Das Buch
Für Frieda, eine englische Primatenforscherin, sind Tiger nichts als wilde Tiere, fremd, roh und aggressiv. Aber seit sie in einem kleinen Zoo in Devon arbeitet, begegnet sie den Wildkatzen täglich. Nach und nach beginnt sie sich für das Wesen der Tiger zu interessieren; dann, sie zu verstehen, und schließlich, sie zu lieben. Durch sie lernt sie einen Teil von sich selbst neu zu entdecken und begibt sich auf eine Reise, die sie bis nach Sibirien führt, wo ihr eigenes Schicksal sich mit dem von Tomas, einem einsamen Mann in den Wäldern der Taiga, der kleinen Sina, einem wilden Mädchen, und dem der Tiger auf überraschende Weise verbindet.
Die Autorin
POLLY CLARK wurde in Toronto geboren und lebt abwechselnd an der schottischen Westküste und auf einem Hausboot in London. Ihre Lyrik wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet und ihr erster Roman Larchfield u. a. von Margaret Atwood, John Boyne und Richard Ford hochgelobt. Während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo begann sie sich für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen an Tiger reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35°C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. Tiger stand 2019 auf der Shortlist für den Scottish National Book Award.
POLLY CLARK
TIGER
ROMAN
Aus dem Englischen
von Ursula C. Sturm
Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-102-7
Die Originalausgabe »Tiger« erschien 2019 bei Riverrun/Quercus, London.
© 2019 Polly Clark
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlagsgestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Andrew Smith
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
FÜR LUCY,
meine schöne, temperamentvolle Tochter
PROLOG
Russische Taiga, Winter 1992
Oi, moros …
Oh du grimm’ge Kälte,
lass mich nicht erfrier’n …
Ich habe ein gar missgünstig Weib …
Oi, moros …
Dmitri kauerte vor einem Baum und befestigte vergnügt vor sich hin singend eine Falle am Stamm. Egal, wie betrunken er war, eine einwandfreie Schlinge brachte er immer zustande – eine, die sich unter Zug unerbittlich festzurrte und dennoch problemlos lösen ließ. Er schwankte, verstummte kurz, während er sein Werk prüfend betrachtete. Praktische Sache, so eine Schlingenfalle, dachte er. Elegant, einfach, brutal. Am Rande der kleinen Lichtung, die um eine umgestürzte Koreakiefer entstanden war, hatte er vier Schlingenfallen ausgelegt. Dies hier war die letzte. Er bedeckte das Stahlseil mit etwas Reisig und Schnee, dann verwischte er seine Fußspuren.
»Vorsicht, Jana«, sagte er zu dem rostroten Terrierweibchen, das schnüffelnd das Feuer umrundete. »Du hast hoffentlich gut aufgepasst, wo sie liegen.«
Mein liebreizend Weibe
harrt meiner zu Haus.
Harrt meiner, von Gram erfüllt …
Kehr ich abends heime,
schließ sie in die Arm’…
Oi, moros …
Dmitri kehrte zurück zu seiner Flasche und dem Baumstumpf, der ihm als Sitzgelegenheit diente, und sein Gesang – dank seiner von Polypen übersäten Stimmbänder eher ein heiseres Krächzen – hallte noch eine ganze Weile durch den Wald, bis die Flammen des Lagerfeuers in der Glut versanken und die kalte Luft über ihn herfiel, stechend wie Dolchspitzen, gerade so, als hätten sich zehn mit Kidschal bewehrte Kosaken auf ihn gestürzt.
Um den Moment, an dem er aufstehen und neues Feuerholz holen musste, noch ein Weilchen hinauszuschieben, klopfte sich Dmitri lockend auf die Oberschenkel, doch Jana hatte wie üblich keine Lust, ihm als Wärmekissen zu dienen. Zwischen seinem Schmerbauch und den Knien war kaum Platz, zudem stank sein Atem um diese Uhrzeit schon beißend nach Alkohol. »Nun komm schon, Kleines!«, rief Dmitri, doch die Hündin zierte sich, wich seinen Händen aus.
Er steckte sich grummelnd eine Zigarette zwischen die Lippen. Es dauerte etliche Sekunden, bis er es geschafft hatte, die Flamme und das untere Ende der Zigarette zueinander zu führen.
Dmitri hatte einen Plan, und dieser Plan würde ihn reich machen.
»Und zwar schon sehr bald.« Mit diesen Worten erhob er sich schwerfällig vom Baumstumpf, griff nach seiner Axt und steuerte durch den Schnee wankend auf die Bäume zu. »Oi, moros«, sang er. »Lass mich nicht erfriern …«
Jana hüpfte hinter ihm her, die Ohren gespitzt, die Schnauze in die Luft gestreckt, weil der Schnee ein klein wenig zu hoch lag für ihren Geschmack.
