Nach ihrer Ankunft in Zürich bleibt Chiara zehn Tage mit Hank in der Schweiz. Sie telefoniert täglich mit ihrem Vater und diskutiert Neuigkeiten aus Rom.
Nur langsam legt sich der Schrecken über die Ereignisse, und die Erleichterung, dass der Papst noch lebt, überwiegt – zumal sich das Gerücht verbreitet, der Papst habe sich umgehend wieder an die Arbeit gemacht.
Chiara lässt sich von Hank in Restaurants in der Zürcher Altstadt oder am Seeufer ausführen. Sie schläft im Schlafzimmerbett in Hanks Wohnung, er auf dem ausziehbaren Sofa in der Wohnstube.
Was ihr erst später klar wird: Es gibt eigentlich nie einen Augenblick, der ihr das Gefühl gibt, Hank im Weg zu stehen. Sie hat auch nicht den Eindruck, dass er in seiner einsamen Wohnung – sie empfindet es so – irgendwelche Anzeichen von schlechtem Benehmen zeigt oder dass er gar Annäherungsversuche macht. Natürlich hat sie nichts anderes erwartet, das würde nicht zu Hank passen.
Auf der anderen Seite irritiert es sie, denn sie macht sonst eigentlich nie die Erfahrung, dass Männer auf die Dauer kein Interesse zeigen, dass sie früher oder später nicht wenigstens auf subtile Weise versuchen, die Aussicht auf intimeres Terrain zu erkunden.
*
An einem sonnigen Tag machen sie einen Ausflug in die Ostschweiz nach Sankt Gallen. Chiara möchte das Viertel sehen, in dem Rossi und Hank aufgewachsen sind, möchte den hässlichen Wohnblock mit dem Hinterhof begutachten, von dem Rossi erzählt hat. Doch sie empfindet das Gebäude als gewöhnlich, jedenfalls ist es nicht hässlich.
Hank deutet auf das zweitoberste Fenster rechts, Rossis ehemaliges Zimmer, und Chiara versucht sich den kleinen Jungen hinter dem Fenster vorzustellen.
Den Namen nach zu urteilen, die sie über den Klingelknöpfen beim Hauseingang lesen, wohnen hier keine Italiener und Spanier mehr, sondern Leute aus dem Balkan oder aus afrikanischen Ländern.
Auf dem Weg in den Osten reagiert Chiara auf das eine oder andere Einfamilienhaus und staunt über die Ruhe, den klaren Zuschnitt der Gärten, die ordentlichen Einfahrten.
Als sie den Friedhof betreten und Rossis Grab aufsuchen, kniet sich Chiara hin. Sie schließt die Augen und beginnt zu beten. Hank bleibt hinter ihr stehen und wartet.
Nach dem Gebet verharrt sie noch einen Moment vor Rossis Foto neben der Inschrift und dem laubfarbenen, von der Nacht gefrorenen Blumenbeet, dann verlassen sie den Friedhof.
In einem Kaffee beim Bahnhof, wo sie auf den Schnellzug nach Zürich warten, bekommt sie einen Anruf ihres Vaters.
In Rom hat es, wie es scheint, weitere Verhaftungen gegeben, Salvatore Vanni und drei seiner Leute. Dann hat der Papst vierzehn neue Kardinäle ernannt, einen davon zum Präfekten der Glaubenskongregation, den amerikanischen Kardinal Richard Stark.
«Mein Vater hört Gutes aus dem Vatikan. Er sagt, ich soll nach Rom zurückkommen.»
«Dein Vater hat Recht», erwidert Hank. «Wenn Vanni und seine Leute verhaftet wurden, ist die Lage sicherer.»
Chiara fühlt sich plötzlich schwer.
Sie denkt an Rossis Grab, und endlich kann sie es aussprechen: «Ich war dabei, als Rossi gestorben ist.»
Hank sagt nichts, rührt nur mit dem Löffel in seinem Kaffee.
«Es war ein Jeep, ein grauer Jeep. Ich konnte nichts dagegen tun.» Chiara hört, wie sie das sagt, aber es ist wie eine Stimme am Nebentisch. «Ich weiß nicht, ob er etwas gemerkt hat, als ich neben ihm auf den Krankenwagen wartete. Einmal hat er die Augen geöffnet, aber ich glaube – er hat mich nicht gesehen.»
Im Zug nach Zürich, fast während der ganzen Fahrt, redet Hank auf sie ein, wie er es sonst nie tut. Er versucht sie zu trösten. Aber für Chiara ist es, als würde er zu einer anderen Frau sprechen, als würde er die Hände einer anderen Frau berühren, während draußen die gepflegte, sonnendurchtupfte Landschaft vorüberfliegt.
Zurück in Hanks Wohnung nimmt sie eine Dusche, dreht das Wasser auf kalt und spürt ihr Herz klopfen. Sie packt die Koffer und erledigt mit dem Smartphone den Online-Check-in für ihren Rückflug.
Fürs Abendessen hat Hank beim Chinesen in der Nähe reserviert. Chiara mag Chinesisch, aber nicht heute. Sie möchte nicht ausgehen, möchte niemanden sehen, würde am liebsten auf der Stelle einschlafen und sich ausruhen, sich ganz aus dem Tag ausklinken.
Hank bestellt Pizza. Er hat zwei Flaschen Bolgheri gekauft und entkorkt eine.
«Wann musst du morgen am Flughafen sein?»
«Um 10 Uhr.»
«Wie geht es für dich weiter, in Rom?»
Darüber muss Chiara nachdenken. Sie kann es nicht sagen.
Plötzlich denkt sie an das Buch ‹Kohelet› aus dem Alten Testament, das ihr Vater gern zitiert.
«Windhauch und Luftgespinst, heißt es in der Bibel. Kennst du das? Alles, was unter dem Himmel geschieht, ist schon einmal geschehen und wird wieder geschehen.»
