Für die beiden W.’s
Liebe: Auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat.
Jean Anouilh
‹You must remember›, remarked the King,
‹or I’ll have you executed.›
Lewis Carroll, Alice in Wonderland
Heimat sind Leute, zu denen man zu Fuß gehen kann
und bei denen man dann einfach nur rumsitzt
und nicht geistreich sein muss.
Fanny Müller
Es war ein Dienstag – und einer dieser spülwassergrauen Novembertage, an denen die Wolken wie eine Herde dicker Seekühe über Hamburg herumtrudeln. Es roch nach Schnee, und der Nordwestwind fegte zischend durch jede Häuserspalte. Entsprechend frostiger Stimmung radelte ich gegen neun durch die Stadt Richtung Hafen und versuchte, meinem noch schlaftrunkenen Hirn ein paar praktische Informationen zu entlocken wie etwa: Was mache ich heute eigentlich?
Erst mal gehst du arbeiten bei Hans. Und heute Nachmittag musst du dann zu Herrn Hübchen, dem größten aller Chefredakteure, informierte mich mein Hirn und ließ damit meinen Stimmungspegel abrupt ins Minus sinken. Du sollst ihm Themenvorschläge machen. Für die Weihnachtsausgabe von «Goldene Tage», der Illustrierten für die besten Jahre. Und denk dran, näselte mein Hirn und grinste hämisch: Herzzerreißend soll es sein. Du weißt schon – Schicksale, die bewegen. Ich zog eine Grimasse. Der journalistische Weitblick Wilfried Hübchens entsprach etwa dem meines Föhns.
Wut brauste in mir auf. Auf das Leben und seine Zumutungen. Und auf das miesepetrige Wetter dieser ewig klammen Hafenstadt, in die ich nicht geboren war. Ich trat fester in die Pedale, duckte mich unter dem Nordwestwind, der in mein Gesicht stach wie mit feinen Eisnadeln. Daher hätte ich ihn beinahe nicht gesehen. Den Schatten.
Auf einer Plakatwand in St. Pauli ragte er meterhoch hinauf und tanzte. Oder so was Ähnliches. Eigentlich war es eine riesige dünne Schattenfrau. Sie hatte ihre Arme erhoben wie für einen unsichtbaren Tanzpartner und trug einen langen Rock, der melancholisch um ihre Beine schwang. Fast meinte man, von irgendwo die Klänge eines Dreivierteltaktes herüberwehen zu hören, zu dessen Tumtata Tumtata die Schattendame ihren einsamen Walzer tanzte. Zum Leben erweckt wurde sie von einem dicken roten Sonnenball, der hinter ihr melodramatisch am Firmament versank. Nosferatu meets Bacardi-Werbung, dachte ich noch im Vorbeiradeln und dass mir das Ganze vage bekannt vorkam.
Die Schatten, Dido, du musst die Schatten sehen – sie sind das Wesentliche.
Schnell, schnell weiter. Schon kamen die ersten Hafenkräne in Sicht, bunte Schemen, die aus einer dichten Nebelsuppe ragten. Der Herbst lag wie ein großes, graues Laken über der Elbe und verschluckte alles mit seinem diesigen Atem – die Werften, den Michel, die Landungsbrücken, an denen sich die Barkassen drängelten. Das einzig Erfreuliche an dieser Tag gewordenen Depression war die Luft: Es roch nach Salzwasser, Fisch, Schiffsdiesel, geröstetem Kaffee. Hafenduft – das beste Parfüm, das ich kenne.
Ich radelte hinunter bis zum Fischmarkt, blieb stehen und starrte ein paar Momente lang gedankenblind in den grauen Morgen – bis eine Möwe auf einem Tampen neben mir mit lautem Gekreische ihren Hering verteidigte. Da endlich machte es klick in meinem Kopf, und mir wurde klar, was ich da gerade gesehen hatte. Wessen Schatten auf dem Plakat an der Häuserwand seinen einsamen Walzer getanzt hatte. Ich spürte, wie es in mir ganz leer wurde – als täte sich ein riesiger Raum auf, angefüllt mit: nichts. Auch mein Gehirn schien jede normale Tätigkeit eingestellt zu haben, blinkte nur noch rot für «Störung».
Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und fuhr zurück. Langsam, im Schritt-Tempo, so als müsste ich einen ganzen Pferdewagen hinter mir herziehen. Und im Grunde war es auch so. Es war mein halbes Leben, das ich hinter mir herzog – oder zumindest ein wesentlicher Teil davon.
Ein kurzer Blick auf die Schriftzüge des Plakats genügte, um zu bestätigen, was ich im Grunde bereits gewusst hatte: Ich selbst war es, die da tanzte. Ein Schatten meiner selbst – aufgenommen vor vielen Jahren, in einem anderen Leben, einer anderen Zeit. Ich spürte Tränen, die mir die Luft abdrückten, und versuchte zu schlucken. Doch der Hals war zu eng, alles schien plötzlich zu eng. Ich setzte mich wieder aufs Fahrrad und sauste los, als seien Höllenhunde hinter mir her.
Als ich in die kleine Straße oberhalb des Hamburger Hafens einbog, bekam ich zumindest wieder Luft. Auch die in Sturmstärke durch meinen Kopf wirbelnden Bilder beruhigten sich so weit, dass ich beim Bäcker an der Ecke in ganzen Sätzen Franzbrötchen und ein Käse-Baguette ordern konnte. Und dann war es zum Glück auch nicht mehr weit, bis ich den kleinen Laden im Erdgeschoss eines gelben Jugendstilhauses erreichte, das hinter zwei Platanen fast verdeckt war: Hans Petersens «Antiquariat für Bücher aller Art» – wo ich zwei Tage in der Woche jobbte.