Dmitri kehrte mit einem Armvoll Ästen zurück, kippte etwas Wodka auf die Feuerstelle und nahm selbst einen wärmenden Schluck aus der Flasche. Dann umrundete er einige Male den behelfsmäßigen Unterschlupf, den er sich gebaut hatte. Es war ein armseliges Gebilde unter einem rostigen Stück Wellblech, das im Schnee gesteckt hatte. Er hatte es an den dicken Stamm der umgestürzten Koreakiefer gelehnt, hatte Zweige und Reisig darauf gehäuft und mit Ästen beschwert, hatte weitere Äste geschlagen und damit das eine Ende verschlossen, sodass ein niedriges Schlaflager entstanden war, das den Elementen herzlich wenig entgegenzusetzen hatte, aber er gedachte ohnehin nicht lange zu bleiben. Sein Plan erforderte lediglich Kraft und Mut, und von beidem hatte Dmitri reichlich, was etwaige Schwächen in den Hintergrund treten ließ. Außerdem hatte er Jana, die ihn wärmen würde. Die Hündin beäugte den Unterschlupf argwöhnisch.
In einigen Metern Entfernung hing ein dunkelroter Rehkadaver, der in der Kälte allmählich zu Stein gefror – der Köder für den Tiger, an dem sich Dmitri nun aber selbst gütlich tun musste. Er hackte ein Stück davon ab und hielt es eine Weile mithilfe eines Stocks über das Feuer, ehe er den zischenden, triefenden Brocken verzehrte und mit Wodka nachspülte. Auch Jana gab er etwas davon ab.
»Zeig dich, Tiger!«, röhrte er in die fortschreitende Dämmerung. Die Stille dröhnte in seinen Ohren. Er setzte sich hin, dem Rehkadaver zugewandt, das Gewehr auf dem Schoß, der Hahn gespannt, den Finger am Abzug. Jana legte sich neben das Feuer, die Schnauze auf den Vorderpfoten.
Dmitri war nicht gern allein. Im Dorf hatte er stets Gesellschaft, jemanden, mit dem er auf seinen bevorstehenden Wohlstand anstoßen konnte. Der Wodka machte ihn glauben, dass sein Ziel ganz einfach zu erreichen war, wenngleich er die Einzelheiten verschwimmen ließ. Außerdem war Dmitri müde. Auf einen Tiger zu warten war harte Arbeit. Und dieses Starren in die Finsternis, das Ausschauhalten nach der Bestie, das konnte den wachsamen Blick eines Mannes schon mal in einen fahrigen Hund verwandeln, der, an einen Holzpflock gebunden, blinzelnd und sich duckend hierhin und dorthin springt. Der Wodka torpedierte seine Konzentration.
Schließlich gähnte Dmitri, hob Jana hoch, die widerwillig mit den Hinterläufen strampelte, und robbte vor Anstrengung grunzend in seinen mit Reisig ausgekleideten Unterschlupf. Ein schwerer, dicht gewachsener Fichtenast diente als Tür. Mann und Hund machten es sich in ihrem beengten Lager gemütlich. Dmitris alkoholgeschwängerter Atem hing in der Luft. Neben ihm lag das Gewehr, geladen und einsatzbereit.
Natürlich war es besser, wach zu bleiben, wenn man einen Tiger erlegen wollte, das war Dmitri bewusst, aber er konnte die Augen nicht länger offenhalten, und auf Jana war Verlass. Ein Hund hört schon von Weitem, wenn sich ein Tiger nähert. Sie würde ihn mit ihrem Gebell wecken, und er würde sich sein Gewehr schnappen und dem Tiger das Hirn wegblasen. Ein Kinderspiel, zumal das Vieh in einer Schlingenfalle festhängen würde.
Dann musste er sich nur noch überlegen, ob er das Tier an Ort und Stelle häuten oder lieber ins Dorf schleppen sollte, wo er Helfer hätte, mit denen er sich dann allerdings die Einnahmen würde teilen müssen. Es kam auf die Größe an – vielleicht gelang es ihm ja, den »König« zu erlegen, den größten Tiger, der sich hier in der Gegend herumtrieb, der angeblich um die vierhundert Kilo wog und knapp vier Meter lang war! In diesem Fall konnte er großzügig sein. Mit diesem ausgesprochen beruhigenden Gedanken schlief Dmitri ein, seine Hündin an die Brust gedrückt. Jana winselte noch einmal, dann gab sie den Widerstand auf.
Als Dmitri erwachte, fühlten sich seine Gliedmaßen so steif und taub an, dass er kurz in sich hineinhorchte: War er tot? Jana hatte sich aus seiner Umklammerung gewunden. Fluchend schob er den Ast am Eingang beiseite und spähte hinaus. »Jana!« Etliche Zweige rutschten von seinem Unterschlupf, während Dmitri seinen massigen Körper daraus befreite.
»Was zum Henker …?«
Fassungslos ließ er den Blick über den aufgewühlten Schnee wandern. In einiger Entfernung eine dünne Blutspur und ein rostrotes Fellbüschel. Dmitri wirbelte herum. Der Rehkadaver war verschwunden, die Feuerstelle zertrampelt, und auf der gesamten Lichtung, bis direkt vor seinen Unterschlupf, das unverkennbare Trittsiegel des Tigers: der große Hauptballen, darüber die kleineren Zehenballen.
