Martin Schäuble
Cleanland
FISCHER E-Books
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Es sind noch weitere Bücher von Martin Schäuble, auch unter dem Pseudonym Robert M. Sonntag, im Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag erschienen.
Alle im Text genannten Institutionen, Firmen und Produkte sind die Erfindung des Autors. Ähnlichkeiten mit Bezeichnungen von möglicherweise real existierenden Institutionen, Firmen oder Produkten sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Aenne Glienke, Agentur für Autoren und Verlage.
www.AenneGlienkeAgentur.de
Covergestaltung: Rupert Gruber
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0428-8
1. Reinheit bietet Schutz
2. Berührung ist gefährlich
3. Abstand führt zu Sicherheit
4. Kontrolle dient der Gesundheit
5. Gesundheit ist wichtiger als Freiheit
Ministerium für Reinheit
Die fremden Menschen rempeln mich an.
Sie drücken sich an mir vorbei.
Hosen, Röcke, Jacken und Shirts reiben aneinander.
Es riecht nach Schweiß.
Ein Kind schreit, ein Vater schreit zurück.
Vor mir steht ein Typ in schwarzer Lederjacke, seine Finger sind rot verschmiert. Etwas tropft auf den Boden, und er wischt mit den Schuhen darüber.
Würde mich jemand fragen: »Wie fühlt sich das alles an?«, wäre meine Antwort: »Keine Ahnung.«
Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht weil es einfach zu viel auf einmal ist.
Nie habe ich so oft über alles nachgedacht wie in den letzten Wochen.
Wie geht’s ihm? Und ihr? Und uns? Und mir?
Oder, noch komplizierter: Was will ich vom Leben, und was bin ich bereit, dafür zu geben?
Früher hatte ich auf alles eine Antwort. Na ja, auf fast alles.
Wieder schiebt sich einer viel zu nah an mir vorbei, er nuschelt mir etwas ins Gesicht und drückt sich durch die metallische Tür.
Und dann ist klar, ich muss jetzt mal raus zu den ganzen Menschen.
Muss ich wirklich?
Selbst da bin ich mir nicht mehr sicher.
Nur eines weiß ich: Ich vermisse meinen Schutzanzug, den Protector – für ein gesundes Miteinander©.
Der Protector strahlt im UV-Licht, und das sieht richtig gut aus. Hunderte Körper tanzen um mich herum, und alle leuchten. Von der Decke blitzt es in die eingenebelte Halle. Eine Welle aus roten und grünen Lichtstrahlen rollt durch den Raum.
In einer Glaskuppel über uns sehe ich DJ Space-Jane. Sie kennt mich so gut wie jeden in diesem Club. Denn alle tragen ja am Handgelenk einen Controller – damit jeder weiß, dass es dir gut geht©. Abziehen kann man ihn nicht, denn nur so können wir uns gegenseitig vertrauen.
DJ Space-Jane hat Zugriff auf diese Daten. Sie kennt meinen Herzschlag, den Blutdruck, die Körpertemperatur. Und sie kann ablesen, wie ich mich fühle. Mit dem Controller ist sie mir ganz nah.
Neben mir tanzt Samira, und ihr geht es richtig gut. Da muss ich nicht auf den Controller schauen, das sehe ich sofort. Wir sind schon ewig Freundinnen, sie ist meine offiziell registrierte Kontaktperson bei Social Health – zu viel macht krank©.
DJ Space-Jane legt jetzt unseren Lieblingssong auf. Samira richtet beide Arme mit ausgestreckten Zeigefingern zur Hallendecke. Sie spielt die Sängerin nach und kann das so gut wie keiner hier, obwohl der halbe Club den Text mitsingt.
Nach dem Song winkt Samira mich hinter sich her, zur Bar, dort sind zwei Plätze frei geworden. Sie leuchten grün. Wir ziehen die Schutzfolien von den Flaschen mit dem Maracujasaft und packen die Trinkhalme aus. So kann man problemlos mit dem Gesundvisier trinken, ohne es abzusetzen, was man logischerweise nicht darf. Dann lassen wir die Flaschen klirren.
»Auf diese Nacht!«, sage ich.
