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Was mein Leben sinnvoll macht

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Dank

Für dieses Buch haben mir vier Menschen mutig und offen von ihren Schicksalsschlägen erzählt. Ihnen gilt mein erster Dank: Ich danke herzlich Silvano Beltrametti, Nadine Koller, Gabriel Hofmann und Irène Schlenk, die trotz ihrer schwindenden Kräfte mit mir noch über das Sterben, über ihr Sterben, sprach. Sie ist anderthalb Monate nach unserem Gespräch, am gleichen Tag wie Muhammad Ali, eingeschlafen.

Beobachter-Autorin und -Lektorin Christine Klingler Lüthi schulde ich grossen Dank für das Konzept dieses Buches, das für mich sehr stimmig war.

Ich danke herzlich den Expertinnen und Experten, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre: Andreas Brenner, Daniela Ritzenthaler, Diana Meier-Allmendinger, François Höpflinger, Jean-Pierre Wils und Roland Kunz, der sich viele Stunden Zeit nahm, um mit mir über das Sterben zu sprechen.

Hildegard Huber, Patrizia Kalbermatten-Casarotti, René Regenass und Rita Bisig danke ich herzlich für Rat und Vermittlungen. Weiter danke ich Barbara Haab für ihr Vertrauen, Sandra Bourguignon für ihr liebevolles Lektorat und Urs Gysling für seine Ermutigungen.

Fachlektorat

Mein spezieller Dank gilt Kurt Seifert für sein kritisches Gegenlesen.

Beobachter-Edition

2., aktualisierte Auflage, 2020

© 2016 Ringier Axel Springer Schweiz AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich

Lektorat: Sandra Bourguignon, Oberrieden

Umschlaggestaltung: fraufederer.ch

Umschlagbild: Achim Thomae/Moment/Getty Images

Kapitelauftaktbilder: iStock

Bilder Inhalt: S. 23: Horst Galuschka; S. 25: ERF Medien; S. 67: Werner Ernst;
S. 92: Jonathan Heyer; S. 157: Josef Ritler; S. 185: Friedel Ammann;
S. 197: Horst Galuschka; restliche Bilder privat zur Verfügung gestellt

Reihenkonzept: buchundgrafik.ch

Satz: fraufederer.ch

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN: 978-03875-247-9

eISBN 978-3-03875-318-6

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Inhalt

Vorwort

image 1 Die Menschen sterben, wie sie gelebt haben

Wer sich mit dem Tod befasst, ist zufriedener und humorvoller

Der Tod ist des modernen Menschen grösster Feind

Es geht um den Lebenssinn

Der moderne Mensch leidet an Versäumnisangst

Der Tod ist uns nicht vertraut

Jean-Pierre Wils: «Die Frage, was der Tod bedeutet, macht viele sprachlos»

Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen

1. Versäumnis

Lotti Latrous: «Ich lebe das Leben, das meine Seele erfüllt»

2. Versäumnis

3. Versäumnis

4. Versäumnis

5. Versäumnis

Was gibt denn meinem Leben Sinn?

Die Selbstsorge ist die Basis

Kritische Selbstprüfung

Üben, üben, üben

Walter Meier: «Der Mensch hat eine grosse Sehnsucht nach guten Beziehungen»

image Lebensqualität ist für jeden etwas anderes

Die Lebenszufriedenheit in der Schweiz ist gross

Am zufriedensten mit den Beziehungen

Nicht nur Wohlstand macht zufrieden

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

Definition von Gesundheit und Krankheit

Gesundheit ist auch ein Zustand der Übereinstimmung mit sich selbst

Was unsere Gesundheit beeinflusst

Fragebogen zur Lebensqualität von Patienten

Diana Meier-Allmendinger: «Jeder Mensch braucht eine Form der Selbstverwirklichung»

Nach einem Schicksalsschlag wieder ins Leben zurückgefunden (Nadine Koller, Silvano Beltrametti, Gabriel Hofmann erzählen)

Das Arzt-Patienten-Gespräch

Gemeinsam entscheiden

Das Gespräch mit Ihrer Ärztin: Hilfreiche Fragen und Überlegungen

Das Recht, eine Behandlung abzulehnen (Abwehrrecht)

Was kann ich von einer Ärztin oder einem Arzt einfordern?

Risiko Überbehandlung

Rationierung bei Betagten, Behinderten und chronisch Kranken

image Ein gutes (und gesundes) Leben ist ein Leben in Beziehungen

Autonomie und Abhängigkeit – ein schwieriges Thema

Autonom sind wir immer nur mehr oder weniger

Gute Beziehungen haben heilende und lebensverlängernde Wirkung

Unsere Angst vor Abhängigkeit

Hilfe annehmen ist eine «Form der Grosszügigkeit»

Chancen und Risiken bei der Care-Arbeit von Angehörigen

image Selbstbestimmung – auch über den Zeitpunkt des Todes

Wer entscheidet, wenn ich nicht mehr urteilsfähig bin?