Hank antwortet nicht. Er trinkt vom Wein, zurückgelehnt im Stuhl.
«Der Anschlag wird nichts ändern», erklärt sie. «Eine Weile wird man sich an die Toten erinnern, dann geht alles den gewohnten Weg. Es wird neue Tote geben. Den meisten wird es egal sein.»
Hank schenkt Wein in ihr Glas. «Es ist seit Jahrtausenden so. Macht, Moneten und große Ideen, die angeblich die Welt verbessern. Die einfachen Leute werden da reingezogen, in die Kämpfe der Mächtigen. Meistens haben sie nichts davon, außer Leid. Warum soll es ihnen also nicht egal sein?»
Chiara hat so etwas erwartet, natürlich, das passt zu Hank, und es passt zum Buch Kohelet.
«Es ist schrecklich», sagt sie.
Jetzt steht Hank von seinem Platz auf, nimmt ihre Hand und führt sie, ohne ein Wort zu sagen, ins Schlafzimmer.
Er legt sich neben sie aufs Bett und hält sie fest, wickelt sie ein in die weiche Ruhe seiner Wärme. Sie schließt die Augen und hört ihn irgendwo atmen, hört sich selber irgendwo atmen.
Sie denkt an Rom, an ihr Zuhause, auf das sie sich freut. Aber freut sie sich wirklich? Da sind ihre Freunde, natürlich – aber haben ihre Freunde nicht inzwischen alle ihre eigenen Kinder, ihr eigenes Familienleben? Ist es nicht so, dass sie meist keine Zeit für Chiara haben?
Und was ist mit Vater? Bestimmt möchte er sie gern wiedersehen, bestimmt wird er sich freuen, wenn sie zurückkommt. Aber wenn man es genau nimmt, braucht er Chiara nicht. Der Vater ist zufrieden, wenn er mit seinen Freunden Boccia und Briscola spielen und beim Wein über Politik schimpfen kann, und wenn man ihn sonntags in Ruhe lässt mit seiner Serie A und seiner Formel Eins.
Es würde sich wenig ändern, wenn ich weg bin, denkt Chiara.
Sie hat die Augen noch immer geschlossen in Hanks Wärme. Und hört ihn noch immer atmen, irgendwo. Sie denkt an die Reise morgen. Stellt sich vor, wie sie in Rom landet und mit dem Zug in die Stadt fährt, zurück in ihre Wohnung.
Wird sie Hank je wiedersehen? Werden sie den Kontakt aufrechterhalten? Oder wird der Alltag sie verschlucken, die Erinnerung an diesen Moment verblassen? Windhauch und Luftgespinst?
*
Zurück in Rom, tut Chiara alles, um den Kontakt aufrechtzuerhalten. Sie führt mit Hank lange Telefonate, tauscht Neuigkeiten, Fotos, Hoffnungen über Whatsapp.
Dennoch kommt der Tag – sie arbeitet inzwischen als Leitungsassistentin eines Museums –, an dem der Rhythmus der Anrufe stockt, an dem sich die Wirklichkeiten vor Ort in den Vordergrund drängen.
Chiara lässt sich von einem katholischen Geschäftsmann, den sie an einem Gala-Dinner fürs Museum kennenlernt, zum Abendessen einladen. Wie gewohnt wird sie auf den Händen der Bewunderung getragen, wie gewohnt registriert sie beste Manieren und das übliche Maß an Begehren, und wie gewohnt kann sie damit nichts anfangen.
Es folgen Geburtstage von Freundinnen, lange Arbeitstage und ein Osterwochenende mit dem Vater, bis ihr auffällt, dass sie von Hank schon seit zwei Wochen nichts gehört hat.
Sie versucht ihn zu erreichen und wartet, zwei Tage, drei Tage. Als er sich meldet, teilt er ihr mit, seine Mutter sei gestorben.
«Ich nehme frei und komme zu dir», sagt sie.
«Bringt nichts, die Beerdigung ist morgen. Und ich ersaufe in Arbeit.» Und dann, nach einer Pause: «Vielleicht komme ich nach Rom, nächste Woche, ein Social-Media-Kongress.»
Chiara freut sich darauf, Hank wiederzusehen.
Dieses Gefühl hält an, bis sie auf einmal unsicher wird, ob sie die Sache nicht überinterpretiert, ob Hank nicht vor allem wegen seinem Kongress nach Rom kommt.
Sie fragt sich, warum er sie nicht angerufen hat wegen seiner Mutter, wegen seiner Trauer? Sie fragt sich, wohin diese Freundschaft aus der Ferne, zusammengesetzt aus Smartphone und gutem Willen, überhaupt führen kann? Ist es überhaupt eine Freundschaft? Hat sie sich nicht in einer Illusion eingerichtet und sich deswegen anderen Männern gegenüber verschlossen? Wird es nicht Zeit, realistisch zu sein?
So wächst in Chiara die Gewissheit, dass sie wieder dort angekommen ist, wo sie begonnen hat: allein, ohne Lebenspartner. Vielleicht verliebt sie sich eines Tages wieder einmal in einen Priester, wie damals in Rossi, denn ein Priester ist immerhin für alle da, ist es nicht so?
Ich werde allein sein, denkt Chiara.
*
Einen Tag vor Hanks Ankunft hat sie einen Traum. In diesem Traum ist Chiara allein unterwegs. Sie überquert Straßen, die ihr bekannt vorkommen. Sie erkennt Teile des Stadtviertels, in dem sie aufgewachsen ist. Sie sieht ihren Vater, der ihr aus der Ferne zuwinkt.
Chiara winkt zurück, bevor sie weitergeht. Sie kommt über eine Brücke und erreicht auf der anderen Seite eine neue Stimmung.