Samira antwortet etwas, was ich nicht verstehe bei der Musik. Aber ich folge ihrem Blick. Hinter mir sitzt ein Junge an der Bar. Er sieht süß aus, zugegeben, aber das trifft auf viele hier im Club zu. Schon leuchtet Samiras Controller, sie dreht ihr Handgelenk zu mir. Noah möchte dich kennenlernen. Probetreffen bei Social Health beantragen? Sie wischt die Anfrage weg, was ein ziemlich deutliches Nein bedeutet. Dem Jungen zwinkert sie aber aufmunternd zu. Der ist ihr nicht böse und lächelt zurück.
Kurz darauf leuchten die Controller von uns beiden. Es sind aber keine Anfragen von den Jungs hier, es ist ein Angebot des Clubs: Frisch desinfizierte Toilettenkabinen sind frei. Reservieren?
Wir nicken uns zu, trinken die Flaschen aus und gehen an unseren zwei Quadraten vorbei. Sie leuchten jetzt rot, weil wir die Fläche zum Tanzen gebucht haben und gerade nicht da sind. Reservieren muss jeder vor der Party, damit es nicht zu eng wird und man sich nicht zu nah kommt.
Auf dem Weg zur Toilette will ich einem Jungen ausweichen, der den Abstand nicht einhält. Ich rutsche dabei aus, falle auf den Boden und merke beim Aufstehen: Mein Protector ist am Knie mindestens einen halben Zentimeter aufgerissen.
Ich kann nicht mal sagen, ob er wirklich erst jetzt gerissen ist oder ob der Schutzanzug seit einer Stunde defekt ist. Ich habe es jedenfalls erst jetzt bemerkt. Samira geht vor mir, sie hat nichts von meinem Sturz mitbekommen. Die Tür zum Toilettenbereich erkennt ihren Controller und öffnet sich für uns.
Die Musik ist hier leiser, trotzdem sage ich es viel zu laut, ich schreie es fast schon, weil ich einfach nur Angst habe: »Mein Protector ist defekt!«
Ich zeige auf die Stelle am Knie, Samira beugt sich zum Riss und schaut ihn sich genauer an. »Tut’s denn weh?«
»Nein. Aber wir müssen es melden.«
Samira richtet sich wieder auf. »Wenn du meinst.«
»Natürlich!«
Ich kontaktiere über den Controller den Support des Clubs und sage, was passiert ist. Zwei Minuten später steht ein Cleaner vor mir. Er ist bestimmt zwanzig Jahre älter als ich. Auf seinem Protector leuchtet auf Brusthöhe sein Vorname, Nick, darunter steht, was bei allen Cleanern an dieser Stelle steht: Cleaner – auf uns ist Verlass©.
»Mach dir keine Sorgen, Schilo.« Meinen Namen liest er von seinem Controller ab. »Wo ist der Riss?«
Ich zeige auf mein Knie.
»Wann war das?«
»Vor ein paar Minuten vielleicht.«
»Vielleicht?«
Nick weiß natürlich wie ich, dass in so einem Fall eine ungenaue Antwort eine schlechte Antwort ist. Je länger es den Riss gibt, desto mehr Leute könnten sich angesteckt haben. Also, falls ich einen Infekt habe oder so. Es sind quasi alle, die mir seit dem Riss begegnet sind oder auch nur in meiner Nähe waren. Wer weiß schon, welcher Protector außer meinem noch Mängel hat.
Nick zieht einen Koffer mit einem roten Kreuz von der Halterung an der Wand. Er packt einen Scanner aus und checkt die Stelle an meinem Knie. Danach sprüht er etwas darauf, und es fühlt sich kalt an. »Noch das hier, dann sind wir fertig.«
Der Riss ist überklebt mit einer schwarzen Schutzschicht.
»Das hält nicht für die Party, aber …« Nick schaut auf seinen Controller und sieht, wo ich wohne. »Aber bis du bei dir bist. Du hast es ja nicht weit.«
Er wischt über das Gerät am Handgelenk. »Ein Taxi wartet draußen auf dich.«
Ich beiße mir auf die Lippen und bekomme immerhin ein »Danke« heraus. Natürlich würde ich lieber im Club bleiben.
»Ich muss dich jetzt leider sperren.« Nick schaut zu Samira, dann wieder auf seinen Controller. »Und du bist ihre registrierte Kontaktperson?«
Das war keine echte Frage, er kann ja alle Daten einsehen. »Mhm …«, antwortet Samira daher ziemlich genervt.
