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L. Mattis

Nur Milan

 

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

 

© the author

 

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© MopsTati – shutterstock.com

 

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-388-2

ISBN 978-3-96089-389-9 (epub)

 

Inhalt:

Dass der 18jährige Daniel nicht das beste Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Milan hat, ist kein Geheimnis. Milan ist stur, vorlaut und ein unverbesserlicher Herzensbrecher, der einem das Zusammenleben nicht gerade leicht macht. Gemeinsam mit ihrem alleinerziehenden Vater bestreiten die beiden mehr oder weniger harmonisch ihren Alltag, bis sich an einem verhängnisvollen Tag Mitte Oktober alles verändert, was Daniel über seinen Bruder zu wissen glaubte. Mit einem Mal steht Daniels Welt auf dem Kopf.

Doch kann etwas sein, das nicht sein darf?

 

Prolog

Hätte mir jemand vor diesem einen Tag im Oktober erzählt, was in den nächsten Monaten passieren würde, hätte ich gelacht und den vermeintlichen Idioten kompromisslos für verrückt erklärt. Es gab Dinge, die passierten nicht. Es gab Dinge, die deshalb nicht passierten, weil sie imstande waren, die Welt aus ihren Fugen zu reißen.

 

Es war Frühherbst, ich war achtzehn und ich ahnte nicht, dass es nur noch ein lächerlicher Rest Mörtel und Kitt war, der meine fragile Welt zusammenhielt.

 

1.

Milans Haar war blond und fiel ihm in wilden Locken tief in die Stirn. Von oben herab blickte er auf die Welt um ihn herum. Es war ein Blick, der gering schätzte, herausforderte und sich widersetzte. Über den geraden Nasenrücken hinweg ließ der Blick bereits vermuten, dass hinter der ebenmäßigen, fast engelhaften Fassade ein ungezähmter Geist wütete. Niemand hätte je behauptet, dass es einfach war, mit Milan klarzukommen. Es gab Menschen, die verträglich durchs Leben gingen und Konflikte mieden; zu dieser Kategorie gehörte ich. Mein Bruder hingegen war ziemlich alles, was ich nicht war. Er war die Unruhe in Person.

Während mir das durch den Kopf schoss, beugte sich ebendiese geballte Ladung Unruhe quer auf unserem Sofa ausgestreckt über einen schlanken Mädchenkörper. Es war unschwer zu erkennen, dass die Zunge des einen soeben mit äußerster Hingabe die Mundhöhle des anderen erkundete. Ich hätte mir wohl keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, um meine Übungsaufgaben zur bedingten Wahrscheinlichkeit für eine kurze Pause vor dem Fernseher zu unterbrechen.

„Mensch, Milan. Könnt ihr das nicht in deinem Zimmer machen? Wozu hast du denn eins?“, knurrte ich und beobachtete mit Genugtuung, wie das Mädchen zusammenzuckte.

Energisch drückte sie ihn weg, setzte sich auf und richtete mit fahrigen Händen das zerzauste Haar. Widerwillig zog Milan die Finger unter ihrem schwarz-weiß gestreiften Pullover hervor.

„Du hast gesagt, wir sind allein“, rügte sie ihn und fügte an mich gewandt mit verlegen gesenkter Stimme hinzu: „Sorry.“

„Außer meinem dämlichen Bruder ist auch niemand da“, raunte Milan unüberhörbar grimmig. Das wütende Blitzen seiner Augen bestätigte den Verdacht, dass ich ihm ordentlich in die Parade gefahren war.

„Ah, dann musst du Daniel sein“, schlussfolgerte das Mädchen. Sie warf mir ein strahlendes Lächeln zu und streckte die Hand aus. „Hi, ich bin Sophie.“

Überrascht über die höfliche Begrüßung trat ich auf sie zu und schüttelte ihre Hand. Ich nutzte den Moment, um sie eingehend zu mustern. Schulterlange, rot gelockte Haare, grüne Augen und großzügig über Wangen und Dekolleté verteilte Sommersprossen. Hübsch. Sehr hübsch.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte sie.

„Gleichfalls.“ Ich grinste Milan an, der genervt schnaubte.

Er legte Sophie eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft Richtung Tür. „Wir gehen.“

Sie lächelte mir noch einmal entschuldigend zu und ließ sich widerstandslos in den Flur schieben.