Die Patientenverfügung nimmt medizinische Entscheidungen vorweg

Wertvorstellungen in der Verfügung

Reanimation, Beatmung, künstliche Ernährung, Organspende

Das Gespräch über die Patientenverfügung

Hinterlegung der Patientenverfügung

Die Grenzen von Patientenverfügungen

Daniela Ritzenthaler: «Letztlich geht es darum, etwas Kontrolle am Lebensende zu behalten»

Patientenvollmacht: Mein Stellvertreter entscheidet alles

Selbst bestimmen, wann man geht: Die Suizidbeihilfe

Suizidbeihilfe für Betagte?

Kriterien für Suizidbeihilfe

Suizidbeihilfe bei Demenz und bei psychischen Krankheiten?

Sind Sie richtig informiert?

Sterben mit einer Sterbehilfeorganisation – Ablauf

Angehörige belastet die Suizidbeihilfe stark

Wer beansprucht Suizidbeihilfe?

image Das dritte und vierte Lebensalter

Weniger Junge, mehr Rentner und Rentnerinnen

Rentnerinnen und Rentner sind mit ihrem Leben sehr zufrieden

Wie gesund fühlen sich die über 55-Jährigen?

Das Lebensende beschäftigt ältere Menschen

Die jungen Alten, die alten Alten

Das dritte Lebensalter: die aktiven Rentnerinnen und Rentner

Das vierte Lebensalter: negatives Altersbild

Judith Stamm: «Es ist schön, heute alt zu sein»

Demenz bei gebildeten und gesunden Menschen leicht rückläufig

Demenz – frühzeitige Abklärung entlastet Betroffene und Angehörige

François Höpflinger: «Im hohen Alter hilft es, wenn man gelernt, hat mit Krisen umzugehen»

image Wenn das Ende naht

Die Mehrheit ist bei Todeseintritt über 80 Jahre alt

Die meisten möchten zu Hause sterben, 80 Prozent sterben in Institutionen

Palliative Care: gut leben im Angesicht des Todes

Palliative Care hat mit dem Leben zu tun

Palliative Care wird gewünscht

Der Bedarf an Palliative Care wird zunehmen

Die Ziele von Palliative Care

Wann kommt Palliative Care für mich in Frage?

Was tun, wenn ich unheilbar krank bin?

Zu Hause sterben oder in einer Institution?

Wenn das Ende naht

Sterbefasten sollte nicht unterschätzt werden

Die Finalphase – jeder Mensch stirbt anders

Roland Kunz: «Die meisten Patienten finden etwas, wofür es sich zu leben lohnt»

Eine Palliativpatientin erzählt (Irène Schlenk)

image Anhang

Nützliche Adressen und Links

Literatur

Quellen

«Es ist nicht das Schlimmste für einen
Menschen, festzustellen, dass er gelebt
hat und jetzt sterben muss; das
Schlimmste ist, festzustellen, dass man
nicht gelebt hat und jetzt sterben muss.»

Dame Cicely Saunders, Begründerin der Hospiz-Bewegung

Vorwort

Dieses Buch handelt vom Leben. Es geht um Lebensfreude, Zufriedenheit, die Frage, was ein gutes Leben ausmacht; es geht um Zäsuren, die uns erschüttern: Krankheit, Schmerz, der Verlust von Fähigkeiten; es berührt auch das Altwerden und unsere grosse Angst vor Abhängigkeit. Das Buch handelt vom Sterben und von unserer Beunruhigung deswegen; es dreht sich auch um die Frage, wie wir sterben möchten.

Sicher ist: Wir möchten ein erfülltes Leben, bevor wir gehen müssen – an den eigenen Tod denken wir lieber nicht. Doch was macht mein Leben zu einem erfüllten? Wofür möchte ich leben? Was gibt meinem Leben Sinn?

Könnte gerade der Gedanke an mein eigenes Lebensende mir Antworten darauf geben? Gemäss Studien sind Menschen, die hin und wieder an den Tod denken, zufriedener mit ihrem Leben als diejenigen, die dies nicht tun. Der Gedanke an die eigene Endlichkeit macht uns offenbar bewusst, was wichtig ist und wie wir unsere Lebenszeit verbringen möchten.

Wichtig für ein gutes Leben, das ist mir beim Schreiben dieses Buches klar geworden, sind gelebte Beziehungen. Wir sind immer nur mehr oder weniger selbstbestimmt, wir sind auch bedürftige, verletzliche und emotional voneinander abhängige Wesen. Für ein erfülltes Leben brauchen wir nicht nur Hilfe, Beistand, Trost und Rat, sondern auch Lob, Anerkennung und Ermutigung von anderen – es ist auch schön, dies alles geben zu können.

Dieses Buch möchte Sie dazu einladen, Ihren Alltag zu unterbrechen und die Frage, was Ihr Leben sinnvoll machen könnte, zu ergründen. Es möchte Sie ermutigen, Ihren eigenen Lebensfaden – vom Ende her denkend – zu spinnen.

Denise Battaglia

Zürich, im Juni 2020

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Die Menschen sterben, wie sie gelebt haben

Die moderne Gesellschaft verdrängt den Tod. Dabei raten nicht nur die Philosophen der Antike, sondern auch Sterbende, die eigene Sterblichkeit früh(er) zu bedenken. Denn der Gedanke an den eigenen Tod kann uns bewusst machen, was wichtig ist, und er hilft uns, so zu leben, wie wir es wirklich möchten.

