Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Ulf Häusler |
|
Umwege zu R. |
|
ISBN |
|
Paperback: |
978-3-347-07524-5 |
E-Book: |
978-3-347-07526-9 |
Cover-Gestaltung: Regina Häusler
www.art-regina-haeusler.de
Technisches Layout: Jochen Zeller
1.Auflage
© 2020 Ulf Häusler
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40 - 44
22359 Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Umwege zu R.
Für Linde
ULF HÄUSLER
UMWEGE ZU R.
Roman
Inhalt
Vorwort
Teil I
1. – 4. Kapitel
Teil II
5. – 11. Kapitel
Teil III
12. – 16. Kapitel
Teil IV
17. – 27. Kapitel
Teil V
28 – 35. Kapitel
Teil VI
36. – 40. Kapitel
Teil VII
41 – 57. Kapitel
Über den Autor
Am Ende wird alles gut. Wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.
Oscar Wilde
Vorwort
Der nachfolgende Roman beruht auf einer wahren Begebenheit.
Es liegt schon ein paar Jahre zurück, dass ich im Wartezimmer bei einer Ärztin saß. Mit viel Geduld, aber leider ohne meinen E-Book-Reader bewaffnet. Den hatte ich schlicht zu Hause vergessen. Also wollte ich nach ‚Stern‘, ‚Spiegel‘ oder ‚Focus‘ greifen, um die Wartezeit erträglicher zu gestalten, doch alle einschlägigen Zeitungen, Zeitschriften u.a.m. waren von anderen Wartenden belegt und ein altes ADAC-Mitgliederjournal reizte mich herzlich wenig, zumal es so zerfleddert aussah, dass es eigentlich schon in die blaue Tonne gehörte. Auch ‚Gala‘ und ‚Die Bunte‘ waren nicht greifbar, nur einige wenige Frauenzeitschriften. Was tut der Mensch – männlich – nicht alles in seiner Verzweiflung: Ich griff mir so ein Exemplar, blätterte gelangweilt durch eine neue sensationelle Diät, deren Untertitel Seriosität verhieß, weil ein US-amerikanisches Forscherteam sie angeblich durch einen Feldversuch erprobt hätte, anschließend ließ ich mich von der ‚tragbaren Mode für die Frau über 40‘ angemessen beeindrucken und blieb dann an einem Bericht hängen, in dem eine – der Figur nach bildhübsche - Frau mit ‚gepixeltem‘ Gesicht abgebildet war, ein süßes kleines Mädchen an der Hand, geschätzte fünf Jahre alt. ‚Ich habe den Krebs besiegt!‘ lautete die Überschrift. Die Story in Kurzform:
Eine junge Frau kann keine Kinder bekommen, weil sie kurz nach der Eheschließung an Krebs erkrankte: Morbus Hodgkin. Sie musste wohl einiges über sich ergehen lassen, OP, Chemo, Bestrahlung, nach zwei Jahren war der Krebs rezidiv. Wieder das volle Programm, nur mit dem Unterschied, dass sie beim zweiten Mal die Bestrahlung verweigerte. Der Grund: Beim ersten Mal wurden ihre Eierstöcke mit bestrahlt, sodass sie nie mehr würde Kinder haben können. Sie suchte nach alternativen Heilungsmöglichkeiten, meinte auch solche gefunden zu haben: In China, in Afrika, in Griechenland und schließlich auch in Deutschland. Ihre Mühen waren nicht umsonst: Kurz vor ihrem 40. Lebensjahr bekam sie ein kleines Mädchen. Sie hatte den Krebs und seine Nebenwirkungen überstanden.
Bevor ich damit begann, aus der Geschichte den nachfolgenden Roman zu schreiben, interessierte mich, ob an der Geschichte etwas ‚dran‘ war oder ob man sie sich nur ‚ausgedacht‘ hatte. Ich bat daher einen befreundeten Journalisten, dem Bericht auf den Grund zu gehen. Mit Hilfe der Journalistin, die den Bericht einst geschrieben hatte, machte er die junge Frau sogar ausfindig – sie lebte als freischaffende Keramikerin inzwischen in einem südeuropäischen Land mit Mann (Studienrat an einer deutschen Schule) und Tochter.
Mein Journalistenfreund hatte seine Informationen übrigens nur erhalten, weil er seiner Kollegin eine andere ‚Story‘ anbot, die für seine Zeitung nicht geeignet war.
Teil I
1. Kapitel
Mit Vergangenem hatte Friedhelm eigentlich nichts am Hut. Und mit Vergangenem, was mit seiner ehemaligen Penne zusammen hing schon mal gar nicht. Aber als sein alter Freund Hinner ihn in Darmstadt anrief, er habe sich am kommenden Freitag gefälligst in sein Heimatstädtchen Reichelsheim zu begeben, zögerte er zwar erst einmal, aber als der ihm dann klar machte, dass es immerhin das einjährige Abi zu feiern gelte, hatte er sich breitschlagen lassen. Zumal Hinner angekündigt hatte, dass jede Menge ‚scharfe Frauen‘ eingeladen seien, was ihm seinen Entschluss, dem Ruf des Freundes zu folgen, schon erheblich leichter gemacht hatte. „Was verstehst Du denn unter ‚scharfen Frauen‘?“ hatte er zuvor noch gefragt.
