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Oliver König • Karl Schattenhofer

Einführung in die Gruppendynamik

Zehnte, überarbeitete Auflage, 2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

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Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in the Czech Republic

Druck und Bindung: FINIDR, s. r. o.

Zehnte, überarbeitete Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0344-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8232-0 (ePub)

© 2006, 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Carl-Auer Verlag GmbH

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Inhalt

1Vorwort

1.1Der soziale Ort Gruppe und seine Veränderungen

1.2Die „Entdeckung“ der Gruppendynamik

1.3Zu diesem Buch

2Was ist eine Gruppe?

2.1Definitionselemente einer Gruppe

2.2Nicht alles ist eine Gruppe – Abgrenzung zu verwandten sozialen Formen

2.3Das Team als Sonderform der Gruppe

2.4Die Gruppe als soziales System

3Zwei Sichtweisen in Bezug auf Gruppen: Der vertikale und der horizontale Schnitt

3.1Der vertikale Schnitt: Die äußere und die innere Umwelt

3.2Der horizontale Schnitt: Das Sichtbare und das Verborgene

3.2.1Das Eisbergmodell

3.2.2Die Sachebene

3.2.3Die soziodynamische Ebene

3.2.4Die psychodynamische Ebene

3.2.5Struktur- und Kernkonflikte

4Der gruppendynamische Raum

4.1Drinnen/draußen: Dimension Zugehörigkeit

4.2Oben/unten: Dimension Macht und Einfluss

4.3Nah/fern: Dimension Intimität

4.4Die Aktualisierung lebensgeschichtlicher Erfahrungen im Gruppenprozess

5Normen und Rollen in Gruppen

5.1Normenbildung in Gruppen

5.2Rollendifferenzierung in Gruppen

5.3Das Modell von Raoul Schindler

6Was ist ein Gruppenprozess?

6.1Wie kann man Entwicklungen wahrnehmen?

6.2Die Entwicklung von Integration und Differenzierung

6.3Phasen der Gruppenentwicklung

7Gruppendynamische Arbeitsformen und -designs

7.1Das gruppendynamische Training als Lernort

7.2Wie funktioniert ein gruppendynamisches Design?

7.3Die Abenteuer der Trainingsgruppe

7.4Warum große Gruppen Angst machen und wie man damit umgehen kann

7.5Erkundungen im Labyrinth – Das Organisationslaboratorium

7.6Über Sinn und Unsinn von gruppendynamischen Übungen

8Gruppendynamische Arbeitsprinzipien

8.1Niedrigstrukturierung und initiale Verunsicherung

8.2Das Hier-und-Jetzt-Prinzip

8.3Struktur und Prozess

8.4Feedback zur Selbst- und Fremdwahrnehmung

8.5Feedbackregeln

9Die Rolle des Trainers und der Trainerin: Begleiten, Führen, Steuern

9.1Vor dem Anfang hat es schon angefangen – Kontextsteuerung und Prozesssteuerung

9.2Sich raushalten und einmischen – Abstinenz und Auseinandersetzung

9.3Zur Selbsterforschung einladen – Forschende Einstellung und Reflexivität

9.4Standpunkte ohne Wertungen – Neutralität und Allparteilichkeit

9.5Streiten verbindet – Kooperation und Widerstand

9.6Ruhe und Bewegung schaffen – Steuerung und Gegensteuerung

9.7Handwerk und Haltung – das gruppendynamische Verständnis von Intervention

9.8Die gute und die schlechte Hilfe –Ressourcenorientierung und Problemorientierung

10Soziale Kompetenzen für die Arbeit in Gruppen

10.1Sich selbst und andere wahrnehmen – Wahrnehmung und Übertragung

10.2Sich trauen und mitteilen – Spontaneität und Ausdrucksfähigkeit

10.3Seine eigene Vielfalt entdecken und entwickeln – Rollenflexibilität

10.4Konflikten und Emotionen standhalten – Emotionale Stabilität und Belastbarkeit