Nick prüft alles. »Du hast achtundvierzig Minuten neben ihr getanzt, und du warst mit Schilo an der Bar was trinken.«
Samira verdreht die Augen. »Du musst mich auch sperren, ich weiß.«
Nick wischt wieder über seinen Controller.
Bei uns blinken eine Sekunde später die Anzüge rot, vom Kopf bis dorthin, wo der Protector in den Schuhen verschwindet. Auch die vom Ganzkörperanzug geschützten Finger leuchten. Nur das Gesundvisier verfärbt sich nicht.
Ein roter Protector bedeutet persönlicher Sicherheitsmodus, wir müssen in Quarantäne, also nach Hause, und zwar sofort. Durch das rote Blinken sind alle rechtzeitig vor uns gewarnt.
Wir gehen an unseren Tanzquadraten vorbei, zwei andere Cleaner reinigen die Fläche mit einem Desinfikator. Ein ähnliches Modell, nur etwas kleiner, haben wir zu Hause.
Am Ausgang des Clubs hat sich eine Schlange gebildet. Gelbe Linien am Boden zeigen die Mindestabstände. Ich erkenne ein paar von den Leuten, die um uns herum getanzt haben. Alle Schutzanzüge blinken rot, alle müssen in Quarantäne. Unser Barkeeper steht ebenfalls dort. Er dreht sich zu uns. »Ist eure Party auch schon vorbei?«
»Leider«, sage ich.
Mehr bekomme ich nicht raus, es ist mir zu peinlich. Zum Glück weiß er nicht, dass ich schuld bin an seinem Sicherheitsmodus. Und mir tut das total leid.
Der Barkeeper nickt ernst. »Wir haben einen dreijährigen Jungen.« Er betrachtet seinen rot blinkenden Anzug. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«
Ich würde ihn gern beruhigen, doch ich kann mir selbst nicht sicher sein. Vielleicht habe ich mir etwas geholt, vielleicht breitet sich genau jetzt in meinem Körper eine Krankheit aus.
Samira klatscht in die Hände, was mit den Protectorfingern leicht gedämpft klingt. »Und wo feiern wir jetzt weiter?«
Das ist Samira! Egal, was passiert, sie lässt sich nicht unterkriegen. Der Barkeeper lacht, ich schmunzele. Wir wissen alle, es war ein Spaß.
Am Ausgang steht eine Mitarbeiterin vom Club, links und rechts von ihr zwei stämmige Typen vom Sicherheitsdienst.
»Achte die GaR!«, sagt sie zu jedem, der an ihr vorbeigeht.
Alle antworten, mal leiser, mal etwas lauter, aber keiner lässt die übliche Redewendung aus.
»Bleib gesund!«, sagt Samira.
Keine zwei Meter später sagt sie noch etwas, sie spricht leiser und undeutlich. Was bei mir ankommt, kann sie nicht wirklich gesagt haben. »Wenn was krank macht, dann die GaR!«
»Wartet!«, ruft die Taxifahrerin. »Einen Moment!«
Sie zieht eine Schutzfolie über die Rückbänke. Auf die Innenseite der Türen sprüht sie Antisept – Reinheit ist Gesundheit©. Ihr Controller hat sie auf uns vorbereitet. Sie wusste, dass wir blinken, bevor sie uns gesehen hat.
Samira und ich warten drei Autolängen entfernt. Die Fahrerin lässt die Türen hinten offen und steigt vorne ein. Zwischen der Rückbank und ihr verläuft sowieso eine Hygienescheibe. Sie hat nichts zu befürchten.
Die Fahrerin schaut auf ihren Controller. Sie kennt unsere Adressen. »Wer will zuerst nach Hause?«
Wir schauen uns an. »Du zuerst«, sagt Samira, und ich habe nichts dagegen.
Ich will so schnell wie möglich diesen kaputten Protector loswerden und mich zu Hause noch einmal gründlich durchchecken lassen.
Das Taxi summt an den Hochhäusern vorbei. Samira und ich sitzen im nötigen Abstand nebeneinander. Sie streamt über ihren Controller die Musik von DJ Space-Jane live aus dem Club. Es könnte ein Vorwurf sein, weil die Party so früh zu Ende ist für uns. Nach dem Motto: Das verpassen wir gerade deinetwegen!
Aber so ist Samira nicht, und sie weiß, für den Riss kann ich nichts. Jeder Protector kann mal kaputtgehen. Sie will nur, dass wir eine gute Zeit im Taxi haben. Und DJ Space-Jane hilft uns dabei.