Sie überquert die Piazza del Popolo, wenn es die Piazza del Popolo ist. Sie bleibt kurz stehen, als sie das Gefühl hat, sich daran zu erinnern, als Kind schon einmal hier gewesen zu sein, mit ihrem Vater. Damals haben sie auf dem Pflastersteinboden eine tote Taube entdeckt, mit nassen, glänzenden Federn. Chiara hatte sich vorgestellt, das Tier mit den Händen zu berühren und es auf diese Weise wieder zum Leben zu erwecken. Sie hatte sich vorgestellt, wie die Taube mit den Flügeln flattert und über die Dächer davonfliegt.
Doch jetzt ist hier keine Taube zu sehen. Keine Tiere, keine Menschen. Die ganze Stadt wirkt still, verlassen.
Es beginnt zu tropfen, ein weicher, lauwarmer Regen. Chiara weiß nicht, wohin sie geht, wo die Straßen enden. Die Straßen, die sie kennt und doch nicht kennt, die Straßen mit den leeren Hauseingängen und dem fernen Blinken der Ampeln.
Unter dem Wolkenhimmel glänzen die Kuppeln der Kirchen und Museen, die sie hinter sich lässt, die immer weiter zurückbleiben. Ausgestorbene Kreuzungen, dunkle Läden und Vitrinen, bis Chiara wieder einen Pflastersteinplatz erreicht.
Der Regen nimmt zu.
Chiara stellt sich unter die Markise eines verlassenen Cafés und wartet.
Sie wartet so lange, bis Hank neben ihr steht.
Hank sagt nichts. Sie sagen beide nichts.
Sie blicken nur über die Piazza. Blicken auf den dunkelnassen Obelisk in der Mitte, auf die Treppenstufen am anderen Ende, auf dem jetzt doch Tauben landen und wieder losfliegen. Sie blicken auf die Wasserlachen, auf den Glanz der Pflastersteine, auf die Dächer und Fenster – alles in der ruhigen, schwerelosen Silberstimmung des Tages.
Sie bleiben unter der Markise, sicher und trocken. Hank besorgt Chiara einen Stuhl aus dem Café, damit sie sich setzen kann.
Es tut gut, sich auszuruhen. Es tut gut, an nichts anderes zu denken, einfach nur hier zu sein, in der Gewissheit, dass Hank ebenfalls da ist.
Er bleibt hinter ihr stehen. Einmal legt er die Hände auf ihre Schultern, leicht wie eine Gegenwart, die ganz selbstverständlich ist, die vielleicht schon von Anfang an auf sie gewartet hat, ohne dass sie dazu gekommen ist, sie zu bemerken. Sie spürt die ruhige, sanfte Entschlossenheit, die von Hank ausgeht. Sie hört ihn irgendwo atmen und begreift, dass sie angekommen ist, dass alles miteinander verbunden ist, unter der Oberfläche der Zeit, unter der Oberfläche ihrer langen Suche.
Giuseppe Gracia
Der letzte Feind
www.fontis-verlag.com
Danksagung
Einige Leute haben die Entstehung dieses
Romans begleitet in Bezug auf erzählerische,
theologisch-kirchliche, politische und wissenschaftliche
Fragen. Ganz besonders bedanke ich mich bei
Antje und Jan Gracia,
Martin Grichting, Michael Rüegg,
Dominik Klenk, Pius Kölbener,
Bernhard Meuser.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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©2020 by Fontis-Verlag Basel
Umschlag: Jan Gracia, Satz: Antje Gracia
E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-654-1
ISBN (MOBI) 978-3-03848-655-8
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«Der Rauch Satans
ist durch einen Riss in den
Tempel Gottes eingedrungen.»
Papst Paul VI.
(1897–1978)
«Die Erbsünde ist
der Eckstein, den die Erbauer
Utopias verworfen haben.»
Gilbert Keith Chesterton
(1874–1936)
Der Mann am Telefon – kühle, ruhige Stimme – versichert Hank, dass ihm die Leute in Rom eine nicht registrierte Handfeuerwaffe besorgen werden. Nach dem Anruf geht Hank im dunkelgrauen Anzug, den er sich vor der Reise besorgt hat, durch den Straßenlärm der Via Flaminia und taucht ins Gedränge auf dem Ponte Regina, das sich hinzieht bis zur Via della Conciliazione.
Das Gedröhne und Geknatter, von den Ampeln notdürftig orchestriert, schießt warm an Hank vorbei, im Durcheinander vor den Cafés, Shops und Souvenirständen. Ruhiger wird es erst auf der Höhe Borgo Pio.
Als Hank vor dem Kontrollposten der Porta Sant’Anna steht, greift der uniformierte, hagere Italiener – langsame, knochige Hände – zum Hörer, um im Apostolischen Palast den Namen des Besuchers zu melden. Bevor der Beamte den Passierschein abstempelt, nimmt er einen rosigen Kaugummi aus seinem Mund und drückt ihn in einen Aschenbecher mit dem Wappen der ‹AS Roma›.
Hank betritt das Vatikanische Territorium und hat das Gefühl, auf eine Insel zu kommen, eine Insel in den Verkehrsbrandungen der Stadt. Aus einem offenen Fenster dringt eine Frauenstimme – «Sicuramente», «senza dubbio» – und dann, beim Brunnen der Schweizer Garde, Vogelgezwitscher.
Im Büro der Landesregierung prüft man den Passierschein und begleitet Hank durch meterhohe Räume, in denen niemand sonst zu sehen ist. Schweigend streifen sie durch eine antike Verlassenheit aus Brokatvorhängen, Skulpturen und Säulen mit Rundbogen.