„Na so’ne mit viel Busen, tiefem Ausschnitt, langen Beinen, kurzen Röcken und knackigem Hintern.“
„Jeder Landbriefträger bringt die zu unserer Fete, aber Du doch nicht Hinner. Willste die aus der Frankfurter Bahnhofstraße einfliegen lassen?“
„Wirst schon sehen.“
Friedhelm und Hinner waren die einzigen waschechten Ostfriesen am heimatlichen Gymnasium gewesen, beider Eltern hatte es in den Odenwald verschlagen, Hinner aus Oldenburg etwas früher und so noch mit zwei Jahren Grundschule, Friedhelms Eltern waren aus Emden so zugezogen, dass er gleich in der ersten Klasse der gymnasialen Oberstufe der Gesamtschule anfangen konnte. Dass ihn seine Eltern stets Fietje nannten, hatte ihn nie gestört und die anderen Kinder hatten anfangs nur gegrinst über den komischen Namen, ihn dann aber akzeptiert. Beide, Fietje und Hinner, hatten zunächst ein Weilchen gebraucht, bis sie in ihrer Klassengemeinschaft nicht mehr als Fremdkörper angesehen wurden, aber da sie sportlich recht gut waren und vor allem auch noch sehr gut aussahen, hatte es mit der Akzeptanz bald geklappt. Beide waren hellblond und mit Sommersprossen reichlich gesegnet – das erhöhte im Pubertätsalter bei den Mädchen den Stellenwert beträchtlich. Eigentlich wurden sie regelrecht angehimmelt, Fietje mit seinen inzwischen 1.85 m Länge etwas mehr, als der nur 1,78 lang geratene Hinner.
Hinner machte gerade bei der Volksbank eine Lehre – sobald die abgeschlossen war, wollte er in Frankfurt BWL studieren. Fietje hingegen war ab dem 10. Lebensjahr mehr und mehr ein Computer-Fan geworden und es war sonnenklar für ihn gewesen, IT zu studieren. Und da Darmstadt vom heimatlichen Reichelsheim in erträglicher Entfernung lag, hatte er dort auch einen Studienplatz gefunden. Und obendrein auch noch per Zufall eine Bude – das war so etwas wie 6 Richtige plus Zusatzzahl im Lotto gewesen.
Fietjes Eltern, Hein und Rose Petersen, freuten sich richtig, dass durch den Anruf Hinners ihr Sprössling einmalmal mehr wieder bei Muttern die Beine unter den Tisch strecken würde, denn seitdem der Junge in Darmstadt war, kam er höchstens noch einmal im Monat. Sie hatte immer ein bisschen den Eindruck, er komme vor allem wegen seiner Wäsche, aber dann schämte sie sich regelmäßig ein wenig, weil Fietje dann doch meist ganz brav zu Hause blieb, mit den Eltern abends vor der Glotze saß oder mir ihnen auch Skat spielte.
„Und was macht das Studium?“
Fietjes Vater stellte immer die gleiche Frage, ob er die Antworten des Jungen so richtig aufnahm, wusste man nicht so recht. Er redete wenig, eigentlich gar nicht, es sei denn, es musste unbedingt sein, wie z.B. im Beruf bei seiner Firma, in der er sich von ganz unten als kleiner Diplom-Ingenieur bis zum Entwicklungs-Chef hochgearbeitet hatte. Die Mutter war auch nicht viel gesprächiger – beide waren halt Ostfriesen. Und das seit Generationen. Und die ganze Jugend in Emden. Heins bester Freund hatte mal vor vielen Jahren mit diversen Gläsern Bier und Korn wohl versorgt, gemeint, sie würden halt zu den Fußkranken der Völkerwanderung gehören. Nun, diese Erkenntnis hatte Hein Lügen gestraft, als er damals bei einer Kunststoff-Firma in Erbach im Odenwald ein Angebot bekommen und es angenommen hatte.
„Wat mut, dat mut.“ hatte Hein seiner Rose damals klar gemacht. Rose hatte nur gelacht, als der Freund das mit der Völkerwanderung gesagt hatte. Und Hein hatte ihr als Zeichen seiner innigen Zuneigung einen ordentlichen Klaps auf ihr hübsches, strammes Hinterteil gegeben.
Fietje musste ein wenig grinsen, als er an seine Eltern dachte. Vor allem daran, was seine Oma ihm vor zwei Jahren erzählt hatte, als sie mal wieder bei seinen Großeltern in Emden gewesen waren.
Die Eltern waren richtig glücklich miteinander, immer noch. Zwar hatte Rose als junges Mädchen nach der Schule als Au-Pair ein Jahr nach England gewollt, aber da war ihr Hein erst sauer und dann richtig deprimiert geworden.
„Das halte ich nicht aus, ein ganzes Jahr ohne Dich.“ Sie sah das irgendwie ein und hatte auch kein Problem mit dem Wechsel in den Odenwald gehabt.
„Au Pair in England ist‘s zwar nicht, aber schön weit weg von Ostfriesland ist es schon.“ hatte sie nur gemeint.
Ihre beiden Eltern hatten sich erst einmal quergelegt, als Rose mit Hein mitziehen wollte. Zwar waren sie schon länger ein Paar und Ihre Eltern glaubten keineswegs, dass Ihre Tochter noch nie mit dem Hein so richtig zusammen war. Aber sie unverheiratet mit Hein soweit fortziehen zu lassen, empfanden sie schlicht als unschicklich. Und Heins Vater hatte gemeint, das mache einen sehr schlechten Eindruck bei seiner Firma, wenn er da mit so einem Mädchen ankäme.
„Da bekommt Ihr ja nicht einmal eine Wohnung.“
Hein hatte nur gelacht.
„Damit Ihr beruhigt seid – Rose und ich werden vielleicht vorher heiraten.“
Wieder meinten beide Elternteile, etwas dagegen haben zu müssen.
„Dafür bist Du noch viel zu jung.“ meinte ihre Mutter. „Und außerdem halte ich den Hein für einen Schluri.“
„Was meinst Du damit; Modder?“
„Hein ist keiner, der treu sein kann.“
„Woher weißt Du das?“
„Der schaut immer so hungrig.“
„Meinst Du, er bekommt nicht genug zu essen?“ grinste Rose ihre Mutter an.
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Bis jetzt wird er immer ganz gut satt bei mir.“
So, nun war es raus, die elterliche Vermutung war zur Gewissheit geworden.