„Du bist nur neidisch, weil du’s dir immer selbst besorgen musst“, zischte Milan im Vorbeigehen und hielt mir den Mittelfinger nah vors Gesicht.

Ich zuckte mit den Schultern und fiel aufs Sofa. Milans miese Stimmung kümmerte mich nicht im Geringsten. Auf seinen Frauenverschleiß neidisch zu sein, war in etwa so, als würde man eine Schnecke um das Häuschen beneiden, in dem sie notgedrungen feststeckte – unsinnig und zwecklos.

Seit ich denken konnte, lebten wir hier zu dritt. Vater, Milan und ich auf knapp 100 Quadratmetern. An der Wand neben dem Fernseher hing ein Bild, das die Dynamik unserer Familie treffend zusammenfasste: ich – mit skeptisch gerunzelter Stirn und ungekämmten Haaren –, der zu Vater aufsah, während dieser einen von Kopf bis Fuß mit Tomatensoße beschmierten Milan auf dem Arm trug. Milans Gesichtsausdruck verkündete elementare Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation und seine kleinen Finger zogen herrisch an Vaters rechtem Ohr.

Bis zu meinem dritten Lebensjahr war unsere Mutter noch Teil der Familie gewesen, doch daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Es musste eine anstrengende und wenig harmonische Zeit gewesen sein, denn jedes Mal, wenn Vater davon sprach, bildete sich eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn. Wahrscheinlich war es unser Glück, dass sie kurz nach Milans Geburt ohne ein Wort des Abschieds verschwunden war. Ich fand, wir kamen auch ohne sie zurecht.

Mit einem Daumendruck auf die Fernbedienung schaltete ich den Fernseher ein. Eine dröge Quizshow flimmerte über die Mattscheibe und entführte mein mathematikgeschädigtes Gehirn augenblicklich ins Reich des unnützen Wissens. Wie gut es tat, sich für eine Weile mit puren Belanglosigkeiten zu beschäftigen. Wie viele Beine hat ein Tausendfüßer? In welchem Jahr gewann Wilfried Brenner zum ersten Mal die nationale deutsche Tennismeisterschaft? Wieso saß ich vor dem Fernseher und schlug die Zeit tot, obwohl es deutlich klüger wäre, sich am Schreibtisch auf die bevorstehende Abiturprüfung vorzubereiten? Wusste jemand die Lösung, na?

Nach einer halben Stunde gelang es mir, dem Ruf der Pflicht zu folgen und mich für zehn weitere Stochastik-Aufgaben ins Mathebuch der dreizehnten Klasse zu vertiefen. Die Motivation hielt bis halb sieben, als mein Magen zu knurren begann. Ich legte Stift und Buch beiseite. Im Kühlschrank musste noch eine Schüssel mit Lasagne von gestern stehen. Das war jetzt genau das Richtige.

Ich trat in die Küche. Sophie saß im Schneidersitz auf der weißen Eckbank mit dem gepunkteten Polster und empfing mich mit einem erneuten Strahlen. „Hey Daniel“, sagte sie.

„Ganz allein?“ Ich öffnete den Kühlschrank und nahm die rechteckige Auflaufform von der obersten Ebene. „Auch Lasagne?“, fragte ich und deutete auf das matschige Hackquadrat.

Neugierig warf sie einen Blick in die Form. „Danke, aber Milan holt gerade Pizza aus eurem Gefrierschrank im Keller.“

Als wäre das sein Stichwort, kam mein Bruder mit zwei Pizzen in die Küche. „Ist Salami okay?“, wandte er sich an Sophie, ohne mich zu beachten.

Sie zögerte kurz, bevor sie beschämt zugab: „Ich mag eigentlich kein Fleisch. Gibt’s auch was ohne?“

Er schaute einen Moment lang verwirrt. Dann sagte er knapp: „Ich mach’ dir die Salami runter.“

„Mach das aber vorm Backen“, mischte ich mich ein. „Sonst schmeckt der Käse nach Salamifett.“

Milan gab ein missbilligendes Brummen von sich. „Hat dich jemand gefragt?“

Er riss die durchsichtige Folie von den Pizzen und klaubte in pedantischer Manier gefrorene Salamischeiben von einem Teigfladen auf den anderen.

Ich grinste Sophie an. „Bist du dir sicher, dass du nicht doch fliehen willst? Noch ist es nicht zu spät. Ich geb’ dir Rückendeckung.“

Sie lachte.