Dmitri verspürte ein Brennen in der Lunge. Die Sonne sah hart und unbeeindruckt auf ihn hinunter wie ein gleichgültiger Gott. Mit einem flauen Gefühl im Magen eilte Dmitri zu den Fallen. Eine, zwei, drei waren unberührt, doch siehe da, um die vierte war der Schnee niedergetreten und blutig. Aber … Wie konnte das sein?
Das Stahlseil, das sich um die Pranke des Tigers zugezogen hatte, war zernagt. Der Tiger hatte das Stahlseil durchgebissen!
Wie zum Teufel konnte das sein?
Dmitri holte sein Gewehr aus dem Unterschlupf und gab einen Schuss in die Luft ab. »Tiger! Du elender Feigling!« Wieso war er nicht aufgewacht, als sich das Vieh an seinen Unterschlupf herangeschlichen und sich Jana und das tote Reh geholt hatte? Und wenn er so tief geschlafen hatte, warum hatte der Tiger dann nicht auch ihn getötet? Hatte er seine Anwesenheit etwa nicht gewittert?
Natürlich hatte er das.
Eine schockierende Erkenntnis drang jäh durch Dmitris verkaterte Benommenheit, schlug auf wie ein Stein auf dem Grund eines Brunnenschachts: Er saß in der Falle, zwei Tagesmärsche von seinem Dorf entfernt, ohne Hund und ohne Nahrung. Und irgendwo dort draußen lief ein Tiger herum, der Stahlseile durchbeißen konnte und seinerseits einen Plan zu haben schien.
Dmitris Blick folgte der Spur des Raubtiers, die sich zwischen den Bäumen in der Tiefe des Waldes verlor. Sie war von Blutstropfen gesäumt. Wenn er ihr folgte, wäre er dem Tiger schutzlos ausgeliefert. Nein, es war sicherer, hierzubleiben, bei seinem Lagerfeuer, seinem Gewehr und seinen Schlingenfallen.
Die Wodkaflasche war wie durch ein Wunder nicht umgefallen.
Mit zitternden Fingern schraubte Dmitri sie auf und genehmigte sich einen großen, beruhigenden Schluck.
Der Tiger würde zurückkehren. (Nur: Wann?)
Er musste sich bloß bereithalten.
Er spähte zu dem Blutfleck hinüber. Jana musste sich nachts aus seinen Armen gewunden haben. Bestimmt hatte sich der Tiger gegen den Wind angeschlichen und sich die Hündin geschnappt, ehe sie hatte Laut geben können.
Nutzlose Töle. Kann gut drauf verzichten.
Er räusperte sich, versuchte, sich auf den vor ihm liegenden Tag zu konzentrieren. Das vertraute Zittern, das seinen Körper nun jeden Morgen erfasste, setzte ein. Heute fühlte es sich anders an als sonst. Es war nicht nur das Verlangen nach Alkohol, das seine Hände zittern ließ. Doch er hatte keine Angst. Oh, nein. Dieser Tiger hatte einen großen Fehler gemacht.
»Einen großen Fehler!«, schrie er, doch seine Stimme kippte bei der letzten Silbe, knickte wie ein spröder Zweig.
Sollte er die Schlingen anders positionieren? Er entschied sich dagegen, legte sich stattdessen zurecht, wie er den Tag verbringen und sich wachhalten würde. Er musste seinen Holzvorrat aufstocken und ein neues Reh heranschaffen, als Köder, und damit er etwas zu essen hatte. Dmitri nahm einen weiteren großen Schluck und stierte trotzig in den Wald.
Der Wodka entfaltete seine wärmende Wirkung.
»Ich bin hier, du räudiges Vieh«, schrie Dmitri den Bäumen beinahe aufgekratzt entgegen. Der König des Waldes. Der Hauptgewinn. Das Biest hätte ihn töten sollen, als es die Gelegenheit dazu hatte. Eine zweite würde es nicht bekommen.
*
ZIELSTREBIGKEIT. Wenn es ein Wort gab, mit dem sich beschreiben ließ, wie der König des Waldes zwischen den Bäumen hindurch auf Dmitris Lager zuschnürte, dann dieses. Der König war riesig, eine Eigenschaft, die er an seine Tochter vererbt hatte, und von so außergewöhnlicher Schönheit, als wäre er einer anderen Welt entsprungen. Kein Millimeter war verschwendet, kein Detail entbehrlich. Jedes Härchen maß exakt die richtige Länge, jeder Schritt war den Anforderungen des Augenblicks absolut angemessen. Sollte ein Sprint vonnöten sein, konnte er sich mit einer Geschwindigkeit von siebzig Stundenkilometern fortbewegen, was allerdings noch keine fünf Mal in seinem Leben erforderlich gewesen war. Ein Sprint ist beinahe ein Eingeständnis des Scheiterns. Er eröffnet dem Beutetier Möglichkeiten. Ein Wildschwein kann sich schnell wie der Wind zwischen den Bäumen hindurchschlängeln. Ist die Geschwindigkeit erst entfesselt, dann ist sie alles, was dem Tiger noch bleibt. Bis dahin hat er seine Zielstrebigkeit, kombiniert mit der Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.