„Wie – Ihr habt schon…“
„Ach Modder, wir leben doch nicht mehr im vorigen Jahrhundert.“
Roses Mutter war ganz blass geworden, als ihre Befürchtung durch die töchterliche Aussage Realität geworden war. Ihre Rose war doch erst 23 und dieser Hein 25. Die waren doch eigentlich noch Kinder. Und wenn sie womöglich schwanger würde – wie soll das denn alles gehen. Na ja, sie war schließlich erst 20 gewesen, als sie ihren Peter Petersen geheiratet hatte, der damals 23 war.
„Dann wird aber geheiratet, bevor ihr abhaut.“
„Mal sehen.“
Hein war es bei seinen Eltern ganz ähnlich ergangen. Beide hatten es für absolut unmöglich gehalten, dass der Junge ohne Trauschein mit dem Mädel fortzog und ihr womöglich noch ein Kind aufhalste.
„Warum heiratet Ihr nicht vorher?“
„Das hat doch alle Zeit der Welt.“ hatte Hein ziemlich frech grinsend gemeint. Eine Aussage, die auf wenig elterliche Gegenliebe stieß.
Im Grunde wollten beide heiraten. Und zwar bald. Denn beide hatten die Heimlichtuerei gründlich satt, wenn sie mal richtig schön beieinander sein wollten – mit Trauring war das alles viel einfacher. Und dass die Eltern nun die Herat auch begrüßten – wenn auch einerseits ‚nur‘ wegen des Fortzugs in den für einen Ostfriesen fernen Süden und andererseits aus Angst, die unverheiratete Rose könnte womöglich ledig und allein gelassen ihren Eltern ein ‚süßes Geheimnis‘ verraten. So hatten sich beide Elternpaare an einem Sonntag, als Hein und Rose einen kleinen Segeltörn machten, zum Mittagessen in einem Restaurant getroffen und ‚ahns klor mokt‘, wie sie es nannten.
Der Gasthof lag direkt am Hafen und als die beiden Segler an Land kamen, wurden sie von Heins Vater reingerufen.
„Rose, ich glaube, die haben was ausbaldowert. Wollen wir sie ein bisschen zappeln lassen?“
„Ziemlich gemein. Meinst Du nicht auch?“
„Nö, ein wenig Strafe muss sein. Macht doch Spaß.“
„Schäm Dich. Aber meinetwegen.“
Kaum hatten beide am elterlichen Tisch Platz genommen, fragte der alte Petersen den alten Beneke:
„Willst Du, oder soll ich?“
„Ich mach das. Jens. Also hört mal Ihr zwei, wir haben beschlossen, dass Ihr heiratet, bevor Ihr loszuckelt. So das war’s. Alles klar? Pfarrer Hinrichs würde Euch in zwei Wochen trauen.“
Rose hatte allergrößte Mühe, ihr Strahlen zu verbergen und auch Hein war ganz rot geworden vor Freude, da er aber ein ziemlich ernstes Gesicht hinbekam, wirkte er so eher zornig. „Spinnt Ihr jetzt alle total? Wir sind schon über 18, falls Euch das entgangen sein sollte. Und ich weiß noch nicht einmal, ob die Rose mich überhaupt haben will, außer zum Schmusen und so. Die will vielleicht viel lieber einen temperamentvollen Südländer haben und nicht einen sturen Ostfriesen. Los, sag auch mal was, Rose.“
„Weiß nicht, Hein. Also recht hast Du ja, dass wir schon volljährig sind…“
Weiter kam sie nicht, denn Roses Mutter war kreidebleich geworden, Heins Mutter puterrot und die beiden Väter starrten ins Leere. Zum Glück kam gerade der Kellner, um nach den Wünschen der jungen Gäste zu fragen.
„Ich brauch jetzt einen Korn.“ stellte Heins Vater fest.
„Zwei doppelte, junger Mann.“ ergänzte Vater Beneke, um sogleich fortzufahren: „Bring mal besser gleich die ganze Boddel.“
Inzwischen konnte sich Hein nicht mehr länger zurückhalten. „Rose, komm mal her.“
Er setzte sie auf seinen Schoß, gab ihr einen Kuss und meinte zu den alten Herrschaften:
„Haben wir Euch wenigstens einen ordentlichen Schrecken eingejagt? Hättet es uns ja etwas schonender beibringen können, was Ihr mit uns vorhabt. Aber ist schon in Ordnung. Wollten wir nämlich auch. Heiraten.“
Rose saß inzwischen wieder auf ihrem Stuhl. Sie wollte das Spielchen noch ein wenig fortsetzen.
„Ich werde also überhaupt nicht gefragt? Wisst Ihr eigentlich, dass der Kerl da“ – sie deutete auf Hein – mich noch nicht mal gefragt hat, ob ich ihn nehmen will?“
Nun war Hein etwas irritiert.
„Also vorhin auf dem Boot…“
„Was heißt hier auf dem Boot – gefragt hast Du mich da auch nicht.“
„Soll ich jetzt…?“
„Klar sollst Du. Und zwar unter Zeugen.“
Sie schaute ihren Hein so frech und herausfordernd an, wie schon lange nicht mehr.
„Was war da auf dem Boot?“ fragte Roses Mutter.
Inzwischen stand Hein vor Rose. Die sagte nur:
„Und?“
Hein kniete sich nun vor Rose hin, grinste sie genauso frech und herausfordernd an, wie sie ihn eben zuvor.
„Willst Du, Rose Beneke meine Frau werden?“
„Ja, Du blöder Kerl Du, ich will. Und nun kannst Du das mit dem Boot erzählen.“
„Mach ich nicht. Aber ich mach jetzt noch mal, was ich da vorhin mit Dir gemacht habe.“
„Auch gut.“ Ließ sich Rose vernehmen.
Hein holte aus seiner Hosentasche ein kleines Schächtelchen mit zwei schlichten goldenen Ringen, steckte einen seiner Rose an den linken Ringfinger, sie nahm den anderen und streifte ihn Hein über den Finger der linken Hand. Sie war jetzt puterrot geworden, stand inzwischen vor Hein, umarmte ihn und küsste ihn – und das so ganz richtig und innig.