Sobald die Mikrowelle mit einem ‚Pling‘ ankündigte, dass die Lasagne fertig war, verzog ich mich mit ihr zurück ins Wohnzimmer. Durch die angelehnte Tür zum Flur hörte ich Sophies Lachen.

Hoffentlich war Milan nett zu ihr; sie wirkte wie ein vernünftiges Mädchen. Das war nicht selbstverständlich, denn viele von Milans temporären Bekanntschaften verfügten über die Gehirnkapazität einer Bohnenpflanze. Sie kicherten und gackerten, wenn er etwas sagte, lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab und suchten den Fehler bei sich, wenn er sie nach wenigen Wochen kommentarlos abservierte. Die meisten standen danach verzweifelt vor unserer Tür, wo ich ihnen so sensibel wie möglich erklärte, dass Milan nicht mehr war als ein Fähnchen im Beziehungswind. Mit seinen zarten fünfzehn Jahren wechselte er seine Freundinnen häufiger als manch anderer die Socken.

Ich hatte ihn einmal gefragt, ob es nicht irgendwann langweilig wurde, ständig ein neues Opfer mit den gleichen Sprüchen zu bequatschen. Seine Antwort war gewesen, dass ‚die Heilige Jungfrau Daniela‘ erst selbst erwachsen werden sollte, bevor sie anfing, anderen Ratschläge zu geben. Kurzum: Es wurde Zeit, dass sich seine Einstellung änderte, und Sophie schien mir eine geeignete Kandidatin dafür zu sein.

Ich verputzte in himmlischer Ruhe die Lasagne. Milan und Sophie waren vermutlich wieder in sein Zimmer verschwunden, da beide inklusive Pizza nicht mehr auftauchten. Kurzentschlossen entschied ich mich, den Abend mit einem Film ausklingen zu lassen. Was passte zu meiner Stimmung? Schnelle Autos und viel Schießerei, kaum Dialoge. Perfekt. Ich hatte den Film gerade gestartet, als Vater eintrat, seinen Mantel über die Rückenlehne des Sofas warf und sich mit zwei Flaschen Bier in der Hand neben mich sinken ließ.

„Heute bist du spät dran“, bemerkte ich und nahm das Bier, das er mir entgegenstreckte.

„In der Redaktion brennt die Hütte“, murmelte er und trank einen großen Schluck. „Uwe hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Von heute auf morgen soll ich bei ihm im politischen Ressort mitarbeiten, weil zwei Redakteure krankgeschrieben sind. Ich wette, die holen ihren verpassten Sommerurlaub auf den Malediven nach.“ Er stellte die Flasche ab und sank gegen die Rückenlehne. „Hast du Sophie gesehen? Das Mädel, das bei Milan war?“

„Vorhin“, sagte ich.

„Sie ist eben gegangen, als ich zur Tür reingekommen bin. Das war eine echt Nette.“

Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie er von Sophie schwärmte und sich über Uwes Unverschämtheit beschwerte. Auf dem Bildschirm schoss man aus einem Rennwagen auf einen anderen.

 

Zwei Stunden später schaltete ich den Fernseher aus und trat aus dem Wohnzimmer. Vater war längst ins Bett gegangen; es herrschte Stille in der Wohnung. Nur ein heller Balken unter der Badezimmertür tauchte den Flur in schummriges Licht. Milan war wohl wieder zu faul gewesen, die Deckenlampe im Bad auszuschalten. Da er sich herzlich wenig für die kluge Benutzung von Lichtschaltern interessierte, passierte das mit lästiger Regelmäßigkeit. Ich legte die Hand an die Klinke und öffnete die Tür.

Sofort zuckte ich zurück. Anders als ich vermutet hatte, war das Badezimmer nicht leer. Milan stand neben dem Waschbecken, mir seitlich zugewandt. Die Hose hing ihm in den Kniekehlen; eine Hand umfasste seinen Schwanz. Vom Geräusch der Tür aufgeschreckt, zog er hektisch die Hose hoch und nestelte an ihrem Verschluss. Das Stück Papier, das er in der anderen Hand gehalten hatte, flatterte zu Boden und landete zwischen uns auf den blauen Fliesen.

Ich brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Situation zu erfassen und die Gunst der Stunde zu nutzen. Rasch trat ich einen Schritt vor und, bevor er reagieren konnte, hatte ich das zusammengeklappte Papier erhascht. Es war dicker als erwartet. Ein Foto?