Der König hatte noch nie zuvor Jagd auf Menschen gemacht. Der Großteil seines gewaltigen Reviers, das einen schier unendlichen Landstrich unberührter Taiga einschloss, lag außerhalb ihrer Reichweite. Außerdem wusste der König von ihren Gewehren, die aus großer Entfernung verletzen und töten konnten; eine Tatsache, die sich tief in das Bewusstsein jedes Tieres im Wald eingegraben hatte. Sie war gewissermaßen in ihren Genen verankert, ebenso wie das Wissen um die Flüsse und die besten Stellen, an denen die Zapfen der Koreakiefer zu finden waren, deren Samen, gleich dem Plankton im Ozean, der Quell allen Lebens waren. Der König hatte die Wahrheit hinter dem Gewehr erkannt: Menschen waren wehrlose, plumpe Eindringlinge, die vergeblich versuchten, sich sein Reich untertan zu machen.
Allmählich wurde es dunkel. Seit dem ersten Besuch des Königs in Dmitris Lager waren zwei Tage verstrichen. Dass er so lange auf sich warten ließ, hatte den Jäger zweifellos verunsichert. Der Platz, am dem er seinen Unterschlupf gebaut hatte, war denkbar schlecht gewählt, umgeben von dichtem Wald, der einem Tiger perfekte Tarnung bot.
Der König glitt durch das Halbdunkel wie ein Hai.
Hätten wir das Pech, ihm in diesem Augenblick zu begegnen – Pech, weil es unsere letzte Begegnung auf Erden wäre – dann würden wir erstarren vor Erstaunen darüber, dass ein Geschöpf dieser Größe, dieser Strahlkraft, vor dem alle anderen Geschöpfe flohen, eine derartige Unauffälligkeit an den Tag legen konnte. Der König war die personifizierte Erhabenheit des Waldes. Das Licht von Sonne, Mond und Sternen, die Schatten, die mannigfaltig gefurchten Borken und uralten Ringe der Baumstämme, die Farbspektren von Schnee und Erde, all das vereinte der König in seiner Gestalt. Ihm zu begegnen hieß, eine fundamentale Wahrheit zu erkennen: In der Natur sind alle Lebewesen Inkarnationen voneinander.
Alle außer menschlichen Jägern. Sie sind eine Inkarnation von nichts, schwach und schlecht angepasst an den Wald. Dieses Wissen erlaubte es dem König, seine Herangehensweise noch weiter zu verfeinern. Der Jäger ist nicht Teil der Natur. Er verändert die Natur zu seinem Nutzen. Er verbrennt, zerhackt, gräbt auf, zerstört. Um seine Schwäche zu kaschieren, baut er Schlingen, Fallen, Gewehre. Er füllt die Wälder mit Abbildern seiner selbst, so wie in dem vor Menschen wimmelnden Dorf, in das kürzlich eines der Weibchen des Königs verschleppt und getötet worden war.
Der König gab nicht den geringsten Laut von sich, als er sich nun von hinten an Dmitris Lager heranschlich. Und hätte er es getan, so wäre dieser vermutlich nicht zu hören gewesen über dem melancholischen Gesang des Jägers, der mit zunehmender Dunkelheit leiser wurde.
»Tiger!«, schrie Dmitri in regelmäßigen Abständen. »Na los, zeig dich, du verfluchter Feigling!« Seine Entschlossenheit, wach zu bleiben, schwand dahin.
Seine Schlinge hatte dem König die Pranke aufgeschlitzt, doch die Temperaturen hatten die Entzündung glücklicherweise abgeschwächt, wenngleich sie auch den Heilungsprozess verlangsamten. Im Sommer wäre die Wunde binnen Stunden von Maden befallen gewesen. Schlingenfallen waren im Grunde nur für Wildschweine geeignet. Für die größte Raubkatze der Welt stellten sie bloß ein Ärgernis dar.
Der Schwanz des Tigers wippte hin und her, als wollte er ihn durch dunkle Gewässer vorwärtstreiben, wippte auf und ab, ein Gegengewicht zum weit nach vorn gereckten Kopf.
Wie gelang es diesem riesigen Geschöpf, sich ganz und gar lautlos zu bewegen?
Wenn sich der Wald in Gestalt eines Tigers manifestiert, ist die Verwandlung vollkommen. Ein Geräusch ist Unvollkommenheit und hat hier nichts verloren.
Der Jäger stocherte im Feuer und murmelte etwas in sich hinein. Das Gewehr hielt er in der Hand.
Er konnte einem beinahe leidtun – er hatte nicht begriffen, dass diesem Tiger, dem König, alles im Wald gehörte. Dass er der Wald war. Um über ein Gebiet von derart enormer Ausdehnung zu herrschen, müssen Grenzüberschreitungen rigoros geahndet werden. Dies ist für den König unumgänglich, um seine Stellung an der Spitze zu behaupten.