„Geht doch.“ lachte sie ihn an. „Und nun sind wir ein richtiges Brautpaar. Bekommen wir nun auch einen Korn?“
Schlagartig war ringsum eitel Sonnenschein. Nur Roses Mutter schaute noch ein wenig ernst, wie der Tochter schien. Und weil es neulich schon einmal Thema war, beschloss sie, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Modder, nun sei man friedlich. Ich bin nicht schwanger. Zufrieden?“
Der Mutter war die Erleichterung förmlich anzusehen. Aber als sie dann sagte:
„Nun, das will ich aber auch schwer hoffen.“, war es Rose doch ein wenig zu viel.
„Und wenn ich’s wäre? Hört mal her, alle miteinander. Hein und ich, wir sind beide nicht doof. Und haben festgestellt, dass wir wohl einen sehr zähen Lebenswillen hatten, denn wir sind beide 7-Monatskinder. Es gibt schon Zufälle, was? Soviel zu diesem Thema. Seid also nicht so prüde.“
Nun hatten beide Mütter hochrote Köpfe – Vater Beneke hatte sich als erster gefasst.
„Gut, dass wir gleich die ganze Flasche mit dem Korn hier stehen haben. Ich brauch schon wieder einen. Ihr auch?“
Drei Wochen später waren sie verheiratet und zogen nach Michelstadt, über 500 km von Emden entfernt. Hein fing am 1. Juni 1968 als Ingenieur in der Entwicklungsabteilung bei Karein-Kunststoff GmbH, einer Kunststofffabrik, im benachbarten Erbach an zu arbeiten. Rose hatte zu Hause nach dem Abi eine Lehre als Bürokauffrau bei Raiffeisen absolviert und bekam tatsächlich in Michelstadt ebenfalls bei Raiffeisen eine Stelle im Büro.
Das alles hatte die Oma damals ihrem Enkel erzählt. Was der zwar alles als recht hübsch und romantisch empfand, aber aus seiner Sicht war es doch ziemlich ‚aus der Zeit gefallen‘.
Inzwischen war Fietje wieder im Elternhaus angekommen – außerplanmäßig, wie er betonte und abends würde er zum Klassentreffen fahren.
Als er gegen ½ 9 in der ‚Freiheit‘ ankam, wurde er mit viel Hallo begrüßt und staunte nicht schlecht – sein Freund Hinner hatte wirklich nicht zu viel versprochen – über die ‚Schärfe‘ der mitfeiernden ‚Frauen‘ konnte man zwar unterschiedlicher Meinung sein, aber Fietje musste zugeben, dass sich die eingeladenen Mädels im Laufe eines Jahres ganz gut entwickelt hatten. Hinner hatte nur für eine einzige Augen – Fietje musste nach einer viertel Stunde feststellen, dass er seinen Freund für den Rest des Abends ‚abschreiben‘ konnte. So ganz dunkel konnte er sich an das Mädchen erinnern, sie war drei Klassen unter ihnen gewesen und hatte jetzt noch zwei Jahre bis zum Abi. Damals hatten beide die Kleine kaum wahrgenommen, aber das Mädchen sah jetzt richtig toll aus. Der Babyspeck war weg, sie war rank und schlank, kurvige Figur und lange dunkle Haare, die fast bis auf den Po reichten. Und Hinner himmelte sie geradezu an. Fietje erfuhr im Laufe des Abends, dass beide seit etwa einem halben Jahr fest liiert waren.
„Über das Thema reden wir noch, mein Lieber.“ raunte Fietje seinem Freund noch zu, als ‚sie‘ gerade nicht an Hinner ‚klebte‘, wie er es empfand. Der feuerrot wurde und ziemlich lahm erwiderte:
„Nö, will ich nicht. Und dass ich mit der Freia jetzt zusammen bin, geht Dich eh nichts an – oder?“
„Ich dachte, wir wären Freunde. Und Du erzählst mir da kein Sterbenswörtchen?“
„Hätte ich Dir erzählt, dass ich da jetzt was Festes habe, hättest Du mich für verrückt erklärt und ich hätte mir Deinen doofen Spruch anhören müssen. Im Übrigen sind wir heimlich verlobt.“
„Was für‘n Spruch?“
„Sich verloben heißt, sich rückversichern, um in Ruhe nach etwas Besserem zu suchen. Oder noch blöder: Warum soll ich’s mit einer halten und mit allen verderben.“
„Blödmann. Der erste Spruch würde mir im Traum nicht einfallen, weil ich mich nie verloben werde und der zweite ist absolut richtig. Den werde ich mindestens noch zehn Jahre weiterleben.“
„Was wollt Ihr weiterleben?“ Freia war jetzt hinzugetreten.
„Och lass mal. Der Fietje spielt gerade mal wieder den halbstarken Macho-Casanova.“
Freia grinste jetzt Fietje richtig süß und vor allem frech an. „Sieh mal Hinner – wenn er das doch noch braucht. Bei manchen Männern dauert‘s halt ein wenig länger, bis sie erwachsen werden.“
Fietje streckte ihr die Zunge heraus und wandte sich ab. ‚Blödes Kalb‘ dachte er und stürzte sich ins Getümmel. Nach einer guten halben Stunde hatte er auch ein Mädchen für den Abend gefunden und hoffte, dass er sie nach Hause bringen könnte – mit ein bisschen Knutschen und vielleicht noch etwas mehr…
Im Übrigen nagte Hinners feste Freundin an ihm – Fietje wusste nämlich nicht so recht, wer es nun wirklich richtig machte – Hinner, der sich schon früh zu binden schien oder er, der mehr von einer Blume zur nächsten flatterte. Und dachte plötzlich an seine Eltern. Was ihn keineswegs beruhigte.
