Kirschblüten und Linoleum

short season, cold feeling

1

Kirschen blühten auf beiden Seiten des Wegs, der die Anhöhe hinaufführte. Oben angekommen fiel mein Blick auf das neu gebaute Krankenhaus. Das moderne und recht ansehnliche Gebäude machte einen unbelebten Eindruck. Es wirkte eher wie ein Bürokomplex als wie eine Klinik, was mich ein bisschen erleichterte. Als ich am Empfang mein Anliegen vorbrachte, teilte man mir umstandslos mit, zu welchem Zimmer ich müsste. Bei dem Gedanken, gleich einen völlig fremden Menschen zu treffen, war mir richtig mulmig. Vor allem, da es sich um ein Mädchen handelte, das im Krankenhaus lag. Ich war etwas nervös, während ich auf den Aufzug wartete. Jemand hatte mir gesagt, sie solle bildhübsch sein. Ihr Name war Mamizu Watarase.

In der ersten Klassenleiterstunde der zehnten Klasse – dem ersten Jahr der Oberschule – sagte unsere Lehrerin Frau Yoshie mit tönender Stimme: „Mamizu Watarase ist aufgrund ihrer Krankheit bereits seit der Mittelschule in der Klinik. Hoffen wir, dass sie möglichst bald entlassen wird und mit uns allen den Schulalltag genießen kann.“

Im Klassenzimmer war ein Platz frei geblieben. Unsere Schule war eine private Mittel- und Oberschule, die Schülerschaft hatte sich seit der Mittelstufe kaum verändert. Dennoch kannte kaum jemand Mamizu Watarase.

„Sie soll die Leuchtkrankheit haben.“

„Dann kommt sie wohl nicht mehr in die Schule zurück.“

„Wer ist das?“

„Sie ist schon seit Mai der siebten Klasse nicht mehr da.“

„Ich erinnere mich nicht an sie.“

„Hat jemand ein Bild von ihr auf dem Handy?“

In der Klasse kam ein bisschen Gerede auf, mangels tauglicher Informationen verebbte es jedoch schnell wieder.

Die Chancen für eine Rückkehr an die Schule standen schlecht. So viel ich wusste, galt die Leuchtkrankheit als unheilbar, ihre Ursache war unbekannt. Es gab keine anerkannte Therapie, vollständige Heilung war praktisch ausgeschlossen. Die meisten Patienten verbrachten den Rest ihres Lebens im Krankenhaus.

Die Betroffenen trugen die Krankheit jahrelang in sich, bis sie eines Tages plötzlich ausbrach, meist im Teenageralter oder den frühen Zwanzigern. Sobald das geschah, war die Sterblichkeit hoch, nur wenige Patienten erreichten das Erwachsenenalter. Die Symptome der Erkrankung waren vielfältig, ein ungewöhnliches Phänomen war jedoch charakteristisch: Die Haut leuchtete.

Es hieß, im nächtlichen Mondschein würde der Körper ein sanft schimmerndes Licht ausstrahlen. Es wurde angeblich stärker, je mehr sich der Gesundheitszustand verschlechterte. Daher der Name „Leuchtkrankheit.“

Wie auch immer, dachte ich, diese Mamizu Watarase dürfte nicht mehr in der Schule auftauchen. Ich beschloss, die Sache schnell zu vergessen.

Einige Tage später machte während der Pause eine riesige Klappkarte im Klassenzimmer die Runde.

„Schreib auch was drauf, Okada.“

„Was ist das?“

„Na, du weißt schon. Für die mit der Leuchtkrankheit, wie hieß sie noch mal? Sie soll eine Genesungskarte von uns bekommen.“

Gleichgültig griff ich zum Stift.

Hoffentlich wirst du bald gesund.

Takuya Okada

Innerhalb von drei Sekunden hatte ich diese Worte aufs Papier gekritzelt und wollte die Karte schon weiter­reichen.

