Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2021
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ISBN 978-3-644-00236-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00236-4
Für Christian Habernoll †
A city no worse than others, a city rich and vigorous and full of pride, a city lost and beaten and full of emptiness. It all depends on where you sit and what your own private score is. I didn’t have one. I didn’t care.
Raymond Chandler, The Long Good-Bye
RUST: «Ich hoffe, dass sie sich geirrt hat.»
MARTY: «Womit?»
RUST: «Damit, dass der Tod nicht das Ende ist.»
True Detective
In den Augen von irgendwem ist man immer ein komischer Kerl.
Simenon, Maigret als möblierter Herr
Wie in allen großen Städten kann man in Berlin einsam leben und einsam sterben.
Der Berber brüllt im Hinterhof und schmettert eine Flasche an die Wand. Unten wimmert ein Kleinkind. Das Telefon nebenan läutet seit Stunden ins Leere. Am Himmel die Wolke verweht. Jemand späht schon wieder vom Balkon. Jemand hört Stimmen. Jemand spricht mit sich selbst. Die Krähen treiben schräg im Wind.
So heiß war es früher nie, denkt man. Und wünscht sich einen strengen Winter. Einmal noch die weiße Gnade über diesem Dreck. Doch auch der Schnee wird schmutzig. Jemand seufzt, jemand raucht, jemand kann nicht schlafen. Oh Gott, so spät schon?
Häuser, Wohnungen, Zimmer, die man Zuhause nennt. Wo sich die Leute tummeln, nackt, in Jogginghose und weitem T-Shirt. Schwitzend mit Deodorant, nachtsaurer Atem mit Mundwasser. Viele allein, manche zu zweit. Sie paaren sich, wälzen sich mit ihren Jungen, die Wohnung jetzt ein Hasenstall. Dann werden die Jungen älter, und die Alten werden älter. Bis sie wieder allein sind, bis man sie hinausträgt und neu vermietet werden kann.
Es ist, wie es ist, und muss nicht so bleiben. Und einmal kommen noch die Schwalben wieder. Wenn doch nur … Na? Wenn doch endlich ein Gewitter käme.
Die alte Frau schlurft zu den Tonnen, den Beutel mit Müll in der Hand. Regen fällt aus allen Wolken, und auf der Straße schaukeln schwere Ranzen die Kinder übers Pflaster.
Jedenfalls wird es Tote geben.
Noch war Neuhaus in Frankfurt und hoffte, dass seine Mutter ihm öffnen würde. Das Haus lag einsam am nördlichen Rand, abgeschnitten vom Rest der Stadt durch die Autobahn auf der einen und die Ausfallstraße auf der anderen Seite.
Einsam und umtost.
Ein Häuschen eher, das jetzt immer mehr verkam, bestehend nur aus Parterre und Dachgeschoss. Hölzerne Fensterläden in zerschlissenem Grün, schlierig grauer Putz, ein zerzauster Garten. Dahinter begannen die Felder.
«Traumhafte Unterhaltung bei Wetten, dass..? wünscht Ihnen Früchte-Traum von Ehrmann», dröhnte es aus dem Fernseher. «Wetten, dass..? zeigt Ihnen heute live aus der Rhein-Ruhr-Halle in Duisburg: einen Mann mit Schaum vorm Mund, ein Motorrad auf Abwegen, Fußtritte en gros und ein Ei am Haken. Und den Megastar aus den USA! All das präsentiert Ihnen unser Star des Abends: Thooomaaas Gottschalk.»
«Er hat ihn wirklich gekriegt», sagte seine Mutter.
Neuhaus nahm die Fernbedienung, schaltete den Apparat auf stumm, ließ das Bild aber weiterlaufen. «Wer hat wen gekriegt?»
«Gottschalk. Er hat Michael Jackson in seine Show gekriegt.» Ihre Augen zeigten eine Genugtuung, als sei das Ganze auch ein wenig ihr Verdienst, weil sie der Sendung die Treue gehalten hatte.
«Wann war das, Mama?»
«1995.»
«Und das zeigen sie heute, nach 22 Jahren, noch mal?»
Sie schüttelte den Kopf, griff sich mit beiden Händen in ihre graue Mähne und bedachte den Sohn mit einem verrutschten Lächeln. Dummer Junge, dass man ihm aber auch immer alles erklären muss.
