Rebekka John
Zwei alte Damen räumen auf
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Impressum neobooks
Der Fußboden ächzte unter den vorsichtigen Schritten, die sich ihren Weg zwischen den alten Möbel hindurch bahnten. Aus den Ecken sickerte eine erdrückende Stille. Das Ticken einer Uhr machte die Einsamkeit unangenehm real. Nichts regte sich. Selbst die trockene Luft stand träge wie eine unsichtbare Wand in der Wohnung. Als gehörte sie schon immer zum Wohnensemble dazu, zu dem durchgesessenen roten Sofa unterm Fenster und dem abgewetzten Sessel daneben. Nicht einmal der kleine zerkratzte Tisch mit den ausgeblichenen Wasserflecken, konnte dieser Stille einen Hauch Farbe geben. Die Wohnung wirkte leer und verlassen. Auch wenn auf der Anrichte ein altes Radio stand, aus dem einst melodische Klänge oder vielleicht auch nur nervtötende Debatten die Räume mit Leben füllten.
Im Buffet stand ein noch eingepacktes Service, mit altmodischem Blümchenmuster. Die dazu passenden Häkeldeckchen in jeder Größe, waren eines scheußlicher, als das andere. Sie lagen hübsch aufgestapelt direkt daneben. Ordentlich, aber auch langweilig, dachte Bertha. Das war nichts für sie. Häkeldeckchen, Blümchentassen und vielleicht noch Schlager aus dem Radio. Sie konnte sich das Leben, das ihre Nachbarin hier geführt hatte, sehr gut vorstellen. Die alte Frau schüttelte den Kopf.
Inge dagegen hatte sich schlürfenden Schrittes durch die Wohnung ins Schlafzimmer getastet. Auch sie sah das sich täglich wiederholende Leben der Verstorbenen vor sich. Trist und grau. Nicht schwarz-weiß. Das wäre noch zu abwechslungsreich. Es war einfach alles grau.
Aus dem leicht geöffneten Kleiderschrank im Schlafzimmer sickerte ein muffiger Geruch. Er legte sich wie dunstiger Morgennebel über den orientalischen Fransenteppich. Zwischen den alten Kleidern hingen die verstaubten Geister der Vergangenheit. Die Sonntagsdame, die Festtagsoma, die resolute Endfünfzigerin, die Silberbraut, die trauernde Witwe und schließlich die einsame Alte. Fast andächtig streiften Inges greise Hände über die aufgereihten Stoffe, als könnten sie so etwas zurückholen, was längst schon vergessen war.
Auf der Kommode am Fußende des vereinsamten Bettes standen die stummen Zeugen eines gelebten Lebens. Kinder bei der Hochzeit, Enkel mit Schultüte, Familien im Urlaub. Daneben quollen aus einer Porzellanschatulle Perlenketten und billiger Modeschmuck. Ein leeres Brillenetui wartete vergebens auf die verschwundene Lesebrille. Es war erdrückend.
Erschöpft ließ sich Bertha zu Inge aufs Bett fallen. Das hatten sie nicht erwartet. Diese Leere, die so hart zuschlug, wie ein Boxer im Endkampf. Inge schaute zu Bertha, die fast vollständig im dicken Federbett verschwunden war.
„Das ist also alles?“, fragte sie ihre Freundin.
Die beiden alten Damen waren heimlich in die Wohnung der erst kürzlich verstorbenen Nachbarin eingedrungen. Sie kannten Frau Heinrich nicht einmal. Aber sie wollten wissen, was bleibt. Hier konnten sie es hautnah erleben. Es war der blanke Horror gewesen. Die Freundinnen wussten wie es war, allein zu sein. Einsamkeit war für sie kein Fremdwort.
„Wie ist sie gestorben? Ich meine, lag sie hier irgendwo einfach herum? Bis irgendwer sie vermisste?“ Inge lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie schaute sich angewidert im Schlafzimmer um, als könnte sie eine Spur von Frau Heinrich entdecken.