„Mensch, Okada! Geht’s noch belangloser?“

„An wen soll ich sie weitergeben?“

„Wir haben alle schon etwas geschrieben. Ach so, Kayama fehlt noch. Gib du ihm die Karte, ihr seid doch befreundet, oder?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte ich lapidar und ging zu seinem Platz.

Akira Kayama sah so schlampig aus wie immer: Das Hemd seiner Schuluniform flatterte nachlässig aus der Hose, er selbst hing im Tiefschlaf über seinem Pult. Er war groß und trug die Haare lang. Von einem Schlägertypen hatte er aber nichts, dazu fehlte ihm jeder Hang zur Gewalt. Es mangelte ihm lediglich an Ernsthaftigkeit. Mit seinem guten Aussehen war er bei den Mädchen sehr beliebt, die Jungen hingegen hielten eher Abstand zu ihm, da er leicht überheblich wirken konnte.

„Wach auf, Kayama!“

„Die haben mich tatsächlich zum Hausmeister eines Wohnheims voller heißer Frauen gemacht …“, murmelte er im Schlaf. Anscheinend hatte er einen ausgesprochen angenehmen Traum. Unerbittlich rüttelte ich ihn in die Realität zurück. „Hä? Ah, du bist es. Was gibt’s?“

Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich lieber von ihm ferngehalten. Es lag allerdings nicht an seiner chaotischen Art, damit kam ich ganz gut klar. Das Problem war, dass Kayama vor langer Zeit einmal etwas für mich getan hatte. Dadurch stand ich sozusagen in seiner Schuld. Man konnte uns nicht als Freunde bezeichnen, er war eher so etwas wie mein Retter. Daher war der Umgang mit ihm für mich immer schwierig. Selbst wenn wir uns nur oberflächlich unterhielten, spürte ich eine innere Anspannung. Ich hatte kein Vertrau­ensverhältnis zu ihm.

„Wir schreiben eine Karte. Für dieses Mädchen mit der Leuchtkrankheit.“

„Ah.“ Kayama nahm die Karte und betrachtete sie geis­tesabwesend. „Mamizu Watarase, aha …“ Sein Tonfall und Gesichtsausdruck erweckten den Eindruck, als würde er sich an etwas aus der Vergangenheit erinnern.

Verwundert fragte ich: „Kennst du sie?“

„Hm ja, von früher. Jetzt heißt sie also Mamizu Watarase“, murmelte er vor sich hin. Dann zu mir: „Okay, ich werde mir etwas ausdenken.“ Als ich mich wieder zu meinem Platz aufmachte, fragte er mir hinterher: „Sag mal, Okada, was läuft denn bei dir so in letzter Zeit?“

„Was meinst du?“

„Geht’s dir gut?“

„Ja, mir geht’s gut“, erwiderte ich, meine Gereiztheit unterdrückend.

„Ich meine ja nur, du hast doch manchmal deine schlechten Phasen“, sagte Kayama in einem Ton, als könnte er mich durchschauen.

Spar dir deine blöden Kommentare!, dachte ich, behielt es aber für mich.

„Jetzt haben alle etwas auf die Karte für Mamizu Watarase geschrieben. Es wäre schön, wenn ihr jemand nächstes Wochenende den Umschlag bringen würde. Möchte das jemand übernehmen?“

Unsere Lehrerin Frau Yoshie war Anfang Zwanzig und recht hübsch. In der Klassenleiterstunde wirkte sie allerdings noch etwas unbeholfen, vielleicht weil sie erst seit kurzem im Beruf war. Auf so eine Frage war keine andere Reaktion als Ablehnung denkbar. Da würde garantiert niemand die Hand heben. Das war allen klar, genau wie die Tatsache, dass die Lehrerin als Nächstes jemanden bestimmen würde. Einhellig wandten alle das Gesicht ab, jeder in der Hoffnung, es möge ihn nicht treffen. Keiner machte sich die Mühe, seine Unlust zu verbergen.

Da geschah es: Kayama hob plötzlich die Hand. Auf einen Schlag blickte die ganze Klasse erstaunt in seine Richtung.