«Ach was. Ist eine VHS-Kassette. Hab ich bei eBay ersteigert. Ein Euro plus Versandkosten.»
Ob er jetzt wohl kapierte, wie gewitzt sie noch immer war?
«Warum stand die Haustür offen, Mama?»
«Der Hund sollte noch mal raus, aber er schläft lieber.»
Sie lag mehr, als sie saß, nein, sie lagerte auf ihrem Kanapee wie eine Gräfin oder Kurtisane, eine alte Hippiehexe, der man zu huldigen hatte, den Blick mit Hochmut gewappnet, aber zugleich flackernd. Lagerte im Halbdunkel, ihr Gesicht beschienen vom fahlen Licht des Bildschirms, wo der große Goldjunge charmant die Bühne querte, Zähne zeigte und seinen Gästen den Platz zuwies.
«Den findet jeder gut, der kann mit allen, oder?», fragte Neuhaus.
Ihre Lippen kräuselten sich. «Und? Spricht das gegen ihn?»
Er ließ sich in den Sessel fallen und verzog im selben Moment das Gesicht, angewidert von dem beißenden Geruch, der ihm entgegenschlug. Alles im Haus roch nach Hund, Hundehaare überall und getrockneter Rotz.
Neuhaus ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, fand einen Rest Fleischwurst, lockte den alten Retriever unter dem Couchtisch hervor und schickte ihn in den Garten.
Aufgewachsen war Neuhaus hier, in diesem Haus, bei seiner Großmutter. Über seinen Vater wusste er nichts. Seine Mutter, hatte Omi ihm damals erzählt, arbeite als Entwicklungshelferin in Afrika. Wo genau? Halt irgendwo in Afrika. Der Junge hatte es hingenommen, wie Kinder erst mal alles hinnehmen.
Einmal im Monat hatte die Mutter ihn angerufen, jeweils für eine Viertelstunde. Sie erzählte ihm Geschichten von Giraffen und Löwen, von Nashörnern und Elefanten. Und von schwarzen Kindern, denen sie Lesen und Schreiben beibringe. Dinge, von denen sie glaubte, dass ein deutscher Junge sie über Afrika wissen will. Bald wiederholten sich ihre Erzählungen. Von Mal zu Mal klang sie müder. Schließlich begann sie zu stottern. Ihre Anrufe wurden seltener, blieben irgendwann aus. Und er hörte auf, nach ihr zu fragen.
«Junge, ich wollte es dir ersparen», hatte Omi eines Tages gesagt, «aber ich glaube, sie ist gestorben dort unten.»
Dass sie nicht gestorben war, erfuhr er Jahre später, bei der Beerdigung seiner Großmutter. Er arbeitete längst für das Bundeskriminalamt und war in eine billige Wohnung im Taunus gezogen, in der er sich so selten wie möglich aufhielt. Von dort aus konnte er sowohl das BKA in Wiesbaden als auch den Frankfurter Hauptbahnhof und den Rhein-Main-Flughafen schnell erreichen.
Damals, am Grab seiner Großmutter, hatte er Mama zum ersten Mal nach all den Jahren wiedergesehen. Schön war sie ihm vorgekommen, stolz und verschlossen. Sie hatte ihn so scharf von der Seite angeschaut, dass seine Wange zu glühen begann. Er wandte sich zu ihr um. Zwei Wimpernschläge genügten, und er hatte alles in ihrem Gesicht gelesen: Verwunderung, Wohlgefallen, Gier, Angst. Sie beeilte sich, die Wahrheit hinter einem Lächeln zu verbergen. Mama, du bist eine Lügnerin, dachte er. Aber warum?
Sie wusste, dass er wusste; es stieß sie ab und zog sie an.
«Du kannst mich besuchen kommen, aber ich werde nicht reden», sagte sie. Da hatte sie bereits begriffen, dass er ihr ergeben sein würde. Er kam, stellte dennoch Fragen, und sie schwieg. Er liebte sie auch schweigend, und sie genoss es. Das alles war verrückt, sie wussten es beide, eben weil es ihre Geschichte war. Und sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihr um das Haus ging: «Meinst du, wir können uns einigen?» – «Du kannst es haben.»
Vor zwei Tagen war er abends nach einer Besprechung im Bundeskriminalamt in seine Wohnung gefahren, hatte den Briefkasten geleert und die Post auf den Küchentisch gelegt. Erst als er die Prospekte aussortierte, fiel ihm der kleine Umschlag auf. Er öffnete ihn, zog ein gefaltetes Blatt hervor und las:
«wenn du mehr über deine familie wissen willst schau dir das an aber schau es dir bis zum schluss an».