Im dritten Stock des Palazzo wartet Erzbischof Theodor Algermissen aus dem Staatssekretariat, gekleidet in Schwarz mit weißem Römerkragen, um den Hals ein goldenes Brustkreuz. Er begrüßt Hank überraschend herzlich, als würden sie sich gut kennen. Er führt den Gast in einen Salon mit Rokokostühlen und dunkelroten Kanapees. Trotz der untersetzten, schreibtischblassen 66 Jahre wirkt Algermissen ein bisschen wie ein Junge.
Während sie reden, scheint er mit den Händen mehrmals falsche Voraussetzungen verscheuchen zu wollen, die er hinter Hanks Fragen vermutet. Fragen zum anstehenden Vatikanischen Konzil, zur Organisation der Unterkünfte, zur Sicherheit für die über 3000 Teilnehmenden aus aller Welt.
Schließlich fragt Hank: «Sie wissen nichts Neues zum – Unfall?»
Der Erzbischof macht ein trauriges Gesicht und versichert, täglich für Padre Rossi zu beten. Er bittet darum, den Behörden zu vertrauen, mit einem Lächeln, das etwas zu lange dauert. «Die italienische Polizei ist besser als ihr Ruf.»
Er hat Angst, denkt Hank. Er weiß etwas.
«Wir treffen die Kommission später», sagt der Geistliche und schlägt einen Rundgang vor.
Hank begleitet ihn durch den Cortile San Damaso in einen Saal mit gelbem Marmorboden, Giallo di Siena. Am Ende des Flügels erreichen sie eine Loggia, die über die umliegenden Dächer auf den Petersplatz hinausgeht.
Hank blickt runter auf die halbkreisförmigen Kolonnaden, die angeblich bekrönt werden von 140 Heiligen und Märtyrern. Aus dieser Höhe scheinen sie wie eine riesige, in Stein gegossene Umarmung auf die Tausenden von Gläubigen zu warten, die sich hier regelmäßig versammeln.
Ganz großes Theater, denkt Hank, während sich der Erzbischof, das rechte Auge zugekniffen, eine Zigarette ansteckt.
Er deutet zum Dächerwirrwarr zu seiner Rechten. «Sehen Sie den Turm hinter den Museen? Dort haben wir die Zeit neu erfunden.»
Er meint ein quadratisches, ziegelrotes Dach, unter dem offenbar eine große Sonnenuhr steht, die unter Papst Gregor XIII. der Reform des Julianischen Kalenders gedient hat.
Bereits im 16. Jahrhundert, erklärt der Erzbischof, sei der alte Kalender dem Jahreslauf der Sonne um zehn Tage hinterher gehinkt. Deswegen habe der Papst einen Ausfall von zehn Kalendertagen angeordnet, um dem gregorianischen Kalender zum Durchbruch zu verhelfen.
«Die Protestanten sperrten sich aus ideologischen Gründen!» Der Würdenträger lacht und klopft Zigarettenasche über die Balustrade. «Sie konnten nicht verhindern, dass heute die ganze Welt mit unserer Zeitrechnung lebt. Wir sind die eine heilige, katholische und apostolische Kirche.»
*
Nach dem Treffen mit der Vorbereitungskommission lädt der Erzbischof seinen Gast zum Abendessen ein und steckt sich beim Verlassen der Vatikanstadt eine neue Zigarette an.
Auf dem Borgo Pio herrscht ein Mischmasch aus Erwachsenen und Kindern, Hunden, Straßenmalern und Motorrollern. Sie begegnen einer älteren Frau in zerlumpten Kleidern, im Gesicht ein starres Grinsen.
«Padre», krächzt sie, «è buona la sigaretta? Buona?»
Der Erzbischof reicht ihr zwei Zigaretten und geht weiter.
Als sie die Piazza A. Capponi erreichen und ins gegenüberliegende Gassengewirr tauchen, in dem dicht nebeneinander Vitrinen und Geschäfte folgen – Schmuck, Kleider, Fleisch, Antiquitäten –, hat Hank das Gefühl, einen Mann wiederzuerkennen, der ihm schon auf dem Petersplatz aufgefallen war; in Jeans und einem schwarzen Poloshirt.
Der Geistliche erklärt, dass Rom voller Bettler sei, die von der Kirche nichts mehr erwarteten, nur noch Zigaretten.
«Sie wollen kein ewiges Leben», sagt er.
Sie erreichen einen Innenhof mit offenen Fenstern und Wäscheleinen, die sich über den Platz spannen. Wenige Meter hinter dem Platz befindet sich das ‹Ristorante D’Amico›. Um den Eingang herum, auf ungleichmäßigen Stufen, die Mauern efeubewachsen, stehen Klapptische, ein Kühlschrank mit Getränken, eine Auslage mit Tomaten, Auberginen, Rohschinken.
Ein Glatzkopf in einem kurzärmeligen Hemd, am rechten Unterarm ein Schlangen-Tattoo, führt sie ins Gewölbe, in dem ein gedeckter Tisch wartet, mit Kerzen und Servietten.
Der Erzbischof erklärt dem Wirt, sein Gast komme aus der Schweiz.
«Svizzera!», staunt der Glatzkopf, als sei damit alles gesagt.
Der Erzbischof bestellt für Hank gleich mit: Antipasti und einen Primo, «assolutamente» zu empfehlen, die besten Panzerotti in Rom!
Hank spielt das Spiel mit. Der Wein schmeckt nicht übel, immerhin, und er scheint die Stimmung des Erzbischofs zu heben. Der Geistliche erzählt Witze über den Vatikan, über rabiate Nonnen und feige Kardinäle.
«Und Kardinal Feuerbach? Kennen Sie ihn?»
«Der Präsident der Deutschen Bischofskonferenz?» Der Erzbischof wirkt überrascht. Er schmunzelt. «Sehr kompetent und effizient, fürchte ich.»