Der Schädel des Tigers, der nun hinter Dmitri aufragte, war so riesig, dass ihn ein erwachsener Mann nur mit beiden Armen hätte umspannen können. Sein gebieterisches Antlitz war von der gleichen Regungslosigkeit wie das eines Gottes.
In diesem Augenblick streifte der König jede Ähnlichkeit mit einem imposanten Hai – und mit sämtlichen anderen irdischen Lebewesen – ab.
Wenn du etwas nimmst, was mir gehört, wirst du dafür büßen.
Das ist Herrschaft.
Der König schlich über den Stamm der umgestürzten Koreakiefer.
Dmitri war nicht sonderlich empfänglich für Sinneseindrücke, und sein Wodkakonsum tat ein Übriges. Dafür war er ausgesprochen sentimental. Eben vergoss er in seinem Suff dicke Tränen: Er weinte um seine Hündin, seine Mutter, um die Prostituierten, deren Namen er nie erfahren hatte.
Es war, als wollte der Baumstamm dem König die Sache leichtmachen. Er schien sich zu ducken, als das Tier lautlos darüber hinwegglitt.
Ein kaum hörbares Seufzen. Ein Schneeklumpen, der sich löste.
Dmitri verstummte jäh.
Er wirbelte herum.
Vielleicht war er der größte Glückspilz auf Erden, denn in diesem Augenblick blieb für ihn die Zeit stehen. Der König riss das Maul auf, seine Fangzähne durchzuckten das Dunkel wie Blitze. Dmitri blieb keine Zeit für Angst. Keine Zeit, das Gewehr zu heben. Dmitri blieb nur noch eines: in das Antlitz des Göttlichen bis in alle Ewigkeit zu schauen, und in seinem Blut und jeder Zelle seines Körpers die wahre Ordnung der Natur zu spüren.
TEIL EINS
FRIEDA
EINS
Es musste ja irgendwann so kommen, dass ich mir eines Tages bei der Arbeit zu viel spritzen und auffliegen würde. Dabei war ich mittlerweile außerordentlich geübt – Beschaffung des pharmazeutischen Morphins durch unauffälliges Abzweigen von Tarnbestellungen. Konsum in meiner Lieblingstoilette, draußen im Tierhaus, wo es niemand bemerkte. Die Spritze aus der Packung, diskret entsorgt über den Abfall im Tierhaus, ein kurzes Zusammenkneifen der Haut. Dann Ruhe. Es war die Ruhe, nach der ich mich sehnte. Mit der kleinen, sorgsam berechneten Dosis Morphin konnte ich während der Arbeit ruhen, ohne spürbare Auswirkungen auf meine Tätigkeit, die darin bestand, Statistiken auszuwerten, Fotos zu schießen und mir akribische Notizen zum Mienenspiel der Bonobos zu machen, welches ich über Kameras vom Studio aus verfolgte.
Außerdem schien ich in meinem Ruhezustand etwas an mir zu haben, das auch die Bonobos beruhigte. Die bejahrte Matriarchin Zaire gesellte sich oft zu mir, wenn ich mich an die Gitterstäbe vor dem Schlafbereich lehnte. Eigentlich durfte ich während der Studienphasen nicht ins Gehege, weil es natürlich die Ergebnisse verfälscht, wenn man zu präsent, zu nahe dran ist. So wie in der Physik, wo sich das Licht unter Beobachtung anders verhält, sich in Wellen oder Teilchen verwandelt, wie um dem Zuschauer zu gefallen, so verhält es sich auch bei Bonobo und Forscherin, wenn letztere ihren Beobachterstatus preisgibt. Aber ich liebte Zaire, und sie liebte mich, und gegen Ende der Ruhephasen achtete ich nicht mehr so genau darauf, was erlaubt war und was nicht. Entscheidend war, sich nicht erwischen zu lassen, doch selbst das verlor an Bedeutung. Ich wurde dreister, schlich mich nachts ins Gehege, legte mich auf den Wall aus Heuballen, stets darauf bedacht, nicht von der Kamera erfasst zu werden. Die Bonobos ließen sich, miteinander schwatzend, in meiner Nähe nieder. Zaire setzte sich des Öfteren neben mich. Einmal legte sie mir die Hand auf den Arm, und hätte ich mich nicht so benommen gefühlt, hätte ich geweint. Ich hatte keine Angst, wenn ich ruhte. Es war die Angst, vor der ich in der Ruhe Zuflucht fand.
Oft blickte ich während meiner heimlichen Ruhephasen im Gehege in den schwarzen Nachthimmel empor und fragte mich, ob sich die Bonobos für die Sterne interessierten. Wunderten sie sich darüber, dass der ihnen vertraute Himmel in manchen dunklen Nächten von einem Meer aus winzigen Lichtpunkten übersät war? Bonobos sind intelligent und emotional auf eine Weise, die Menschen verstehen und messen können. Sie leben in Beziehungssystemen, die man als Kultur beschreiben könnte. Sie verfallen oft in tiefe Grübeleien. Und sie sind sich ihrer selbst bewusst. Fragten sie sich, was aus ihren Artgenossen wurde, wenn sie sahen, wie die Alten, Gebrechlichen erkrankten und starben?