Das mit dem «aller Art» ist so ein Spleen von Hans. Eigentlich verkauft er hauptsächlich Krimis, Heftromane und Kochbücher aus einer Ära, als die deutsche Hausfrau Broccoli noch für einen Zwergstaat im Südpazifik hielt. Doch nachdem ihm im Jahr zuvor ein pensionierter Studienrat eine Kiste mit einer zerfledderten Schiller-Gesamtausgabe, einer Mengenlehre-Fibel sowie einer DDR-Version des «Struwwelpeters» überlassen hatte, sah Hans das geistige Spektrum seines Sortiments jäh erweitert. Also war er auf eine Leiter gestiegen und hatte mit grünem Acryllack «Bücher aller Art» auf das Ladenschild gepinselt.
Unter diesem Schild nun saß Lord Nelson und begehrte Einlass. Lord Nelson war ein Kater. Zumindest dem Anschein nach. In Wirklichkeit war er ein Tyrann. Ein Kater gewordener Charakterfehler, dessen jäh wechselnde Launen selbst hartnäckig miez-miez rufende Katzenfreunde eines Besseren belehrten. Sobald ich die Tür aufgeschlossen hatte, quetschte er sich an mir vorbei in Richtung Sofa – einem Möbel, das ausschließlich von ihm bewohnt wurde. Wir anderen mussten mit Holzstühlen vorliebnehmen – wir waren ja auch nur Menschen.
Ich kochte Kaffee und begann, eine neue Bücherlieferung zu sortieren, bis Hans kam und irgendwie komisch war. Und wenn Hans komisch ist, ist das schon ziemlich komisch. Denn Hans Petersen ist der netteste Mensch, den ich kenne. Trotz seiner beachtlichen Größe fühlt man sich bei ihm niemals klein. Wenn er einen mit seinen blauen Hans-Albers-Augen ansieht und sein langes Gesicht, das mehr Furchen hat als ein Kartoffelacker, zu einem Grinsen verzieht, ist die Welt einfach in Ordnung. An diesem Morgen aber druckste er komisch rum.
«Hans, was ist los?»
Er setzte sich. Brummte ein wenig.
«Nu ja», fing er an und nestelte an seinem senffarbenen Pullover herum – Hans ist schrecklich farbenblind. «Du hast ja nie viel über ihn gesagt …»
Jetzt wurde er tatsächlich etwas rot im Gesicht.
«Aber ein-, zweimal hast du seinen Namen erwähnt und … ach, Deern, so was fällt ja selbst einem ollen Döskopp wie mir auf», sagte er in seinem typischen Hamburger Singsang – mit Vokalen so lang wie der Mississippi.
«Hans?»
«Na ja, am besten liest du es einfach selbst.»
Er reichte mir das Hamburger Abendblatt.
Es war gleich auf der Titelseite: ein Foto, das fast die halbe Seite einnahm. Darauf ein knorriger alter Baum in einer kargen Landschaft. Sein Schatten malte ein seltsames Muster auf den Boden, als wäre der Baum in einem Spinnennetz gefangen. Meine Hände zitterten, als ich die Zeitung aufschlug. Seite drei. Da war die Ankündigung zum Titelbild:
Schattenwege
Die erste Ausstellung von Lukas Lenzendorf seit acht Jahren.
Ab Mittwoch in der Galerie «Kunstpark West»
Ich hatte es natürlich gewusst. Von dem Moment an, als das Plakat mit der Schattenfrau in mein Bewusstsein gesickert war. Und ich hatte es all die Jahre gefürchtet. Unter dem Artikel war ein Foto. Seine Augen waren noch dieselben. Wach. Nett. Ein wenig spöttisch. Mehr Falten drum herum.
Er trägt eine Krawatte. Mein Gott, wie kann er eine Krawatte tragen? Er hasst Krawatten. Ich lauf doch nicht als Pinguin herum, hatte er immer gesagt. Die haben aber keine Krawatten, hatte ich erwidert, die haben einen Frack. Ach, du weißt schon, was ich meine. Und dann hatte er gegrinst, bis kleine Lichter in den eisblauen Augen tanzten.
Er hatte also eine Ausstellung. Seine erste große Ausstellung seit Jahren. Na schön. Was scherte es mich? Sollte er doch. Ich reichte Hans die Zeitung zurück.
«Danke.»
Er legte den Kopf schief. «Och Deern, nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Muss ein ganz dummer Bengel sein, dass er so eine wie dich …», er wedelte mit der Hand durch die Luft, «na, was immer euch zwei passiert ist.»
«Danke, Hans. Ist schon okay. Ich räum jetzt noch die Kiste hier aus, dann gibt’s Frühstück, ja?»
«Hm.»
«Hans?»
«Hm?»
«Es ist wirklich okay. Lange her. Nur noch eine Erinnerung, sonst nichts.»
«Na, denn is ja gut, Lütte.»
Hans sah mich noch immer forschend an, doch zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Ladentür, und eine gedrungene Gestalt schob sich in den Laden.
«Spooky-Ears», seufzte ich und stupste Hans an die Schulter: «Du bist dran.»
Keiner von uns beiden wusste, wie die alte Dame wirklich hieß. Sie kaufte seit Jahren ihre Arzt-Romane bei Hans. Was an sich eine Sache von fünf Minuten wäre. Doch Spooky-Ears, so genannt wegen ihrer großen, spitz zulaufenden Mr.-Spock-Ohren, machte daraus stets ein Spektakel in zwei Akten.