2. Kapitel
Strahlend, erleichtert und rundum glücklich kam Nephele aus der Klinik, in ihrem Rucksack wohlverstaut zwischen zwei Pappdeckeln ihr Zeugnis, dass sie vor wenigen Minuten erhalten hatte und das ihr bescheinigte, dass sie die Prüfung zur Physiotherapeutin nicht nur einfach bestanden hatte, sondern sogar mit der Note 1,5 bedacht wurde. Und als sie den Prüfungsraum gerade hatte verlassen wollen, war einer der Prüfer hinter ihr hergelaufen und hatte sie zu überreden versucht, doch auch die nun noch anstehenden zwei praktischen Jahre in seiner Abteilung in der Klinik zu absolvieren.
„Frau Mantalo, es wäre sehr schön, wenn Sie bei mir arbeiten würden. Wenn Sie bei meinem Kollegen Papadakis etwas sicherer gewesen wären, hätten Sie sogar ein ‚Sehr gut‘ bekommen. Was meinen Sie zu meinem Angebot?“
„Klingt toll, Herr Professor, darf ich es mir noch überlegen? Ich wohne doch noch bei meinen Eltern in der Nähe von Plataniskia. Und jeden Tag nach Nicosia – ich weiß nicht so recht.“
„Aber Sie wollen doch nicht ewig bei Ihren Eltern wohnen wollen. So eine schöne junge Frau wie Sie will doch nicht für ewig im ‚Hotel Mama‘ bleiben, sondern sich eine eigene kleine Wohnung suchen. Oder?“
„Also, noch gefällt es mir bei meinen alten Herrschaften sehr gut und Nicosia ist verdammt teuer. Wie sollte das denn gehen, bei dem ja recht bescheidenen Gehalt, das eine Krankengymnastin in den ersten zwei Jahren verdient?“
„Hm. Ich glaube, da wüsste ich eine Lösung. Ich würde veranlassen, dass Sie ein Appartement bei uns im Schwesternwohnheim bekämen. Das könnten Sie ohne weiteres bezahlen.“
„Ja, das könnte gehen.“
„Wissen Sie, Frau Mantalo, die Papas hört nämlich auf, sie ist jetzt 63 und geht in Rente. Und für die brauche ich Ersatz.“
„Die hat uns doch ausgebildet und ist ein wirkliches Ass.
Trotz ihrer 200 Pfund.“
Sie lachten jetzt beide.
„Nicht übertreiben. Sind nur 180.“
„Haben Sie sie gewogen? Aber Spaß beiseite. Wie soll ich die denn ersetzen? Ich bin doch erst mal blutige Anfängerin und sie ist sogar Ausbilderin. Und eine verdammt gute obendrein.“
„Das schaffen Sie. Ich traue es Ihnen durchaus zu. Sonst würde ich es Ihnen nicht anbieten. Allerdings…“
„Sehen Sie? Jetzt haben Sie auch schon Zweifel.“
Professor Kokolakis lachte laut auf.
„Was gibt’s da zu lachen?“
„Weil Sie allenfalls nur 50 kg auf die Waage bringen und so in der Tat zur Kollegin Papas vergleichsweise ein Leichtgewicht sind.“
Wieder mussten sie beide lachen.
„Ok. Ich überleg mir’s.“
„Aber nicht so lange, bitte.“
„Jetzt wollte ich aber erst mal ein wenig ausspannen. Die letzten Wochen waren nämlich nicht so ganz ohne.“
„Gut, das sehe ich ein. Was halten Sie von 4 Wochen Bedenkzeit?“
„Einverstanden, Herr Kokolaki. Ich melde mich auf jeden Fall bei Ihnen. Dann mal Antio für heute.“
Professor Kokolakis wusste nicht so recht, ob er sich da verhört hatte. Die Young Lady hatte ihn nur mit Namen und ohne Titel angesprochen? ‚Ganz schön frech meine Kleine, aber verdammt hübsch bist Du. Ich werde Dich schon kirre kriegen‘. dachte er.
„Antio Frau Mantalo – wir hören voneinander.“
‚Das könnte Dir so passen. Lieber sammle ich in Mutters Weinbergen die Läuse einzeln von den Blättern ab, als unter Dir zu arbeiten‘. dachte Nephele. An und für sich hätte sie es sich durchaus vorstellen können, in der großen Klinik in Nicosia zu arbeiten. Hatte aber den Gedanken nie ernsthaft verfolgt, weil dieser Kokolakis als größter Schürzenjäger in der ganzen Klinik nicht nur bekannt, sondern geradezu verrufen war. Allen Frauen unter 30 pflegte er nachzustellen und böse Zungen behaupteten, dass er etwa 2/3 der weiblichen Altersgruppe schon flachgelegt hatte – sofern sie einigermaßen hübsch und wohlproportioniert waren und keinen Mundgeruch hatten. Es wurde sogar kolportiert, dass selbst größere Mengen von Knobloch einen vor seinen Nachstellungen nicht bewahren könnten. Immerhin – verheiratete Frauen ließ er in Ruhe. Ob aus ‚aufrechter Gesinnung‘ oder weil er eine Tracht Prügel von gehörnten Ehemännern fürchtete, wusste man nicht so genau.
Professor Kokolakis war Anfang 40, sah blendend aus, konnte sehr charmant sein und war fachlich eine Koryphäe. Aber in puncto Frauen eben ein echter Kotzbrocken. Da nützte auch das Charmant-Sein nichts.