Hank überlegt, ob er das Paket erwähnen soll, das ihm Rossi geschickt hat, bevor er durch den angeblichen Unfall ums Leben gekommen ist. Die Notizen und den USB-Stick mit Informationen über gewisse Kurienmitglieder. Aber es wäre natürlich dumm, jetzt davon zu sprechen. Ziemlich sicher steckt der Geistliche in der Sache mit drin.
Er beobachtet, wie der Erzbischof Wein nachschenkt und sich dann über die Panzerotti hermacht, wobei das Brustkreuz, als er sich vorbeugt, gegen die Pasta-Schüssel stößt.
Als junger Journalist hatte sich Hank wenig für die Kirche interessiert, sofern es – anders als in der Politik – nur wenig Gelegenheit gab, die Schweinereien eines einflussreichen Blutsaugers aufzudecken. Aber Rossi? Alles hat er auf diesen römischen Laden gesetzt. Sein ganzes armes Herz hat er sich an die Tür dieser Kirche nageln lassen.
Im Priesterseminar war Rossi so beliebt und schloss die Ausbildung so erfolgreich ab, dass ihn mehrere Pfarreien haben wollten, wobei ihn der Bischof schließlich ins Ordinariat bestellte, zuerst für den Aufbau der Homepage und dann für die gesamte Kommunikation des Bistums. Etwa zur gleichen Zeit haderte Hank mit seinem Redaktionsjob. Er wollte nicht mehr nur über Dinge schreiben, die Andere taten, sondern selber handeln und versuchen, einen Unterschied zu machen. Er wechselte auf die Seite der Aktivisten, als Medienberater für die Sozialdemokraten. Er verhalf zwei Nationalratskandidaten zum Sieg. Obwohl er mit der Kirche nichts anfangen konnte, hat er in dieser Zeit gelegentlich Rossi und seinen Bischof beraten; ein sozialer Bischof, ohne Zweifel. Dann hat man Rossi nach Rom beordert, das ist jetzt etwa zwei Jahre her.
«Auf gute Zusammenarbeit!» Erzbischof Algermissen hebt erneut sein Glas. «Endlich, finalmente! Wir hatten dieses Konzil ja schon früher einmal geplant, alles organisiert, vorbereitet – dann kam die Corona-Krise.»
Hank nickt.
«Jetzt haben die Liberalen viel Zeit gehabt, um Druck auf die Kommissionen zu machen. Sie bringen jeden, der uns hasst, in Stellung: gottlose Medien, Politiker und Theologen, die heute an jeder Straßenecke zu finden sind. Salute!»
Hank nimmt nur einen kleinen Schluck. «Ich habe Rossi versprochen, dass ich helfe. Ich habe Ihren Vertrag bekommen.»
«Sehr gut», erwidert der Erzbischof. «Wir sind froh, dass Sie so schnell kommen konnten.»
Dann schweigt er, als der Mann von draußen – Jeans und Poloshirt – den Raum betritt und ein paar Tische weiter drüben Platz nimmt. Der Fremde greift nach der Menükarte und beginnt sie zu studieren.
«Ein Freund von Ihnen?»
Der Erzbischof winkt ab, als sei das die absurdeste Idee der Welt. Er tut so, als sei der Mann überhaupt nicht da, und erzählt weiter Priesterwitze.
Irgendwann unterbricht ihn Hank: «Ich habe gehört, der Papst habe viele Feinde.»
Diesmal wirkt der Erzbischof nicht überrascht. «Die Feinde sind überall, auf den Kirchenbänken hinten, auf den Bänken vorne. Und natürlich ganz vorne, am Altar. Salute!»
Nach dem Hauptgang – Porchetta und Puntarelle – erklärt der Erzbischof: «Ich bin der Beichtvater des Wirtes. Seit zehn Jahren esse ich hier. Seit zehn Jahren beichten bei mir der Wirt, seine Frau und die Cousinen. Ich nehme mir die Zeit. Wenn wir den Menschen nicht helfen, ihr Herz zu reinigen, wenn wir ihnen nicht helfen, sich für das Höhere zu öffnen – wie sollen sie Gottes Stimme hören?»
Der Geistliche füllt Grappa in sein Glas.
Hank geht nicht auf sein Gerede über Gott ein. Er wartet einige Sekunden, dann sagt er: «Rossi war mein bester Freund. Ich werde die Wahrheit herausfinden.»
«Ein wunderbarer Priester, wunderbar.» In den Augen
des Geistlichen bilden sich zwei kleine, helle Punkte. «Man hat ihm schnell vertraut. Ich habe ihm vertraut. Dieser Unfall – …» Er verstummt und trinkt weiter.
Ein Grappa zu viel, denkt der Erzbischof auf dem Nachhauseweg. Vielleicht zwei Grappa zu viel – gut möglich, possibile –, also muss er aufpassen, dass er nicht stolpert, so wie letztes Mal, der verstauchte Knöchel, ärgerlich.
Dieser Gast aus der Schweiz, mit dem er zu Abend gegessen hat: kein gesprächiger Mensch, nein – certo di no –, denkt der Erzbischof und verliert sich für einen Moment in der Verschwommenheit seiner Stimmung, erinnert sich an die alte Frau auf dem Borgo Pio, an ihre Stimme: «E buona la sigaretta? Buona?»
Irgendwo auf der anderen Seite, im gelbroten Straßenlicht der Via Barletta, grüßen ihn zwei ältere Herren. Natürlich, diese Generation grüßt noch, wenn sie einen Geistlichen sieht, diese Generation weiß, was ein Geistlicher ist, diese Generation sucht das ewige Leben und lässt sich nicht ablenken vom Verrat in der Kurie – jawohl, Verrat in der Kurie!
Der Erzbischof bleibt stehen, ein paar Meter vor dem Gebäude, in dem er wohnt, ein älteres, fünfstöckiges Appartementhaus.