„Ich gehe.“

„Ah, sehr gut. Dann wird Kayama das übernehmen.“

In diesem Moment lag ein seltsamer Ausdruck auf Kayamas Gesicht, der etwas von tragischer Entschlossenheit hatte. Gerne hatte er sich nicht gemeldet, so viel war offensichtlich. Er hätte einfach nur den Mund halten müssen, wenn es ihm so zuwider war. Warum hatte er gesagt, er würde gehen? Das wunderte mich.

Dann kam das Wochenende. Am Sonntag rief mich Kayama plötzlich an und bat um ein Treffen.

„Ich habe eine Bitte an dich.“

Da wir uns an freien Tagen normalerweise nicht privat sahen, war das äußerst ungewöhnlich. Obwohl ich keine Lust dazu hatte, ging ich zu ihm.

„Ich bin erkältet.“ Mit diesen Worten empfing mich Kayama am Hauseingang, in Schlafanzug und mit Mundschutz. „Weißt du, ich habe Fieber.“

Für mich sah er nicht wie jemand aus, der Fieber hatte. Ich hatte den Eindruck, er spielte den Kranken nur.

„Also, um welchen Gefallen geht es?“, fragte ich leicht entnervt.

„In dem Zustand kann ich Mamizu Watarase nicht im Krankenhaus besuchen.“

„Jetzt soll ich an deiner Stelle gehen?“, fragte ich wie zur Bestätigung.

Kayama antwortete mit einem knappen „Ja“ und verschwand kurz im Haus.

Als er wieder herauskam, hatte er den Umschlag für Mamizu Watarase bei sich. Mit dem Spruch „Du machst das schon!“ drückte er ihn mir in die Hand. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und trat zurück ins Haus, als wollte er sich jedem weiteren Wort entziehen. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte.

2

So war ich also dazu verdonnert, an einem Sonntag ein fremdes Mädchen im Krankenhaus zu besuchen. Die Klinik, in der Mamizu Watarase lag, befand sich an der Endhaltestelle der Bahnlinie, in entgegengesetzter Richtung zu meinem üblichen Schulweg. Nach einer halben Stunde Durchrütteln im Bummelzug kam ich an meinem Ziel an. Vom Bahnhof ging ich zum Krankenhaus und dort weiter zum Aufzug in den dritten Stock, wie man es mir am Empfang beschrieben hatte. Ich lief den mit Linoleum ausgelegten Korridor entlang, bis ich das Krankenzimmer erreichte. Beim Eintreten sah ich, dass es sich um ein Mehrbettzimmer handelte, das ausschließlich mit Frauen belegt war: Zwei älteren Damen und einem jungen Mädchen, das ein Buch las. Das musste Mamizu Watarase sein. Ich näherte mich ihr langsam. Vielleicht hatte sie meine Gegenwart bemerkt, jedenfalls hob sie den Blick vom Buch und sah auf.

Ihr Blick durchfuhr mich wie ein Blitz. Sie war wirklich bildhübsch. Eine richtige Schönheit, doch mir fiel niemand ein, dem sie ähnlich sah. Der durchdringende Blick ihrer tiefschwarzen Augen wurde von natürlichen langen Wimpern und einer eleganten doppelten Oberlidfalte eingerahmt, wodurch er noch eindrucksvoller wirkte. Ihre Haut war so unfassbar hell, dass man meinen konnte, sie wäre noch nie von einem einzigen Sonnenstrahl berührt worden. Vielleicht hatte sie deshalb eine völlig andere Ausstrahlung als die Mädchen aus meiner Klasse. Sie wirkte, als wäre sie in einem fremden Land geboren und aufge­wachsen.

Eine fein geschnittene Nase, frische Wangen, dazu ein kleiner, gerader Mund. Eine wohlproportionierte Figur mit langem, aufrechtem Rücken. Glatte, glänzende Haare, die bis zur Brust reichten. Ein unglaublich offe­ner Gesichtsausdruck ohne die geringste Spur von Unaufrichtigkeit.