Zunächst rollte sie ihre großen Eulenaugen hinter der Hornbrille und zischte durch gelbe Vorderzähne finstere Schmähungen auf den Wetter-Verantwortlichen – «Petrus, diese Flitzpiepe». Danach kam sie direkt zum zweiten zentralen Thema ihres Daseins: die Abenteuer von Dr. med. Hubertus Wiedemann und seiner hinreißend rothaarigen Assistentin.
Während sie nun Hans das letzte Abenteuer des schönen Hubertus kolportierte, verzog ich mich in den hinteren Teil des Ladens, um weiter Kochbücher auszupacken. Nach den Kochbüchern kamen die Lexika. Schließlich noch ein paar zerlesene Krimis. Und die ganze Zeit über sagte ich mir, dass die Welt vollkommen in Ordnung sei. Absolut vollkommen in Ordnung.
Dann aber, als ich mich nachmittags auf den Weg zu Herrn Hübchen machen wollte, sah ich diese Frau. Sie saß an einer Ecke, war in eine Decke gehüllt und murmelte vor sich hin. Vor ihr stand ein alter Emaille-Topf und ein Schild, auf das jemand «Danke» gekrakelt hatte. Der Topf war leer. Ich holte Geld aus meiner Hosentasche. Als meine Münze in den Topf klimperte, hob die Frau den Kopf. Sie war nicht so alt, wie ich erwartet hatte. Sie war überhaupt nicht alt. Das Einzige an ihr, was alt war, waren ihre Augen. Mit diesen zu alten Augen sah sie mich einen Moment lang prüfend an. Dann holte sie etwas unter ihrer Decke hervor. Es war eine dieser Spielzeugfiguren aus den Überraschungseiern, ein kleines Plastikkrokodil. Sie reichte es mir. Ich nahm es und sah sie ungläubig an. Doch sie beachtete mich nicht mehr, versank wieder unter ihrer Decke und in einen leisen Singsang.
Ich aber starrte auf das Tier in meiner Hand, drückte leicht auf seinen Bauch, woraufhin es langsam und etwas hakelig seine orange-rosa Plastikzunge herausschob. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, fühlte, wie sich kalter Schweiß in meinem Nacken bildete. Denn es war unleugbar: Wie es seine spitzen Plastikzähne bleckte und mich albern angrinste, glich es aufs Haar einem anderen Spielzeugkrokodil – jenem, das zu Hause in meiner Schreibtischschublade lagerte. Und das mir kein anderer als Lukas Lenzendorf vor neun Jahren auf einem Amsterdamer Flohmarkt gekauft hatte.
In meinem Kopf begann es zu surren, als wäre ein Schwarm Bienen darin gefangen. Wie ferngesteuert setzte ich mich aufs Fahrrad, radelte los. Eigentlich sollte ich Richtung Altona fahren, doch mein Termin, Herr Hübchen, ein neuer Auftrag – all das war nicht mehr wichtig. Entscheidend schien nur eins: wegzukommen. Schnell. Egal wohin.
Irgendeine masochistische Ader in mir hatte das Steuer übernommen und lenkte mich ins Karolinenviertel. Direkt in die Marktstraße, wo das Café Oriental als zentraler Sammelplatz für Langschläfer und Tagträumer diente – und in dem Lukas und ich über Jahre samstags gefrühstückt hatten. Ich fuhr weiter, trat schneller in die Pedale, streifte mit den Augen die Kitty-Bar und andere Orte, an denen Erinnerungen auf mich schossen wie kleine spitze Pfeile. Ich beschleunigte noch weiter, sauste im Affentempo durch die Stadt. Immer weiter und weiter ohne Sinn und Verstand – so wie eine Kassettenspule sich einfach weiterdreht, auch wenn das Band darin längst gerissen ist.
Irgendwann, als der Verkehr weniger wurde, der Lärm der Stadt erträglicher und die Luft klarer, merkte ich, dass ich doch ein Ziel gehabt hatte. Dass ich einer Rettungsinsel gleich den Ort einer bestimmten Erinnerung aufgesucht hatte, die nur mir, mir allein gehörte: Es war ein sandfarbener Stein, von Jahrmillionen im Meer glatt geschliffen wie Papier. M stand darauf. M wie Max – wie mein Sohn. Mein Sohn, der nie auf dieser Welt gelebt hatte. Von dem nur ein paar Ultraschallbilder geblieben waren und dieser Stein – unter einer Kastanie auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.
Ich blieb lange dort. Blieb stehen, bis ich meine Zehen vor Kälte nicht mehr spürte und auch meine Gedanken endlich eingefroren waren.
Das Heulen kam erst abends. Zu Hause. Dann aber heulte ich wie ein Kind, laut und wütend, voller Groll auf ihn, auf mich, auf alles. Ich machte eine Flasche Rotwein auf. Es half nicht. Bis zehn war ich bei Whiskey angelangt und brüllte: «Zum Teufel mit dir!» Dann nahm ich das Plastikkrokodil, das die Frau mir geschenkt hatte, und schmiss es an die Wand. Es machte plopp und fiel auf den Boden. Das war auch ungefähr das Geräusch gewesen, das mein Herz gemacht hatte – acht Jahre zuvor. Und man sollte meinen, dass das Zeit genug ist. Zeit genug, um beim Anblick eines Plastiktiers nicht mehr in Tränen auszubrechen. Das sagte ich mir jedenfalls, als ich ins Bett ging. Es war ein Uhr morgens. Vorher hob ich noch das Krokodil vom Boden auf und stellte es auf die Fensterbank. Neben die schon etwas schlappen roten Tulpen.
Mich weckte ein wiederkehrendes Humpf-humpf-humpf, untermalt von durchdringendem Surren. Es klang, als fänden nebenan Drohnen-Testflüge statt. Doch es war nur Kiki. Kiki und ihr Heimtrainer.