Vor dem Eingang die zusammengepferchten Fiat, Skoda, Alfa Romeo und Volkswagen, Stoßstange an Stoßstange, und dann, auf dem Weg ins Treppenhaus, rutscht er doch aus. Er stolpert und fällt beinahe hin, zum Glück schafft er den Griff ans Geländer.
Drinnen, aus dem Innenhof des Hauses, der Lavendel-Duft, den er nicht mag, und wieder der Gedanke an Padre Rossi – der Arme, poveràccio, wieso hat er es nicht verhindert? –, und als er vor dem Aufzug steht, betrachtet er die enge hölzerne Kabine im Metallschaft. Meist braucht er zwei oder drei Versuche, um die Gittertür zu öffnen.
Er betritt die Kabine, schwitzend, hört die Stimmen der Nachbarn im Erdgeschoss, spürt den Ruck, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzt, schwerfällig nach oben, während die Stimmen der Nachbarn im Untergrund verschwimmen.
Im vierten Stock bleibt er vor der Wohnung stehen, steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn herum, doch es ist nicht abgeschlossen. Ist er heute Morgen so kopflos aus dem Haus gegangen?
Er tritt über die Schwelle, sucht den Lichtschalter an der Wand rechts und betätigt ihn. Nichts, Dunkelheit. Er versucht es nochmals.
Fast gleichzeitig hört er den Parkettboden knarren und sieht das vom Tod ausgebleichte Gesicht von Rossi in der Dunkelheit, genau wie letzte Nacht im Traum: die Augenhöhlen leer, der Mund offen, erstickt an den letzten Fragen. «Warum hast du es nicht verhindert? Wie kannst du schlafen, wie kannst du dich im Spiegel ansehen?»
No, no! Der Erzbischof schließt die Augen. Verdammter Grappa. Er öffnet die Augen wieder, in den Schatten des Korridors, in denen kein Rossi mehr zu sehen ist. Nichts, alles in Ordnung.
Oder nein, plötzlich türmen sich Schatten neben ihm auf, wie Wolken. Er spürt Hände, die ihn von hinten packen, hört einen Schrei – seinen Schrei –, bevor er kopfvoran gegen die Wand gestoßen wird. Heißer Blitz hinter den Augen, im Schädel ein Gewitter, Regentropfen mit Blutgeschmack. Er schnappt nach Luft und will Hilfe rufen, aiuto! Doch das Wort wird abgewürgt, als jemand die Kette um seinen Hals packt, die Kette mit dem goldenen Brustkreuz, und nach hinten zieht. Harter, bleischwerer Schlag in den Rücken. Die Wohnung wankend, und er prallt gegen den Bilderrahmen mit antiken Plänen des Petersdoms.
«Aiuto!»
Diesmal kommt es aus seinem Mund, aber wie von einer anderen, entfernten Stimme. Der Atem des Fremden im Nacken, während er von hinten seinen Arm herumdreht und ihn stößt, nach vorne zum Büchergestell. Feuer im Arm. Aufhören! Er prallt gegen den Schreibtisch, und die handbemalte Heiligenfigur von Thomas Morus, in der Hand die aufgeschlagene Bibel, stürzt zu Boden und bleibt – still, unbeugsam – neben dem Erzbischof liegen.
Ohnmacht flutet den Raum. Und dann, mittendrin, wie die vorbeischwimmende Reflexion auf einem dunklen Wasserspiegel, erneut Rossis Gesicht. «Warum hast du es nicht verhindert?» Und irgendwo Thomas Morus, vor dem Scharfrichter stehend, stumm, bevor man ihm den Kopf abschlägt.
Als der Erzbischof wieder zu sich kommt, hört er die Stimme des Fremden.
«Ich frage Sie noch einmal, wo ist das Dokument?»
Er spürt die Verwirrung im Raum, wie eine Wärme, in der die angespannte, schwitzende Gegenwart des Anderen lauert, ohne zu wissen, was er sagen soll, was er denken soll. Dann fällt ihm auf, dass er am Boden liegt, neben dem Fenster zur Straße. Nochmals um Hilfe rufen?
Nein, der Mann wird ihn bewusstlos schlagen. Die Schmerzen – Arm, Rücken – sind jetzt so stark, dass ihm schlecht wird, und er kann neben sich das Erbrochene riechen, muss sich bereits vor der Ohnmacht übergeben haben.
«Bitte – lassen Sie mich sitzen. Dort, auf dem Stuhl.»
Der Fremde hilft ihm, auf die Beine zu kommen. Er führt ihn zum Stuhl, und der Erzbischof – nach einigen Sekunden – greift nach dem Stuhl und schleudert ihn gegen den Fremden, trifft ihn am Schienbein.
Der Erzbischof rennt los, in Richtung Korridor, doch bevor er die Wohnungstür erreicht, kreuzt eine zweite Person seinen Weg und drückt ihn zu Boden, legt die Hände um seinen Hals. Während die Luft aus ihm herausgepresst wird und er um sich schlägt, zuerst schnell und hektisch, dann langsamer, sieht er über sich das schmale mondfarbene Gesicht, das Gesicht mit den zurückgebundenen Haaren.
*
Knapp drei Kilometer von der Wohnung des Erzbischofs entfernt, im Hotelzimmer an der Via San Conca, ist Hank in dieser Nacht unruhig.
Er kann nicht einschlafen und muss an seine Mutter
denken, die seit ein paar Jahren in einem Altersheim in der Ostschweiz lebt. Damals, um 1980 herum, hatte sie sich von Hanks Vater getrennt, einem kartenspielenden Versager, der inzwischen unter der Erde liegen mag oder auch nicht, Hank ist es egal.
Als Kassiererin in einem Supermarkt in Sankt Gallen hat sich die Mutter nur mit Mühe eine Wohnung in einem Ausländerviertel im Osten der Stadt leisten können, wo vor allem Italiener und Spanier gelebt haben; kinderreiche Familien, unter ihnen Rossis Familie.