„Bist du Watarase?“, fragte ich schüchtern.

„Ja, bin ich. Und wer bist du?“

„Mein Name ist Takuya Okada. Seit Schulbeginn im Frühjahr sind wir Klassenkameraden“, stellte ich mich kurz vor.

„Ah, verstehe. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Mamizu Watarase. Hör mal, Takuya, ich hätte eine Bitte“, sprach sie mich plötzlich mit meinem Vornamen an.

„Könntest du mich einfach Mamizu nennen?“

Da ich es nicht gewohnt war, Fremde gleich mit dem Vornamen anzusprechen, kam mir dieser Wunsch seltsam vor. „Warum?“

„Ein Nachname kann sich schnell ändern“, meinte sie.

Ich wunderte mich, ob ihre Eltern geschieden waren, zögerte aber, das Thema so unvermittelt anzureißen. „Okay, dann sage ich eben Mamizu zu dir.“

„Danke. Ich mag es, wenn man mich beim Vornamen nennt“, sagte sie mit einem verschämten Lächeln. Dabei blitzten ihre weißen Zähne aus dem Mund hervor. Ich war verblüfft, wie strahlend weiß sie waren. Die Art, wie sie „ich mag“ sagte, hatte etwas Vertrauliches. „Also, Takuya, weshalb bist du hergekommen?“

„Tja, wie’s aussieht, habe ich Ausdrucke und eine Karte für dich. Die Lehrerin meinte, du würdest dich sicher mehr freuen, wenn ein Mitschüler die Sachen vorbeibringt.“

„Und wie ich mich freue!“

Ich gab ihr den Umschlag. Sie nahm die Karte heraus und begann, sie interessiert zu studieren.

„Das ist aber ein bisschen gleichgültig, Takuya.“

Hastig spähte ich auf die Karte, meine Worte standen in einer Ecke: Hoffentlich wirst du bald gesund. Takuya Okada

„Findest du? Na ja …“ Mir kam mein Gruß eigentlich nicht so schlimm vor. Natürlich, er war ein bisschen kurz. Man merkte wohl, dass ich ihn in drei Sekunden achtlos hingekritzelt hatte. Mamizu war offenbar so clever, das zu durchschauen. „Kann sein. Tut mir leid“, entschuldig­te ich mich unumwunden, ohne weitere Ausflüchte zu machen.

Sie sah mich leicht erstaunt an.

„So schlimm, dass du dich entschuldigen musst, ist es auch wieder nicht.“

Sie hat eine seltsame Art zu sprechen, dachte ich.

„Wolltest du in Wahrheit gar nicht herkommen? Hat dich die Lehrerin dazu gezwungen?“

Es kam mir etwas taktlos vor, unverblümt zu sagen: „Eigentlich hätte Kayama herkommen sollen.“ Der Spruch „Die Umstände können eine Lüge rechtfertigen“ fiel mir ein.

„Nein, ich bin freiwillig hier.“

„Wirklich? Das freut mich!“, rief sie spürbar erleich­tert. Bei aller offensichtlichen Intelligenz schien sie ein Mensch zu sein, dessen Gefühlsregungen leicht zu entziffern waren.

„Was ist das?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln. Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand eine kristallartige Glaskugel. Bei genauer Betrachtung konnte man ein winziges Haus darin erkennen, so etwas wie eine Blockhütte. Licht drang durch die kleinen Fenster und vermit­telte den Eindruck von Leben dahinter.

„Ah, das ist meine Schneekugel. Die mag ich sehr.“ Sie legte die Karte beiseite. „Gib her“, sagte sie und streckte die flache Hand zu mir aus, auf der ich die Kugel platzierte. „Schau“, erklärte Mamizu, „da liegt Schnee drin.“

Tatsächlich, um das Häuschen im Inneren der Glaskugel herum lagen konfettiartige Schnipsel, die Schnee imitierten.