Kiki ist meine Mitbewohnerin. Außerdem ist sie Psychologin, Frühaufsteherin und ein Fitnessfreak. Das alles zusammen kann zuweilen eine Plage sein. Ich sah auf die Uhr. Es war acht.
«Da, Post für dich», sagte die Plage, als ich etwas später in die Küche schlurfte, um den Tag mit einem Alka Seltzer zu beginnen. «Steckte neben der Zeitung im Briefkasten.»
Ich nahm den Umschlag, das sprudelnde Alka Seltzer und entschied, dass mein Organismus noch nicht bereit für den Aufrechtgang war.
«Danke», murmelte ich und ging zurück ins Bett.
Der Umschlag war länglich und aus teurem weißem Büttenpapier. Die Adresse hatte jemand mit winzigen und so akkuraten Buchstaben aufs Papier gezwungen, dass diese wie kleine Soldaten aussahen. Ich hatte die Handschrift noch nie gesehen. Dafür kannte ich die Hand auf dem Foto, das auf der Karte im Inneren des Umschlags prangte – es war meine eigene. Sie lag auf einem weißen Kissen und sah aus wie immer: groß, knochig, kurz geschnittene Nägel. Von links fiel ein Schatten auf die Hand. Ich wusste, dass es die Zweige des Ahornbaumes waren, der in Lukas’ und meiner früheren Wohnung vor dem Schlafzimmerfenster gestanden hatte. Auf dem Foto aber sah es aus, als sei meine Hand gefangen. In einem Netz aus Schatten.
«Na, toll», murmelte ich, «was kommt als Nächstes? Das Foto aus Kreta, wie ich schlafend vor einem Zelt liege, eine leere Ouzoflasche im Arm?»
Auf der Innenseite der Karte stand lediglich:
Schattenwege
Fotografien von Lukas Lenzendorf
Vernissage: Mittwoch, 15. November 2006, 19 Uhr
Das war heute. Mein Kopf hämmerte. Draußen krähte ein Hahn. Ich kannte den Hahn. Er lebte in den Schrebergärten, die an unseren Wohnblock grenzten. Er war alt, schon etwas zuselig in den Federn und nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Und er krähte, wann immer es ihm passte, ein heiseres, leierndes Krähen, das sich anhörte wie ein Wecker, dem die Batterien schwach geworden sind.
Kiki kam ins Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Sie war frisch geduscht und bester Laune und schnappte sich sogleich die Einladungskarte.
«Soll ich mitkommen?», fragte sie.
«Wohin?»
«Na, dahin.» Sie wedelte mit der Einladung. Dann zog sie ihre sorgsam gezupften Augenbrauen zusammen. «Du gehst doch hin, oder?»
Ich zuckte mit den Schultern und rollte mich unter der Bettdecke zusammen.
«Dido, du kannst nicht immer nur davonlaufen», sagte sie und setzte ihr strenges Therapeutinnengesicht auf.
«Ich kann machen, was ich will», nuschelte ich in mein Kopfkissen.
Sie seufzte. Laut und vernehmlich. Dann verschwand sie und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück.
«Da, du Schlumpf», sagte sie und legte das Buch neben mein Kopfkissen, «lies das mal.»
Ich blinzelte.
«Was ist das? Wieder eines dieser ‹Hilf-dir-selbst-sonst-hilft-dir-keiner›-Ratgeberbücher?»
Sie grinste nur und ging in die Küche, wo sie sich lautstark «Dancing Queen» singend des Abwasches annahm. Kiki ist ein herzensguter Mensch, aber ihre Energie, ihre Zielstrebigkeit und vor allem ihr ungebrochenes Verhältnis zu Pop-Schnulzen der 70er sind zuweilen sehr anstrengend.
Ich fingerte nach dem Buch. Der Titel lautete «Frauen-Power für Powerfrauen», und das Foto auf dem Einband erinnerte an das alte Filmplakat von «Kohlhiesels Töchter» mit Lilo Pulver. Links war eine Frau zu sehen, die als Heidi-Klum-Klon durchgehen konnte, rechts daneben dieselbe Frau. Nur sah sie jetzt dank eines grottenhässlichen Make-ups und einer Frisur, die ein Außerirdischer gestaltet haben musste, aus wie Tiffy aus der Sesamstraße. Ich blätterte lustlos darin herum, dann quälte ich mich aus dem Bett und ins Bad. Dort klatschte ich mir eine Handvoll Creme ins Gesicht, wedelte mit einer Puderquaste darüber und türmte zum Abschluss meine störrischen Locken auf dem Kopf zusammen. Das Ergebnis war niederschmetternd und erinnerte an einen toupierten Königspudel. Jede Powerfrau wäre umgefallen vor Neid.
Dreißig Minuten später saß ich auf meinem Fahrrad und strampelte an der Elbe entlang. Der Tag war so grau wie sein Vorgänger. Dicke Nebelfrauen tanzten auf dem Fluss, dessen Hochwasser träge an die Kaimauern schwappte. Der Wind heulte schniefend von Nordwest, zwei Möwen zankten sich mit lauten Gekreische.
Deprimierender kann ein Tag nicht werden, dachte ich.
Doch er konnte. Schließlich radelte ich dem ärgerlichsten Termin der Woche entgegen: dem Treffen mit Chefredakteur Wilfried Hübchen, das am Tag zuvor dem heulenden Elend zum Opfer gefallen war.