11Gruppendynamische Anwendungsformate und -felder

11.1Gruppendynamische Fortbildungen

11.2Themenspezifische Trainings

11.3Gruppensupervision und kollegiale Beratung

11.4Teamsupervision, Teamentwicklung und Teambildungsworkshops

11.5Organisationsentwicklung und Organisationsberatung

11.6Gruppenpsychotherapie

11.7Gruppenpädagogik

12Fachverbände, Ausbildungen, Adressen

Literatur

Über die Autoren

1Vorwort

1.1Der soziale Ort Gruppe und seine Veränderungen

Wie selbstverständlich verbringen wir fast unser ganzes Leben als Mitglieder von Gruppen. Wir wachsen in einer Gruppe auf, der Familie. Wir lernen, spielen, arbeiten, vergnügen uns in Gruppen, sei es in Freundeskreis, Clique, Mannschaft, Schulklasse, Verein, Team, Arbeitsgruppe, Projektgruppe usw. Wir haben dort die verschiedensten Rollen und Positionen inne. Wir sind Redende und Zuhörende, Vorantreibende und Verlangsamende, Anführer und Gefolgsleute, Unterstützer und Kritiker. So selbstverständlich bewegen wir uns in diesen Zusammenhängen, dass wir die stattfindende Gruppendynamik – das Kräftespiel und die Veränderungen, die zwischen den Beteiligten ablaufen – in aller Regel nicht bewusst wahrnehmen. So fällt uns ja auch die Luft zum Atmen erst dann auf, wenn Mangel herrscht, es besonders gut oder schlecht riecht, kurz, wenn das Selbstverständliche auf einmal nicht mehr selbstverständlich ist.

Gruppe ist eine Grundform des sozialen Lebens. Zugleich sind die realen Gruppen unseres Alltages in starkem Maße von den sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte erfasst. Von den Sozialwissenschaften wird diese Entwicklung als Enttraditionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen beschrieben. Der Platz im Leben wird zunehmend weniger durch Herkunft und Tradition zugewiesen. Zugehörigkeiten sind nur mehr solche auf Zeit, und zum Zeitpunkt ihres Entstehens ist ihr Ende häufig schon in Sicht. Den Einzelnen wird mehr Flexibilität abgefordert, damit sie sich wechselnde soziale Orte suchen und schaffen können, an denen sie für eine Weile Halt machen und sich einbinden können. Dies bringt sowohl neue Freiheiten als auch neue Gestaltungszwänge mit sich, die individuell bewältigt werden müssen und die Fähigkeit abfordern, sich in immer neuen sozialen Gruppen zurechtzufinden (Edding u. Kraus 2006).

Als Folge davon werden die Regeln, die in den verschiedenen sozialen Gruppen gelten, denen wir angehören, ebenfalls flexibler und situationsabhängiger. Es reicht nicht mehr, sich mit dem offiziell verkündeten Zweck und den Zielen einer Gruppe zu identifizieren und an die vermeintlich geltenden Normen anzupassen, um ein „gutes Gruppenmitglied“ zu sein. Vielmehr wird es erforderlich, die Gruppe und ihre Dynamik wahrnehmen und verstehen zu lernen, um in ihr klarzukommen oder sie mitgestalten zu können.

Dies gilt in besonderem Maße für die Gruppen unseres beruflichen Lebens. Mit dem Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft rücken für immer mehr Menschen ihre kommunikativen Kompetenzen ins Zentrum ihrer beruflichen Tätigkeit. Die Notwendigkeit der Kooperation in Teams und Projektgruppen wird zur Alltagsrealität, und damit nehmen die Möglichkeit und der Zwang zu, sich selbst und die Gruppen, denen man angehört, mitzusteuern.

1.2Die „Entdeckung“ der Gruppendynamik

Parallel zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen und mit diesen verflochten entstanden in Wissenschaft und Praxis seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts vielfältige neue Ideen zu dem sozialen Ort Gruppe (König 2015). Eine hervorragende Rolle spielte hierbei Kurt Lewin (1890–1947), der noch in Deutschland seine ersten Konzepte entwickelte, mit denen er nach seiner Emigration in die USA die amerikanische Sozialpsychologie maßgeblich beeinflusste. Sein wissenschaftliches und praktisches Interesse standen unter dem Eindruck der totalitären Katastrophen seiner Zeit, vor allem des Nationalsozialismus. Dies gab den in seinem Umkreis entstehenden und von ihm beeinflussten Forschungen einen eminent politischen Charakter. Ein zentrales Leitmotiv seiner Forschungen war es, Demokratisierungsprozesse zu befördern, und die verschiedenen Gruppen des sozialen Lebens waren die Orte, an denen dies alltagspraktisch umgesetzt werden sollte (Lewin 1975, 1982).