„Nein. Dann wären doch irgendwelche Flecken zu sehen. Und es wäre ein riesiger Menschenauflauf hier gewesen, mit Polizei und Leichenwagen und Notarzt. Ich habe aber nichts mitbekommen. Ich glaube, sie ist ins Heim gekommen, vor ein paar Wochen erst. Abgeschoben. Nur weil sie etwas schrullig geworden ist.“, entrüstete sich Bertha, die mit ausladenden Bewegungen versuchte sich aus dem Federbettwirrwarr zu befreien.
„Nun hilf mir doch.“, fuhr sie nach Luft schnappend ihre Freundin an.
„Wie soll ich dir denn helfen können?“, fragte Inge und sprang ihrerseits leicht federnd auf dem Bett auf und ab, um mit Schwung auf die Beine zu kommen.
„So geht das.“
„Du bist genial.“ Bertha holte Schwung und hüpfte auf dem Bett, wie auf einem Trampolin, dabei stülpte sich das Federbett so hoch um die kleine Frau, dass man nur noch die dünnen Beine in die Luft ragen sah.
Nach einigen Anläufen hatte es auch Bertha geschafft. Sie knetete das kurze Haar auf ihrem Kopf zurecht und zog an ihrem beige-grünen Strickpullover.
„Und was ist mit den Kindern? Sie hatte doch Kinder und Enkel.“ Bertha ging zu der Fotogalerie auf der Kommode. Sie nahm einige Bilder in die Hand und schaute sich die Gesichter an. Ihre grauen Augen glänzten feucht.
„Das möchte ich nicht. Inge, wir müssen was tun. Ich meine, sieh dich doch um. Das ist alles was bleibt. Müll. Wir zerfallen zu Staub, der durch eine leblose Wohnung wirbelt.“ Bertha drehte sich zu Inge um. Mit einer ausladenden Handbewegung schloss sie das ganze Leben von Frau Heinrich mit ein.
„Ach was du wieder redest. Die Erinnerungen, Erlebnisse mit den Enkeln, Zoobesuche, gemeinsam gesungene Lieder, Geburtstagsgeschenke, das bleibt doch alles. Sie werden sich schon noch erinnern.“, sagte Inges warme Stimme. Ein herzliches Lächeln umspielte die schmalen blassrosa Lippen. Doch nun sah auch Inge zweifelnd auf die Fotos.
Bertha wurde jetzt wütend. Die kleine drahtige Frau wirbelte durch die Räume und durchwühlte Schubladen und Schränke. Plötzlich blieb sie stehen. Auf ihre grauen Haare legte sich nun Jahre alter Staub. Dann drehte sie sich zu Inge um.
„Da hast du deine Erinnerungen.“ Sie warf ein Bündel Briefe aufs Bett. Aus den säuberlich aufgerissenen Umschlägen rutschten Geburtstagskarten. Immer das gleiche Motiv, groß-arrangierte Blumengestecke auf einfarbigem Hintergrund. Der vorn aufgedruckte Gruß war im Inneren mit dem jeweiligen Namen ergänzt.
„Keine einzige persönliche Zeile.“, stellte Inge traurig fest.
„Genau. Und zu den Geburtstagen sind sie auch nicht gekommen. Sonst hätten sie es wohl kaum nötig gehabt, eine Karte zu schicken.“ Bertha war sonst nicht so boshaft, aber in diesem Moment wünschte sie die ganze Welt zum Teufel. Es kränkte sie persönlich, da es ihr und auch Inge nicht viel besser ging. Auch wenn ab und zu Sybille, ihre Tochter anrief. Doch sie redete nur übers Wetter, Smalltalk. Aber wirklich Zeit hatte auch Sybille nicht.
„Wenn erst das Sperrgut fortgeschafft und die Wohnung leer ist, sind wir doch schon fast vergessen.“
„Nein, Bertha! Das meinst du nicht ernst.“
„Das werden wir uns nicht gefallen lassen. So nicht. Nicht mit uns!“ Bertha blühte plötzlich auf. Ihre alten Lebensgeister waren geweckt.