Nephele hielt sich für ganz ansehnlich, dass sie tatsächlich ein bildhübsches Mädchen, etwa 1,78 lang geraten war, tiefschwarze Haare und dunkelbraune Augen hatte, stets ziemlich gut gebräunt aussah und obendrein mit einer tollen Figur gesegnet war, war ihr selbst nie so recht bewusst gewesen. Aber ihr war durchaus klar, dass sie voll in das Beuteschema von Kokolakis passen würde. Ja, sie würde schon mal mit einem Mann ganz richtig zusammen sein wollen, aber nicht als Gespielin ihres potentiellen Chefs. Sondern mit einem Mann, den sie lieben könnte, mit dem sie für immer zusammenbleiben und von dem sie sich vorstellen könnte, die Mutter seiner Kinder zu werden. Da würde sie auch ganz sicher nicht bis zur Hochzeitsnacht warten wollen. Inzwischen hatte sie sich unweit der Klinik in ein Straßencafé gesetzt und einen doppelten Cyprus Coffee Sketo bestellt. Ihre Mitprüflinge hatten das Klinikgebäude inzwischen auch verlassen und zwei ihrer Kolleginnen kamen jetzt auf Nephele zu und setzten sich zu ihr.
„Was wollte denn der Kokolakis von Dir?“ fragte Helena, „Dich in sein Bett zerren?“
Alle drei mussten jetzt lachen.
„Nö, noch nicht. Er hat’s subtiler versucht und mir erst mal einen Job bei sich angeboten.“
„Und, nimmst Du den an?“
„Wohl eher nicht.“
„Warum nicht? Also, ich würde den Job sofort nehmen. Und von der Bettkante müsste man den Kerl eigentlich auch nicht unbedingt verstoßen.“
„Helena, der ist absolut nicht mein Typ. Und wenn der mir zu nahekäme, würde ich den Job gleich wieder verlieren.“
„Wieso das denn? Der hat noch keine rausgeschmissen, mit der er im Bett war.“
„Mich schon.“
„Hm…?“
„Ich würde ihm vorher noch eine kleben, so wie damals die eine Ärztin, die er angegrapscht hatte. Die ist danach in die Onkologie gegangen.“
„Mensch Nephele – warum bist Du denn so prüde?“ lachte jetzt Xenia.
„Das hat nichts mit Prüderie zu tun. Ich bin doch kein Freiwild für einen hormongesteuerten Professor, der sich für unwiderstehlich hält.“
„Deshalb kann man doch mal mit dem zusammen sein? Und ein bisschen Spaß haben? Gib’s zu – Du hast noch nie mit einem Mann geschlafen.“
„Also erstens geht Euch das nichts an und zweitens war ich schon mehr als einmal mit einem Mann zusammen. Schon als Schülerin. Und können wir jetzt mal das Thema wechseln? Was habt Ihr denn jetzt so vor?“
Nephele war ein wenig rot geworden. Aber sie hatte nicht gelogen. Sie hatte ja nur zugegeben, schon mit Jungs zusammen gewesen zu sein. Dass es ‚nur‘ Teasing und Petting gewesen war, brauchte sie denen ja nun wirklich nicht auf die Nase zu binden. Und obendrein ging das die Zwei nun wirklich absolut nichts an.
Nach weiteren zwanzig Minuten Unterhaltung löste sich der kleine Kreis auf – Nephele ging zu ihrem kleinen Wägelchen, einem uralten Honda Civic und machte sich auf den Heimweg. Vorher hatte sie noch kurz ihre Mutter verständigt und stolz von der bestandenen Prüfung berichtet.
Nach eineinhalb Stunden Autofahrt kam Nephele zu Hause an. Die Mutter hatte ihr Auto gehört und trat auf die Terrasse, um ihre kleine und nun schon große Tochter in die Arme zu schließen und ihr zu gratulieren. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass die Tochter das Examen womöglich nicht bestanden haben könnte. Sie hatte vorher auf der schattig gelegenen Terrasse eine wunderschöne Kaffeetafel gedeckt und jede Menge der herrlichen zypriotischen in Zuckerwasser getränkten Kuchen hingestellt, die ihrer Tochter immer so gut schmeckten, dazu eine große Kanne Tee vorbereitet.
„Du, Mom, ich mag heut eigentlich gar nichts Süßes – bist Du arg enttäuscht, wenn ich lieber eine Portion gebratenen Halloumi mit Lountza haben möchte? Ich brauch erst mal was Herzhaftes und den Kuchen gern als Nachtisch. Und dann erzähl ich auch alles. Obwohl ich damit lieber warten würde, bis Dad auch da ist. Dann muss ich den Kram nicht zwei Mal erzählen?“
„Das könnte Dir so passen, meine Kleine. Ich vergehe vor Neugier, habe vor lauter Daumendrücken schon ganz steife Hände und jetzt soll ich auch noch warten? Und – na ja, Lountza ist wohl noch da. Oder darf‘s für die junge Dame auch Halloumi mit Hiromeri sein? Danae hat den Schinken erst vor zwei Stunden aus der Räucherkammer geholt. Und stell Dir vor, sie hat vorher zum marinieren nicht den üblichen Rotwein genommen, sondern den guten französischen Beaujolais aus Vaters Weinkeller. Der ist fast ausgeflippt, als er das mitgekriegt hat. Hat sie glaube ich nur wegen Dir gemacht, sonst nimmt sie ja immer unsern Rotwein fürs Marinieren.“
Mutter und Tochter lachten sich jetzt an – Nephele hatte förmlich das Bild vor Augen, als der Herr Papa Danaes ‚Missgriff‘ bemerkt hatte.
„Wo ist die überhaupt? Wieso werde ich nicht gebührend von ihr begrüßt?“
Inzwischen war Danae aus der Küche gekommen und brachte schon einen Teller mit drei Stücken gegrilltem Halloumi und sechs hauchdünn geschnittenen und gebratenem Scheiben Hiromeri mit. Und ganz ungefragt obendrein eine Flasche Weißwein.
„Hab schon mitbekommen, dass Du lieber was Herzhaftes haben möchtest. Ist auch besser als das süße ‚Schlabber-Zeug‘.“ begrüßte sie Nephele, sie genau so herzlich umarmend, wie es zuvor die Mutter getan hatte. Und küsste das Mädchen gleich drei Mal. Dann setzte sie sich dazu und Nephele berichtete von ihrer Prüfung, zwar etwas undeutlich in der Aussprache, weil sie ständig den Mund voll hatte, aber die Mutter ließ es heute ausnahmsweise mal durchgehen.