Ohne Punkt und Komma, ohne Absender, ohne Unterschrift. Darunter nur noch der Link eines Youtube-Videos.
Er schaltete sein Notebook ein und tippte die Zeichen in den Browser. Das Video hatte eine Länge von gerade mal vier Minuten und fünfzehn Sekunden. Ein User mit dem Namen ZeckenProject hatte es vor Jahren hochgeladen. Es trug den Titel «beerdigung von gudrun ensslin – andreas baader – jan-carl raspe». Eine Männerstimme nannte Zeit und Ort der Aufnahme: «Donnerstag, 27. Oktober 1977, Dornhaldenfriedhof, Stuttgart». Man sah junge Leute , viele von ihnen vermummt, über eine Wiese laufen und Transparente entfalten. Zwischen den Bäumen Uniformierte mit Schildkappen und Polizisten auf Pferden. Es kam zu Rangeleien, ein bärtiger Mann wurde abgeführt. Man hörte Gebrüll und Sprechchöre, über den Baumwipfeln kreiste ein Hubschrauber.
Was soll das?, dachte Neuhaus. Mit diesen Irren habe ich nichts zu tun. Ich war damals noch nicht einmal geboren.
Dann aber stutzte er. Im Off begann Joan Baez das Lied von Sacco und Vanzetti zu singen. Man sah eine junge Frau durch den Wald laufen, an der Hand ein vier-, vielleicht fünfjähriges Mädchen. Beide bekleidet mit langen Wollröcken und grobgestrickten Pullovern. Sie näherten sich einer schmalen Straße, blieben stehen und versuchten zu trampen. Als niemand hielt, trotteten sie weiter.
Wieder und wieder schaute Neuhaus sich die Passage an, dann endlich verstand er. Die Art, wie die Frau sich ins Haar griff, hatte sich in vierzig Jahren nicht verändert.
«Trink nicht so viel, Mama. Wir müssen reden. Du warst nie in Afrika, stimmt’s?»
Sie schenkte sich nach und ließ die leere Flasche auf den Boden rollen.
«Ach, Afrika», sagte sie, «fängst du schon wieder an? Afrika ist ein dunkles Loch mit Gittern vor den Fenstern. Die großen Schlüssel bewegen sich kreischend in den großen Schlössern. Alles rasselt und brüllt und stöhnt. Und jede Nacht springen dich die wilden Tiere an.»
«Ich habe dich in einem Film gesehen. Da musst du gerade schwanger mit mir gewesen sein. Wer ist das Mädchen? Habe ich eine Schwester?»
Ihr Kopf fuhr herum. Sie schaute ihn an.
«Du warst im Gefängnis.» Er hielt ihrem Blick stand.
«Wenn du es sowieso weißt.»
«Warst du eine Terroristin?»
«Ich war eine Genossin, aber den Unterschied verstehst du nicht. Jetzt bin ich eine alte Frau.»
«Ihr habt Leute umgebracht, Mama.»
«Ich habe nicht erwartet, dass ein Polizist mich versteht. Du kennst mich nicht.»
«Das ist nicht meine Schuld. Du warst nicht da. Und als du da warst, hast du nicht mit mir gesprochen. Ich weiß bis heute nicht, wer mein Vater ist. Aber ich will wissen, ob ich eine Schwester habe.»
Sie schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf. «Ich kann’s nicht», sagte sie. «Ich kann nicht drüber sprechen. Komm zu mir.»
Er setzte sich neben sie.
«Du bist ein schöner Junge.» Sie legte eine Hand auf seinen Oberarm.
Er zuckte zurück.
Sie schlug die Augen nieder.
«Also …»
Dann hörten sie beide den dumpfen Schlag aus dem oberen Stockwerk.
«Ich schaue nach.» Er war froh, sich von ihr zu lösen.
Im hell erleuchteten Schlafzimmer war eine Krähe durchs offene Fenster geflogen und gegen den Spiegel geprallt. Jetzt lag sie auf dem Boden, öffnete noch ein paarmal den Schnabel, aus dem ein dünner Faden Blut rann, dann war sie tot. Neuhaus nahm den Vogel, warf ihn ins Freie, in die Dunkelheit, ging ins Bad, holte einen Lappen und wischte die Dielen sauber.