„Unser Leben ist doch kein Sperrgut! Aber was willst du dagegen tun?“, fragte Inge zögerlich. „Wir sind beide keine sechzig mehr.“ Sie steckte sich einige Strähnen silbrigen Haars in den Knoten am Hinterkopf und drückte ihre Frisur mit den Händen fest.
„Was hättest du denn gemacht, wenn wir jetzt sechzig wären?“ Berthas blasse Augen blitzen hinter ihrer Brille spitzbübisch auf.
Wie dreiundachtzig wirkte sie nun nicht. Nicht in diesem Moment. Sie würde nicht zulassen, dass es ihr und ihrer Freundin so ging, wie vielen anderen alten Menschen, die durch den Tod endlich erlöst wurden von ihrem jämmerlichen Dasein, als Randfigur.
„Das ist eine gute Frage. Da muss ich erst einmal drüber nachdenken.“
„Tu das. Ich koche uns einen Kaffee und dann überlegen wir uns gemeinsam was wir gegen den Sperrmüllstempel tun können.“
Wie selbstverständlich ging Bertha auf ihren flachen Pantoletten in die Küche. Die kleine zierliche Frau kramte in den Küchenschränken und fand auch gleich Kaffeepulver und Sammeltassen. Während das Wasser auf dem Herd zischend zu kochen begann, wischte Bertha resolut die Häkeltischdecke vom Küchentisch.
„Guck mal, in der Anrichte habe ich noch Gebäck gefunden, dänische Butterkekse, die liebe ich.“ Inge winkte mit der Packung. Auf ihrem runzligen Gesicht lag ein warmes Lächeln. „Und wie das duftet. Es geht eben nichts über frisch aufgebrühten Kaffee.“
Als die Frauen sich gegenübersaßen, blickten sie stumm zum Küchenfenster hinaus. Jede in ihrer eigenen Welt gefangen. Unbewusst nippten sie an den Sammeltassen und schlürften das heiße Getränk. Vergessen war, dass es nicht ihre Wohnung, nicht ihr Fenster und nicht ihr Küchentisch war. Aber irgendwie war es auch ihr Leben, hier bei Frau Heinrich.
„Wo sind eigentlich die Kinder? Müssten sie nicht die Wohnung räumen?“ Inge stellte ihre Tasse zurück auf die Untertasse. Das leise Klirren ließ Bertha aus ihren Gedanken aufschrecken. Die Blicke der alten Frauen wanderten über die Möbel. Die kleine Wohnung war liebevoll eingerichtet, etwas kitschig, aber ordentlich und sauber.
„Weißt du Bertha, wenn ich mir vorstelle, wie nun die Kinder und Enkel hier einfallen und alles nach Brauchbarem durchwühlen, alles was man zu Geld machen kann, du verstehst?“. Sie hielt ihrer Freundin drei Finger entgegen und rieb sie gegeneinander. „Und dann alles andere lieblos in Mülltüten und Kartons werfen.“ beendete Bertha den Gedanken.
„Da dreht sich bei mir der Magen um.“ Inge wurde traurig. Sie wollte sich so ein Ende nicht vorstellen.
„Und deshalb werden wir die Wohnung räumen.“, sagte Bertha.
„Was wir? Warum wir? Und wie sollen wir das …..“
„Lass mal überlegen. Ich finde die Wohnung ist gar nicht mal schlecht eingerichtet. Nicht mein Geschmack, aber alles ordentlich. Und vor allem noch brauchbar. Ich habe eine Idee.“
Bertha ging zum Telefon. „Noch nicht abgemeldet.“, flötete sie mit dem tutenden Hörer in der Hand. Dann tätigte sie ein paar Anrufe.
Kaum eine Stunde später standen die ersten jungen Männer mit kleinen Transportern vor der Tür. Sie begrüßten die alten Damen respektvoll und begannen die Möbel auf die Transporter zu laden.