Ich argumentierte, als der Zeitpunkt für verzweifeltes Argumentieren gekommen war, dass ich durch eben diese Ruhetrips im Gehege über etwas gestolpert war, das einen wesentlichen Teil unserer Forschung ausmachte. Meine Entdeckung bestand darin, dass Bonobos den Tod als Gruppe verarbeiten, mit einer Art Ritual. Dieses Verhalten hatte zuvor noch nie jemand beobachtet. Ihr natürlicher Lebensraum tief im Kongo ist nur schwer zugänglich, und die Erforschung von Bonobos in Gefangenschaft ist relativ jung. Etwas Ähnliches hatte man erst kürzlich über Elefanten herausgefunden. Die Reviere von Elefanten in freier Wildbahn sind riesig, und die Bedingungen lassen sich in Gefangenschaft nicht reproduzieren, deshalb waren ihre komplizierten Trauerrituale lang unentdeckt geblieben.
Eines unserer Bonobo-Mädchen war seit jeher kränklich gewesen. So etwas kommt vor. Manchmal spürt ein Tier von Geburt an, dass es am falschen Ort ist, im falschen Körper, dass es unter der Herrschaft eines anderen Wesens steht. Solche Exemplare wollen einfach nicht so recht gedeihen. Sie sind schwach und gebrechlich, manchmal entwickeln sie Krankheiten. Doch selbst wenn nicht, sind sie von kleinem Wuchs, wirken von Beginn an verloren und warten, so scheint mir, immerzu auf das Ende, an dem das Bild ihrer Selbsterfahrung und die Wahrheit, die irgendwo dort draußen liegt, im sternenübersäten Himmel vielleicht, zusammenfinden.
So war es bei Dembe, einer Urgroßnichte von Zaire. In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, im Dunklen zu sitzen, wie am Tor zur Unterwelt. Die anderen ließen sie schon bald in Ruhe, versuchten nicht mehr, sie in die Gruppe zurückzuholen. Gleich einem Bettler, an dem die Menschen geschäftig vorüberströmen, befand sie sich am Rande dessen, was die Gruppe ohne allzu großes Unwohlsein gerade noch ertragen konnte. Für unser Projekt war von Interesse, was das bedeutete. Dembe zeigte keinerlei Krankheits- oder Stresssymptome, zumindest keine, die die Kamera erfassen konnte, doch wenn ich im Gehege ruhte, registrierte ich durchaus etwas. In jüngster Zeit verfügte ich über die Wahrnehmung eines Beutetiers, als wäre ich dem Angriff kleinster emotionaler Signale hilflos ausgeliefert. Diese ließen sich zum größten Teil nicht belegen, sodass ich weniger wie eine Wissenschaftlerin klang, sondern eher wie ein wirrer Pilger, der von seinen Visionen berichtet. Beim Ruhen im Gehege war mir aufgefallen, dass Dembes Blick abwesend, aber nichtsdestotrotz recht friedvoll wirkte, als würde sie die Gruppe durch eine Glasscheibe beobachten. Ihre Mutter Kia schien sie vergessen zu haben und drehte sich meist von ihr weg. Doch ich wusste, sie hatte Dembe nicht vergessen. Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen.
Dembe war bald darauf gestorben. Sie hatte irgendwann einfach die Augen geschlossen und war im Schatten an die Wand gesunken. Binnen Sekunden war sie nur noch ein Bildnis ihrer selbst gewesen.
Die anderen Bonobos merkten sofort, dass der Tod eingetreten war: Von Aufregung erfasst riefen sich die Gruppenmitglieder allerlei zu und näherten sich Dembe, angeführt von Kia. Ihr Sohn, kleiner und jünger als Dembe, umkreiste sie und entblößte grinsend seine quadratischen weißen Zähne. Von meinem Ruheplatz auf den Heuballen aus nahm ich deutlich die Stimmung der Tiere wahr. Klebrig. Violett. Ich bekam Gänsehaut auf Armen und Brust.
Und dann griff Kia nach einer Gemüsekiste aus Holz, die ihr Sohn vorhin durch die Luft gewirbelt hatte, und pfefferte sie (von unten, um nicht dabei gefilmt zu werden – clever) an die Kamera, sodass die Linse zerbrach. Von den darauffolgenden Ereignissen gibt es nur meinen mündlichen Bericht, allerdings waren sie so außergewöhnlich, dass sie ohnehin keine Kamera umfassend hätte aufzeichnen können. Was für ein Jammer, dass ich zu diesem Zeitpunkt keine glaubwürdige Zeugin mehr war.
Sie trugen die tote Dembe in die Mitte des Geheges und räumten den Platz um sie herum frei. Dort lag ihr Körper dann, dunkel und amorph wie eine Qualle an Land.