„Ah, verstehe.“

„Das ist noch nicht alles. Siehst du, wenn ich sie so schüttele …“ Sie bewegte die Schneekugel heftig hin und her, worauf unter dem Glas die Schnipsel zu tanzen begannen. Durch irgendeinen Trick wirbelten sie in der ganzen Kugel herum und fielen sanft nieder.

„Na? Als würde es schneien, nicht wahr?“ Ja, es wirkte wie richtiger Schnee. „Mein Vater hat sie mir vor langer Zeit mal geschenkt. Jetzt sehe ich ihn leider gar nicht mehr, darum bedeutet sie mir so viel.“ Also waren ihre Eltern tatsächlich geschieden. Ich traute mich allerdings nicht danach zu fragen. „Ich sehe gern zu, wie die Flocken tanzen und fange an zu träumen. Ich stelle mir vor, ich würde in einer schneereichen Gegend leben, wo im Winter alles weiß ist und der Atem kleine Wölkchen bildet. Meine Tage verbringe ich damit, im Lehnstuhl zu lesen, während ich mich am Kamin wärme. Es macht Spaß, mir das auszumalen.“

In der Glaskugel schneite es immer noch. Mamizu redete weiter. Hatte ihr jemand zum Reden gefehlt?

Dieser Eindruck drängte sich mir auf, wie sie so sprach. Es war aber nicht unangenehm. Was sie erzählte, war nicht langweilig, ihre Art zu sprechen störte mich ebenfalls nicht. Als gegen Abend schließlich das Gespräch versiegte, beschloss ich heimzugehen.

„Sag mal“, sprach sie mich an, als ich gehen wollte, „kommst du mich noch mal besuchen?“

Für einen Moment war ich perplex und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Doch als ich ihren traurigen Blick sah, brachte ich es nicht fertig, ihr zu sagen: „Nein, ich habe nicht vor, dich noch mal zu besuchen.“ Stattdessen antwortete ich vage: „Demnächst, okay?“

„Ich habe noch eine Bitte …“

„Was denn?“

„Ich habe solche Lust auf Mandel-Schokosticks …“, druckste sie verschämt hervor.

„Schokosticks?“

„Weißt du, eigentlich soll ich ja nur Krankenhausessen haben. Meine Mutter ist sehr streng. Sie würde mir so was nie kaufen, wenn ich darum bitte. Und sonst habe ich niemanden, den ich fragen kann.“

Sie sah mich mit flehendem Blick von unten an und fragte:

„Ist das zu viel verlangt?“

„Also gut, in Ordnung“, erwiderte ich, ohne mir allzu große Gedanken zu machen und verließ den Raum.

3

„Na, wie war es bei Mamizu Watarase?“, wollte Kayama am nächsten Tag plötzlich wissen, als wir auf dem Heimweg von der Schule vor einem Supermarkt standen und Eis aßen. Er hatte mir das Eis spendiert, wohl als eine Art Aufwandsentschädigung.

Gedankenverloren schob ich das Eis im Mund herum, während ich mich an den vorigen Tag erinnerte.

„Sie ist wirklich ein schönes Mädchen“, sagte ich, obwohl er danach nicht gefragt hatte.

„Was ist mit ihrer Krankheit?“

„Tja, gute Frage …“, gab ich von mir, auch wenn ich diese Ausdrucksweise bedenklich fand.

„Bist du mit ihr befreundet?“, fragte ich Kayama.

„Ich kenne sie von früher“, erwiderte er in unbestimm­ten Tonfall.

„Da fällt mir ein, weißt du eigentlich, ob ihre Eltern geschieden sind?“ Ich war etwas neugierig geworden.

„Glaub schon. Damals war ihr Familienname nämlich Fukami.“

Irgendwann hatten wir das Eis aufgegessen, also machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof, wo wir in den Zug stiegen. Ich setzte mich auf den einzigen freien Platz, Kayama hielt sich nachlässig an einer Halteschlaufe fest und starrte träge durchs Fenster nach draußen.