Wer sich mit dem Tod befasst, ist zufriedener und humorvoller

Menschen, die an den Tod denken, sind glücklicher, humorvoller und grosszügiger als jene, die dies nicht tun. Weil die meisten von uns aber Angst vor dem Ende haben, vermeiden wir diesen Gedanken und versuchen, so viel wie möglich in unser Leben zu packen. Leidet der Mensch an «Versäumnisangst» und verpasst die Gegenwart?

Neuere Studien zeigen, dass der Gedanke an den Tod den Menschen hilft, ihrem Leben Sinn zu verleihen. Menschen, die sich mit der eigenen Sterblichkeit befassen, sind demnach zufriedener mit ihrem Leben als jene, die sich damit nicht beschäftigen. Zufriedener seien sie vermutlich deshalb, weil sie ihre eigenen Wünsche, Ziele und Werte beim Gedanken an den Tod reflektieren und neu ordnen würden, interpretiert zum Beispiel der US-Psychologe Kenneth E. Vail von der Universität Missouri-Columbia die Ergebnisse seiner Studie. Menschen, die über den Tod nachdenken:

imagebleiben ihren Tugenden oder Prinzipien eher treu,

imagebauen mehr liebevolle Beziehungen auf,

imagesind gütiger und friedfertiger,

imagesind im Ganzen zufriedener mit ihrem Leben,

imagezeigen sich hilfsbereiter gegenüber Fremden,

imagesind einfühlsamer, toleranter und gerechter,

imageleben gesünder,

imagefinden die Geldvermehrung weniger wichtig als Menschen, die sich nicht mit der eigenen Sterblichkeit beschäftigen.

Die grossen Religionen praktizieren seit jeher den vorausschauenden Blick auf die eigene Endlichkeit zum Beispiel in Gebeten, Meditationen und schriftlichen Ermahnungen. In der christlichen Kultur nennt man diese gedankliche Tätigkeit memento mori: «Bedenke, dass du sterben musst!»

image INFO Der Ausdruck memento mori ist eine Abkürzung von memento moriendum esse (bedenke, dass du sterblich bist). Die Bibel ermahnt an verschiedenen Stellen dazu, sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu sein, so etwa in Psalm 90: «Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.»

Wer sich mit dem Sterben auseinandersetzt, ist deswegen nicht traurig oder niedergeschlagen. Im Gegenteil: Eine Studie aus den USA kam im Jahr 2013 zum Schluss, dass jene Menschen, welche die Studienleiter unterschwellig mit dem Tod konfrontierten, indem sie ihnen zum Beispiel während des Lösens einer Aufgabe am Computer für 33 Millisekunden das Wort «Tod» einblendeten, humorvoller und kreativer waren als jene, die sie «nur» mit dem Thema Schmerz konfrontierten.

Der Tod ist des modernen Menschen grösster Feind

Doch wir verdrängen meist, dass wir sterben müssen. Der Tod sei seit der Erfahrung der Pest, die im Mittelalter zwischen einem Viertel und der Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte, unser grösster Widersacher, erklärt die deutsche Autorin Marianne Gronemeyer unser Verhältnis zum Tod. Wir betrachten ihn nicht mehr als Schicksal, über das wir keine Macht haben, sondern wir versuchen, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen. Seit der Neuzeit betrachte der Mensch den Tod als einen Makel der Natur, den es zu beheben gelte, sagt Gronemeyer. Deshalb ist die Lebensverlängerung seit rund 400 Jahren das Thema und Ziel der Medizin. Und die Sicherheit ist das Thema und Ziel aller staatlichen Aktivitäten. Der moderne Mensch möchte dem Tod möglichst viel Leben abringen.

«Tu nicht so, als ob du Tausende von Jahren zu leben hättest! Das Schwert des Todes schwebt schon über dir. Werde gut, solange du noch lebst, solange noch die Möglichkeit dazu besteht!»

Marc Aurel, Philosoph und römischer Kaiser

image INFO Mehrere Studien bestätigen, dass die Menschen in modernen Gesellschaften den Tod zu verdrängen versuchen und nicht über das eigene Lebensende sprechen wollen. So sagten Ärzte in einer Befragung im Rahmen des Schweizerischen Nationalfonds-projekts «Lebensende», dass Patientinnen und Patienten das Thema abblocken würden, wenn Ärzte sie darauf ansprechen (mehr dazu auf Seite 181). Auch Familienmitglieder schätzten den Zustand eines Patienten oft zu positiv ein, weil sie nicht wahrhaben möchten, dass er sterben wird. Eine Studie in den USA zeigte: Die grosse Mehrheit der Patienten mit fortgeschrittenem Krebs, denen ihr Arzt sagte, dass ihre Krankheit nicht heilbar sei, man aber mit einer Chemotherapie womöglich die Schmerzen lindern oder den Verlauf etwas verzögern könne, hörte aus dem Gespräch das Gegenteil heraus; zwischen 60 und 80 Prozent glaubten, dass die angebotene Chemotherapie sie heilen könne (siehe Seite 174).

Warum ängstigt uns der Tod so sehr?