Milan schnappte erschrocken nach Luft. Er starrte mich an, starrte auf das Papier. Seine Hände waren in ihrer Bewegung eingefroren, umklammerten fest den offenen Gürtel. Zweimal öffnete sich sein Mund, als wollte er etwas sagen, brachte jedoch keinen Laut zustande.

„Schau es nicht an“, hauchte er dann. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. „Bitte, Daniel … Schau es nicht an.“

Ich blickte ihn überrascht an. Das passte nicht zu Milan. Nichts an seinem Verhalten passte zu ihm. Nicht die weit aufgerissenen Augen, in denen die Angst stand, nicht die leisen Worte und auch nicht das unkontrollierte Zittern, das ihn ergriffen hatte. Seine Hand streckte sich nach dem Bild aus. Die Finger bebten.

„Bitte“, flehte er. „Bitte, bitte, bitte.“ Seine Stimme brach.

Die Situation war surreal. Mein vorlauter, rücksichtsloser kleiner Bruder hatte Angst? Das war albern. Das war unmöglich.

Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein verblüfftes Lachen über die Lippen trat. „Das ist doch ein Scherz.“

Er atmete tief ein. „Daniel, bitte …“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Kannst du vergessen. Ich lass’ mich nicht von dir verarschen, damit du wieder kriegst, was du willst.“

Das musste etwas ganz Wildes sein, wenn es Milan zu solch schauspielerischen Höchstleistungen anspornte. Ein Bild von Sophie war es vermutlich nicht, das wäre zu harmlos.

„Stehst du auf was Dreckiges?“ Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht beim Gedanken daran, dass ich ihn in diesem Fall noch Jahre aufziehen könnte. „Was mit Gummistiefeln? Oder Ziegen?“

Wie hypnotisiert fixierte er das gefaltete Foto, lauerte auf jede Bewegung. „Das ist nicht lustig“, sagte er. „Gib mir das wieder.“

„Glaubst du doch selbst nicht“, schnaubte ich und drehte es, um es aufzuklappen.

Keine Sekunde später stürzte sich Milan auf mich. Gewitzt. Aber nicht gewitzt genug, denn ich hatte instinktiv mit einer solchen Gegenwehr gerechnet und stieß ihn hart vor die Brust. Er stolperte zurück und fing sich am Waschbecken ab, um nicht rücklings auf den Boden zu stürzen.

„Scheiße, was soll das?“, fauchte er und funkelte mich zornig an.

„Was du kannst, kann ich schon lange.“

In mir brodelte die unbändige Neugier. Mit einem triumphierenden Gefühl entfaltete ich das Foto. Milan gab ein ersticktes Keuchen von sich. Ich beachtete es nicht. Meine gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Bild. Es war ein Foto von … Mein Verstand versuchte zu begreifen, was ich sah.

„Aber …“, stammelte ich verwirrt. „Aber … das bin ich.“

Kein Zweifel. Ich wusste, wie ich aussah. Und auf dem Bild war keine heiße Blondine zu sehen, die sich Gummistiefel tragend in der Sonne räkelte, nein. Das war ich. Wenn mich nicht alles täuschte, war das Foto ein Überbleibsel aus dem letzten gemeinsamen Urlaub vor zwei Jahren. Campingurlaub an der Nordsee. Ich. In roter Badehose. Mit schlankem, nacktem Oberkörper. Über den Kiesstrand durchs kalte Wasser watend. In die Kamera grinsend. In meiner Kehle bildete sich ein Kloß; in meinem Kopf ratterte es. Ein unterdrücktes Wimmern riss mich jäh aus den Gedanken und ich hob den Blick.

Wie ein Häufchen Elend saß Milan auf den Fliesen vor meinen Füßen und weinte. Ich konnte seine Tränen nicht sehen, weil er zusammengekauert dasaß, das Gesicht zu Boden gesenkt und in den Händen verborgen. Aber ich sah, wie er bebte. Sein ganzer Körper zuckte im Takt der fast lautlosen Schluchzer. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn jemals so weinen gesehen zu haben. Mit großen Augen beobachtete ich ihn, noch immer unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das alles machte keinen Sinn. Wieso sollte er … Mit einem Bild von mir … Der Kloß in meinem Hals wuchs; das Atmen wurde schwerer.

„Ich versteh’ nicht“, flüsterte ich.