Samira schaut mich besorgt an. »Du zitterst.«
»Mir ist kalt, ich bin müde, die Stelle tut weh …«
Sie hält den Kopf schräg und lächelt. »Du wirst das auf keinen Fall überleben.«
»Auf keinen Fall«, wiederhole ich und muss auch ein wenig grinsen.
Samira und ich spielen mit falschen Übertreibungen, seitdem wir uns in der Schulbasis kennengelernt haben. Der Typ, der zwei Quadrate neben uns getanzt hatte, war echt mies, bedeutet echt süß. Die Bioprüfung letzte Woche war superleicht, heißt richtig schwer. Das ist für uns zu einer Art Geheimsprache geworden.
Seit der fünften sitzen wir im Prüfungsraum in derselben Reihe, so haben wir uns kennengelernt. Sonst sieht man sich in der Schulbasis ja nicht. Wir machen Homelearning – mehr Abstand ist schlauer©.
Das Taxi hält, und die Fahrerin dreht sich zu uns nach hinten. »Die Erste von euch hat es geschafft. Achte die GaR!«
»Bleiben Sie gesund«, antworte ich, lächele Samira zu und steige aus.
Bezahlen muss ich nicht. Im Sicherheitsmodus übernimmt das Ministerium für Reinheit die Fahrtkosten. Schließlich soll man auf dem schnellsten Weg nach Hause, ohne andere anzustecken. Wenn kein Taxi verfügbar ist, muss man einen Krankenwagen rufen.
Der Lift bringt mich ins oberste Stockwerk des Hochhauses, und zusteigen kann keiner. Nicht weil ich im Sicherheitsmodus bin. Der Lift hält nie zwischendurch an, weil man ja in keinem Lift den gesunden Abstand einhalten kann. Der Raum ist dafür viel zu klein.
Nachdem meine Mutter den Job im Ministerium für Reinheit bekommen hat, sind wir hierhergezogen. Die Wohnung ist größer als unsere letzte.
Ich stelle mich in die Schleuse der Wohnung, und der Home-Controller checkt mich durch. Ich schiebe meine Schuhe in die Reinigungsbox, ziehe den Protector aus und hole mir einen neuen Schutzanzug aus der Schublade. Er ist nicht so dick, und ich trage ihn nur zu Hause.
Der Home-Controller ist fertig, und auf meinem Controller am Handgelenk kann ich das Ergebnis ablesen: Erhöhte Körpertemperatur. Der persönliche Sicherheitsmodus wird auf 48 Stunden verlängert.
Die Schleuse öffnet sich, und ich bin endlich in unserer Wohnung. Ich gehe in mein Zimmer, setze mich aufs Bett, und da meldet sich Samira. Ihr Gesicht erscheint an der Wand.
Samira sitzt noch im Taxi, sie verbeugt sich übertrieben vor mir. »Danke schön!«
»Wieso?«
Sie klopft auf ihren Controller, und ein Finger berührt eine der Kameralinsen. Kurz ist es schwarz.
»Meine Quarantäne wurde gerade auf 48 Stunden verlängert.«
»Ich bin schuld. Ich weiß.«
»Was ist los?«, fragt Samira.
»Ich hab Fieber.«
»Fieber?«
»Na ja, erhöhte Temperatur.«
»Was jetzt, Fieber oder erhöhte Temperatur?«
Ich schicke ihr meine Körperdaten zu, und es dauert einen Augenblick, bis sie weiterspricht. »Quatsch. Das ist doch nur, weil du so Panik schiebst. Dir geht’s gut.«
Ich höre, wie meine Mutter durch die Schleuse tritt und an meinem Zimmer vorbeiläuft. Sie weiß nichts von meiner frühen Rückkehr. Ich wollte ja eigentlich viel länger im Club sein.
Ich schweige und höre genauer hin, irgendwas ist anders als sonst. Die Mikrowelle piepst, ein Stuhl wird gerückt. Doch da ist noch ein Geräusch. Weint meine Mutter etwa?
»Alles klar?«, fragt Samira, weil ich so lange nichts sage.