Weil das Lebendigsein an sich unser höchstes Gut ist, vermutet der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel, der sich in einem Essay mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Denn mit dem Tod habe all das Gute ein Ende, das uns das Leben bietet. Dazu gehört für ihn wahrnehmen, wünschen, handeln und denken zu können, obwohl diese Fähigkeiten nicht nur Freud, sondern auch Leid auslösen. Der Tod beraubt uns nicht nur jener Dinge, die wir noch erleben und haben könnten, er beraubt uns auch dessen, was wir bereits haben und geniessen: Er beendet unsere Beziehungen, unsere Aktivitäten, unsere Interessen und Leidenschaften, unsere Arbeiten und Vorhaben, unsere Freuden – für immer (sofern man, wie Thomas Nagel, nicht an ein Leben danach glaubt).

Es geht um den Lebenssinn

Ist es wirklich das blosse Leben, an das wir uns klammern? Es gibt doch auch Menschen, die nicht mehr leben wollen, die dem Leben nicht genug Gutes mehr abgewinnen können. Wie lebenswert wir unser Leben empfinden, hängt davon ab, ob wir es als erfüllt betrachten. «Ich kann ihm Sinn geben. Und wenn mir das nicht gelingt, finde ich das Leben häufig […] unerträglich: Manche wollen dann lieber tot sein», sagt der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat. Um meinem eigenen Leben Sinn zu geben, muss ich tätig werden, muss ich die Fähigkeiten, mit denen ich ausgestat tet bin, nutzen und aktivieren. Aber wie, werden Sie sich nun fragen, wie soll ich konkret leben, damit mein Leben erfüllend wird? Ernst Tugendhat hat darauf leider keinen allgemeinen Rat, «weil es eine Frage ist, die sich jedem einzelnen stellt».

Der Gedanke an den Tod zeigt mir, wie ich lebe

Jene, die leben, als ob sie ewig lebten, sehen offenbar weniger, was ihnen wichtig ist, als jene, die sich der eigenen Sterblichkeit bewusst sind. Der Tod wird somit zum Sinnstifter. Er erinnert mich daran, «dass ich nicht nur dies und das verfolge und befürchte, sondern eben – in all dem – lebe. Im Verhalten zum Tod – dem Ende meines Lebens – werde ich meines Lebens ansichtig», sagt Tugendhat. Oder in den Worten des römischen Philosophenkaisers Marc Aurel ausgedrückt: «Darüber musst du dir doch im Klaren sein, dass niemand ein anderes Leben verliert als das, was er lebt, und dass er kein anderes lebt als das, was er hingeben muss.»

Der moderne Mensch leidet an Versäumnisangst

Früher glaubte die Mehrheit der Menschen an ein ewiges Leben nach dem Tod, an ein Jenseits. Wir modernen Menschen dagegen rechnen in der Regel nur noch mit dem Diesseits. Damit ist unser Leben – eingespannt zwischen Geburt und Tod – deutlich kürzer als jenes unserer Vorfahren. Wenn aber das Leben im Diesseits unsere einzige und letzte Gelegenheit ist, dann «steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche», beschreibt Marianne Gronemeyer, die sich mit aktuellen Gesellschaftsphänomenen beschäftigt, das typische Leiden der heutigen Zeit. Der Mensch habe Angst, das Meiste, das Beste, das Wichtigste zu versäumen. Er leide an einer «Versäumnisangst» und versuche, so viel wie möglich in sein Leben zu packen. Dadurch sei er aber «getrieben wie eine brünstige Hündin», schreibt sie in ihrem Buch Das Leben als letzte Gelegenheit. Deshalb planen wir oft immer schon das Zukünftige, all das, was wir noch erleben und haben wollen, das, was noch nicht ist. Die Gefahr besteht, dass uns die Gegenwart, das wirkliche Leben, entgleitet und wir am Lebensende das Gefühl haben, keine Tiefe erlebt, das «falsche» Leben gelebt zu haben.

«Sinn erfordert Fülle, Fülle erfordert Zeit […]»

Karl Ove Knausgård, Schriftsteller

Der Tod ist uns nicht vertraut

Der Tod ist zwar in Bildern allgegenwärtig. Wir werden überschwemmt mit Nachrichten von Todesfällen und mit Bildern von Toten. «Für den Tod gibt es in dieser Hinsicht keine Grenzen, er ist massiv, allgegenwärtig, unerschöpflich. Doch das ist der Tod als Vorstellung, der Tod als Gedanke und Bild, der Tod als Geist», schreibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in seinem autobiografischen Roman Sterben. Den wirklichen Tod, den körperlichen, sehen wir nicht. Das hat unter anderem damit zu tun, dass wir das Sterben aus unserem Blickfeld geschafft haben: Gestorben wird in Spitälern und Pflegeheimen.

Während noch unsere Grosseltern oder Urgrosseltern eine verstorbene Angehörige in der Wohnung aufbahrten und gemeinsam mit Verwandten, Nachbarn und Freunden von ihr Abschied nahmen, indem sie sie ein letztes Mal betrachteten und berührten, ist für uns der Tod etwas Fernes. «Dieser Teil des Todes, der dem Körper angehört und konkret, physisch, materiell ist, dieser Tod wird mit einer solchen Sorgfalt verborgen gehalten, dass sie frenetisch erscheint […]», meint Knausgård. Der Tod ist kein Teil unserer Lebenswelt. Der Tod ist «das letzte grosse Ausserhalb».