Eine besondere Rolle spielte in dieser Entwicklung die Kleingruppenforschung (Schäfers 1999; Schneider 1985; Sader 2008; Ardelt-Gattinger et al. 1998), d. h. die Erforschung von Interaktionen in Gruppen, der Umgang mit Macht, Autorität und Führung, mit Außenseiterrollen, mit sozialer Kontrolle und Konformität. Innerhalb seiner Forschungsbemühungen entwickelten Lewin und seine Mitarbeiter eine Verhaltenstheorie der Führung und unterschieden zwischen einem „autokratischen“ Führungsstil, der auf Befehlen, Lob und Tadel beruht, einem „demokratischen“ Führungsstil, der auf Aushandeln und Überzeugen beruht, und einem „Laissez-faire“-Stil, der die Geführten weitgehend sich selbst überlässt. Lewins Feldtheorie (vgl. Stützle-Hebel u. Antons 2017) gilt zudem als eine der frühen Quellen systemtheoretischer Modellbildung.

In einem der Forschungsprojekte Lewins wurde gleichsam per „Zufall“ die Gruppendynamik als praktisches Verfahren „erfunden“ bzw. „entdeckt“ (zur Geschichte der Gruppendynamik vgl. Rechtien 2007; König 2007, bes. S. 17 ff., 2010, 2011, 2015; Tändler 2016, bes. S. 363–447). 1946 veranstaltete Lewin zusammen mit einigen seiner Schüler ein Seminar am Massachusetts Institute of Technology (MIT), in dem Führungskräfte aus unterschiedlichen Bereichen (LehrerInnen1, SozialarbeiterInnen, Geschäftsleute, GewerkschaftlerInnen) Einblicke in ihre Verhaltensweisen und Werthaltungen bekommen sollten. In mehreren Gruppen von ca. zehn Mitgliedern wurde dabei in Form von Diskussionen, Analysen und Rollenspielen an den Problemen der TeilnehmerInnen gearbeitet. Jemand beobachtete und protokollierte das Geschehen. An den Abenden trafen sich die LeiterInnen dieser Gruppen und die Beobachtenden mit Lewin, um die Beobachtungen in diesen Gruppen wissenschaftlich auszuwerten. Schon bald erfuhren einige TeilnehmerInnen von diesen abendlichen Sitzungen und fragten, ob sie nicht dabei sein und zuhören könnten. Diese abendlichen Sitzungen sprachen sich schnell herum, sodass bald alle Gruppenmitglieder zu diesen Sitzungen kamen. Auch blieb es nicht lange bei einer stillen Zuhörerschaft, sondern es entstand eine engagierte Diskussion zwischen Teilnehmern, Gruppenleitern und Beobachtern.

Dies gilt als die Geburtsstunde der gruppendynamischen Trainingsgruppe, kurz T-Gruppe genannt, die Lewin (1975, S. 291) mit den Worten kommentierte:

„Mich hat die erstaunliche pädagogische Wirkung tief beeindruckt, die diese für den Zweck der wissenschaftlichen Protokollführung bestimmten Auswertungszusammenkünfte auf den Gang der Ausbildung hatten. […] Diese und ähnliche Erfahrungen haben mich überzeugt, dass wir Handeln, Forschung und Erziehung als ein Dreieck betrachten sollten, das um jeder seiner Ecken willen zusammenzuhalten ist.“

Etwa im gleichen Zeitraum formulierte der aus Wien in die USA emigrierte Jakob Moreno (1889–1974) seine Gruppen- und Forschungskonzepte, das Psychodrama und die Soziometrie, die viele Ähnlichkeiten mit den Ideen von Lewin aufwiesen. Beide Quellen liefen zusammen in der Aktionsforschung (Action Research), in der die Triade von Handeln, Forschen und Erziehen zusammengehalten werden sollte. Ebenfalls in diesem Zeitraum wurden im therapeutischen Feld und in Sozialarbeit und Sozialpädagogik erste Erfahrungen damit gemacht, die Psychoanalyse auf die Arbeit mit Gruppen zu übertragen (Majce-Egger 1999, 35 ff.). In die Zeit der 30er- und 40er-Jahre fällt gleichfalls die Entdeckung der Rolle von informellen Gruppen in Industriebetrieben. In einigen berühmt gewordenen Untersuchungen wurde das erste Mal aufgezeigt, wie stark die Produktivität von Betrieben davon abhängt, dass sich die formellen und informellen Beziehungen wechselseitig befördern und nicht behindern. Damit wurden die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz selber als Produktivfaktoren sichtbar. Wissenschaftliche Forschungsinteressen an dem Geschehen in Gruppen, damit verbundene soziale und (sozial)politische Anliegen sowie Fragen der Effizienz und Produktivitätssteigerung waren also in dieser Entwicklung von Anfang an eng miteinander verflochten.