Der blasse kleine Junge, Hank, erinnert sich: Viele Kinder im Quartier behandelten Rossi wie einen freundlichen Geist, der in der Gruppe vielleicht gern eine festere Form angenommen hätte, dafür jedoch immer etwas zu weich blieb, zu zaghaft. Rossi schien einfach nicht dafür gemacht, sich durchzusetzen. Er brachte es nicht einmal fertig, darüber ein wenig zu verzweifeln oder sich zu empören. Nicht einmal fluchen konnte er über die Halbstarken, die sich angelockt fühlten vom Ohnmachtsgeruch seiner Gutmütigkeit. Die Halbstarken, die ihm auf dem Schulweg auflauerten, um ihn zu schlagen, oder die ihm in der Turnhalle vor den Mädchen die Hosen runterzogen.
Anfangs hielt Hank das für eine tragische Verstopfung der Männlichkeit, später für eine christliche Selbstkasteiung, die Rossi seinen neapolitanischen Eltern verdankte. Jeden Sonntag besuchte die Familie die Heilige Messe, und zu Hause hingen etwa ein Dutzend Kreuze herum. Im Gang und in der Stube betende, augenaufschlagende, kinderhätschelnde Madonnas.
In der Hitze der Sommertage war die Badeanstalt des Nachbarviertels durchlärmt vom Geschrei und Getümmel im Wasser, vom Gekicher der Mädchen und den Sprüngen vom Fünfmeterturm, mit denen sich die Jungs selbst beeindruckten.
Die Halbstarken liebten es, Rossi so lange beim Springen zu stören, bis er still in seinen Rückzug hineinlächelte, als entspreche es nun einmal der Ordnung der Dinge. Als Hank das nicht länger mitansehen konnte, hat er sich den Anführer der Halbstarken geschnappt und ihm einen Tritt dorthin verpasst, wo es wirklich weh tut, per Nachnahme eine Faust aufs Nasenbein, bis das Schweinchen zusammengekauert in seinem Blut grunzte.
Rossi hat Hank deswegen eine Moralpredigt gehalten und wollte ihn zu Padre Santoro schicken. Santoro von der Missione Cattolica, kein übler Kerl, aber was sollte Hank mit ihm besprechen?
Bestimmt hatte der Padre in seiner Gemeinde Wichtigeres zu tun, bei all den Analphabeten, die ihren Arbeits- oder Mietvertrag nicht verstanden. Nichts war dem Padre so heilig wie das geordnete Arbeits- und Familienleben seiner Schäfchen, abgesehen natürlich vom Papst und der italienischen Nationalmannschaft. Es ging das Gerücht, er habe einmal einen rassistischen Angestellten des Arbeitsamtes auf offener Straße geohrfeigt, doch der Padre hat die Geschichte nie kommentiert. Es war eine Zeit, während der Santoro auch so genug Sorgen hatte, zum Beispiel deshalb, weil Rossis Vater an Krebs gestorben ist.
Der Priester hat Rossis Mutter, die kaum ein Wort Deutsch verstand, gegenüber den Ämtern vertreten, auch im Kampf gegen die Krankenkasse, die sich weigerte, einige der Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Santoro hat außerdem Geld für die Witwe gesammelt und Rossi bei der Vorbereitung auf Schulprüfungen geholfen.
Rossi und Hank haben es beide ans Gymnasium geschafft, aber nur Rossi hielt bis zum Abschluss durch und ist, unter Einfluss des Padre, mit dem Theologiestudium ins Priesterseminar in Freiburg eingetreten. Zuvor hatte sich Rossi allerdings in Sophia verliebt, ein katalanisches Mädchen aus dem Nachbarviertel mit dem grausamen Zauber hellgrüner Augen und langem, honigfarbenem Haar.
Auf seine stille Art – leicht zu verwechseln mit Unterwürfigkeit – hat Rossi eine Weile um das Mädchen geworben und ihr Liebesbriefe geschickt, teilweise aus Hanks Feder, dem das Schreiben wie automatisch von der Hand ging. Doch leider wollten Sophia und ihre Augen nichts von Rossi wissen. Dies zeigte sie ihm mit einer so deutlichen, frostharten Zurückweisung, dass der Freund zuerst an ein Missverständnis glaubte, passte doch eine solch brutale Ablehnung nicht in seine Vorstellung des menschlichen Herzens. Und doch kam der Tag, an dem er sich der Wirklichkeit beugen musste.
«Ich hätte sie geheiratet», fasste er die Angelegenheit zusammen. «Sophia ist meine Liebe, keine Andere wird es je sein. Das bedeutet, Gott möchte, dass ich Priester werde.»
Nicht damit zu vergleichen war Hanks Verhältnis zu den Frauen. Am liebsten war ihm die Hintertür in ein Abenteuer, die sich nach einer Weile auch leicht wieder als Notausgang gebrauchen ließ.
Nach dem Abbruch des Gymnasiums hat Hank auf dem Bau gearbeitet, um die Mutter zu unterstützen. Sie, die immer auf der Suche nach einem neuen Ehemann geblieben ist und im Wettbewerb um die größten Nieten nie schlecht abgeschnitten hat. Eine dieser Nieten, an Land gezogen irgendwo in einer Bar, verpasste ihr während dem Frühstück am Sonntagmorgen plötzlich eine Ohrfeige. Hank ist auf den Kerl losgegangen und hat den Kürzeren gezogen. Mit einer gebrochenen Rippe landete der Junge im Krankenhaus, wo er sich geschworen hat, in Zukunft besser vorbereitet zu sein.