Marianne Gronemeyer erstaunt dies nicht. Weil wir die kurze Lebenszeit, die uns zur Verfügung steht, mit möglichst vielen Spitzenereignissen anfüllen wollten, würden wir Leid, Krankheit und den Tod meiden. «Der moderne Mensch will keine Zeit vertun mit den leidvollen Seiten seiner Existenz.»

Im Austausch mit den Toten

Für den mittelalterlichen Menschen war der Tod nicht absolut, er markierte kein Ende, sondern einfach den Übergang in eine andere Welt. Die Lebenden waren im Austausch mit den Verstorbenen, denen sinnliche Fähigkeiten zugesprochen wurden: Tote waren in der Lage zu hören, zu fühlen und sie konnten Rache an den Lebenden nehmen sowie «mit Unfruchtbarkeit, Krankheit, Totgeburten, Missernten […] drohen, sofern es die Lebenden an der gebotenen Ehrerbietung fehlen lassen», schreibt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann in ihrem Buch «Der entseelte Patient». Man glaubte, dass der Tote weiterlebt, mächtig ist und dass er gut und böse zugleich ist. Um die Toten wohlwollend zu stimmen, versuchte man einerseits, mit ihnen «fürsorglich umzugehen und sich um ihr Seelenheil zu kümmern» (Grabpflege, Totenwache, Verbot der Leichenschändung). Andererseits pflegte man Rituale zur physischen Abgrenzung (Fortjagen der Seele, Sperrung des Rückwegs, Schliessen der Leibesöffnungen).

JEAN-PIERRE WILS

Philosoph

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«Die Frage, was der Tod bedeutet, macht viele sprachlos»

Herr Wils, was ist die ars moriendi?

Bei der ars moriendi handelt es sich um eine Literaturgattung, die im 14. und 15. Jahrhundert starke Verbreitung fand. Die lateinische Bezeichnung ars moriendi wird oft wörtlich mit «Die Kunst des Sterbens» übersetzt. Aber eigentlich geht es um eine religiöse und moralische Technik der Selbsterforschung angesichts des Sterbens.

Worum geht es in den Ars-moriendi-Büchern?

Sie waren eine Art Anleitung für das Sterben. Das eigene Sterben wurde damit erstmals einer Eigengestaltung unterworfen, insofern als sich die Menschen Gedanken über ihr Seelenheil und über ihr Geschick im Jenseits machten. Die ars moriendi half bei der Selbsterforschung in Bezug auf die verbliebenen Sünden. Das Ziel war, die Seele zu reinigen, indem man zum Beispiel verbliebene Sünden noch beichtete, um in den Himmel zu kommen.

Halfen die ars moriendi und der Glaube an ein Jenseits, gelassener zu gehen?

Wir sollten uns vor der Vorstellung hüten, dass die Menschen früher dank der Jenseitsvorstellung getrösteter gestorben sind als heute. Viele Menschen waren zutiefst verunsichert, weil sie nicht wussten, wo sie landen würden. Die Hölle konnte man sich viel besser vorstellen als den Himmel, die Vorstufe der Hölle kannte man meistens schon auf Erden. Die Höllenkompetenz war demnach grösser als die Himmelskompetenz, weshalb die Menschen damals mit Sicherheit Angst vor dem Tod hatten.

Wie gehen wir heute mit dem Sterben und mit dem Tod um?

Seit einigen Jahren widmen sich Kunst und Philosophie wieder intensiv dem Tod. Offenbar bestehen diesbezüglich kulturelle Defizite, die nicht leicht zu ertragen sind.

Woher rühren diese kulturellen Mankos?

Wir haben in unserer Kultur keine geteilte Auffassung mehr über die Art des Sterbens, über die Bedeutung des Todes und den Sinn des Lebens. Darüber hinaus gibt es keine einheitlichen Riten mehr. Besonders bei Beerdigungen werden Teile aus verschiedenen religiösen Traditionen und aus deren Riten häufig vermischt. Viele Menschen fühlen sich offenbar sprachlos bezüglich der Frage, was der Tod bedeutet, und sind unsicher im Hinblick auf die Gestaltung des Abschieds. Heute lautet die Antwort oft nur noch: Wir müssen das Leben in vollen Zügen geniessen, vor allem Leid vermeiden, uns möglichst viele Glücksgefühle verschaffen und munter konsumieren.

Was bedeutet der Tod für Sie?

Der Tod sagt etwas aus über die Unvermeidbarkeit und wesentliche Bedeutung von Grenzen. Grenzen sind dazu da, dass man sie füllt, weil sonst buchstäblich ein Leerlauf droht. In der Philosophie wird die eigene Endlichkeit oft als Bedingung dafür betrachtet, ein sinnvolles Leben führen zu können. Die Grenzerfahrung ist demnach ein Element der Sinnspende, keine Sinnbedrohung.

Hilft der Gedanke an den Tod, Lebenssinn zu finden?

