch zu essen, und das in hygienisch ekelerregendster Weise. Anders als wir zivilisierten Europäer und Amerikaner, die das hormon-hochgezüchteste Rindfleisch nur nach intensivster Nitratbehandlung, bei absolut pinkroter Farbe, blutlos und sauber, direkt aus der Plastikfolie verspeisten. So behauptete eine ganz wüste Story, dass die Entstehung des Virus auf eine ganz widerliche lokale Spezialität in dieser nordwestlichen Provinz von China zurückzuführen wäre, bei der frisches Fledermausblut zur Geschmacksverfeinerung über ein Gericht gegossen wurde. Ja, der menschlichen Fantasie sind bei nichts irgendwelche Grenzen gesetzt.

Das war auch Peter völlig klar, besonders in diesem Fall. Denn Peter liebte chinesisches Essen. Also nicht das, was in Deutschland in chinesischen Restaurants meistens in dieser klebrigen, süßsauren Soße serviert wurde. Nein, es war die enorme Vielfalt all dessen, was er bei seinen zahlreichen geschäftlichen Tätigkeiten aus den unterschiedlichen Regionen Chinas, in den vielen Restaurants, in denen er mit seinen ortskundigen Kollegen von Hongkong und Shenzhen, bis nach Shenyang und Changchun verkehrte, kennengelernt hatte. Er war seit über 20 Jahren sehr oft, manchmal auch für längere Zeit, in den verschiedensten Regionen Chinas unterwegs. Vor einigen Jahren hatte er es sich ernsthaft überlegt, ob er nicht zumindest für einige Jahre nach China zum Arbeiten umziehen sollte. Er hatte einmal sogar eine Freundin in Schanghai gehabt und viele Bekannte dort, meistens aus seinem beruflichen Umfeld. Vor allem das Nachtleben, das reichhaltige Angebot an verschiedensten Lokalen und der freundschaftliche Umgang mit seinen chinesischen Kollegen und Freunden hatten es ihm angetan. Aber nach zwei bis drei Wochen hatte er immer genug davon, und er sehnte sich dann doch wieder nach einer Wanderung durch einen stillen herrlich duftenden Wald, nach einer Fahrradtour durch die Auenlandschaft entlang eines fröhlich gurgelnden Flusses oder einem ruhigen Mittagsschläfchen auf einer stillen, schönen Almwiese, wenn ihm zum Zirpen der Grillen die Augen langsam zufielen. Während er sich in Schanghai, in Shenyang oder sonst wo in China immer fragte, was er außer Weggehen, Essen und Trinken, Feiern, Karaoke und Shopping, anderes noch tun konnte oder sollte. Diese Aktivitäten waren im Wesentlichen die einzige Freizeitbeschäftigung dort, wofür aber neben den mindestens 60 bis 70 Stunden Arbeit pro Woche ohnehin kaum Zeit blieb.

Doch selbst bei der Arbeit hatte er das Problem, dass sie ihn in China eigentlich nur als Metallurgen in der Entwicklung, der Fertigung oder in der Qualität haben wollten, nicht aber im Businessmanagement oder im Vertrieb, denn Chinesisch hatte er, auch wenn er sich bemüht hatte, doch nie lernen können. In der Fabrik oder in der Entwicklung wollte er aber nicht arbeiten, hatte er nie gewollt. Ihn hatten immer schon die theoretischen Eigenschaften und Vorgänge an den Metallen mehr interessiert als der direkte Umgang damit. Der Gestank und der Lärm erschienen ihm auf Dauer äußerst unangenehm. Deshalb war er schon recht früh nach Beendigung seines Studiums in seiner Berufsauswahl erst in die Entwicklung und dann ins Business Development und Management gegangen. Ihn interessierten vornehmlich die Theorie und die Zusammenhänge dahinter, was stets mit Zahlen und deren Kombination verbunden war. So hatte er sich sein Studium nicht zufällig mit der Arbeit in der Statistikabteilung einer großen Versicherungsgesellschaft verdient.