„Ich habe noch eine Bitte“, sagte er. Vor den Glasscheiben rauschten grüne Bäume und Wohnsiedlungen vorbei. „Würdest du sie noch mal besuchen?“

„Wie bitte?!“

„Frag sie, wann sie wieder gesund wird.“

Was redet der Kerl da? Schon die Bitte, Mamizu noch mal zu besuchen, hatte mich verwirrt. Jetzt verstand ich gar nichts mehr.

„Frag sie doch selbst!“, blaffte ich gereizt zurück.

Unterdessen hatte der Zug Kayamas Bahnhof erreicht.

„Aber erzähl ihr bitte nichts von mir, ja?“, warf er mir zum Abschied noch zu, bevor er ausstieg, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Hey, warte! Was zur Hölle soll das heißen?!“, rief ich ihm hinterher, doch im nächsten Moment schloss mit lautem Zischen die Tür und der Zug setzte sich in Bewegung. – Ich wurde einfach nicht schlau aus dem Kerl.

Meine Haltestelle war noch ein Stück entfernt. Da ich seltsam müde war, machte ich die Augen zu und lehnte mich in den Sitz zurück. Es dauerte nicht lange, bis ich wegnickte. Als ich das nächste Mal zu mir kam, hatte der Zug die Endstation erreicht. Vor dem Bahnhof reihten sich inhabergeführte Buchläden und die Schilder altmodisch wirkender Cafés. Halbherzig gestutzte Bäume fügten etwas Grün hinzu. Eine idyllische Szenerie, die zu einer Provinzstadt am Ende der Bahnlinie passte. Irgendwie kam mir der Anblick bekannt vor. Gleich darauf fiel es mir ein: Das war die Gegend, in der sich Mamizus Klinik befand.

Ich hatte meinen Ausstieg verschlafen und war sieben Haltestellen von daheim entfernt. Von der Durchsage „Dieser Zug endet hier“ vertrieben, stolperte ich auf den Bahnsteig hinaus. Dort fiel mein Blick auf einen Kiosk, der Schokosticks in der Auslage hatte. Auch Mamizus Wunschsorte mit Mandeln war darunter. Bevor ich merkte, was ich tat, hatte ich die ältliche Verkäuferin angesprochen und eine Packung verlangt. Ich steckte sie in meine Schultasche und ging zur Bahnsteigsperre. Wenn ich schon mal da war, konnte ich Mamizu die Schokosticks auch gleich vorbeibringen.

Sie war nicht in ihrem Krankenzimmer, als ich dort ankam, ihr Bett war leer.

„Das Mädchen ist gerade bei einer Untersuchung.“

Eilig wandte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die freundliche ältere Dame, die im gleichen Zimmer lag, hatte zu mir gesprochen. Sie konnte mir zwar nicht sagen, wann Mamizu zurückkommen würde, doch ich beschloss zu warten.

Die Schneekugel stand immer noch auf dem Nachttisch. Ich nahm sie in die Hand und schüttelte sie so, wie Mamizu es tags zuvor getan hatte. Es begann in der Kugel zu schneien. Fasziniert sah ich eine Weile zu, als verberge sich ein Geheimnis darin. Natürlich geschah nichts Ungewöhnliches, ganz gleich, wie lang ich zusah. Versuchsweise schüttelte ich die Schneekugel mit aller Kraft. In ihrem Inneren brach ein regelrechter Schneesturm aus. Davon angestachelt schüttelte ich sie immer weiter. Bis sie mir im nächsten Moment aus der Hand glitt. Sie fiel senkrecht herab und knallte auf den Boden des Krankenzimmers.

Es gab ein gewaltiges Klirren, das laut hallte.

So ein Mist!, schoss es mir durch den Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen.

„Nanu? Takuya, du bist ja hier?!“, vernahm ich Mamizus Stimme hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um. Sie hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können.

„Ah!“

Erst verspätet bemerkte sie die Glasscherben zu meinen Füßen. Die Trümmer der zerborstenen Schneekugel lagen über den Boden verteilt.

Ich konnte klar erkennen, wie sich ihre Miene verfins­terte.