Neben den Männern schoben sich Frauen in die Wohnung, mit und ohne Kopftuch, schüchtern nickend. Sie packten vorsichtig Kleidung, Geschirr und Blumenvasen ein. Leise unterhielten sie sich.
„Wer ist das?“, flüsterte Inge Bertha ins Ohr.
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, sie können die Sachen gut gebrauchen.“, lachte Bertha und drückte zum Schluss den Männern einen Zettel in die Hand.
Nun standen die zwei Damen in einer leeren Wohnung. Einzig die Bilder von der Kommode standen noch auf dem Fußboden.
„Guck mal Inge, ich habe sogar ein Foto von Frau Heinrich gefunden.“ Bertha stellte das Bild in die Mitte der anderen Fotos.
„Das wird eine tolle Überraschung geben, wenn die Kinder hier auftauchen.“, meinte Inge nervös. Sie ging durch die leeren Räume, die ordentlich und beruhigend wirkten.
„Spürst du das auch?“, fragte sie ihre Freundin. „Es wirkt so einladend.“
„Ja. Und kein Staub der alten Frau Heinrich spukt herum.“
Eine Woche später gingen Bertha und Inge über den Friedhof. In würdevolles Schwarz gekleidet, schlossen sie sich dem Trauerzug an. Es war ein angenehm warmer Herbsttag. Das Zwitschern der Vögel begleitete die Menschenmenge, die sich langsam auf das Grab zubewegte. Goldene Ahornblätter segelten stimmungsvoll zu Boden. Am Ende der Allee blieben alle vor dem offenen Grab stehen. Sie lauschten würdevoll den Worten des Bestatters, der in ruhigem gemäßigtem Ton sprach und eine Litanei vortrug, die für jede Beisetzung passend gewesen wäre.
Noch während der Grabrede begannen die Verwandten zu flüstern. Inge glaubte zu hören, wie sie sich gegenseitig fragten, wer die ganzen Menschen waren, die auf der anderen Seite des Grabes standen. Schuldbewusst blickte Inge zu Boden. Da aber jeder der Fremden der verstorbenen Frau Heinrich seine Ehrerbietung erwies und sich mit einer Blume von ihr verabschiedete, traute sich niemand nachzufragen. Selbst von den Trauernden verabschiedeten sie sich höflich und verließen dann schweigsam den Friedhof.
Schließlich gingen auch Bertha und Inge an der verwirrt blickenden Familie vorbei. Sie murmelten ein paar tröstende Worte und tätschelten fürsorglich kalte, zitternde Hände. Dann eilten sie Richtung Friedhofstor.
„Und nun zu uns!“, sagte Bertha noch mit einem Fuß auf dem Friedhof. „Es wird Zeit, dass wir wieder eine Hauptrolle einnehmen.“
„Was meinst du? Haben wir nicht schon genug angerichtet? Ich will mir gar nicht ausmalen, wie die armen Kinder geguckt haben, als sie in einer leeren Wohnung standen. Musstest du denn alle Sachen Wildfremden schenken? Die Sachen haben noch nicht einmal uns gehört. Das war Diebstahl, Bertha. Dafür können wir ins Gefängnis kommen.“
„Sind wir aber nicht. Und außerdem muss man eben auch Opfer bringen und Risiken eingehen. Eine Rebellion verlangt nach Regelbruch.“
„Rebellion? Regelbruch? Na hör mal, das war nicht nur Regelbruch, das war gesetzeswidrig. Einbruch, Diebstahl und vielleicht sogar Störung der Totenruhe. Bertha.“
„Aber es war nötig. Hat es dich nicht auch gestört, dass es eben genau so immer abläuft? Alte Menschen wie wir, werden nicht mehr ernst genommen. Wir werden vom aktiven Leben ausgeschlossen, und das von unserer eigenen Familie. Und dann, wenn wir endlich tot sind, müssen sie noch unsere Habseligkeiten entsorgen. Ein paar alte Fotos werden in die Handtasche gesteckt und der Rest kommt auf den Sperrmüll. Oder wird zu Geld gemacht. Das Erbe ist doch eh das Einzige, an was die noch denken, wenn wir erst über 80 sind. Und sind wir dann hier...,“ Bertha deutet mit einer wegwerfenden Handbewegung über den Friedhof hinter ihnen. „...spricht man dann nur noch mit den einleitenden Worten, ‚Sie hatte doch ein schönes Leben.‘ oder ‚Sie hatte ein langes Leben.‘ oder ‚Nun braucht sie nicht mehr leiden.‘ über uns. Und auf die Beerdigung kommt dann auch nur ein Drittel der Verwandtschaft und nach einem halben Jahr denkt dann keiner mehr an uns.