Von da her rührte auch sein Verständnis für Zahlen, für die Bedeutung von Kennzahlen und seine Vorliebe, Vorgänge und Situationen anhand von Zahlen zu erfassen. Zahlen erzählten für ihn Geschichten, erklärten Vorgänge und machten Abläufe lebendig. Doch mit seinen fast 60 Jahren zählte er mit seiner Art Zahlen zusammenzufassen und darzustellen, um zu Ergebnissen zu kommen, zum Vertreter von aussterbenden Aliens. Er bediente sich dabei doch noch immer am liebsten seines Gehirns in Form von Kopfrechnen, stellte einfache Überschlagsrechnungen auf und hantierte gerne mit ebenso einfachen und auf Logik basierenden Gegenrechnungen. Er war nie der große Computermensch geworden. Er hasste Excel mit seinen elendslangen Formeln und Makros, an deren Ende dann doch meist falsche Zahlen herauskamen. Niemanden außer ihn störte das, weil keiner mehr wusste, warum. Alle vertieften sich nur in die Formeln, aber sie konnten das Ergebnis nicht mehr im Kopf nachrechnen. Er hatte das noch in seiner Schulzeit gelernt. Sein Mathematiklehrer war ziemlich streng gewesen. Er hatte die damals neuartigen Taschenrechner lange Zeit verboten, um seine Schüler zu zwingen, auch die längsten Berechnungen über Seiten hinweg, einfach durch überschlagsmäßiges Nachrechnen im Kopf zu überprüfen.

So passten nach seinen relativ einfachen plakativen Grobabschätzungen diese ganzen Zahlen und Berechnungen hinten und vorne nicht, welche die Medien seit dem Ausbruch dieser neuen Corona-Virus-Epidemie oder Pandemie, wie sie es dann benannten, täglich überall in unzähligen Aufstellungen veröffentlichten. Genauso wie ihm dann vor allem die Maßnahmen, welche sie daraus ableiteten, völlig abstrus erschienen. Aber das war er mittlerweile schon mehr als gewohnt. Denn er war ja allen seinen Frauen, seinen Söhnen und den meisten Mitmenschen und Kollegen ohnehin mit seiner „Zahlenphobie“, wie seine Schwester es nannte, meist total auf die Nerven gegangen. Weil er die meisten Statistiken und Zahlen, auch wenn diese noch so offiziell und anerkannt waren, nachprüfte, infrage stellte, und es sogar verstand, diese auch gerne mit den abenteuerlichsten Gegenrechnungen und -Argumenten zu widerlegen oder völlig anders auszulegen, bis allen der Kopf brummte.

„Halten Sie sich doch an unsere offiziellen Statistiken. Füllen Sie einfach die vorgegebenen Tabellen aus, dann werden auch Sie sehen ….“, hatten sie ihm in der Arbeit immer und überall eindringlich erklärt. Aber es tat ihm leid. Er hatte keine Lust, sich in ihre meterlangen Excelformeln reinzufummeln und er wollte es auch gar nicht lernen, denn er sah nur eines: Dass die Ergebnisse meistens falsch waren, genauso wie die Schlussfolgerungen daraus. Was er meist mit ein paar recht einfachen handschriftlichen Überschlagsrechnungen immer wieder beweisen konnte. Und dafür hassten sie ihn, immer und überall. Dora und Elena ließen ihn meistens zum Unterschied zu anderen Menschen wenigstens gewähren. Sie bemühten sich, so gut es ging, ihm bei seinen Ausführungen und Erklärungen zu folgen. Manchmal waren sie sogar von seinen Ergebnissen überzeugt. Herbert, Doras Mann, war als Polizist zwar ein für seinen Berufszweig außerordentlich netter und vor allem offener und verständiger Mensch, aber er war am Ende oft zu institutions- und obrigkeitsgläubig, als dass er Peters meist andersartige Sichtweise und deren statistische Beweisführung anerkennen wollte. Ganz anders verhielt es sich mit Theis van Kieft, Elenas Mann, einem gebürtigen holländischen Arzt und Internist in Kratstein. Theis war einer der wenigen, die Peter und seine statistischen Überlegungen schätzten. So stritt sich Theis, obwohl beide berufsfremd waren oder vielleicht sogar deswegen, zum Leidwesen aller gerne mit Peter und dessen Zahlen über alles Mögliche. Am Ende kamen sie, wenn oder weil auf verschiedenen Wegen, nach endlosen Diskussionen und Berechnungen zu einem gemeinsamen Ergebnis.