Das Schluchzen wurde heftiger. „Es tut mir leid“, hörte ich ihn mit gepresster Stimme hervorstoßen. „Fuck, es tut mir leid.“

Ich konnte nicht anders, als ihn schweigend anzustarren. Ein Teil von mir hatte begriffen, dass es nicht viele logische Erklärungen gab. Nur hatten sie keine Chance, in mein erschrockenes Hirn vorzudringen, das sich mit Gewalt dagegen sträubte.

Milan riss den Kopf hoch. Seine Lider waren rot, seine Wangen nass. Aus seinen Augen sprach pure Angst. „Ich wollte das nicht!“, brach sich seine Verzweiflung Bahn. „Ich hab’ das nie gewollt! Das ist einfach passiert. Ich konnte nichts dagegen tun, ich hab’ alles versucht.“

Ich öffnete den Mund. Und klappte ihn unverrichteter Dinge wieder zu. Mir fehlten schlichtweg die Worte. In meinen Ohren pochte es laut.

„Das ist nicht dein Ernst … oder?“ Das ‚oder‘ stolperte mir über die Lippen und schien ihm den nächsten Stoß vor die Brust zu verpassen.

Er heulte auf wie ein getretener Hund und vergrub den Kopf wieder in den Händen. „Ich wollte das nicht“, wiederholte er wie ein Mantra. „Ich wollte das doch nicht.“

Dann ging es ruckartig durch ihn hindurch und er rappelte sich auf. Für einen Moment blickte er mir tief in die Augen. Brennend heiß fraß sich sein Blick in meinen. Verzweiflung und Angst. Feuchte, blonde Strähnen klebten auf seiner Stirn und an den Schläfen.

„Daniel.“ Mein Name blieb zwischen uns im Raum hängen, tanzte an den Wänden entlang. „Tut mir leid.“

Er stürzte an mir vorbei aus dem Badezimmer. Hinter mir hörte ich seine Tür zuschlagen; der Schlüssel drehte sich im Schloss. Das Foto hing schlaff in meiner Hand.

Langsam ging ich in mein Zimmer. Schritt für Schritt für Schritt. Dort angekommen sank ich auf den Schreibtischstuhl. Mein Blick war ins Leere gerichtet. Milans tränenüberströmtes Gesicht trat mir vor Augen. Das war kein Scherz gewesen. Ich kannte meinen Bruder. Er war niemand, der sich eine Schwäche anmerken ließ, außer er litt wahre Höllenqualen. War er … war er schwul? War es das, was dahintersteckte? Es war kaum vorstellbar, dass Milan, der kleine Frauenheld, in Wahrheit auf Männer stand. Das passte nicht zusammen.

Aber es war mein Foto. Das Herz schlug unangenehm hart in meiner Brust und ich drückte die Faust an die Stelle, gegen die ich es hämmern spürte. Wenn er wirklich schwul war, gab es sicher genug Bilder, die ihn anmachten. Er hätte jeden beliebigen Mann aus dem Internet nehmen können. Wieso … mich?

Es drängte mich danach, ihn zu fragen. Die Situation war schon skurril genug, schlimmer konnte es nicht werden. Es war mein Foto; er war mir eindeutig eine Erklärung schuldig. Bevor ich länger darüber nachdachte, erhob ich mich und trat vor seine Zimmertür. Eine unangenehme Vorahnung des Kommenden beschleunigte meinen Herzschlag aufs Neue. Leise klopfte ich mit den Fingerknöcheln gegen das Holz.

„Milan?“ Hinter der Tür blieb es still. „Milan, mach auf.“ Wieder keine Antwort. Ich klopfte stärker. „Ich will nur, dass du mir erklärst –“

„Da gibt’s nichts zu erklären“, unterbrach mich seine Stimme dumpf von der anderen Seite.

„Ich versteh’s aber nicht.“

„Boah, Alter, du bist echt schwer von Begriff! Ist’s schon zu spät für deinen kleinen Kopf?“ Der altbekannte, rotzige Ton war zurückgekehrt.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich wieder gefasst hatte. Zumindest drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür schwang auf. Milan verschränkte die Arme und lehnte sich mit dem Rücken an den Kleiderschrank. Während ich in sein Zimmer trat, beobachtete er jeden meiner Schritte, vermied es aber sorgfältig, mir dabei ins Gesicht zu sehen.

„Was willst du, Arschgesicht?“ Er klang genervt. War da ein unterschwelliges Zittern in seiner Stimme?