„Alles in Ordnung, Takuya? Ist dir was passiert?“, rief sie und eilte zu mir. Sie wirkte aufgebracht.

„Mir fehlt nichts, es ist nur … Entschuldigung, es tut mir wirklich leid.“ Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte.

Mamizu streckte die Hand nach den Scherben aus. „Au!“, entfuhr ihr ein kurzer Schrei. Anscheinend hatte sie sich in den Finger geschnitten. Kurz darauf quoll rote Flüssigkeit aus ihrer Haut hervor.

„Ganz ruhig“, redete ich ihr hastig zu, „ich hole dir ein Pflaster. Bleib du einfach im Bett, ich räume das hier auf.“

Wortlos setzte sie sich auf ihr Bett und lehnte sich an die Wand. Ich ließ mir im Stationszimmer ein Pflaster geben, das ich Mamizu aushändigte. Anschließend sammelte ich schweigend die Bruchstücke auf. Nachdem ich so gut wie möglich alles weggeräumt hatte, entsorgte ich die Glasscherben im Mülleimer auf dem Flur. Als ich zurückkehrte, hielt Mamizu das Innere der Schneekugel vor sich hoch und betrachtete es ausdruckslos.

Es war nur noch der Boden mit dem kleinen Haus übrig, auf das nun kein Schnee mehr fallen würde.

„Da kann man nichts machen. Alles, was greifbare Gestalt hat, geht irgendwann kaputt. Das ist mit Gegenständen wie mit Lebewesen.“ Mit diesen Worten stellte sie die traurigen Reste neben das Bett. „Vielleicht ist es besser so.“ Sie klang, als wolle sie ihre Gefühle unter Verschluss halten.

„Wie kannst du so was sagen?“, fragte ich. Ich war doch derjenige, der die Kugel kaputt gemacht hat.

„Ich glaube, es stirbt sich leichter, wenn man nichts hat, woran das Herz hängt“, lautete ihre seltsame Antwort. „Sag, Takuya, was meinst du, wie lange ich noch zu leben habe?“

Woher sollte ich das wissen? Ehrlich gesagt hatte ich noch nie gehört, dass jemand mit der Leuchtkrankheit lang gelebt hätte. Andererseits wirkte sie zumindest äußerlich nicht wie ein Mensch, der unheilbar krank war. Ich gab das Grübeln auf und antwortete: „Keine Ahnung.“

„Meine Lebenserwartung beträgt null“, sagte Mamizu völlig ruhig. „Ich bin quasi ein Geist. Letztes Jahr um diese Zeit hieß es, ich hätte noch ein Jahr. Dann ging das Jahr einfach so vorbei. Eigentlich sollte ich schon tot sein. Dafür bin ich noch ziemlich lebendig, nicht wahr? Wie kommt das?“ Es war, als würde sie über einen anderen Menschen reden. Wieso sagte sie mir solche Sachen? Sie hatte mich gerade erst kennengelernt. „Ich frage mich, wann ich wohl sterbe“, sinnierte sie mit eigenartig heiterer Stimme.

Irgendwie wühlte mich das auf. Ich verstand selbst nicht richtig, warum mich das so erschütterte. Was sind das für Gefühle?, rätselte ich. Aber durch Nachdenken kam ich nicht dahinter.

Als ich wieder zu Hause war, beschäftigte Mamizu Watarase mich weiter. Ich legte mich vor den Hausaltar in der Ecke des Wohnzimmers und hing meinen Gedanken nach.

Ich verstand es nicht. Ich konnte einfach nicht begreifen, was in ihr vorging. So sehr ich mir auch das Hirn zermarterte, ich bekam keine Vorstellung davon. Sie war doch noch ein Teenager. Normalerweise verzweifeln Menschen, wenn sie sterben. Sie werden schwermütig, hoffnungslos und traurig. Wenn sie letztlich ihren Tod als unvermeidbares Schicksal akzeptieren, quält sie ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie versinken in Verwirrung. Sogar meinem über achtzigjährigen Großvater war es so gegangen, als er starb. Mamizu hingegen schien sich fast aufs Sterben zu freuen, wenn man sie so hörte. Wie kam das?