Aber, wie gesagt: Am Anfang der ganzen Corona Geschichte, so bis Weihnachten und danach, denn über Neujahr war ja alles und jeder mit anderen, privaten Dingen beschäftigt, war das ja ein rein chinesisches Thema. Eine lokale Viruserkrankung, die – bedingt durch die furchtbaren lokalen hygienischen Umstände dort – wie schon früher öfters, von irgendwelchen Tieren auf die Menschen übertragen worden war. Na ja, und dann kamen wir Mitte Januar auch im Süden von Deutschland, nach Skifahren und all der Fresserei mit Verwandten und Freunden schön langsam wieder in den normalen Arbeitstrott. Da fanden dann schon mal die ersten Gespräche mit Kunden und Lieferanten und den Kollegen in China zu diesem Thema statt. So nach dem Motto: Kommt es jetzt dadurch in der Fabrik in Ningbo zu irgendwelchen Engpässen oder Problemen? Ist die Lieferkette durch irgendwelche Teile von Zulieferanten aus Wuhan gefährdet, etc.? Aber erst mal war alles OK, kein Grund zur Panik. Oder doch? – Das Thema kam auch in Deutschland nicht mehr aus den Tagesnachrichten und es sickerten täglich mehr neue Meldungen und Zahlen durch. Auch die chinesischen Kollegen, mit denen Peter täglich im Kontakt stand, klangen immer ernster und betrübter.

 

Die Stunde der Politiker

Und dann, mit einem Schlag, kam das Chinesische Neujahrsfest, das Fest der Feste überhaupt! – Über eine Milliarde Chinesen fuhren und flogen von überall her, durch das ganze Land, um weltweit von ihren Arbeitsstätten Hunderte und Tausende Kilometer nach Hause zu gelangen. Alle schlossen für ein paar Tage ihre Fabriken, Baustellen, Geschäfte und Restaurants, um mit ihren Familien mit viel Essen und Feuerwerk das neue Jahr zu feiern. Aber die Regierung hatte kurz davor etwas getan, was zuvor für niemanden auch nur im Entferntesten in Friedenszeiten vorstellbar gewesen wäre. Sie hatten alle Feiern im ganzen Land nicht nur abgesagt, sondern sogar verboten. Alle Arten von Ansammlungen wurden untersagt. Die ganze Provinz Hubei, immerhin ein Land mit sechzig Millionen Einwohnern, wurde abgeriegelt; die Schulen landesweit über die Feiertage hinaus auf unbegrenzte Zeit geschlossen und je nach Gebiet mehr oder weniger strenge Ausgehsperren verhängt. Dieses große Land mit seiner enormen Vitalität, mit seinem lauten emsigen Treiben, wurde für über eine Milliarde Menschen einfach per Gesetz stillgelegt.

Im Westen wurden jetzt natürlich immer mehr Nachrichten und Zahlen veröffentlicht. Bilder von menschenleeren Straßen und Plätzen in Peking und Schanghai wurden in den Nachrichten gezeigt. Peters Kunden riefen jetzt völlig aufgeregt täglich fünfmal an und wollten von ihm genaueste Informationen über die Auswirkungen auf die laufende Produktion in den chinesischen Werken. Aufstellungen über Lagerbestände versus den wöchentlichen Bedarfszahlen; was noch auf welchem Frachter unterwegs war; wie viel in Europa wo noch auf Lager war. Peter bekam natürlich nichts aus China. Die meisten Kollegen saßen zu Hause. Sie tippten sich dort zwar die Finger wund auf ihren PCs und Handys, aber keiner wusste etwas Genaues, und schon gar nicht, wann es wie weitergeht.

Dazu erschien dann auch genau am Montag nach „Chinese New Year“ der erste Infizierte in Deutschland in den Schlagzeilen der Zeitung. Wie hätte es auch anders sein können? Gerade letzte Woche vor dem Neujahrsfest aus China war er von der Arbeit heimgereist! Noch dazu passend kam er aus der Automobilindustrie. Peter kannte den Mann nicht, aber er konnte sich das alles sehr gut vorstellen. Genauso gut hätte auch er das sein können. Aber Gott sei Dank waren seine Fabriken und Kunden weit weg von Wuhan und Hubei.