„Was ich will?“ Meine Augenbrauen wanderten nach oben. „Ist das ein Scherz? Bei dir stimmt offenbar was nicht!“

Er schnaubte, sagte aber nichts. Noch immer klebte sein Blick auf meinen blau-grün gemusterten Hausschlappen, als würde sich dort unten etwas unglaublich Spannendes abspielen.

„Stehst du auf Männer?“, platzte es unvermittelt aus mir heraus.

Milans Blick fuhr hoch; in seinen Augen flackerte es wütend. „Bist du bekloppt?“ Sein Gesicht verzog sich, als würde er sich ekeln. „Ich steh’ doch nicht auf Schwänze.“

„Ach nein? Und was sollte das?“, fragte ich irritiert und deutete mit dem Daumen hinter mich Richtung Badezimmer.

Erneut fixierte er meine Schuhe. „Das war ja kein Mann“, nuschelte er und kratzte sich am Arm.

„Und ich bin kein Mann, oder wie?“ Meine Stimme triefte vor Sarkasmus. Der wollte mich hier doch für dumm verkaufen! Was sollte das Theater?

„Nee!“, polterte Milan und biss sich auf die Lippe. „Also doch, schon … aber darum geht’s nicht!“

„Worum geht’s dann?“

Seine Arme schlangen sich fester um den Brustkorb und plötzlich wirkte er verloren, wie er dastand, mit herabhängenden Schultern vor dem Kleiderschrank. „Na, um dich halt“, sagte er leise.

„Um mich?“, echote ich. Der Kloß im Hals war wieder da. Oder war er gar nicht weg gewesen?

„Wie oft denn noch?“

„Aber …“ Ich versuchte zu lächeln, doch es fühlte sich mehr nach einer Grimasse an. „Aber das ist Quatsch. Ich bin dein Bruder.“

Milan atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll aus. „Erzähl mir was Neues.“

„Das ist Quatsch“, wiederholte ich.

Wollte ich ihn überzeugen, oder mich? Allein die Vorstellung, dass er auf so eine Weise über mich dachte … Ich konnte es nicht einmal in Gedanken in Worte fassen, geschweige denn glauben. So etwas ging nicht. Das war absolut unmöglich.

Erst jetzt realisierte ich, dass mein Bruder sich vom Schrank gelöst hatte und auf mich zu kam. Er trat näher, langsam, den Blick zu Boden gerichtet. Panik stieg in mir auf, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich hätte es nicht einmal gekonnt, wenn mein Leben auf dem Spiel gestanden hätte. Ich war wie erstarrt.

Knapp vor mir blieb Milan stehen, etwa eine Armlänge trennte uns noch voneinander. Widerstandslos beobachtete ich, wie er nach meiner rechten Hand griff. Seine Finger umfassten mein Handgelenk und zogen es zu sich an die Brust. Flach legte er die Handfläche auf den Stoff des T-Shirts, unter dem ich im selben Moment das Pochen spürte. Schnell. Sehr schnell. Hart schlug sein Herz gegen meine Haut, gegen meine Fingerkuppen, wieder und wieder und wieder, in einem stolpernden, hektischen Takt. Seine Hand lag auf meiner; plötzlich spürte ich die Berührung überdeutlich am Handrücken. Ich starrte ihn an. Ich starrte die Hand an. Ich starrte auf seinen Hals, wo sich die Schlagader neben dem Kehlkopf in ebendem Rhythmus wölbte, den ich an meinen Fingern spürte. Wumm, wumm, wumm, wumm.

„Glaubst du immer noch, dass es Quatsch ist?“, fragte Milan leise.

Er hob den Kopf. Seine Augen waren auf Höhe meines Kinns. Dunkel und grün sahen sie zu mir auf. Ich hatte ihm schon tausendmal in die Augen gesehen, ach was, Millionen Mal. Und das meist in anmaßende, streitlustige oder distanzierte Augen. Noch nie hatte er mich angesehen, wie er es in diesem Moment tat. Mein Mund war vollkommen trocken. Ich hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können.