Wieder schwappte die Stimmung der Gruppe wellenartig über mich hinweg. Meine Nackenhaare sträubten sich. Es war, als würden die Gefühle aus ihren offenen Mäulern sickern und miteinander verschmelzen. In mir machte sich eine Empfindung breit, als würde ein altes schmiedeeisernes Gatter oder ein Mühlrad herunterstürzen und eine rostige Fläche durchschlagen. Trauer hat etwas Metallisches. Dembes Leben war oxidiert, und wir alle konnten es spüren, schmecken, wie man das Eisen im Blut schmeckt.
Dann rannten sie im Gehege umher und suchten nach Material, um sie zuzudecken. Einen Fetzen Sackleinen, zerbrochene Bretter, ein paar Zweige. Sie begruben sie. Dieses Verhalten ist nicht unbekannt bei Wildtieren: Bären etwa bedecken tote Artgenossen mit Erde. Warum sie das tun, weiß man nicht genau. Doch bei Bonobos war derlei bislang nicht beobachtet worden. Zaire schwang sich auf ihren kräftigen Fingerknöcheln anmutig zu mir rüber. Die anderen folgten, und die Männchen, die etwas aggressiver waren, rupften an den Ballen, auf denen ich lag. Schließlich schubste mich Kias junger Sohn sogar leicht. Seine Augen blitzten auf wie Messer, seine Hand, schon jetzt so groß wie meine, fuhr wie eine Frettchenschnauze an meinem T-Shirt entlang.
Dieses wortlose Umkreisen (wortlos, aber nicht ohne eine eigene Grammatik; das Entstehen von Gewalt folgt einer strengen Grammatik, die manche von Geburt an lesen, andere von Geburt an schreiben können) erinnerte mich an die pubertierenden Gangs, die ich als junges Mädchen bisweilen passieren musste, diese Jungs, die schon Mann genug waren, um davon überzeugt zu sein, dass ihnen ein Teil von mir zustand – der Raum, den ich durchschritt, als Vorstufe dessen, was unter meiner Haut lag und was ich für mein Eigentum gehalten hatte. Ich bekam Angst und wälzte mich vorsichtig von meinem Ballen. Sie stürzten sich kreischend darauf, rissen ihn in Stücke und verteilten dann das Heu über Dembe, bis sie eine Erhebung in der Mitte des Geheges war, ein Heuberg, ein Scheiterhaufen. Wer weiß, was sie in freier Wildbahn getan hätten, oder wenn ihnen jemand – ich – ein Feuerzeug hingehalten hätte.
Ich hatte kein Feuerzeug. Ich hatte nichts als die Kleidung, die ich am Leib trug, Schlüssel und Ausweis und eine schmerzende Stelle in der Armbeuge. Sie ließen mich in Frieden, die Stimmung wurde aufs Neue klebrig, und sie sammelten sich in der von Dembes Leichnam am weitesten entfernten Ecke, drängten sich schnatternd zusammen, während Kia heulte – auch Bonobos weinen. Ich wurde von einer Welle der Erschöpfung erfasst, die so stark war, dass ich nicht anders konnte, als mich auf den Fliesen zusammenzurollen und zu schlafen.
So fand man mich am nächsten Morgen. Man beschuldigte mich, die Kamera demoliert zu haben. Man beschuldigte mich, den Leichnam mit Einstreu bedeckt zu haben. Kein Mensch interessierte sich für meinen Augenzeugenbericht. Und es war, wie konnte es anders sein, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte geglaubt, ich hätte meine Ruhephasen erfolgreich vertuscht, doch dem war nicht so, und meine Kollegen – insbesondere Cosima, die selbstgefällige Doktorandin – observierten mich schon seit geraumer Zeit.
Ich beschwor sowohl die Chefin der Personalabteilung als auch den Fachbereichsleiter, führte ins Rennen, dass mir die Tiere vertrauten, dass ich Dinge mitbekam, die unsere Kameras unmöglich erfassen konnten, dass meine Leistungsfähigkeit nicht gelitten hatte. Zugegebenermaßen stellten der Diebstahl von Morphin und die Einnahme während der Arbeitszeit grobes Fehlverhalten dar, daran gab es nichts zu rütteln, aber, aber, aber …
Professor Charlie Grace, mein Mentor und besagter Fachbereichsleiter, wirkte betroffen in dieser Besprechung, bei der man mich über mein Schicksal informierte. Neugierig beobachtete ich ihn. Die Chefin der Personalabteilung, Gina Irgendwas, trug einen Lippenstift, der sich blau zu verfärben schien, während sie sprach. Wir saßen in einem winzigen Besprechungsraum, in dem bisweilen auch Vorstellungsgespräche geführt wurden. Ich versuchte, mich zu verteidigen. Die zwei Pfeiler meiner Argumentation waren:
1. Meine Arbeit hatte nicht gelitten.
2. Mir war es seit dem schrecklichen Vorfall nicht mehr so gut gegangen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht von dem umfangreichen Dossier über meine Vergehen, das Cosima zusammengestellt hatte. Die Qualität meiner wissenschaftlichen Arbeit stand außer Frage. Ich war, und als ich ihn in diesem Moment ansah, konnte ich mir ein verstohlenes, zärtliches Lächeln nicht verkneifen, Charlies Liebling. Ich hatte nur getan, was ich tun musste, um Ruhe zu finden. Natürlich bereute ich es zutiefst und würde es nie wieder tun. Ich würde mir auf andere Art Hilfe suchen. Wir waren uns alle einig, dass das Entwenden und Spritzen von Morphin am Arbeitsplatz inakzeptabel war.