Kurz vor Altona tauchte auf der rechten Seite jener Betonklotz auf, der mir zwischen den grauen Fischhallen ringsherum immer wie ein verirrter Zirkusclown vorkam. Sein Erbauer musste entweder farbenblind oder ein spätes Blumenkind gewesen sein. Riesige prielblumenartige Gebilde leuchteten hier orange und rosa von der Fassade und scherten sich einen Schnurz um die vornehme hanseatische Zurückhaltung. Daher schien es mir immer überaus passend, dass hier der Mann residierte, für den konstante Selbstüberschätzung quasi zum guten Ton gehörte: Wilfried Hübchen war nicht nur der Chefredakteur von «Goldene Tage», einer windigen Seniorenpostille, sondern litt auch an galoppierendem Größenwahn. Beides zusammen machte mir den Mann etwa so sympathisch wie einen Haufen Klapperschlangen.
Zu meinem ewigen Verdruss aber hatte er mir trotzdem und unleugbar ein Talent voraus: Er wusste, wie man Geld macht. Viel Geld. Mit ihm als Chefredakteur und König des Anzeigenverkaufs in Personalunion lief das Blatt so prächtig, dass er nicht nur anständige, sondern unverschämt gute Honorare zahlen konnte. Ich nannte sie «Bestechungsgeld». Denn die Texte, die er dafür verlangte, waren so windelweich und glatt, dass man beim Tippen eigentlich vom Stuhl hätte rutschen müssen.
Ebenso deprimierend aber war, dass im Jahr zuvor ein akuter finanzieller Engpass mir nur zwei Optionen gelassen hatte: in einem Bussi-Bär-Kostüm über den Rathausmarkt zu trotten und Flyer zu verteilen oder einen gut bezahlten, aber grässlichen Schreibauftrag anzunehmen – bei «Goldene Tage», der Zeitschrift für die besten Jahre, geleitet von Wilfried Hübchen.
Und so saß ich auch jetzt – eine gute halbe Stunde später – wieder einmal vor seinem albern großen Schreibtisch und nippte Cappuccino, während Herr Hübchen die Chance ergriff, mir einen besonders nervigen Auftrag aufzuschwatzen.
«Meine Liebe», setzte er an, «Sie sind doch eine gebildete Frau.»
Meine Nackenhärchen stellten sich auf. Wenn er sich auf schmierige Komplimente verlegte, folgten in der Regel die schlimmsten Aufträge. Er nestelte an den Knöpfen der Lederweste herum, die er über seinem rot-weiß gestreiften Hemd trug. Eine Kluft, die er sich aus irgendeinem US-Film abgeguckt hatte. So einem, in dem die Journalisten immerzu in Cocktailbars herumstehen und irrsinnig witzige Dinge sagen, statt den ganzen Tag müde auf einen Bildschirm zu starren und in vertrocknete Wurstbrötchen zu beißen wie normale Journalisten.
«Wissen Sie, ich hätte da so einen Auftrag …», fuhr er fort.
Ich ahnte Schlimmes: eine Reportage über den Bingo-Verein der Senioren in Groß-Borstel. Eine schmissige Abhandlung zum Thema «Erste Hilfe bei Hämorrhoiden». Oder ein Porträt über Freddy Quinn. Ja, das musste es sein. Das große Freddy-Quinn-Porträt.
«Also …» Er räusperte sich. «Sie haben sicher schon einmal von ihr gehört. Elisabeth Matthissen.»
Ich zuckte die Schultern. «Da muss ich passen, Herr Hübchen.»
«Na, macht nichts», sagte er großzügig, «man kann nicht alles wissen.»
Nein, du Kretin. Und wenn du nicht gleich mit der Sprache rausrückst, mach ich Kleinholz aus dir.
«Sie ist eine unserer großen Heimatdichterinnen.»
Oh Gott. Ich wusste es. Eine Heimatdichterin. Ruckelnde Reime zum Ruhme der norddeutschen Tiefebene. Oden an Eichenwald und Erbsensuppe. Vorgetragen beim geselligen Nachmittag der Trachtengruppe. Und ich mittendrin, neugierig betuschelt: «Guck mal, Hanni, das ist das Fräulein von der Presse.»
Ich schüttelte mich.
«Hören Sie, Herr Hübchen. Ich weiß nicht, ob ich die Richtige dafür bin.»
Er winkte ab. «Nicht immer so bescheiden, meine Liebe. Sie haben das doch studiert, ich meine, Sie kennen sich doch aus mit Literatur, nicht wahr?»
«Ja, schon, aber …»
«Na, sehen Sie, ich hab doch gleich gewusst, dass Sie die Richtige sind.»
Er legte seine Karpfenlippen an die Tasse und schlürfte Cappuccino-Brühe ein. Dann schob er einen Keks hinterher und redete kauend weiter.
«Was wir brauchen, ist ein großes Porträt mit allen Schikanen – Hintergrund, Werdegang und Fotos natürlich, aber nicht zu intellektuell, eher so ’n bisschen was …»
«Mit Herz», ergänzte ich.
Seine Schweinsäuglein funkelten. «Sehen Sie, ich wusste, dass wir uns verstehen.»
«Bis wann brauchen Sie es?», fragte ich resigniert. Denn ein kurzes Überschlagen meines Kontostandes hatte ergeben, dass dies weder Zeit noch Ort war, um meine Vision Realität werden zu lassen: eines Tages Wilfried Hübchen zu sagen, was ich von seinem Käseblättchen hielt, dann dieses Büro zu verlassen und niemals, niemals wiederzukehren.
«Oh, das hat Zeit.» Er schlürfte noch mehr Kaffee. «In zwei Wochen?»
«Na gut», sagte ich, «dann also die Heimatdichterin. Gibt es irgendwelche Unterlagen? Frühere Interviews, Artikel?»