Ich glaube schon. Der Gedanke an den Tod macht oft demütiger, bescheidener. Man kann bekanntlich am Schluss nichts mitnehmen, man muss loslassen. Der Gedanke daran kann helfen, das, was man hat oder haben möchte, neu zu bewerten. Ich glaube, dass die Erinnerung an das Sterbenmüssen eine Gesellschaft, die Glück vor allem mit einer hohen Anzahl an Vergnügungen gleichsetzt, etwas konsumskeptischer macht, auch kritischer in Bezug auf das, was man wichtig finden soll.

Die Sicht auf das Sterben und den Tod hat sich stark verändert, welcher Wandel hat Sie am meisten überrascht?

Dass wir uns heute fast nur noch mit dem eigenen Tod befassen und weniger mit dem Tod anderer Menschen. Bis zum Zeitalter der Aufklärung richtete man seine Aufmerksamkeit vor allem auf die bereits Verstorbenen. Man bemühte sich darum, sie gut zu behandeln, damit sie ihrerseits den Lebenden wohlgesinnt blieben. Die Toten waren ja nicht weit weg, sie waren nur unsichtbar. Die Friedhöfe waren früher grosse und wichtige Stätten der Begegnung nicht nur zwischen den lebenden Besuchern, sondern vor allem zwischen den Toten und den Hinterbliebenen. Erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wurde der Tod ein zutiefst persönliches Problem.

Jean-Pierre Wils ist Philosophieprofessor an der Radboud-Universität in Nijmwegen (NL) und wissenschaftlicher Beirat am Zürcher Medizinethikinstitut Dialog Ethik. Er hat unter anderem die Bücher «ars moriendi – über das Sterben» (2007, Suhrkamp/Insel) und «Das Nachleben der Toten. Philosophie auf der Grenze» (2019, mentis Verlag) publiziert.

Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen

Was das Leben gut oder schlecht macht, erfüllt oder leer lässt, hängt auch von einem selbst ab. Ich bestimme, was mir wichtig und kostbar ist, wofür ich mir Zeit nehmen und worauf ich mich einlassen möchte. Die Palliativpflegerin Bronnie Ware hat festgehalten, was die Sterbenden, die sie begleitete, am meisten bereuten. Nicht den Mut gehabt zu haben, sein eigenes Leben zu leben, hörte sie am häufigsten.

Für den griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.) ist das schöne Leben «gleichbedeutend mit der Vorübung für ein schönes Sterben». Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem guten Leben und dem guten Sterben, bestätigen auch heutige Ärztinnen und Ärzte: «Die Menschen sterben, wie sie gelebt haben», sagt zum Beispiel Gian Domenico Borasio, der als Palliativmediziner Menschen am Lebensende behandelt und begleitet. Ob jemand gut sterbe, hänge vor allem davon ab, «ob der Sterbende das Gefühl hat, dass sein Leben erfüllt ist», hat auch Borasios Berufskollege Steffen Eychmüller bei der Betreuung seiner Patienten erfahren.

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«Was ein gutes Leben ist? Ich antworte mit Bertold Brecht: ‹Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber, jeden mit Glück erfüllen, auch sich, das ist gut.›»

Jean Ziegler, Experte beim UNO-Menschenrechtsrat und Autor von «Ändere die Welt!»

Auch die Sterbenden selbst bestätigen, dass das gute Leben und das gute Sterben verknüpft sind. Die Australierin Bronnie Ware hat von den Sterbenden erfahren, was diese beim Rückblick auf ihr Leben am meisten bedauerten. Darüber hat sie im Jahr 2011 das Buch 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen geschrieben. Es wurde zu einem Bestseller und ist in 27 Sprachen übersetzt worden. Die fünf häufigsten Bedauern der Sterbenden sind ihr zufolge:

1. Versäumnis

«Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von mir erwarteten.»

Diese Worte, schreibt Bronnie Ware, habe sie am häufigsten von den Sterbenden gehört: «Sie bedauerten, sich bei der Gestaltung ihres Lebens nicht selbst treu gewesen zu sein.» Die Erkenntnis, nicht sein eigenes Leben geführt zu haben, habe am Lebensende jeweils die grösste Enttäuschung ausgelöst.

image GRACE, die Bronnie Ware an ihrem Lebensende zu Hause pflegte, hatte ihr Leben lang das getan, was man von ihr erwartet hatte: Sie heiratete, wurde Mutter, erledigte den Haushalt und liess sich, was die erwachsenen Kinder bestätigten, von ihrem tyrannischen Mann herumkommandieren. Ihr Leben lang träumte Grace davon, unabhängig von ihrem Mann zu leben. Als ihr Mann im Pflegeheim untergebracht werden musste, sah sie ihre Chance gekommen. Grace war zwar schon 80 Jahre alt, aber sie fühlte sich fit und freute sich darauf, nun endlich ihr Leben zu leben. Doch kurz nach dem Auszug ihres Mannes diagnostizierte der Arzt bei Grace eine unheilbare, weit fortgeschrittene Krankheit. Innerhalb eines Monats wurde Grace bettlägerig. Zu ihrer Pflegerin Bronnie Ware sagte die sterbenskranke Frau verzweifelt: «Ich sterbe! Ich sterbe! Wie konnte ich nur jahrelang darauf warten, frei und unabhängig zu sein … und jetzt ist es zu spät.» Was Grace am meisten schmerzte, war, dass sie nie den Mut gefunden hatte, für sich selbst einzustehen, das Leben zu führen, das ihren Werten und Wünschen entsprochen hätte. Grace habe ihr eigenes Glück verpasst, schreibt Bronnie Ware. Sie führte das Leben, das man zu jener Zeit von einer Frau erwartete. Aber es war nicht ihr Leben.