Weil mir gerade danach war, entzündete ich ein Räucherstäbchen und brachte die Schale aus dem Metall, dessen Namen ich nicht kannte, zum Klingen. Auf dem Hausaltar stand ein Bild meiner verstorbenen älteren Schwester in Schuluniform.

Meiko Okada, zum Zeitpunkt ihres Todes fünfzehn Jahre alt.

Als ich in der siebten Klasse war, wurde sie von einem Auto erfasst. Als ich daran dachte, fiel mir auf: Jetzt war ich auf einmal selbst in der zehnten Klasse, so wie Meiko damals. Wie war das Sterben für sie gewesen? Was ging ihr als Letztes durch den Kopf? Diese Gedanken kamen mir plötzlich.

Hallo, Meiko.

Ich habe ein Mädchen namens Mamizu Watarase kennengelernt. Sie wirkt sehr zart, doch sie scheint überhaupt keine Angst vor dem Sterben zu haben. Aber, weißt du … Ich frage mich schon … Sag, Meiko, wie war das bei dir damals?

So fragte ich im Stillen meine Schwester, doch ihr Bild gab mir keine Antwort. Wie hätte es auch anders sein können?

Als es Zeit wurde zu schlafen, ging ich in mein Zimmer und kroch zwischen die Laken. Doch ich fand in jener Nacht kaum Schlaf. Aus irgendeinem Grund schwebte Mamizu Watarases Gesicht vor meinem geistigen Auge und wollte einfach nicht verschwinden.

Ich frage mich, wann ich wohl sterbe. Ihre Stimme wiederholte sich in Endlosschleife in meinem Hirn, wie der Refrain eines Lieblingssongs oder der Ohrwurm aus irgendeinem Werbespot.

Als ich am nächsten Morgen in der Schule meine Tasche öffnete, fiel mir die Packung Schokosticks entgegen.

Was mache ich damit?, überlegte ich. Bei allem, was passiert war, hatte ich ganz vergessen, ihr die Schachtel zu geben. Nachdem ich eine Weile hin und her überlegt hatte, fasste ich schließlich den Entschluss, auf dem Heimweg von der Schule noch einmal bei Mamizu im Krankenhaus vorbeizugehen, um ihr die Schokosticks zu bringen.

Ich fragte mich, ob ich Mamizu nicht zur Last fiel, wenn ich Tag für Tag bei ihr aufkreuzte. Vielleicht wollte sie mich auch nie wieder sehen, nachdem ich ihre geliebte Schneekugel kaputt gemacht hatte. Wenn ich darüber nachdachte, war mir das Ganze doch unangenehm. Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie in dem Moment sauer geworden wäre. Wäre sie einfach ausgeflippt und hätte ihren Ärger an mir ausgelassen, wäre das eine Erleichterung für mich gewesen. Aber so baute sich in meinen Eingeweiden ein verkrampftes Gefühl auf.

Warum zog es mich trotzdem zu ihr, obwohl ich so empfand? Das wunderte mich selbst. Wie kam das nur? Vielleicht … nein, ganz bestimmt, weil sie mich an Meiko erinnerte. Nicht, dass die beiden sich ähnlich gesehen hätten. Auch charakterlich waren sie ziemlich verschieden. Aber dennoch gab es da eine gewisse Ähnlichkeit, die ich nicht gut in Worte fassen konnte. Der Begriff „Ausstrahlung“ traf es wohl am besten.

Mamizu Watarase ähnelte in einer bestimmten Art und Weise meiner Schwester Meiko, wie sie damals gewesen war. Es gab etwas, das ich am Tod meiner Schwester nie verstanden hatte. Ich hatte die Hoffnung, in Mamizus Nähe könnte ich es eventuell eines Tages begreifen.

Ich blieb kurz vor dem Krankenzimmer stehen und holte einmal gründlich Luft. Ich atmete tief und lang ein, dann ganz langsam wieder aus. Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging hinein.