Er rutschte etwas nervös auf seinem Stuhl herum. «Äh. Nein.»
«Gar nichts? Ich dachte, die Dame ist berühmt?»
«Jaja, das schon. Aber sie scheint den Medien etwas … nun, abwartend gegenüberzustehen.»
«Wie meinen Sie das?»
Er beäugte mich wie ein großer tumber Truthahn. «Na ja, soweit ich weiß, hat sie noch nie ein Interview gegeben.»
«Vielleicht wollte ja nie jemand eines machen?»
«Wo denken Sie hin? Das Hamburger Abendblatt soll schon x-mal angefragt haben, und die Kollegen vom Stern haben es auch schon versucht.»
Ich musste grinsen – wie immer, wenn Hübchen von den «Kollegen vom Stern» sprach. Gäbe es eine Medaille für konsequente Selbstüberschätzung, der Mann hätte die Brust voll damit.
«Soso, die große Heimatdichterin mag also keine Journalisten. Und wie soll ich das dann machen? Mich als Avon-Beraterin tarnen?»
Er strahlte. «Na, sehen Sie. Sie haben doch immer gute Ideen.»
Ich verließ fluchtartig sein Büro.
Zehn Minuten später radelte ich zurück Richtung Hafenstraße und führte Selbstgespräche: Heimatdichtung … mein Gott … bist du nicht ganz bei Trost? Heimat. Heimat. Was für ein altmodischer Begriff. Ist doch alles global heute, die Welt ist ein Dorf und …
Heimat ist dort, wo das Herz spricht.
Wer hatte das gesagt? Eichendorff? Tucholsky? Oder war es Heine? Heine, der Vertriebene? Der in seiner «Matratzengruft» in Paris jämmerlich gestorben war, die Sehnsucht nach Hamburg im Herzen?
Heimat ist dort, wo das Herz spricht.
Ein Bild schob sich in mein Bewusstsein. Es war eine Küche, in der eine rundliche Frau mit Schürze stand und bleiche Wurstscheiben auf einem Stück Graubrot verteilte. Später hatte sie mich ins Bett gebracht. Die Frau mit den Apfelbäckchen, die nach fremdländischen Gewürzen duftete und mich gern an ihren gewaltigen Busen drückte. Sie war immer da gewesen. Als mein erster Milchzahn rausfiel. Als mein Hamster starb. Und als Bettina Dippmann mir auf dem Nachhauseweg ein Bein gestellt und mich in die Pfütze geschubst hatte. Für fünf Mark die Stunde machte Consuelo Gonzales unsere Wohnung sauber und war mir die Mutter, die ich dringend brauchte. Meist war die Tür zum Kinderzimmer erst spätabends noch einmal aufgegangen, eine schmale Gestalt war ins Zimmer gehuscht und hatte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gedrückt. Ich hatte dann immer so getan, als wenn ich schon schliefe.
Ich schob das Bild beiseite, notierte aber im Geiste: Mutter anrufen. Mutter. Die schmale Frau mit der Brille, die nur selten von ihren Büchern aufsah.
Das Tuten der Queen Mary 2 riss mich aus meinen Gedanken. Ich stoppte einen Moment und beobachtete, wie sich der als Schiff getarnte Hotelberg langsam aus dem Hafen Richtung Nordsee schob – wahrscheinlich mit mindestens zweitausend Exemplaren von «Goldene Tage» an Bord. Ich lächelte verkniffen und winkte meinen Lesern, die auf dem Oberdeck so emphatisch die Arme schwenkten, als gäbe es einen Preis dafür.
Am Fischmarkt angekommen, entschied ich, dass Zeit genug für einen Kurzbesuch bei Hans war, und fuhr zum Pinnasberg hoch. Schließlich wartete zu Hause nur eine weitere Langzeit-Baustelle meines Lebens auf mich: meine Doktorarbeit. Es gibt Grenzen dessen, was man an einem Morgen ertragen kann.
Als ich das Antiquariat betrat, stand Hans am Fenster und beäugte dort seine kleine Wetterstation.
«Moin, Deern», murmelte er geistesabwesend, «wat mokst du denn hier? Is schon Freitag?»
Ich zuckte mit den Schultern. «Ich war gerade bei Hübchen und dachte, ich muss jetzt mal mit ’nem normalen Menschen reden.»
Er nickte verständnisvoll.
«Kaffee s-teht in der Küche.»
Ich holte mir eine Tasse, zog zwei meiner drei Lagen Pullis aus und setzte mich neben ihn ans Fenster.
«Na, Hans, was sagt die Wetterfee?»
Er rieb sich das Kinn und fixierte jetzt den Himmel, an dem sich in der grauen Watte dunkle Wolkengebirge aufbauschten.
«Er wird wohl bald kommen», murmelte er.
«Wer?», fragte ich, obwohl ich das Spiel schon aus anderen Jahren kannte.
«Na, der Blanke Hans, Deern, er dreht den Wind auf Nordwest und bringt den S-turm in den Hafen», brummte Hans.
Ich nickte und bemühte mich um eine mitfühlende Miene. «Aber sicher, und den Klabautermann bringt er gleich mit, was?»
Hans guckte beleidigt und zog sein Ich-bin-ein-alter-Seebär-Gesicht. «Brauchst gar nicht so zu grienen, Deern, den Blanken Hans gibt’s wirklich. Jetzt im Spätherbst treibt er die Nordsee die Elbe hoch. Wirst schon sehen, dann ist wieder Land unter am Fischmarkt.»
«Hu, hu», machte ich und wandte mich einem etwas unmittelbareren Problem zu, das dicht neben mir asthmatisch miaute. Lord Nelson war mit einer für seine Gewichtsklasse erstaunlichen Leichtigkeit auf die Fensterbank gesprungen, litt in der Folge aber unter akuter Atemnot.