«Was war?»
«Eine Krähe, du hast das Licht angelassen.»
«Vielleicht war sie krank. Oder ein Bussard hat sie gejagt.» Und nach einer Weile: «Wie geht es deiner …?» Mitten im Satz brach sie ab.
«Was willst du wissen, Mama?»
«Wie geht es deiner Frau?»
«Sie ist seit sieben Jahren tot, und das weißt du.»
«Bist du erleichtert?»
Er sah sie ungläubig an.
«Sie hat dich betrogen.»
«Nein, sie hat mit anderen Männern geschlafen.»
Wieder wechselte sie das Thema: «Ich will den Hund nicht überleben. Er soll noch um mich weinen dürfen. Meine Haut ist so alt, ich mag nicht mehr in den Spiegel schauen. Das hätte ich nie gedacht.»
«Ach, Mama.»
«Ja, ach, Mama. Ist das alles? Jetzt siehst du, dass du auch nicht mehr zu sagen hast als ich!»
Er lachte. «Stimmt, und ich muss jetzt los, ich fahr direkt auf die Autobahn nach Berlin. Und du rufst mich an, wenn was ist. Versprichst du mir das?»
Er wusste, sie würde nicht anrufen. Sie rief nie an.
«Ich hab deine Nummer verloren.»
«Ich schreib sie dir noch mal auf und häng den Zettel an den Kühlschrank.»
Er kam zurück, nahm ihre Hand und sah sie an. «Ich liebe dich, Mama.»
«Ich weiß», sagte sie und schien glücklich. Sie sagte nicht: Ich dich auch. Stattdessen: «Ich lebe nicht mehr lange.»
«Sag so was nicht.»
Er stellte den Ton des Fernsehers wieder an und ließ den Hund ins Haus. Dann legte er noch drei 100-Euro-Scheine auf den Küchentisch.
«Ich gehe jetzt, Mama.»
Sie reagierte nicht mehr.
Er schloss die Tür, setzte sich in den Wagen, fuhr los und liebte sie.
Seit zwanzig Minuten schwebte er in seinem alten metallicgrünen Jaguar über die nächtliche Autobahn und sang lauthals, aber falsch ein paar Songs von Jeff Buckley mit, die er auf seinem Smartphone gespeichert hatte: Treat her kindly, Though she needs you,More than she loves you. Er musste lachen und an seine Mutter denken.
Das Stück war noch nicht zu Ende, als plötzlich vor ihm die Rotlichter aufflammten. Er trat auf die Bremse, war schon fast zum Stehen gekommen, zwei Meter vor dem fahrradbehangenen Heck eines Wohnmobils, hob den Blick, sah nun im Rückspiegel die Scheinwerfer eines Trucks auf sich zukommen, riss das Steuer nach rechts, gab wieder Gas, erwischte gerade noch die Ausfahrt. Und war in Sicherheit: wahrscheinlich der Letzte in der Reihe, der sich hatte retten können.
Er hörte einen Knall, dann einen zweiten und dritten, zählte nicht weiter, und immer wieder das Kreischen von berstendem Stahl. Die Hupen der Lastkraftwagen in der Dunkelheit klangen wie Nebelhörner eines Ozeanriesen oder wie das wütende Gebrüll hungriger Rinder.
Das wird Tote geben, dachte Neuhaus.
Minuten später, auf der leeren Landstraße, fiel ihm ein: Man muss die Rettungskräfte rufen. Bis ihm klar wurde, dass dies längst geschehen war. Jeder hatte ein Handy, alles passierte in Echtzeit. Ein paar Kilometer weiter kamen ihm bereits die ersten Blaulichter entgegen.
Am Rand der Fahrbahn, etwas zurückgesetzt, sah er ein kleines beleuchtetes Haus. Über der Tür ein Schild: Onkel Toms Hütte. Vor dem Gebäude ein großer, geschotterter Parkplatz, wo, nahe am Eingang, nur ein alter Fiat Panda stand. Zwei trübe Laternen, zwei Abfallkörbe, ein Müllcontainer, eine leere Sitzgruppe mit angeketteten Stühlen und Tischen.