Es war mein Bruder. Mein Bruder, der mir so nah gekommen war, dass sein Atem gegen meinen Hals schlug und der herbe Duft seines Parfüms in meine Nase stieg. Dessen Herz gegen meine Hand hämmerte. Ich spürte den Impuls, mich loszureißen und ihn fortzustoßen, mich aus dieser Lage zu befreien, doch es ging nicht. Eine unbekannte Kraft hielt mich, wo ich stand. Festgewurzelt in dieser Position. Mein Blick glitt über sein blondes, vom Haargel verklebtes Haar, über den Nasenrücken, seine Wangen, besprenkelt von den vielen verheilten Akne-Narben. Auf seiner Oberlippe und am Kinn lagen Schatten, die Bartstoppeln ankündigten. Dort wirkte die Haut rau und ein wenig wund. Seine Lippen waren sanft geschwungen, leicht geöffnet, viel zu nah an meinem Gesicht. Es musste das erste Mal in meinem Leben sein, dass ich bewusst auf seine Lippen blickte.

„Daniel“, flüsterte Milan. Ich löste den Blick abrupt und sah hoch. Seine Augen waren geschlossen. Er umfasste meine Finger auf seiner Brust fester, holte tief Luft. „Ich … wollte dir sagen, dass ich mich … ich hab’ mich …“

Siedend heiß schoss die Panik durch meine Adern. Die Kontrolle über meine Gliedmaßen kehrte zurück.

„Stopp!“, keuchte ich und entzog ihm meine Hand mit einem Ruck. „Sag’s nicht!“

Er riss die Augen auf. Verwirrung spiegelte sich in ihnen, als ich vor ihm zurückwich.

Ich schüttelte den Kopf und wiederholte drohend: „Sag das bloß nicht!“

„Aber ich –“

„Schluss jetzt!“, fuhr ich ihm harsch über den Mund. „Du vergisst das jetzt wieder, ja? Das hört sofort auf!“

Eine Sekunde lang huschte ein verletzter Ausdruck über Milans Gesicht, dann fing er sich und seine Züge erstarrten zur bewegungslosen Maske. „Raus“, zischte er. „Verpiss dich.“

Ich drehte mich augenblicklich um und trat aus der Tür. Scheppernd schlug sie hinter mir ins Schloss. In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett und ließ mich nach hinten sinken. Mit hart klopfendem Herzen starrte ich an die Zimmerdecke.

Verdammt! Verdammte Scheiße, was in aller Welt war da bloß passiert? Wieder erschien Milans Gesicht vor mir und der zärtliche Blick, mit dem er mich angesehen hatte; kein Blick, mit dem man seinen älteren Bruder ansehen sollte. Ich wusste, was er hatte sagen wollen. Sein pochendes Herz an meiner Hand hatte seine eigene Sprache gesprochen. Doch wenn so etwas erst einmal gesagt war … war es wahr. Dann gab es kein Missverständnis mehr. Kein Zurück.

 

2.

Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Milan frühreif gewesen war. Während seine Grundschulfreunde mit Feuereifer Sammelkarten horteten und nächtelang Autorennen auf der Konsole spielten, tauschte er bereits mit Katharina aus der Vierten interessierte Blicke. Er schenkte ihr sein Schinken-Gurken-Pausenbrot und schlich sich nach und nach in ihr Herz. Die Schwärmerei währte zwar nicht lange, da Katharina nach kurzer Zeit feststellte, dass sie noch nicht so weit war, aber Milan war kein Kind von Traurigkeit.

Nach Katharina kam Jessica, nach Jessica Ingrid und nach Ingrid schwärmte er für Tanja. Den ersten echten Treffer landete er, als sich Astrid in der fünften Klasse – beide waren gerade elf geworden – davon überzeugen ließ, dass es nichts Besseres geben konnte, als seine Freundin zu sein. Wenig später lernte sie, dass dies ein schöner, aber nicht besonders langwährender Zustand war. Denn Milan hatte Feuer für Eveline gefangen und nicht vor, den Wechsel seiner Präferenzen vor den beiden Mädchen zu verbergen. Nach seiner ersten Beziehung, die ganze zweieinhalb Wochen gedauert hatte, stolperte er schnurstracks in die zweite.

Der Erfolg, den er bei den Damen zu verbuchen hatte, kam nicht von ungefähr. Wenn er wollte, konnte er charmant und einnehmend sein. Sie fanden cool, wie er mit angerauchter Kippe im Mundwinkel auf dem Pausenhof stand. Und nicht zuletzt punktete er mit den blonden Locken und grünen Augen. Es war eine Kombination, der man nicht allzu oft begegnete und die wohl auf die skandinavischen Wurzeln unserer Mutter zurückging. Anders als mein Bruder schlug ich mehr nach Vater, mit Haaren und Augen im selben alltäglichen Braunton und einem Tick zu schmalen Schultern. Pech gehabt in der Gen-Lotterie.