Nepheles Elternhaus stand in den Bergen mitten in einem Weinfeld in der Nähe von Plataniskia. Es war ein fast 150 Jahre alter Bau aus Feldsteinen, den ihre Urgroßeltern einst gebaut hatten. Im Lauf der Jahrzehnte war das Haus – immer im gleichen Stil – mit mehreren Anbauten versehen worden, sodass es nicht nur für die Eltern Mantalos und ihre zwei Kinder Thisseas und Nephele ausreichend Platz bot, sondern auch groß genug war, um bis vor einigen Jahren die Großeltern und Danae zu beherbergen. Aber Oma und Opa waren vor fünf und acht Jahren gestorben – nun lebten nur noch die vier Mantalos in dem Anwesen, dass der Vater inzwischen mittels entsprechenden Beton-Verstärkungen hatte erdbebensicher machen lassen.
Die Mutter war damals strikt dagegen gewesen.
„Achillea Mantalo, vergiss es – kommt überhaupt nicht in Frage.“ hatte die Mutter ihren Mann kurz und bündig beschieden. „Und wenn Du das doch machen lässt, kannst Du Deine Helena Mantalos mal als geborene Georgiou kennen lernen.“ hatte sie damals ihren Mann zornbebend angefunkelt.
Wenn Helena ihren Mann mit ‚Achillea‘ ansprach, war die Lage immer ziemlich ernst, denn nicht nur sie, sondern auch all ihre Freunde nannten ihn immer Achi.
Doch vier Monate später hatte er sie so weit gehabt. Wenige Tage zuvor hatte es mal wieder ein Erbeben gegeben. Zwar ‚nur‘ mit einer Stärke von 4,5 auf der Richterskala, aber nicht allzu weit von Plataniskia entfernt, war so ein altes Haus eingestürzt und man hatte die beiden Bewohner nur noch tot bergen können.
Danae hatte, als es mit dem Umbau losging, Helena angefleht, ihr den etwa 200 m vom Haupthaus entfernten alten Stall zu überlassen – sie wollte, jetzt, wo sie älter war, nicht mehr bei ihrer ‚Herrschaft‘ wohnen. Sie wollte ihr eigenes kleines Reich haben. Zwar hatte Achilleas ziemlich geknurrt, als er von dem Wunsch erfuhr und ihn erst einmal für Blödsinn erklärt, aber dann doch schweren Herzens zugestimmt. Die ganze Familie schätzte Danae viel zu sehr, als dass man ihr den Wunsch hätte abschlagen können. Und er hatte ihr den Stall so umbauen lassen, dass der eine Teil mit zwei Zimmern sowie Küche und Bad ein richtiges Knusperhäuschen geworden war. Und im anderen Teil des Gebäudes hatte er eine kleinere Unterkunft für ein paar Ziegen herrichten lassen und vor allem auch an eine großzügig angelegte Box für die zwei Pferde der Kinder gedacht.
Im Ergebnis waren Nephele und Thisseas dann als 10 und 13-jährige ‚Küken‘ mehr im ‚Stall‘ bei Danae als im eigenen Elternhaus gewesen, was Helena und Achilleas aber tolerierten. Und die Kinder fanden es da ganz wundervoll, wohl auch, weil Danae nicht so genau hinschaute, wenn sie mal wieder Unfug trieben oder als sie später dann ab 17 auch mal Freund oder Freundin mitbrachten und ein wenig mit denen herumknutschten.
Meist waren Bruder und Schwester recht ‚pflegeleicht‘ gewesen, Thisseas spielte am liebsten Fußball, wenn er nicht mit seinem Pferd unterwegs war, während Nepheles große Liebe ihr Pferd war, das sie sich – so behauptete sie später immer – in mühsamer, zwei Jahre währender Quengelei erbettelt hatte. Es wurden dann zwei Pferde, damit es zwischen den Kindern keinen Streit gab.
„So, nun wisst Ihr alles, Dad ist noch nicht da, Thisseas werde ich heute Abend anrufen und Lenka will jetzt bewegt werden. Die Arme wird mich hoffentlich nicht abwerfen, weil sie gar nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich auf ihr sitze.“
„Sei bloß vorsichtig.“ mahnte die Mutter, Danae lächelte etwas amüsiert – Helena konnte es nicht lassen, ihre Kinder immer und vor allem zu warnen.
„Grins nicht so albern.“ fuhr sie Danae an.
„Helena, falls Du’s noch nicht gemerkt haben solltest – Nephele ist schon 22, sie ist erwachsen. Aber Du tust immer so, als wenn sie erst 5 wäre.“
„Du könntest ausnahmsweise auch mal zu mir halten.“
„Tu ich doch immer.“
Nun mussten alle drei Frauen lachen – Nephele ging inzwischen zum Stall – den Disput der beiden Frauen wollte sie sich heute nicht anhören.
Nicht nur Nephele, sondern auch Lenka genossen den Ausritt. Sie hatte die Stute durch die Weinfelder hindurch ein wenig traben lassen, aber als der Weg dann etwas unwirtlicher und steiler wurde, war Lenka langsamer geworden – Nephele ließ ab jetzt das Pferd das Tempo bestimmen. Als das sich plötzlich steil aufbäumte, hatte sie Mühe, sich auf seinem Rücken zu halten – sie sah den Grund überdeutlich in einem Gebüsch verschwinden – eine Schlange. Sie konnte gerade noch sehen, dass es eine ziemlich große Pfeilnatter war. ‚Die tut zum Glück nichts – höchstens, dass sie mich abwirft‘. dachte Nephele.
Nach einer guten Stunde war sie zurück und ging, nachdem sie Lenka versorgt hatte, ins Haus, um zu duschen und sich umzuziehen. Inzwischen war auch der Vater nach Hause gekommen, man setzte sich auf die Terrasse, weil es ein herrlich warmer Abend war und Nephele musste nun von der Prüfung erzählen. Sie sparte auch das Angebot ihres Professors nicht aus.