»Meine Mutter ist gerade von der Arbeit zurück.«
»So spät? Am Wochenende? Dachte, sie arbeitet im Ministerium.«
»Tut sie auch.«
»Arbeitet man da so lange?«
»Sie ist neu da. Wahrscheinlich will sie es allen zeigen.«
Samira ist inzwischen in ihrer Wohnung angekommen. Ihre Eltern arbeiten wie die meisten von zu Hause aus. Im Flur zwischen Küche und Bad hat jeder seine Arbeitsbox – dein Job ist sicher©.
Wenn ich Samira besuche, sitzen sie meistens dort drinnen. Jetzt ist es viel zu spät, eine der Boxtüren steht offen. Ich sehe einen kleinen Schreibtisch und Monitore. Ihre Eltern arbeiten nie so lange wie meine Mutter.
Einerseits nervt das Samira natürlich, weil ihre Eltern viel Zeit für Fragen haben: Wie war die Prüfung? Heute schon gelernt für die nächste? Hilfst du mal beim Aufräumen? Die ganze Staffel auf einmal geschaut? Typische Elternfragen eben.
Aber Samiras Eltern fragen auch, wie es ihr geht. Warum sie gerade traurig oder glücklich ist. Und solche Fragen vermisse ich ehrlich gesagt bei meiner Mutter schon manchmal. Sie nervt nur!
Samiras kleiner Bruder rennt durchs Bild. Obwohl ihr Protector sofort rot blinkt, wirft er sich Samira in die Arme.
»Hey, Oscar!«, rufe ich. »Deine Schwester ist im Sicherheitsmodus.«
Ich liebe den wilden Kerl. Oscar ist acht Jahre alt und die noch lebhaftere und frechere Variante seiner Schwester. Ich hätte gern so einen kleinen Bruder. Doch meine Mutter würde mit so einem Jungen verzweifeln.
»In Quarantäne? Echt?«, fragt Oscar.
Sein Protector blinkt jetzt natürlich auch rot. Er ist seiner Schwester zu nahe gekommen.
Ich schüttele den Kopf.
»Ojeeee!«, ruft Oscar. Er fasst sich an den Hals, hechelt nach Luft, verdreht die Augen und lässt sich auf den Boden fallen.
Samira zieht ihren Bruder hoch, und im Hintergrund ruft ihre Mutter. »Oscar! Geh sofort wieder ins Bett!«
Oscar lässt den Kopf hängen. »Schon gut.«
Er hüpft zur Tür. »Gute Nacht, Schilo!«
»Gute Nacht, du Schauspieler!«
Oscar dreht um, rennt auf Samiras Controller zu und leckt über die Linse. Seine Zunge hinterlässt einen grauen Streifen.
»Du Schwein!«, ruft Samira und wischt mit ihrem Protector die Spucke weg.
Ich kann sie wieder klar sehen. »Wann schläft Oscar eigentlich?«
»Nie«, sagt sie gespielt ernst.
»Nimmt er nicht seine Pille?«
»Seine was?«, fragt sie, und das macht sie extra. Sie tut so, als wüsste sie von nichts.
»Also, deine Familie ist echt schräg.«
»Wieso?«, fragt Samira und schielt in die Kamera. Sie bläst ihre Backen auf und winkt mir zu. Ich schüttele lachend den Kopf. »Bis morgen!«
Ich will sehen, was mit meiner Mutter los ist. Weint sie wirklich? Im Flur brennt kein Licht, mein Anzug blinkt stärker auf dem Weg in die Küche. Also muss meine Mutter dort sein. Mein Protector will sie davor warnen, mir zu nahe zu kommen. Und meine Mutter ist nicht wie Oscar, sie hält sich an alle Gesetze. Sonst hätte sie es nicht ins Ministerium für Reinheit geschafft.
Ich öffne die Küchentür, und meine Mutter weint tatsächlich. Ihr Kopf lehnt an der Hygienescheibe.
Und hinter dem fingerdicken Glas ist noch jemand wach.
Ich bleibe im Türrahmen stehen. Meine Mutter sitzt ohne Gesundvisier an der Hygienescheibe und wischt sich die Tränen mit einem Taschentuch aus dem Gesicht. Ich habe sie lange nicht mehr weinen gesehen.
Sie hatte einmal eine schlimme Phase, kurz nach der Trennung von meinem Vater, und das ist ewig her. Da habe ich sie jeden Abend in ihrem Schlafzimmer schluchzen hören. Sie wollte allein sein, behauptete sie zumindest, denn alles sei gut. Obwohl ich klein war, erkannte ich die Lüge. Keiner will seine Mutter weinen sehen.