Und du musst zugeben, es war doch eine schöne Beerdigung, mit all den dankbaren Menschen. Ich meine sie waren wirklich dankbar. Und ich bin es auch. Nun ist Frau Heinrich nicht umsonst gestorben.“
Bertha zog Inge vom Friedhof weg. Nun wo die Sonne tiefer stand, wurde es kühler. Inge zog ihren Mantel enger um den zarten Körper.
„Ich meine es ernst, Inge. Wir müssen etwas unternehmen, damit von uns mehr bleibt als Staub und Müll. Ich habe die letzten Tage darüber nachgedacht, und bin zu dem Schluss gekommen, dass man sich nicht auf seine Verwandten verlassen kann. Ich weiß wirklich nicht welche Rolle ich noch im Leben meiner Tochter spiele. Und wie sie überhaupt zu mir steht. Auch wenn sie immer sehr besorgt wirkt. So richtig ernst nimmt mich doch schon lange keiner mehr. Und wenn du ehrlich bist, wann hat dir das letzte Mal einer deiner Lieben mal so richtig zugehört? Oder das Herz ausgeschüttet?“
Inge zuckte mit den Schultern. Sie dachte schuldbewusst an ihren Sohn Jens und die Enkel. Auch Katharina, ihre Schwiegertochter gab sich immer solche Mühe, wenn Inge zu Weihnachten zum Essen kam. Ja, die Besuche fielen recht kurz aus. Überhaupt hatte keiner mehr Zeit. Aber sie arbeiteten ja auch viel.
Inge blieb stehen und drehte sich zu Bertha. Leise begann sie zu reden.
„Aber Bertha, bist du jetzt nicht zu hart? Was sollen wir denn schon den jungen Dingern zu erzählen haben?“
„Inge, wir gehören nicht mehr dazu. So ist es. Überleg doch mal. Als wir erst Sechzig, sogar siebzig waren, da waren wir immer dabei. Aber da fing es schon an, wir wurden zu alt für längere Spaziergänge oder Wanderungen. Zu alt für Familienurlaube oder Wochenendausflüge. Niemand wollte uns alte Schachteln im Gepäck haben, wenn sie ans Meer gefahren sind oder in die Berge oder auf Weihnachtsmärkte und Sonntagsausflüge. So ist es dann.“ Bertha musste tief Luft holen. Sie hatte sich in Rage geredet. Aber sie hatte Gehör gefunden. In Inges Gesicht spiegelte sich ihre eigene Einsamkeit.
„Und was hast du nun vor?“, fragte Inge als sie sich immer mehr vom Friedhof entfernten und die Kastanien gesäumte Allee entlang schlenderten.
„Wenn ich einmal dahin zurück muss, werden sich Leute an mich erinnern, die mich jetzt noch nicht kennen. Das verspreche ich dir.“ Geheimnisvoll nickte sie ihrer langjährigen Freundin zu. „Und an dich auch.“
„Zuerst muss aber der Müll weg. Du weißt schon, der Sperrmüll.“ Bertha zwinkerte geheimnisvoll. Dann gingen sie dem Sonnenuntergang entgegen, zwei alte Damen in schwarz mit baumelnden Handtaschen an ihren Armen.