Der deutsche Ingenieur jedoch erfreute sich trotz des Virus bei relativ guter Gesundheit. Es war eben irgendein neues Grippevirus, das uns hier in Deutschland, wo wir an alljährliche Grippeepidemien seit Jahrhunderten gewöhnt waren, nicht sonderlich zusetzen würde. Das Gesundheitsministerium stufte die Gefahr, die von diesem Virus für uns ausgehen würde, als äußerst gering ein. Paris und Hallstatt waren voll mit chinesischen Touristen, der DAX war mit über dreizehntausend Punkten im Allzeithoch. Das Impeachment gegen Trump lief planmäßig gegen die Wand, selbst wenn die Trump feindliche Presse in Deutschland die Hoffnung für ein Ausscheren einzelner Republikaner nährte. Eine der zentralen Fragen in Deutschland war, ob sich Hansi Flick und Lucien Favre als Trainer von Bayern München und Borussia Dortmund halten könnten, ob Liverpool es als erste Mannschaft schaffen könnte, eine ganze Saison als Meister zu beenden, ohne ein Spiel zu verlieren, und ob der Tuchel das mit diesen Diven von Neymar und Mbappe schaffen würde Dortmund zu schlagen, um endlich die Champions League gewinnen und sich so in Paris halten zu können.

Für Peter waren die ersten Februarwochen ein einziger Horror gewesen, weil er aus China kaum noch irgendwelche Informationen über Produktions-, Liefer- oder Lagerdaten erhielt. Seine Kunden bedrängten ihn jeden Tag mehr mit bohrenden Fragen, wann, wo, was produziert und geliefert würde, und wo sich in welchem Lager wie viel Stück befänden. Gott sei Dank wagte es keiner mehr nach China zu fliegen, und die chinesischen Kollegen verweigerten aufgrund von Arbeits- und Ausgehsperren seit dem Chinesischen Neujahr alle Auslandsflüge. Mitte Februar kehrten viele von Peters Kollegen wieder an ihre Arbeitsplätze zurück. Peter hatte das Glück, dass seine Fabriken ziemlich im Südosten lagen – da war nicht viel los gewesen mit Infizierten und Erkrankten. Er gab natürlich den Druck, den er von seinen Kunden bekam, an die Kollegen in China weiter und schoss aus allen Rohren, um sie zur Produktion der Komponenten für die E-Antriebe für seine Kunden zu drängen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass sie bei allen Kunden wahrscheinlich im Rückstand waren, weshalb nur der, der am lautesten schrie, wohl am ehesten seine Teile bekam. Auch seine Kollegen hier in Deutschland, vornehmlich die aus der Logistik, rotierten, um genügend Verpackungsmaterial, Sondertransporte und Beschleunigungen in die Lieferabwicklung hinzubekommen.

In den ersten Märztagen füllte sich die Pipeline der Lieferkette. Die Produktion meldete eine Rekordzahl nach der anderen. Die Kunden waren nicht beruhigt, aber doch zumindest soweit zufrieden, als sie sahen, dass wirklich viel unternommen wurde. Außerdem waren anscheinend andere Lieferanten noch mehr im Rückstand, weswegen für Peter fast so etwas wie Normalität einkehrte. Außer dass er nicht nach China fliegen konnte wie alle anderen, wie umgekehrt auch die chinesischen Kollegen nicht nach Europa fliegen wollten.

Auch sonst lief alles mehr oder weniger normal. Man freute sich auf den Genfer Automobilsalon. Der Siegeszug der Elektroautos schien kaum noch aufzuhalten zu sein. Alle Firmen und Institutionen versuchten mit den Klimaaktivisten zu dealen, um ihre Nachhaltigkeitsfeigenblätterprogramme bestmöglich in der Öffentlichkeit verkaufen zu können. Bayern München war endlich wieder an der Tabellenspitze. In der Zeitung fanden sich die täglichen Meldungen, wo wieder wie viel neue Coronainfizierte registriert wurden, und wie sich die Zahlen in Hubei und Wuhan weiterentwickelten. Am zehnten März fand das Championsleague Achtelfinalrückspiel von Atlanta Bergamo bei FC Valencia statt. Nachdem das Hinspiel Ende Februar aufgrund des großen Zuschauerinteresses von Bergamo nach Mailand ins San-Siro-Stadion verlegt worden war, in dem die italienische „Dorfmannschaft“ die Millionentruppe von Valencia grandios mit vier zu eins besiegt hatte, war das Zuschauerinteresse für das Spiel in Valencia bei den Italienern entsprechend groß. Und wirklich, die Lombarden besiegten die Spanier auch im Rückspiel und zogen sensationell ins Viertelfinale ein. Die gefürchteten Ausschreitungen der Fans beider Lager blieben nicht nur Gott sei Dank aus, sondern ganz im Gegenteil: In den U-Bahnen, Bars und Straßen feierten alle Fans friedlich und eng verbunden miteinander.