LOTTI LATROUS

Entwicklungshelferin

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«Ich lebe das Leben, das meine Seele erfüllt»

Frau Latrous, was ist für Sie ein gutes Leben?

Ein gutes Leben ist, wenn es mir gelingt, nicht zu vergessen, dass ich heute sterben könnte, und ich dabei die Gewissheit habe, dass ich in Frieden gehen könnte.

Sie führten ein privilegiertes Leben und haben sich dann für ein Leben bei den ärmsten Menschen entschieden. Warum?

Ich habe erkannt, dass das Leben, das von mir erwartet wurde, nicht mein Leben ist. Das kam nicht von heute auf morgen, sondern hatte damit zu tun, dass ich Armut, Leid, Schmerz und Ungerechtigkeit kennenlernte und es schaffte hinzusehen, statt wegzusehen.

Wie schwierig ist es, sein eigenes Leben zu führen?

Das Schwierigste waren die Schuldgefühle meiner Familie gegenüber und die Erkenntnis, dass ich sie in Kauf nehmen und mit ihnen leben lernen musste. Um mein Leben bei den Menschen zu verbringen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, musste ich von meiner Familie verlangen, mich gehen zu lassen. Nur so konnte ich das Leben führen, das ich als wichtig und richtig empfand. Den Segen dafür erhielt ich von meiner Familie – die Kraft erhielt ich von oben.

Sie kümmern sich um die Ärmsten im Slum von Adjouffou an der Elfenbeinküste. Was gehört zu den Grundbedingungen, um ein gutes Leben überhaupt führen zu können?

Ich habe in den vielen Jahren, in denen ich nun mit den Ärmsten zusammenlebe, gemerkt, dass ein gutes Leben ein Leben in Würde ist.

Was meinen Sie mit Würde?

Dass eine Person das, was sie im Innersten ausmacht, ihr persönliches Wesen, so gut als möglich leben kann. Dass etwa eine an Aids erkrankte Mutter zum Friseur gehen oder sich schminken kann, weil es ihr wichtig ist, dass man ihr die Krankheit nicht ansieht. Oder dass ich mich auf den Boden setze, um mit der Frau auf Augenhöhe zu sprechen, die auf allen Vieren ins Spital kommt.

Gut ist ein Leben demnach, wenn man seine tiefsten Werte leben kann?

Ja. Ich habe zum Beispiel eine 40-jährige Mutter betreut, der ein Bein amputiert werden musste. Sie wollte deshalb sterben. Man muss wissen: In manchen afrikanischen Stämmen ist es unvorstellbar, einen Körperteil abzuschneiden, weil nur ein ganzer Körper begraben werden darf. Amputierte haben keinen Wert mehr. Ich sagte zu der verzweifelten Frau: «Du hast zwei Arme, um deine Kinder zu umarmen, du hast zwei Hände, um sie zu streicheln, du hast einen Mund, um sie zu herzen, hast Ohren, um ihnen zuzuhören, eine Sprache, um sie zu trösten und ihnen zu sagen, wie sehr du sie liebst. Und du hast zwei Augen, in denen ich deinen Stolz auf deine Kinder sehe, Augen, die leuchten vor Glück, diese Kinder zu haben.» Die Mutter fand ihren Wert, ihre Würde wieder – dies definitiv, als wir ihr eine Prothese anpassen konnten; man sieht sie nicht unter dem Rock.

Inwieweit beeinflusst das Zusammenleben mit den Ärmsten Ihre Werte?

Ich habe erkannt, dass man im Leben nicht sehr viel braucht, um glücklich zu sein. Dabei habe ich – wie von selbst – die Angst vor dem Tod verloren. Das ist nicht erstaunlich, darf ich doch das Leben leben, das mir entspricht. Wenn der Tod kommt, kann ich aus vollem Herzen sagen, ich habe das Leben gelebt, das meine Seele erfüllte. Afrika hat mich gelehrt zu vertrauen, dass alles, was einem widerfährt, einen wachsen lässt, wenn man es in die richtigen Bahnen zu lenken weiss.

Sie selbst sind an Lungentuberkulose erkrankt. Was sind Ihre persönlichen Glücksmomente?

Mein jetziges Leben lässt mich am Morgen glücklich aufstehen und am Abend todmüde, aber sehr zufrieden ins Bett fallen – dabei bin ich mir immer bewusst, wie privilegiert ich bin, das tun zu dürfen, was ich tun möchte, tun muss, tun will. Ich bin all den Menschen unendlich dankbar, die mir geholfen haben, den Sinn des Lebens zu erkennen; er liegt für mich in der bedingungslosen Liebe.

Lotti Latrous, Entwicklungshelferin, lebt seit zwei Jahrzehnten mehrheitlich im Slum von Adjouffou an der Elfenbeinküste und erhielt für ihr Engagement mehrere Preise. 2019 veröffentlichte sie ihre Autobiografie «Was war. Was ist. Was zählt. Mein etwas verrücktes Leben» (Wörterseh Verlag).