„Mutti ist weg!“ rief Sybille ins Wohnzimmer. Gerade war sie nach Hause gekommen. Sie schleuderte wütend ihre große Handtasche über die Sessellehne und lies sich keuchend auf das Sofa fallen. Ihr hübsches kleines Einfamilienhäuschen am Stadtrand war ihr Rückzug, ihr Ruhepol. Tagsüber musste sie dies mit dem lärmenden Alltag in der Redaktion tauschen, dann freute sie sich auf ihre kleine stereotype Idylle.
Seit 10 Jahren arbeitete sie in der Redaktion des Bodenauer Boten. Ihr Durchbruch als Journalistin ließ aber noch immer auf sich warten. Meist war sie nur Allroundsekretärin oder eine Art Lektorin für ihre Kollegen. Sie verbesserte Grammatik, Ausdruck und Rechtschreibung in den Artikeln der „richtigen“ Journalisten. Doch es gab Zeiten, da war so viel zu tun, dass Sybille ihre eigenen kleinen Artikel bekam. Und so hoffte sie immer noch auf ihre Chance.
Heute war einer dieser Tag gewesen, wo sie sich am liebsten in irgendein Mauseloch verkrochen hätte. Im Großen und Ganzen lief gerade ziemlich wenig. Was hieß, dass alle Kollegen wie wild im Internet recherchierten, um irgendwelche interessanten Lückenfüller zu finden, und ihr Chef nur noch am Brüllen war, die ganze Belegschaft runter machte und alle kündigen wollte, wenn nicht bald was Brandheißes auf seinem Schreibtisch lag.
Sybille hatte manchmal so die Schnauze voll. Am liebsten würde sie alles hinwerfen und irgendwo neu anfangen. Daher wollte sie heute einen Abstecher zu ihrer Mutter machen. Bertha wohnte in der Innenstadt, nicht weit von der Redaktion entfernt. Eine Tasse Tee mit Mutti und das Herz ausschütten, dann würde es ihr besser gehen. Doch als Sybille mehrmals in dem Mehrfamilienhaus in dem ihre Mutter wohnte geklingelt hatte und niemand aufmachte, begann sie sich Sorgen zu machen. Bertha war bereits über 80 Jahre. Vielleicht war etwas passiert? Eigentlich war sie doch immer zu Hause.
Sybille kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte Berthas Nummer. Dann klemmte sie sich das Gerät unter ihre braunen Locken und suchte weiter in der Tasche, während sie ins Handy lauschte. Wo war jetzt der verdammte Schlüssel, dachte sie. Dann erklang im Hörer eine Stimme. Sie wollte gerade ins Telefon rufen, „Mutti wo steckst du, mach bitte die Tür auf.“ da hörte sie eine elektronische Ansage, „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Verwirrt schaute Sybille ihr Handy an. In ihrer rechten Hand hielt sie den Ersatzwohnungsschlüssel ihrer Mutter. Leise klirrten die Schlüssel gegeneinander, als sie nachdenklich die Finger bewegte. Dann schloss sie die Tür zum Treppenhaus auf.
Sie ging langsam in den zweiten Stock. Vorsichtig schaute sie den Treppenaufgang nach oben, als erwarte sie irgendetwas zu sehen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Wann hatte sie das letzte Mal mit ihrer Mutter telefoniert? Vor zwei Wochen, oder drei Wochen? Sie wusste es nicht genau. Mit zittrigen Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Langsam öffnete sie die Tür.
„Mutti?“, rief sie sehr leise und zaghaft. Sybille hatte Angst. Was würde nun auf sie zu kommen? Notarzt rufen, vielleicht die Polizei. Bestattungsunternehmen abklappern und die Sperrmüllabfuhr bestellen. Die Zeit, die sie gebraucht hatte um bis zur Wohnung hinauf zu steigen, hatte gereicht sich sämtliche entsetzliche Szenarien auszumalen.