«Hans, dein Kater ist zu fett.»
«Hm.» Hans tätschelte Lord Nelson den Rücken. «Das mag wohl sein. Aber was meinst du, wie gnatterig der wird, wenn ich ihn auf Diät setze?»
Ich nickte. «Grauenhafte Vorstellung.»
Dann machte ich mich, da ich ja nun schon mal da war, daran, eine neu eingetroffene Kiste mit alten Schulbüchern zu inspizieren. Als ich in einem der Deutschbücher Storms «Die Stadt» entdeckte, fiel es mir wieder ein: Heimatdichtung.
«Du, Hans», fragte ich, «kennst du eigentlich eine Elisabeth Matthissen?»
Hans, der inzwischen an seinem Schreibtisch saß und sich über der Buchführung die Haare raufte, antwortete nicht. Ich blickte von der Kiste hoch. Hans sah mich an, sein Gesicht war völlig reglos.
«W… wen?» Sein rollender Bassbariton hörte sich seltsam fipsig an.
«Elisabeth Matthissen. Muss so ’ne alte Dame sein, die Heimatdichtung schreibt. Hübchen will, dass ich ein Porträt über sie mache.»
Hans sagte nichts weiter, stand auf und verschwand im Lager. Ich starrte ihm hinterher – zu verblüfft, um anderes zu tun. Lord Nelson aber sprang auf Hans’ Schreibtisch und entschied, dass das Kassenbuch die beste Wahl war, um seine Krallen daran zu schärfen. Ratsch machte es, und Papierschnipsel flogen durch die Luft.
«Na, wenigstens du bist ganz der Alte», sagte ich und ging hinüber, um das Buch zu retten.
Unterdes kam Hans zurück, mit zwei schmalen zerlesenen Büchern in der Hand. Dem Einband nach zu urteilen mussten sie einige Jahrzehnte alt sein.
«Hans, dieser Kater macht, was er will. Und das ist meistens Blödsinn.»
«Ach, lass ihn doch.»
Lord Nelson blinzelte mich boshaft an.
«Hier», sagte Hans und drückte mir die beiden Bücher in die Hand, «eins habe ich noch zu Hause. Kann ich dir aber morgen mitbringen, wenn du willst.»
Die Bücher waren von Elisabeth Matthissen.
«Ich wusste gar nicht, dass du auf Heimatdichtung stehst.»
Er wurde etwas rot, mied meinen Blick und setzte sich wieder an den Schreibtisch.
Ich blätterte in einem der Bände und begann zu lesen. Und was immer ich erwartet hatte, nicht das: eine karge, fast harsche Prosa, die mich an Böll oder Borchert erinnerte. Es waren Kurzgeschichten, die in den ersten Nachkriegsjahren spielten. Alle Titel hatten mit Hamburg zu tun. «Elbe 17», «Landungsbrücken», «Teufelsbrück». Deswegen also hatte Hübchen von Heimatdichtung gesprochen. Ich war mir sicher, dass er nie eine Zeile von Elisabeth Matthissen gelesen hatte. Denn das hier war alles Mögliche, aber bestimmt keine Heimatdichtung.
Mit wenigen Worten wurde ein Alltag, ein Leben beschworen, das im Zeitalter von Internet und Fertigpizza so weit weg schien wie der Dreißigjährige Krieg. Es ging um Männer, die ein Bein, ein Auge oder gleich den Verstand verloren hatten. Es ging um Hunger, Überleben und um Fragen, für die es keine Antworten gab. Als Widmung vorne hatte die Autorin ein Zitat von Mascha Kaléko gewählt: «O Röslein auf der Heide», stand da, «dich brach die Kraftdurchfreude.»
Ich schaute nach den Veröffentlichungsdaten. Erstauflage 1952, drei Jahre später der nächste Band. Warum hatte ich nie von ihr gehört?
Vergessen, murmelte ich, wie so viele. Untergegangen. Erst in der bleiernen Stille der Nachkriegsjahre, dann im Wir-sind-wieder-wer der 50er und 60er, wo für solche wie sie kein Platz mehr war: eine Heimatdichterin ohne Heimat.
Ich legte das Buch zur Seite und sah zu Hans hinüber. Er war über seine Unterlagen gebeugt, kritzelte irgendetwas in ein Notizbuch. Aber ich wusste genau, dass er mich beobachtet hatte.
«Hans?»
«Mh?»
«Wer ist Elisabeth Matthissen?»
Er sah hoch, wurde wieder rot. Dann steckte er sich seine Pfeife in den Mund, ohne sie anzuzünden, und kaute darauf herum. Ich wartete.
«Ich kannte sie mal», sagte er schließlich.
«Aha.»
«Ist lang her.»
«Ja?»
«Sehr lang.» Er nickte vor sich hin, zündete die Pfeife schließlich doch noch an.
«Und?»
«Wir haben uns aus den Augen verloren», er paffte zwei Rauchkringel in die Luft, «wie das eben so ist. Nach und nach findet man nichts mehr wieder. Kugelschreiber. Regenschirme. Erinnerungen.»
«Ist das so?», fragte ich.
Seine Augen waren auf mich gerichtet, sahen aber durch mich hindurch, starrten blicklos in eine Vergangenheit, in der, da war ich plötzlich ganz sicher, Elisabeth Matthissen eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hatte.
«Aber das solltest du doch wissen», konterte er einen Moment später und hielt den Artikel aus dem Hamburger Abendblatt hoch, der noch immer auf seinem Schreibtisch lag. Den Artikel über Lukas Lenzendorfs Ausstellung. «Nur noch eine Erinnerung, sonst nichts. Das waren doch deine Worte, nicht?»