Er stieg aus, eine Maus huschte vor ihm über die freie Fläche, unentschlossen, mehrfach innehaltend und die Richtung wechselnd. Sie fand keinen Schutz. Das ruckartige Navigieren des Nagers erinnerte ihn an die Autoscooter auf dem Jahrmarkt. Eine Katze löste sich aus dem Müll, sprang auf die Maus zu, versetzte ihr spielerisch einige Hiebe, packte sie schließlich mit den Zähnen und trug das zappelnde Opfer in die Dunkelheit.
Auf der Außenwand, im Schein der Leuchtreklame, ein hingeschmiertes Hakenkreuz, das jemand zu übermalen versucht hatte. Er war hier in der Wetterau. Leichter Nieselregen.
Die Frau hinter dem Tresen war schlank und hatte dunkelbraune Haut. Ihr Haar hatte sie mit einem weißen, rot gepunkteten Tuch hochgebunden. Er dachte das Wort: polka dots.
Sie sah ihn an, geradewegs, Augen wie Enterhaken, der Ausdruck lauernd, ein wenig besorgt, was ihn irritierte.
Er versuchte, ihren Blick zu deuten. Angst schien sie nicht zu haben. Er zeigte auf die zwei Bratwürste, die am Rand der rechteckigen Fettpfanne lagen.
«Die beiden», sagte er, «mit viel Curry. Und eine Cola, bitte.»
Sie schob die Würste mit der Zange in die Mitte und drehte an einem Schalter. Kurz darauf zischte das Fleisch. Im Radio kündigte ein Jingle die Verkehrsnachrichten an: A5 Frankfurt Richtung Kassel … Schwerer Unfall mit vielen beteiligten Fahrzeugen zwischen Köppern und Rosbach in Höhe der Ausfahrt Friedberg. Vollsperrung in beide Richtungen. Bitte halten Sie eine Gasse für die Rettungsfahrzeuge frei. Mit mehrstündigen Staus ist zu rechnen. Es wird empfohlen, die Unfallstelle weiträumig zu umfahren. Wir machen weiter mit Musik. Unser Hörer Kevin Wagner aus Florstadt hat sich Mamma Mia von der schwedischen Popgruppe Abba gewünscht.
Sie schaltete das Radio aus und legte eine CD ein. Sah ihn an, als wolle sie fragen, ob es schmeckt. Er hob den Daumen und nickte.
«Wurst können die hier», sagte sie. «Sie müssen sich nicht beeilen. Aber wenn Sie fertig sind, mach ich dicht.»
Sie rollte das R wie alle in der Gegend, was wohl hieß, dass sie schon immer hier lebte.
«Wie heißen Sie?» Er wusste nicht, warum er vertraulich wurde.
«Miriam.»
«Wie Makeba, die Sängerin?»
Ihre Augen wurden groß. «Ja. Das hat mich noch keiner gefragt.»
Er kannte den Namen von seiner Mutter.
«Sind Sie Musiker?», fragte sie.
«Nein.»
«Aber Künstler?»
«Nein.»
«Ich male und nähe Kleider. Jetzt sind Sie dran!»
«Polizist.»
Sie hob die Brauen und nickte. Dann machte sie sich an der Spüle zu schaffen.
«Das gefällt Ihnen nicht.»
«Egal», sagte sie, ohne aufzuschauen.
«Es sind nicht alle gleich.»
«Ja … mag sein.»
«Warum haben Sie das hier Onkel Toms Hütte genannt?», fragte er.
«Weil ich dachte, dass ein solcher Name den Leuten vertraut vorkommt. Aber ich habe mich geirrt. Außer mir scheint hier niemand das Buch zu kennen. Man liest wohl gar nicht mehr. Nicht mal die Zeitung.»
Hinter ihr an der Wand hing ein fleckiger, bestickter Wimpel, auf dem die Worte standen: Gedenkt eurer Freiheit jedes Mal, wenn ihr Onkel Toms Hütte seht!
Neuhaus deutete auf den Lautsprecher: «Was hören wir?»
«Das kennen Sie nicht?»
«Nein, ich bin gut in Musik, aber ich habe keine Ahnung.»
«Cesária Évora, eine Sängerin von den Kapverden, da kommen meine Eltern her. Sie ist in Kneipen aufgetreten. Dann ist sie barfuß nach Paris geflogen, ist zu den großen Musikstudios spaziert und hat darauf bestanden, ihre Lieder vorzusingen. Sie wurde schnell berühmt, ist aber vor ein paar Jahren gestorben, und jetzt kennt man sie schon fast nicht mehr.»