2. Versäumnis

«Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.»

Die Arbeit ist uns enorm wichtig. Wir identifizieren uns mit der Arbeit, sie verschafft uns Ansehen und gibt uns eine Stellung in der Gesellschaft. Wenn wir eine neue Bekanntschaft machen, ist eine der ersten Fragen jene nach der beruflichen Tätigkeit. Dies bestätigen auch Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Der Erwerbsstatus beeinflusst europaweit die Lebenszufriedenheit: Erwerbstätige Personen zeigten sich bei Umfragen zur Lebensqualität zufriedener mit ihrem jetzigen Leben als Erwerbslose. Trotzdem sei die Arbeit neben dem Sterbenmüssen die ungeliebteste aller Tätigkeiten, glaubt die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer. «Die Arbeit nehmen wir nur in Kauf, damit wir das eigentliche Leben in der sogenannten Freizeit leben können. Die meisten arbeiten für das Geld, dank dem sie Weltmöglichkeiten konsumieren können.» Oder weil sie den Status geniessen, den ihnen ihre Position verschafft, wie John, den Bronnie Ware an seinem Lebensende pflegte.

image DER 90-JÄHRIGE JOHN sagte eines Tages zu seiner Pflegerin: «Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet, Bronnie. Was für ein Trottel ich gewesen bin.» Er erzählte ihr, dass seine Frau Margaret ihn gebeten hatte in den Ruhestand zu treten, als die Kinder ausgeflogen waren. Beide waren fit und gesund und hatten genug Geld beiseite gelegt, um ihren Lebensabend geniessen zu können. Margaret wollte mit ihrem Mann mehr Zeit verbringen, wollte mit ihm grössere Reisen unternehmen. Auch John wäre gern gereist, aber er konnte sich nicht von seiner Arbeit lösen, insbesondere nicht vom Status, den sie ihm in der Gesellschaft verschaffte, wie er seiner Pflegerin gestand. Er schob die Pensionierung jahrelang hinaus. Eines Abends sagte seine Frau weinend zu ihm, sie wolle doch nur die ihnen noch verbleibende Zeit mit ihm verbringen. Da begriff John, dass sie beide nicht ewig leben würden. Seine Firma aber hatte gerade einen lukrativen Auftrag in Aussicht. Er versprach seiner Frau, dass er sich in einem Jahr zur Ruhe setzen werde. Seine Frau freute sich und machte sogleich Reisepläne. Auch John freute sich. Doch drei Monate vor Johns Pensionierung starb Margaret. Seither bereute er, dass er sich nicht früher hatte pensionieren lassen: «Ich glaube, ich hatte Angst», sagte er zu Bronnie Ware. «Das Problem ist, dass die Jagd nach mehr und das Bedürfnis, durch unsere Erfolge und unser Eigentum Anerkennung zu finden, uns von den wirklich wichtigen Dingen abhalten: Zeit mit Menschen zu verbringen, die wir lieben, Zeit mit Dingen zu verbringen, die wir lieben.»

Arbeit gehört für viele zu einem «erfüllten Leben»

Anfang 2016 publizierten das deutsche Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und das Sozialforschungsinstitut infas gemeinsam mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit eine Befragung, deren Resultate über die Einstellung zur Arbeit selbst die Studienleiterin Jutta Allmendinger überraschte. Die Forscher befragten für die Studie mit dem Namen «Das Vermächtnis» rund 3000 Personen zwischen 14 und 80 Jahren in Deutschland über ihr Leben, über Solidarität, Partnerschaft und Familie, Erwartungen an die Zukunft und anderes. Ein Ergebnis war, dass die Befragten «megaabhängig» seien von der Arbeit, wie es Jutta Allmendinger in einem Interview ausdrückte. Viele würden auch dann arbeiten, wenn sie das Geld nicht bräuchten, und die Arbeit habe für die meisten einen so hohen Wert, dass sie ihn auch der nächsten Generation als hohen Wert vermitteln würden. Die Arbeit erfüllt demnach nicht nur den Zweck, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch einen immateriellen Zweck. «Sie gehört im Empfinden der Deutschen zu einem erfüllten Leben einfach dazu, das ist heute eine starke Norm», sagt Allmendinger.

Andere Befragungen in Deutschland und in den USA bestätigten zwar, dass Erwerbstätige besonders glücklich sind, nach dem konkreten Alltag befragt, ärgert die Arbeit aber die meisten Menschen, sind die meisten bei der Arbeit eher unzufrieden. Glücksforscher erklären sich diesen Widerspruch so: Die Erwerbstätigkeit ist für ein erfülltes Leben in einer Gesellschaft, in der die Arbeit einen hohen Stellenwert hat, zentral. Das gefühlte, tatsächliche Wohlbefinden bei der Arbeit ist jedoch gering.

3. Versäumnis

«Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.»

Viele der heute über 80-Jährigen sprechen wenig über Gefühle. Sie haben gelernt, sie zu verbergen. Man schwieg, wenn man verletzt war, und man zeigte auch Stolz, Freude und Zuneigung nicht. Viele der Sterbenden, die Bronnie Ware begleitete, hatten vor allem um der Harmonie willen ihre Gefühle nicht geäussert.

image BRONNIE WARE