In all diesen Entwicklungen gewinnt der Begriff Gruppendynamik daher drei verschiedene Bedeutungen, die gerne miteinander vermischt werden:

1. Er bezeichnet das Geschehen in Gruppen, die Dynamik von Veränderung und Kontinuität, mit anderen Worten: das Kräftespiel einer Gruppe.

2. Er bezeichnet die wissenschaftliche Erforschung solcher Prozesse in kleinen Gruppen, also Gruppendynamik als eine Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften.

3. Darüber hinaus wird mit Gruppendynamik ein Verfahren sozialen Lernens bezeichnet, das bei Erwachsenen soziale Lernprozesse und Verhaltensänderungen anstoßen soll.

1.3Zu diesem Buch

Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns als Forscher und Praktiker mit dem Thema Gruppe und Gruppendynamik und bilden Fachleute im Verstehen und Gestalten von Gruppenprozessen aus: ErzieherInnen, PädagogInnen, TherapeutInnen, BeraterInnen, TrainerInnen, SupervisorInnen, StudentInnen verschiedener Fachrichtungen ebenso wie Führungskräfte oder LeiterInnen von Projektgruppen, Teams usw. Die Qualifizierung kann in ganz unterschiedlichen Formen und Zusammenhängen stattfinden: als Teamentwicklung, als Teamsupervision, als Seminar oder Workshop. Für die Fortbildung von einzelnen Fach- und Führungskräften außerhalb von Organisationen bedienen wir uns vor allem der Lernform des gruppendynamischen Trainings, bei der sich die Erfahrung von Gruppenprozessen mit ihrer Reflexion und dem Lernen über Gruppenprozesse verbindet. Die Teilnehmer erleben die Gruppe, nehmen wahr, wie sie die Gruppe beeinflussen und von ihr beeinflusst werden, und reflektieren diesen Prozess gemeinsam. Durch diesen Austausch wird die Vielfalt des Erlebens und der individuellen Perspektiven sichtbar, die den Kern der sozialen Dynamik einer Gruppe ausmachen. Zugleich werden dabei die jeweiligen Konzepte und Modelle reflektierbar, die die individuellen Wahrnehmungsmuster prägen. Persönliche und gruppale „blinde Flecken“ können erfahren und, auf dieser Erfahrung aufbauend, die Handlungsoptionen erweitert werden.

Das Buch ist für allgemein Interessierte und als begleitende Lektüre für TeilnehmerInnen an gruppendynamischen Fortbildungen gedacht, die ihre Erfahrungen und die damit verbunden Fragen weiterverfolgen wollen. Es enthält einen Teil der Materialien, die wir in unseren Fortbildungen verwenden. Man kann das Buch also abschnittsweise lesen, bezogen auf die Fragen, die einen gerade interessieren, und den eingearbeiteten Querverweisen folgen, oder man verschafft sich mit dem Lesen von vorne bis hinten einen Überblick. Fallvignetten zu Gruppen aus Fortbildung und Beratung sollen das Dargestellte anschaulich machen und einladen, es auf die eigenen Erfahrungen zu übertragen. Den Kapiteln 3 bis 10 vorangestellt haben wir typische Fragen von Teilnehmern unserer Veranstaltungen. Da wir den Text nicht mit Literaturhinweisen überfrachten wollten, verweisen wir interessierte LeserInnen auf die weiterführenden Literaturverzeichnisse der aufgeführten Titel.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Die Kapitel 2 bis 6 stellen zentrale Konzepte und Modelle zur Erforschung von Gruppendynamik vor, die darauf abzielen, Gruppenprozesse besser verstehen und gestalten zu können. Die Kapitel 7 bis 10 beschäftigen sich mit Gruppendynamik als Verfahren, d. h. als einer Form sozialen Lernens. Wir konzentrieren uns hierbei weitgehend auf die „klassische“ Lernform des gruppendynamischen Trainings, weil sich anhand dessen die Arbeitsprinzipien der Gruppendynamik besonders gut erläutern lassen. Kapitel 11 gibt einen Ausblick auf die Besonderheiten der verschiedenen Anwendungsformate und -felder. Eingegangen sind hier Teile eines gemeinsam mit Jürgen Christen verfassten Textes, dem wir dafür danken wollen. Im Anhang finden sich Informationen zu den relevanten Fachverbänden und zu Weiterbildungsmöglichkeiten.

Um die eigene soziale Kompetenz im Umgang mit Gruppen zu steigern, genügt es allerdings nicht, ein Buch zu lesen. Dazu gehören essenziell Erfahrungen und ihre Reflexion, z. B. durch das Feedback von anderen. Genau das hat die Gruppendynamik als Verfahren sozialen Lernens in Fülle zu bieten.