Mit einem Kollegen von der Baustelle – Mitglied einer Karateschule – hat Hank ein ‹Dojo› aufgesucht und dessen Leiter getroffen: einen etwa sechzigjährigen Motorrad-Fan. Der hat Hank als Schüler aufgenommen und war Mitglied
in einem Club namens ‹Cheyenne›. So machte Hank Bekanntschaft mit interessanten Gestalten. Spieler, Betrüger, Lederjacken-Rebellen; nicht wenige von erstaunlicher Erfindungsgabe, wenn es um den nächsten Coup ging oder um Biertisch-Pamphlete gegen die Welt der Reichen. Hank beteiligte sich an einer ihrer Aktionen, gerichtet gegen eine Bank, die Sozialwohnungen hatte abreißen lassen, um sie durch überteuerte Büroräume zu ersetzen, was in der Region die Mietpreise in die Höhe trieb. Dabei ging es nicht um Protestnoten für die Nachwelt oder eine Versammlung mit Trillerpfeifen, sondern um ein ordentliches Gewitter der Wut. Sachschaden in Millionenhöhe, so rechneten es die Zeitungen zusammen, fünf Verletzte nach Schusswechsel mit der Polizei – nicht übel! Für Hank bedeutete die Sache ein paar Monate Gefängnis. Monate, die seinen Ruf im ‹Cheyenne› festigten.
Der Club beschäftigte übrigens einen Anwalt, einen sozialistisch angehauchten Glatzkopf, der die Besitzer und Zuhälter aus der Region vor Gericht verteidigte und dafür mit schönen Frauen und Reisen nach Thailand belohnt wurde. Dieser Anwalt, unter anderem ein Sammler von Handfeuerwaffen, erkannte Hanks Potential und gab ihm den Rat, statt Sachbeschädigung zu betreiben lieber die Schulbank zu drücken.
«Du sagst, dass du die Geldsäcke bekämpfst. Dann triff sie dort, wo es weh tut.» So hat Hank zum Journalismus gefunden.
*
Der Glatzkopf war gut, denkt Hank.
Noch immer liegt er auf dem Bett im Hotelzimmer an der Via San Conca in Rom und wartet auf den Schlaf. Er denkt an den Glatzkopf, der inzwischen an Krebs gestorben ist. Er versucht, sich sein Gesicht vorzustellen, sich an die Farbe seiner Augen oder den Klang seiner Stimme zu erinnern, aber es gelingt ihm nicht. Und dann, als der Schlaf ins Zimmer kommt und sich zu ihm legt, beginnt Hank von Rossi zu träumen.
Er steht neben seinem Freund auf einer Straße im Jugendviertel. Alles fühlt sich an wie früher, wie in den 1980er-Jahren. Nur dass die Straßen im Quartier leer sind.
Rossi verschränkt die Arme und lächelt zufrieden. Er meint, dass er jetzt in den Vatikan gehen wird. Hank möchte den Freund davon abhalten.
«Auf keinen Fall darfst du die Schweiz verlassen, auf keinen Fall darfst du nach Rom gehen, die werden dich töten!»
Rossi versteht nicht, hat keine Ahnung, warum Hank solche Sachen sagt. Er wirkt sehr zufrieden und schaut nach oben zum Himmel, in dem die Wolken schwimmen wie Erinnerungen aus Weißgold und Silber. Es beginnt zu regnen.
Hank folgt dem Freund über nasse Straßen und Wiesen, bis sie die Badeanstalt erreichen, die sie geliebt haben und die nun unter dem Regen schläft.
Rossi deutet zum Fünfmeterturm, Hank geht mit ihm zu den Stufen. Als sie oben ankommen, wird ihm bewusst, dass sich unten im Schwimmbecken kein Wasser befindet.
Er will den Freund warnen, doch der streckt die Arme aus und lässt sich, die Augen geschlossen, rückwärts fallen. Erst Augenblicke vor dem Aufprall reißt er die Augen auf.
Am nächsten Morgen bekommt Hank, wie vom Club ‹Cheyenne› angekündigt, einen Anruf von der Kontaktperson, die ihm die nicht registrierte Waffe in Rom besorgen soll.
Um 9.30 Uhr trifft er die Vorbereitungskommission im Staatssekretariat. Bevor die Sitzung beginnt – überraschend ohne Erzbischof Algermissen –, wird gebetet: Die Frauen und Männer im Team sprechen mit dem Stundenbuch vor sich auf dem Tisch Lobpreis, Hymnus, Psalmen, Benedictus. Hank kennt den Ablauf von Rossi.
Als die Sitzung beginnt, fällt ihm auf, dass die Leute unruhig wirken, dann erreicht sie die Nachricht – la terribile notizia –, dass der Erzbischof verstorben sei, «defunto».
Offenbar wurde der Geistliche heute Morgen in seiner Wohnung gefunden, mehr weiß man im Moment noch nicht. Monsignore Pannola, der Sekretär der Kommission, vertagt die Sitzung. Er bittet Hank, ihm in die oberen Etagen des Palazzo zu folgen.
«Terribile», sagt der Sekretär, als sie in seinem Büro sitzen.
Er blickt auf den Schreibtisch, der mit Blättern, Zeitschriften, Büchern übersät ist. Der Anblick scheint ihn zu beruhigen.
Er möchte von Hank wissen, ob man dafür sorgen könne, dass der Tod des Erzbischofs von den Medien nicht zu sehr «gegen die Kirche verwendet» werde.
Natürlich, denkt Hank, er muss verhindern, dass die Geschichte dem Konzil schadet.
«Der Erzbischof hat Ihnen vertraut, weil Padre Rossi Ihnen vertraut hat», sagt der Sekretär. «Ich denke, dass wir nach diesem Vorfall –, ich denke, dass wir aufpassen müssen, wem wir vertrauen, ich meine im Vatikan.»
«Ich gehöre nicht zum Vatikan.»
«Deshalb wende ich mich an Sie.»