Dabei behielt ich für mich, was mein Herz schrie: Aber es ging mir noch nie so gut wie jetzt!
Genauso wie die Wahrheit, die sich wie ein Maulwurf durch die Finsternis in meinem Gehirn buddelte: Morphin klebt die Schuppen wieder auf meine Augen.
Ich wusste, dass meine Romanze mit dem segensreichen Narkotikum enden musste. Ich dachte, tief im Herzen würde Charlie verstehen.
Aber seine Bestürzung und Kühle waren äußerst besorgniserregend.
Die beiden lauschten meiner wohlformulierten Argumentation anstelle der sorgsam unterdrückten Wahrheit. Ich lehnte mich erschöpft und mit schmerzenden Gliedern zurück und fügte hinzu: »Aber was sie mit Dembe gemacht haben … Unglaublich! Es war verblüffend. Wir sollten uns eingehender damit befassen, Charlie. Ausdruck der Trauer bei Bonobos.«
Niemand sagte etwas. Charlie sah mich nicht an. Das Unbehagen in dem Kabuff, in dem wir saßen, wirkte auf mich wie ein inertes Gas, das mich zu ersticken drohte.
Gina hustete, ein Zittern ging durch ihre Satinbluse. »Wir haben folgendes Problem, Dr. Bloom: Aufgrund der Schwere Ihres Vergehens ist das Procedere, das bei Disziplinarverfahren für gewöhnlich zur Anwendung kommt, ausgeschlossen. Wir wissen, dass Sie … ähm … seit dem … Vorfall zu kämpfen haben. Auf Geheiß von Professor Grace haben wir über andere Verstöße hinweggesehen, weil er uns versichert hat, dass Sie auf dem Wege der Besserung sind, und weil er uns – völlig zu Recht – an unsere Fürsorgepflicht erinnert hat. Und natürlich kann ich Ihnen versichern, dass wir Sie sowohl fachlich als auch menschlich ungemein schätzen.«
Ihre Augen waren umrahmt von Metallic-Lidschatten, der eine Spur heller war als die Iris. Die Wirkung war sehr irritierend – ihr Gesicht erschien mir so groß wie unser Sonnensystem, ich blickte in zwei Saturne mit ihren Gasringen. Ich nahm keine wie auch immer geartete Wertschätzung von ihrer Seite wahr, weder für meine menschlichen noch für meine fachlichen Qualitäten.
»Doch die Ereignisse der vergangenen Nacht müssen, wie Sie sicher verstehen werden, die sofortige Kündigung zur Folge haben. Sie haben nicht nur auf dem Institutsgelände gegen das Gesetz verstoßen, sondern mit ihrem Verhalten auch unsere Sicherheit gefährdet, ganz zu schweigen von der potenziellen Verfälschung von Forschungsergebnissen. Wir versuchen, kreativen Menschen und ihrer exzentrischen Ader so weit als möglich entgegenzukommen« – an dieser Stelle verriet Ginas abstoßendes Lächeln, dass sie sich für das Musterexemplar einer kreativen Exzentrikerin hielt –, »aber diesmal sind Sie zu weit gegangen. Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe.«
Ich stierte Charlie mit offenem Mund an. »Charlie?«
Mein teurer Freund und Mentor holte tief Luft.
»Es tut mir leid«, murmelte er, an seine Knie gewandt.
Draußen sagte er: »Wenn du ein Arbeitszeugnis willst, schreibe ich es dir privat. Lass mich wissen, wie es dir geht.«
Ich sagte: »Darf ich noch einmal zu den Bonobos? Mich von Zaire verabschieden?«
Er schüttelte den Kopf. »Man wird dich nicht mehr reinlassen, Frieda.«
Ich hätte mir gern eingeredet, dass seine Augen feucht glänzten, als er mich umarmte und das Schlüsselband mit meinem Ausweis entgegennahm. Er beharrte darauf, dass ich meine Karriere nicht mit einer Busfahrt beenden dürfe, also stand ich verlegen auf dem Parkplatz herum, während er ein Taxi bestellte. Zu Hause angekommen, rief ich ihn an, um zu eruieren, was da gerade geschehen war. Fast hätte ich gefragt: Ist es zum Schlimmsten gekommen?, obwohl es zum Schlimmsten ja bereits vor ein paar Jahren gekommen war. Nichts konnte auch nur annähernd so schlimm sein. Ich wusste nicht recht, wie ich die Tatsache einordnen sollte, dass ich aufgrund groben Fehlverhaltens meine geliebte Stelle in diesem Pantheon verloren hatte. Es war, als würde ich meine CDs nach ihrer Bedeutung für mich ordnen, obwohl längst das Haus in die Luft geflogen war.