«Ich werde mir eine Platte von ihr kaufen», sagte er. «Ist hier immer so wenig los?»
Miriam zeigte auf die Wanduhr. «Bis vor einer Stunde hatte ich gut zu tun.»
Er schwieg.
«Es kommen hauptsächlich Männer. Weil ich fast immer geöffnet habe und weil meine Würste gut sind. Manche kommen auch, weil sie gerne mit mir schlafen würden.»
Sie wartete, wie Neuhaus reagierte.
«Manche, weil ich schwarz bin, manche, obwohl ich es bin. Und ein paar, weil ich ihnen einfach gefalle. Aber alle scheinen sich dafür zu schämen. Wenn sie doch mal mit ihren Frauen da sind, tun sie so, als würden sie mich nicht kennen.»
Neuhaus stand auf, nahm seinen leeren Teller und stellte ihn auf den Tresen. Erst jetzt sah er den Schäferhund, der neben ihr auf dem Boden lag, das Fell senfgelb, rostrot, schwarz, mit weißen Flecken an den oberen Läufen.
Neuhaus hob die Brauen. Miriam folgte seinem Blick.
«Das ist Ajax. Vielleicht kann er mir helfen, wenn’s drauf ankommt.»
Der Hund schien zu schlafen, blinzelte nun aber, als er seinen Namen hörte.
«Wenn es drauf ankommt?», fragte er.
«Man weiß nie. Hier werden Neger noch Neger genannt. Nicht mal die weibliche Form scheinen sie zu kennen.»
Mit dem Handrücken ihrer Linken schob sie sich eine Locke von der glänzenden Stirn, die Rechte wischte sie am Kittel ab.
«Warum ziehen Sie nicht weg?», fragte er.
«Und wohin? Ich möchte hierbleiben.»
Neuhaus hob leicht den Kopf. «Ich wüsste gern, wo ich bleiben möchte. Aber ich weiß es nicht. Jedenfalls müsste es warm sein und das Meer in der Nähe.»
Dann hörte er das Röhren eines Motors und sah die Scheinwerfer, die in hoher Geschwindigkeit auf den Imbiss zukamen. Knapp vor dem Schaufenster hielt der Wagen an. Es wurde mehrfach gehupt und aufgeblendet. Neuhaus griff instinktiv nach seiner Dienstwaffe, aber Miriam schüttelte den Kopf.
«Sie kommen jeden Abend», sagte sie. «Immer zu einer anderen Zeit. Sie wollen mir Angst machen.»
«Sie müssen die Polizei holen.»
Schotter spritzte auf, als der Wagen jetzt wendete und hupend in der Nacht verschwand.
Sie sah Neuhaus ungläubig an. Ihr Kichern klang fast hysterisch.
«Irgendwas falsch an meinem Vorschlag?», fragte er.
«Alles», erwiderte sie, «alles.»
Er legte fünfzehn Euro auf den Tresen.
«Merci, chérie», sagte er und wusste nicht, was in ihn gefahren war.
Ihr Lächeln blieb, aber sie wandte sich ab. Ihr Kittel spannte über den Hüften. Mehrmals wechselte sie Stand- und Spielbein.
«Tschüs», sagte er.
«Auf Wiedersehen», antwortete sie. Aber es klang wie eine Frage. Wieder sah sie ihn an.
Er hob die Hand.
Hinter Wölfersheim erreichte er die Autobahn. Dann fuhr er lange durch den dunklen, deutschen Osten. Als er müde wurde, nun schon kurz vor Berlin, bog er ab auf einen Parkplatz, stellte sich in die Lücke zwischen zwei LKW und dämmerte eine Weile. Es hatte aufgehört zu regnen, er ließ die Beifahrerscheibe ein kleines Stück herunter. Die Luft war lau, er meinte, die nasse Erde, die Würmer und den Sauerampfer zwischen den Bäumen zu riechen. Aus den Lautsprechern kam leise ein Stück von Tom Waits aus den späten Achtzigern. In the cold, cold ground. Neuhaus schlief ein.
Geweckt wurde er von seinem Telefon. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, dann nahm er das Gespräch an.
«Günther hier. Wann kannst du da sein?»
Neuhaus drehte den Zündschlüssel, um auf sein Navi zu schauen.
Günther Jeschke war Leiter der SETA, der neu gegründeten Sondereinheit Terrorabwehr, zu der man Neuhaus abgeordnet hatte.