Zehn Tage später waren in Italien mehr als doppelt so viele Menschen an diesem neuen Virus gestorben wie offiziell in ganz China. An diesem Covid 19, wie es dann überall außer in den USA genannt wurde. Trump versuchte verzweifelt, es als ''China Virus'' in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen. Die meisten Infizierten und Toten kamen aus der Lombardei, will heißen: Aus der Region rund um Mailand und Bergamo. Seit 16. März waren in Deutschland alle Schulen und Kindergärten geschlossen. Am 13. März wollte Peter, wie seit Langem geplant, mit ein paar Kollegen zum Skifahren nach Österreich fahren. Aber sie haben nach langem Hin und Her den Urlaub abgeblasen, als am Abend davor bekannt geworden war, dass die Hotels in allen Skiorten in Österreich an diesem Wochenende schlossen und die Skisaison vorzeitig beendet würde. Peter hatte den ganzen Donnerstag Stress mit der Hotelbesitzerin gehabt, die nicht mehr ans Telefon gegangen war und nur schriftlich mit ihm verkehrte, weil sie ihn zwingen wollte, die volle Rechnungshöhe als Stornogebühr zu bezahlen, wenn er nicht käme. Aber Peter und die Jungs hatten kein gutes Gefühl mehr gehabt bei der ganzen angespannten Lage. Am Mittwoch darauf beschloss Peters Firma, wie viele andere auch, alle Niederlassungen weltweit zu schließen und die Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken, beziehungsweise aus Kostengründen gleich in Kurzarbeit. Die Kollegen in China waren mittlerweile alle wieder ins Büro und in die Fabriken zurückgekehrt. Es gab keine Neuinfektionen mehr in China. So wurde es zumindest von der dortigen Presse verkündet. In Schanghai und Peking wagten sich die Leute wieder, wenn auch vorsichtig und deutlich weniger, auf die Straßen; selbstverständlich mit Atemschutzmasken, wie meist ohnehin früher auch. Die Ausgangssperren wurden für beendet erklärt. Offiziell waren in China zwischen Dezember 2019 und Ende März 2020 über achtzigtausend Menschen infiziert, von denen knapp dreitausenddreihundert Menschen an dem Virus gestorben waren.

In Europa wurden seit Anfang März 2020 in jedem Land unterschiedliche Maßnahmen aufgrund der mehr oder weniger stark ansteigenden Zahlen an Covid 19-registrierten Infizierten und daran Verstorbenen getroffen. Innerhalb von zwei Wochen wurden aber in fast allen Ländern sämtliche Universitäten, Schulen und Kindergärten geschlossen, die meisten Flüge vom und ins Ausland gestrichen, die Staatsgrenzen außer für Warentransporte gesperrt, und außerdem alle Geschäfte mit Ausnahme von Apotheken, Drogerien und Lebensmittelläden geschlossen. In jedem Land verfügte man nach und nach Ausgehsperren in verschieden strenger Form und Kontaktverbote aller Art. Überall rief man nacheinander nationale Notstände und Katastrophenalarme aus.

Wie alle hatte auch Peter ungläubig und wie in Trance diese Tage damit verbracht, minutiös die Entwicklungen und Nachrichten zu verfolgen, Informationen über die Geschehnisse und die Hintergründe zu erfahren, um sich ein Bild über die Situation zu verschaffen, um das Ganze zu begreifen, um sich der Lage bewusst zu werden und daraus resultierend, richtig und angemessen  reagieren zu können. Nachzudenken, um einen Plan zu haben, für jetzt und auch einen für morgen, für die Zukunft, um sich wieder zu orientieren, in den neuen, sich permanent verändernden Rahmenbedingungen. Wie er das aus seiner Arbeit und Lebenserfahrung gewohnt war, saugte er erst mal alle verfügbaren Informationen auf. Daten und Zahlen aus Internet, Fernsehen, privaten Kontakten, aus verschiedensten Quellen, aus allen ihm verfügbaren Ländern und Bevölkerungsschichten, um sich aus den teils widersprüchlichsten Daten und Aussagen ein möglichst spezifisches, eigenes Bild zu machen. Wie immer in solch komplexen Situationen versuchte er, sich aus diesen verfügbaren Zahlen eine Ordnung zu schaffen, indem er sie mit vergangenen, auch von anderen früheren Katastrophen und mit verfügbaren Vergleichszahlen aus verschiedenen Quellen verglich. So zog er seine Schlussfolgerungen daraus, prüfte diese immer wieder auf Gegenargumentationen und -Berechnungen und tauschte sich darüber mit Kollegen und Bekannten aus.