Nun ist es wieder so weit, wenn auch nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern in der Küche. Immerhin ist sie hier nie allein. Hinter der Hygienescheibe ist jemand, der auf sie wartet, selbst wenn es so spät ist wie heute.
Sie streichelt über das Glas, und auf der anderen Seite drückt eine kleine, faltige Hand mit schwarzen Flecken dagegen. Ich stehe immer noch im Türrahmen. Von hier sieht es aus, als ob sich die Hände berühren.
Die Hygienescheibe trennt die Küche vom Saferoom – dem Raum der Einsicht©. In diesem Raum hinter der Glaswand lebt meine Oma, also die Mutter von meiner Mum. Schließlich gehört sie mit ihrem hohen Alter zur Risikogruppe. Sie muss gesund bleiben, denn selbst harmlosere Krankheiten können für sie gefährlich werden.
Die kleine, faltige Hand löst sich vom Glas und winkt mir wie in Zeitlupe zu. Meine Oma hat mich entdeckt, was nicht schwer ist, weil ich ja inzwischen blinke wie ein Krankenwagen.
Meine Mutter dreht sich zu mir und zuckt zusammen. »Schilo-Schatz. Ich dachte, du bist im Club mit …« Sie greift zum Gesundvisier auf dem Tisch. Es dauert keine drei Sekunden, und sie hat alles an ihrem Kopf befestigt. »Du bist im Sicherheitsmodus?«
Ich bleibe, wo ich bin, und erzähle meiner Mutter, wie es passiert ist. Meine Oma kann über ihren Controller mithören, es ist so, als wäre die Scheibe gar nicht da. Wir schließen sie nie von etwas aus. Nur manchmal, wenn sie ihre Ruhe haben will, deaktiviert sie die Lautsprecher ihres Controllers.
Viele spezielle Geräte machen ihr Zimmer, den Saferoom, zum sichersten Ort überhaupt. Sie reinigen das Wasser gründlicher, sie filtern die Luft, töten Bakterien und Viren ab. Oma muss daher im Saferoom keinen Protector tragen. Sie kann sich mit den altmodischen Kleidern ihrer Zeit frei bewegen, also innerhalb des Saferooms. Altmodisch würde ich ihr gegenüber natürlich nie sagen. Und sie hat in ihrem Raum auch ein eigenes Bad mit einer eigenen Waschmaschine.
»Wie geht es deinem Bein?«, fragt meine Oma.
»Tut nicht weh. Aber der Riss im Protector und …«
»Ja, doch. Sicher ist sicher«, sagt Oma. »Jetzt bleibst du erst mal in der Wohnung.«
Meine Mutter wischt über ihren Controller. »Und was ist mit deiner erhöhten Temperatur?«
Sie hat natürlich auch auf meinen Controller Zugriff. Früher hat sie dort öfter nachgeschaut, inzwischen lässt sie mich meistens in Ruhe. Ich denke nicht, weil sie mir vertraut, sondern weil sie einfach keine Zeit mehr für so etwas hat.
Meine Oma schaut besorgt. »Fieber?«
»Ist nur die Aufregung, meint Samira.«
»Meint Samira?«, sagt meine Mutter. »Das ist deine registrierte Kontaktperson und keine Ärztin.«
Ich schaue auf meinen Controller. »Jetzt ist die Temperatur sowieso wieder normal.«
Meine Mutter steht auf. »Keine Diskussionen! Du bist im Sicherheitsmodus – nur zu Hause bist du sicher.« Sie hält noch einmal ihre Hand an die Scheibe und lächelt Oma zu. »Und du gehst jetzt auch schlafen.«
Mum verschwindet im Schlafzimmer. Ich hole mir aus dem Kühlschrank einen Erdbeerjoghurt und setze mich an den Tisch. Der endet an der Hygienescheibe und wird dahinter im Raum der Einsicht fortgesetzt. Es fühlt sich so an, als würde ich mit meiner Oma zusammen an einem großen Tisch sitzen. Obwohl wir natürlich nicht dasselbe essen können. Ich kann ihr ja nicht einfach ein Joghurtglas durch ihre Schleuse reichen.
Die Schleuse zum Saferoom muss versiegelt sein. Meine Mutter hat mir von alten Menschen erzählt, die