«Touché», sagte ich und schluckte.
Als ich eine halbe Stunde später meine Jacke anzog, um endlich nach Hause zu radeln, drückte Hans mir ein weiteres Buch in die Hand. Es war ein nachtblauer Leinenband. Mit Gedichten von Heinrich Heine, gebunden in einem kleinen altmodischen Format mit Goldschnitt an den Seiten. Das Buch sah ziemlich mitgenommen aus. Hans räusperte sich, starrte auf einen Punkt neben mir an der Wand.
«Kannst du ihr das geben, wenn du sie siehst?»
«Mit sie meinst du … Elisabeth Matthissen?»
Hans nickte, und wieder ging sein Blick durch mich hindurch. Mit zögerlichen, unsicher wirkenden Schritten stakste er zu seinem Schreibtisch zurück. Dann drehte er sich noch einmal um und sah mir endlich richtig in die Augen.
«Dido?»
«Ja?»
«Mach nicht denselben Fehler.»
«Hm?»
Er deutete auf das Buch in meiner Hand. «Ich habe zu lange gewartet.»
Was mich auf dem Nachhauseweg am meisten beschäftigte, war nicht die Tatsache, dass es da irgendeine Frau in Hans’ Vergangenheit gab, die wunderbare Prosa schrieb. Es war die Tatsache, dass Hans lupenreines Hochdeutsch gesprochen hatte. Etwas, was ich in den fünf Jahren, seit ich ihn kannte, nicht ein Mal erlebt hatte.
Zu Hause klebte die Einladung zu Lukas’ Ausstellung am Badezimmerspiegel. Kiki hatte sie mit zwei Tesastreifen dort befestigt und einen roten Post-it-Zettel danebengehängt, auf dem stand: «Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist?»
Ich schmierte mir zwei Nutellabrötchen und setzte mich an den Schreibtisch. Es war halb sechs. Die Vernissage war um sieben. Draußen krähte wieder der heisere Hahn.
Armer Kerl, dachte ich, komplett verrückt geworden. Aber das passiert schon mal. Dass man durchdreht.
Ich schmiss den Computer an, klickte herum, bis die Textstelle meiner Doktorarbeit erschien, an der ich schon vor drei Tagen verzweifelt war. Sie lautete: «Ottos Mops trifft zute Tute – trieb Dada die Lyrik an die Grenzen des Sagbaren?»
Auch ich schien mit meiner Arbeit, an der ich seit Jahren herumschrieb, an die Grenzen des Sagbaren gekommen zu sein. Ich starrte auf den Bildschirm, versuchte, etwas Konstruktives zu denken. Doch alles, was mir einfiel, war: Katzenfutter. Ich hatte vergessen, es für Hans zu besorgen. Genervt patschte ich auf die Tastatur, fabrizierte ein «hfjhsöghljsthömpf» und nickte. Endlich ein Wort, das meiner Stimmung wirklich Ausdruck verlieh.
Nein. Ich überlegte nicht ernsthaft hinzugehen. Nein. Ich würde da nicht hingehen. Womöglich wäre auch Katja da. Katja mit dem silbrigen Gelächel. Und Katja, die … Nein, ich würde da nicht hingehen.
Ich schluckte, öffnete den Browser und gab die Webadresse der Galerie ein, in der die Ausstellung stattfand.
Als nächstes sah ich mich einem Schwarz-Weiß-Foto gegenüber, das mein zehn Jahre jüngeres Ich von hinten zeigte. Mein Ich trug eine schwarze Lederjacke, schluffige Jeans und schwarze Doc Martens. In dieser Montur stand es breitbeinig vor einem jener romantischen Blicke auf das Elbsandsteingebirge, die Caspar David Friedrich einst zu seinem «Wanderer über dem Nebelmeer» inspiriert hatten.
«Rock the romantics» hatte Lukas das Foto untertitelt. «Krawallschachtel über dem Nebelmeer» wäre vielleicht passender gewesen, dachte ich und musste wider Willen grinsen. Nur zu gut erinnerte ich mich noch an den Nachmittag, an dem das Bild entstanden war: Lukas und ich hatten uns gestritten wegen Ich-weiß-nicht-mehr-was, und am Ende hatte ich mich bockig auf den Aussichtspunkt gestellt und beschlossen, nie mehr mit ihm zu reden.
Mein Grinsen gefror allerdings, als ich das nächste Foto betrachtete. Es zeigte die Prager Karlsbrücke – menschenleer und mitten in der Nacht. Ihre Laternen warfen lange Schatten auf die Moldau, während die Brückenheiligen sich wie Scherenschnitte gegen einen nachtblauen Himmel abzeichneten. Ein Motiv, das so romantisch ist, dass es schon fast albern wirkt – aber mir trotzdem immer unvergesslich geblieben war.
Alle Schatten erzählen von der Sonne, Dido, sie sind die Erinnerung des Lichts.
Ich presste die Lippen zusammen und murmelte: «Mistkerl. Verdammter Mistkerl.» Doch es war schon zu spät. Erinnerungen schwappten in mir hoch wie eine Flutwelle. Als hätten sie nur auf ihren Einsatz gewartet, stürzten sich meine Gedanken jetzt durch jene Tür, die ich so viele Jahre in mir verbarrikadiert hatte. Katapultierten mich zurück durch Monate und Jahre zu jenem Tag, der irgendwo in mir fest verschnürt in einer Kiste lagerte mit der Aufschrift: «Dangerous. Don’t touch.» Der Tag, an dem alles angefangen hatte.