Je länger er das Schauspiel beobachtete, desto mehr kam er zur Erkenntnis, dass diese pandemische Katastrophe, die dieses Virus ausgelöst hatte, spätestens seit Ende März dazu geführt hatte, dass es zu einem weltweiten Shutdown gekommen war. Alle Nationalstaaten – außer China, Taiwan, Südkorea und teilweise in Afrika – hatten sich in totale Isolation im Kriegs- (gegen ein Virus?) beziehungsweise Notfallzustand begeben. Das war die Wiedergeburt der Macht der Politik – die Stunde der Politiker.

Das Handeln ist der Feind des Denkens

… heißt es bei Phillip Roth im „Der menschliche Makel.“ Wie treffend, dachte sich Peter, wie wahrscheinlich auch viele andere denkenden Menschen. Aber in Zeiten von  weltumspannendem Irrsinn aller Art via Internet, in denen man nichts mehr zu wissen brauchte, weil Google  ja alles wusste, in denen man nicht mehr selbst denken musste, weil irgendwo, irgendwer schon darüber nachgedacht hatte, und es nur darum ging, zu wissen, wie man mit möglichst wenig Klicks auf seinem Smartphone auch zu diesen Erkenntnissen kam: In dieser Welt gab es keine Werte mehr und keinen Glauben, weil alles jeden Preis von eins bis unendlich haben konnte. Egal ob ein Automobilkonzern für einen Dollar      oder ein Fußballer für zweihundert Millionen, es konnte    alles verkauft werden in einer Welt, in der nichts standhielt, wovon nicht auch das Gegenteil genauso wahr war. Ja, in so einer „schönen neuen Welt“ war es einfach nur wichtig zu handeln, und das entschlossen und reaktiv. Aber was ist das, entschlossen und reaktiv?

„Na schau doch: Gestern ließen uns die Politiker noch mit aller Kraft und so schnell wie möglich nach mehr Elektrofahrzeugen laufen. Für eine nachhaltige Umwelt, hahaha. Vorgestern gab es einen Wettlauf, um den Konflikt im Nahen Osten schnellstens zu lösen, weil uns sonst die ganze Region um die Ohren fliegt. Davor mussten wir mit aller Entschlossenheit sofort die freie Marktwirtschaft vor einer neuen Welle des Nationalismus und dessen Handelsbeschränkungen durch Zollschranken retten. Vorher musste aber Europa vor den Flüchtlingen aus Afrika und Syrien geschützt werden. Überhaupt musste die Welt vor dem Iran, und noch wichtiger, vor Nordkorea und deren zukünftigen atomaren Bedrohungen befreit werden. Und heute müssen wir gegen SARS-CoV-2 in den Krieg ziehen! Dafür müssen unsere ach-so-geschätzten Politiker einfach entschlossen reagieren und alle, aber auch wirklich alle Maßnahmen ergreifen, oder?“, hatte es Peter ironisch zusammengefasst.

„Die Maßnahmen, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, sind absolut unerlässlich für Ihre Sicherheit und die Ihrer Landsleute“, verlautbarten sie permanent auf allen Kanälen. Das Wort „alternativlos“ vermieden sie aufgrund schlechter Erfahrungen. Galt es nicht einmal sogar Unwort des Jahres? Mit staatstragenden Mienen sprangen die Politiker auf die Podien und verkündeten von früh bis spät neue Botschaften, Anweisungen, Richtlinien, Gesetzesvorhaben und Notfallerlässe. Im Minutentakt überschlugen sich die Nachrichten. Sie drängten sich an die Mikrofone und überboten sich im Wettstreit, wer als erster vor den anderen, welche neuen, einschneidenden und noch drastischeren Maßnahmen dem in panischer Angst um ihr Leben bangendem, nach Beschränkung lechzendem Volk mitteilen konnte.