„Och meine Kleine, ich freu mich richtig, dass Du das so toll geschafft hast. Und Mom und ich schenken Dir jetzt zur Belohnung eine schöne Reise, wohin Du willst. Es muss ja nicht gleich Australien sein.“
„Oh, das ist toll. Danke. Australien eher nicht. Aber Frankreich vielleicht? Oder Deutschland? Muss ich mal drüber nachdenken.“
„Wie gesagt – was und wohin Du möchtest. Wir spendieren Dir den Flug und obendrauf gibt’s 1.000 Euro ‚Zehrgeld‘. Mehr können Deine armen, alten Eltern sich nicht leisten.“ ergänzte er lachend.
„Das reicht dicke. Nicht, dass bei Euch wegen Eurer Tochter das schreiende Elend ausbricht. Aber weißt Du, worüber ich mich am meisten freue?“
„Na?“
„Dass Du nicht mehr sauer bist auf mich, weil ich nicht studieren wollte.“
„Ich war doch nie sauer auf Dich.“
„Warst Du doch. Ich sollte genau wie Thisseas Jura machen und später in Deine Kanzlei eintreten.“
„War ich nicht.“
„Warst Du doch. Ich erinnere mich…“
„Dein Vater, liebes Kind, versucht sich gerade mal wieder in Scheinheiligkeit zu üben?“ Nepheles Mom hatte jetzt lächelnd in die Diskussion eingegriffen.
„Helena, wie kannst Du mir nur so in den Rücken fallen. Was sollen unser Kind und Danae denn von mir denken.“
„Lieber Achi, dass Du der reinste Engel bist. Davon sind wir alle hier voll und ganz überzeugt.“ mischte sich Danae jetzt ein.
„Also wenn Ihr jetzt alle über mich herfallt, brauch ich einen guten Rotwein. Falls Danae noch etwas vom Beaujolais übriggelassen und nicht meine sämtlichen Vorräte zum Marinieren verwendet hat.“
„Nur ein Fläschchen und das auch nur, weil es für Nephele war.“ Danae war jetzt etwas rot geworden.
„Dann bin ich ja beruhigt. Und nimmst Du den Job an, den Dir Dein Professor angeboten hat?“
„Nö.“
„Warum ‚nö‘?“
Nephele berichtete nun vom Ruf der orthopädischen Koryphäe und vor allem auch von seinem Verhalten gegenüber hübschen jungen Frauen.
„Eigentlich schade, liebes Töchterlein, aber Deine Entscheidung ist goldrichtig. Aber wo bekommst Du dann einen Job her?“
„Ich werde mich in allen Kliniken in Paphos und Limassol bewerben – irgendwo wird es schon klappen. Paphos wäre mir am liebsten, da könnte ich immer mit Dir fahren.“
„Klingt sehr gut und vernünftig. Und ein paar Wochen Pause hast Du Dir ja auch verdient – oder?“
„Ich dachte mal an vier Wochen?“
„Klar – für die Reise?“
„Sag mal Mom und Dad – muss ich die gleich machen? Am liebsten würde ich mir die nämlich aufsparen und erst in zwei Jahren machen, wenn ich Vollapprobierte bin. Und jetzt erst mal hier zu Hause die vier Wochen gammeln. Also ein bisschen in den Weinfeldern arbeiten, mit Lenka ausreiten, Euch mit Danae zusammen bekochen, abends mal ein wenig um die Häuser ziehen und so.“
„Das ist auch ok. Und dass Du die Reise erst mal nicht machen willst, ist auch akzeptiert. Und vielleicht können wir hier ja mal ein schönes Fest feiern, hier bei uns.“
Es kam Nephele so vor, als ob des Vaters Stimme jetzt ein wenig wackelig geworden wäre. Aber vielleicht täuschte sie sich ja auch.
„Fände ich gut – aber das bitte erst, wenn Thisseas auch mit dabei ist. Wie lange treibt der sich eigentlich noch in London rum?“
„Ich denke, er wird so etwa in vier bis sechs Wochen heimkommen – und dann fängt er bei mir in der Kanzlei an. Ein neues Türschild in Paphos „Mantalos & Mantalos – Rechtsanwälte“ würde sicher sehr viel mehr her machen, als nur „Achilleas Mantalos – Rechtsanwalt“:
„Dein Vater hat übrigens das neue Schild schon hängen.“
Helena musste ein wenig sticheln. Nephele grinste:
„Und wenn Thisseas wieder hier ist und lieber Staatsanwalt wird?“
„Dein Bruder ist nicht Nephele.“
„Also warst Du damals doch ‚sauer‘ auf mich, Dad.“
„Nur ein bisschen. Eigentlich noch etwas weniger.“
„Nephele, das Gedächtnis Deines Vaters lässt auch schon ein wenig nach. Deine Mutter erinnert es geringfügig anders. Sauer vielleicht nicht. Aber ganz schön gejammert hatte er damals schon, als Du ihm verkündet hast, nicht studieren zu wollen, sondern lieber Physiotherapie zu machen.“
„Du übertreibst jetzt aber ziemlich, Helena.“
„Ach Väterchen lass mal, so ist’s eigentlich besser. Denk mal an das Türschild. Da müsste dann draufstehen „3 x Mantalos – Rechtsanwälte“ oder besser „Mantalos - 2 x Rechtanwälte, 1 x Rechtsanwältin“. Sähe ziemlich bescheuert aus. Stimmt’s?“
Alle mussten jetzt doch ziemlich lachen.
„Also, auf den Mund gefallen bist Du nicht, liebreizende Tochter, das muss Dir der Neid schon lassen. Hast Du von Deiner Mom. Ich bin für so viel an Schlagfertigkeit viel zu schüchtern.“
Die Antwort der drei Frauen kam im Gleichklang als lautes Gelächter.