«Stimmt es, dass du jüdischen Glaubens bist?», fragte Jeschke.
Was soll die Frage, dachte Neuhaus, was soll diese verquere Formulierung? Warum fragt er nicht einfach, ob ich Jude bin? Neuhaus hätte schlicht nein sagen können, aber er beschloss auszuweichen. «Warum wollen Sie das wissen?»
«Bei uns sind die Hierarchien flach, Neuhaus. Wir duzen uns.»
«Machen Sie das.»
«Wir haben die Information, dass du ein Jahr bei den israelischen Kollegen in Jerusalem gearbeitet hast, richtig?»
«Richtig.»
«Gut, also: Wann kannst du hier sein?»
«Mein Navi sagt, in siebzehn Minuten, ich wollte nur kurz ins Hotel, um meine Sachen …»
«Schenk deinem Navi ein neues Ziel! Wir haben einen Toten am Landwehrkanal, gegenüber der Fraenkelufer-Synagoge.»
Salah stand in seinem winzigen Apartment vor dem Flurspiegel, wog die Pistole in der Hand und lächelte sich zu. Ihm gefiel, was er sah. Obwohl er dunkles Haar hatte, war seine Hautfarbe hell. Er war ein schöner junger Mann mit langen Wimpern und vollen Lippen. Und doch war er unzufrieden. Die Mädchen, mit denen er gerne ausgegangen wäre, interessierten sich nicht für ihn. Sie trieben sich mit allen möglichen Typen herum, ohne ihn zu beachten.
Er wandte sich ab und ließ die Pistole in seine Jackentasche gleiten. Noch zwei Stunden, dachte er, dann werde ich wieder etwas tun.
Seinen ersten Kontakt zum Islamischen Staat hatte Salah nach dem Tod seines Freundes Anis Amri über den Messengerdienst Telegram gesucht.
«Ich war ein Freund von Anis. Ich lebe in Berlin. Ich will etwas machen», hatte er geschrieben.
Lange war keine Antwort gekommen. Er nahm an, dass ihn die Brüder erst überprüfen mussten. Schließlich erhielt er eine Nachricht auf Englisch. Er solle auf Telegram verzichten, stattdessen eine sichere WhatsApp-Modifikation laden und auf weitere Anweisungen warten. Ein deutscher Landsmann werde sich bei ihm melden, vorher dürfe er keinesfalls etwas unternehmen.
Der Mann, der ihm zwei Monate später schrieb, nannte sich Mamadou. Er bedankte sich bei Salah für dessen Opferwillen und verlangte bedingungslosen Gehorsam.
«Wenn wir entscheiden, du sollst jemanden töten, dessen Tod du nicht verstehst, wirst du es tun und auf jene Weise, die wir verlangen?»
«Das werde ich.»
«Wenn wir entscheiden, du musst einen Bruder töten, der sich mit den Kreuzfahrern eingelassen hat, wirst du ihn richten?»
«Das werde ich.»
«Wenn wir entscheiden, du sollst einen Sprengsatz auf einem Spielplatz zünden, wirst du es tun?»
Ohne zu zögern, kam Salahs Antwort. «Ich werde folgen. Aber ich möchte etwas Großes tun.»
«Du wirst etwas Großes tun. Hab nur Geduld!»
«Dann ist alles gut.»
«Schick uns deinen Eid und ein paar Fotos von dir!»
Mamadou schrieb, er solle zur Genezareth-Kirche am Herrfurthplatz gehen und sich auf die Bank neben der alten Telefonzelle setzen, die jetzt als öffentlicher Bücherschrank diente. Er solle aufpassen, dass ihn niemand beobachte, und das Päckchen an sich nehmen, das unter der Bank versteckt sei.
Dass die mit Paketband verklebte Plastiktüte eine Waffe enthielt, spürte Salah sofort. Er wusste, jetzt war er ein Kämpfer.
Wieder verging Zeit, aber schließlich erhielt er seinen ersten Auftrag. Er hatte noch nie getötet; er war nervös und begierig zugleich. Am Ende war alles ganz einfach. Er war in den Spreepark gefahren, hatte den Mann in ein Gespräch verwickelt und ihn in einem günstigen Moment erschossen.
Und schon vierzehn Tage zuvor hatte er den Namen, die Adresse und Fotos seines zweiten Opfers erhalten.