Und wie sie es uns mitteilten! Man sah es ihnen an. Sie waren sich ihrer historischen Stunde und Bedeutung bewusst. OK, bei uns in Deutschland war unsere ''Mutti'', die Kanzlerin in diese, ihr zur Gewohnheit gewordenen Rolle, mehr oder weniger authentisch hineingewachsen. Aber die anderen! Der Spahn, der schon zuvor durch die Endlosbaustelle Pflege medial so hochgepusht war, dass er sich schon in Kanzlernachfolgehöhen emporgeschwungen hatte, war seitdem mindestens um 20 Zentimeter gewachsen, wenn er sich jetzt von morgens bis abends vor den unzähligen Kameras und Mikrofonen aufbaute. Der Gesundheitsminister eines Bundeslandes, den vorher wahrscheinlich nicht einmal die meisten Bürgerinnen und Bürger seines Bundeslands selbst gekannt hatten, wurde jetzt vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, wie bei Big Brother, mit der Kamera dauerverfilmt. Damit das ganze Land huldvoll bestaunen konnte, wie der Mann unermüdlich für das nackte Überleben des Volkes telefonierte. Wie er heroisch, sich ganz offen, vor laufender Kamera, für alle sichtbar aufbauend, umringt von emsigen Krisenmanagern einem alt befreundeten Wirt und Dorfbürgermeister für den kommenden Freitag einfach schneidig sein Kommen absagte: Zu einem lange geplanten wichtigen Treffen eines Hasenzüchtervereins mit dem staatstragenden Rat diese Veranstaltung doch gänzlich abzublasen, auch wenn man mit hundertsiebzig Mann noch weit unter der seit fünf Stunden vorgeschriebenen Höchstgrenze für Versammlungen von mehr als fünfhundert Leuten lag.

„Ja, konnte man sich da noch dieser mit letzter Kraft vorgetragenen Erleuchtung dieses Übermenschen entziehen, wenn er ganz nüchtern feststellte, dass es eine epische Krise dieses Ausmaßes seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben hatte?“, fragte sich Peter, ironisch und ungläubig nickend, vor den sich permanent überschlagenden News der großen neuen Politikshow. – Und weiter: Vor allem, wenn man sich für Nachrichten im Allgemeinen und Zahlen auch nur oberflächlich interessierte – und hoffentlich über mehr, als dem Gedächtnis einer Eintagsfliege verfügte: Denn waren die ungefähr eine Million Menschen, die Anfang des Jahrzehnts in Ostafrika in der Hungerkatastrophe krepiert waren, oder die andere Million Tutsis, die in gerade mal einhundert Tagen in Burundi von den Hutus ermordet worden waren, weniger episch?

 „Die lokalen Behörden und Institutionen vor Ort sind völlig überfordert und wissen nicht mehr, wo sie wie die Hunderten Toten täglich begraben oder entsorgen sollen“, schallte es in dramatischen Berichten aus allen Nachrichten. – „Ja, wie hatten es die Sudanesen und die Behörden und Institutionen in Burundi mit den Zehntausenden Toten täglich geschafft? Mit deren Mittel, die damals ganz sicher um Potenzen weniger waren, als die in Europa heute?“, fragte sich Peter.

„Ja, aber wir sprechen hier von über tausend Infizierten.“ – „Der Anstieg ist exponentiell.“ – „Wenn wir jetzt nicht eingreifen, werden wir …“ – Alle Fernseh- und Radiosender berichteten nur noch über das Virus und die damit verbundenen Konsequenzen. Und sie, die Herren und Damen Politiker, waren innerhalb von Tagen die neuen Stars am Medienhimmel geworden. Die Umfragewerte der regierenden und in den Medien vertretenen Politiker stiegen in nachkriegsähnliche Höhen. Die Opposition, insbesondere die rechtsradikale, verschwand ins Nirwana. Das Virus hatte keine Nationalität, außer für Trump. Es konnte nicht mit rechtsradikalen Parolen aus unserer deutschen Heimat als fremd vertrieben werden. „Wir schaffen das, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!“ lautete diesmal eine gute Losung.