Den Text gelesen und kritisch kommentiert haben Klaus Antons, Hella Gephard, Thomas Giernalczyk und Tomke König, denen wir für Ihre Anregungen danken.

Oliver König, Köln & Karl Schattenhofer, München

Januar 2006 / Dezember 2019

1Wir benutzen im Text weitgehend diese Schreibweise für die männliche und weibliche Form.

2Was ist eine Gruppe?

2.1Definitionselemente einer Gruppe

Es gibt die vielfältigsten Formen von Gruppen: Familien, Schulgruppen, Sportgruppen, Seminargruppen, betriebliche Gruppen, therapeutische Gruppen, ethnische und religiöse Gruppen. Ist somit jede Ansammlung von Menschen eine Gruppe? Sind fünf Fahrgäste, die in der U-Bahn zusammensitzen, auch eine Gruppe? Oder sind die 200 Menschen, die gegen die Sozialpolitik der Bundesregierung demonstrieren, eine Gruppe? Die Kleingruppenforschung hat einen eher engen Begriff von Gruppe und definiert sie unter formalen Gesichtspunkten. Demnach haben Gruppen

3 bis ca. 20 Mitglieder (von Großgruppen spricht man ab ca. 20 Mitgliedern)

eine gemeinsame Aufgabe oder ein gemeinsames Ziel

die Möglichkeit der direkten (Face-to-Face-)Kommunikation

eine gewisse zeitliche Dauer, von 3 Stunden (der durchschnittlichen Lebensdauer vieler Gruppen aus der experimentellen Psychologie) bis zu vielen Jahren.

Darüber hinaus entwickeln Gruppen mit der Zeit

ein Wir-Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und des Gruppenzusammenhalts

ein System gemeinsamer Normen und Werte als Grundlage der Kommunikations- und Interaktionsprozesse

ein Geflecht aufeinander bezogener sozialer Rollen, die auf das Gruppenziel gerichtet sind.

Um den Begriff Gruppe weiter zu konkretisieren, ist es hilfreich, ihn einigen verwandten Begriffen gegenüberzustellen.

2.2Nicht alles ist eine Gruppe – Abgrenzung zu verwandten sozialen Formen

Die Teilnehmer einer Demonstration oder anderer Großveranstaltungen, z. B. auch die Zuschauer bei einem Fußballspiel, würde man im engeren Sinne nicht als Gruppe, sondern als Menge oder Masse bezeichnen. Unter einer Menge versteht man eine Gesamtheit von Personen, die sich ohne Verabredung und daher in der Regel auch ohne intensivere Kommunikation und Interaktion am gleichen Ort aufhalten. Zur Masse wird eine solche Menge, wenn sich die beteiligten Personen im Hinblick auf ein eingegrenztes Ziel zusammenschließen. Die Aufmerksamkeit einer solchen Masse richtet sich nicht aufeinander, sondern auf ein Drittes: im Falle der Demonstration z. B. auf die Redner, beim Fußball auf das Spielgeschehen. Das Miteinander ist ein zeitlich eingegrenztes Ereignis, über die Gelegenheit hinausgehende Gemeinsamkeiten, z. B. als Hartz-IV-Gegner oder als Schalke-Fan, bleiben ideelle Konstrukte. Menschenmassen sind eher Gegenstand der Massenoder politischen Psychologie. Dennoch können Massen eine eigene Dynamik entwickeln, zu deren Verständnis gruppendynamische Gesichtspunkte hilfreich sind. Einzelne Aspekte werden uns bei der Betrachtung der Großgruppe wiederbegegnen, z. B. die Schwierigkeit, sich dort als Individuum zu erfahren, der Umgang mit Emotionen oder die Besonderheit von Führungsrollen.

Viele der genannten Gruppen sind Teil einer Institution oder Organisation. Es lohnt sich, diese beiden Begriffe zu unterscheiden. In den Sozialwissenschaften wird mit Institution eine kulturell bestimmte und zumeist auch rechtlich abgesicherte Gestalt bezeichnet, in der Grundbedürfnisse des Menschen gewährleistet sind und damit eine Reihe von Erwartungen, Einstellungen und Verhaltensweisen auf Dauer gestellt werden. Dies können kleinere wie auch sehr große und abstrakte Zusammenhänge sein. Z. B. redet man von der Institution der Ehe und der Familie, aber auch von den Institutionen des Rechts, der Wirtschaft, der Erziehung, der sozialen Arbeit usw. Diese schaffen sich bestimmte Formen der Organisation