Milan wusste sein Aussehen zu nutzen. Ab der siebten Klasse wurde es zu einem Ritual, dass Vater und ich in Küche, Flur oder Badezimmer regelmäßig auf fremde, weibliche Wesen stießen, die dabei waren, sich die Schuhe zuzubinden, die Haare zu kämmen oder Milan einen feuchten Kuss auf die Lippen zu drücken. In den seltensten Fällen sahen wir sie häufig genug, um ihre Namen oder irgendwelche persönlichen Details zu erfahren.

‚Das verwächst sich‘, war Vaters Standardspruch, mit dem er Milans promiskuitive Ader beschönigte. ‚Ich war früher genauso.‘ Und dann pflegte er verschämt zu lachen und zu sagen: ‚Sei froh, sonst gäbe es dich heute nicht.‘

Auf diese Weise hatte ich, ohne danach gefragt zu haben, herausgefunden, dass meine Existenz auf einer durchzechten Nacht inklusive Techtelmechtel mit einer fast Fremden beruhte. Nur dank mir war die Begegnung gezwungenermaßen in eine Ehe gemündet. Gestörtes Paarverhalten lag bei uns wohl in den Genen.

So wild wie an diesem Morgen kreisten meine Gedanken selten um Milan und seine Freundinnen. Ich drehte mich zum Wecker um und warf einen Blick auf die roten Ziffern. Kurz nach fünf. Ich hatte also nicht nur am Abend zuvor eine geschlagene Stunde gebraucht, um einzuschlafen, sondern war darüber hinaus lange vor meiner eigentlichen Aufstehzeit wach geworden. Sobald ich die Augen schloss, tauchte Milans Gesicht vor mir auf. Nicht das Gesicht, das ich von ihm gewohnt war. Nicht die Mischung aus ‚Ich weiß es sowieso besser‘ und ‚Lass mich in Ruhe‘, sondern das panische Gesicht, als ich ins Bad getreten war. Und … der zärtliche Blick. Ich biss die Zähe fest aufeinander.

Es hatte nie irgendwelche Anzeichen dafür gegeben, dass Milan auf Männer stand. Für ihn waren immer nur die Mädchen interessant gewesen und das Wort ‚Schwuchtel‘ gehörte zu seinem üblichen Schimpfrepertoire. Allerdings konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass er die ganze Show vorgetäuscht hatte. Das traute ich ihm nicht zu. Wenn es aber wahr war: Wieso? Und viel wichtiger: Was jetzt?

Beim Gedanken daran, ihm gleich am Frühstückstisch gegenüberzusitzen, überkam mich Übelkeit. Allein die Vorstellung, ihn anzusehen, rief Panik hervor. Aber ich konnte mich schlecht verstecken. Wir lebten unter demselben Dach, unsere Zimmer waren Tür an Tür und – auf nachdrücklichen Wunsch unseres Vaters – saßen wir trotz regelmäßiger Proteste von Milan jeden Tag zu zwei Mahlzeiten beisammen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sich auf diesem engen Raum dauerhaft aus dem Weg zu gehen. Was blieb übrig? Eigentlich nur eine Antwort: Ich würde es ignorieren. Was da passiert war, war genauso unnatürlich wie widerlich und ich würde alles dafür tun, dass es sich nicht wiederholte. Vielleicht kam das Milan gerade recht.

 

„Morgen, Daniel“, grüßte Vater. Er saß auf der Eckbank und schenkte sich einen dampfenden Schluck in seine grüne Lieblingstasse. Vor ihm lag ausgebreitet die Tageszeitung. „Auch Kaffee?“

Ich brummte zustimmend und begann, auf der Ablage neben dem Herd ein Brot zu schmieren. Milan war noch nicht da. Das war nicht überraschend, da er meist als Letzter an den Frühstückstisch kam und auch nicht lange sitzen blieb.

„Milan ist schon weg.“ Die Zeitung hinter mir raschelte.

„Was?“, fragte ich verwirrt und drehte mich zu Vater um.

Er zuckte mit den Schultern. „Er war vorhin kurz da, hat sein Brot geholt und ist direkt los zur Schule. Vielleicht trifft er sich vorher noch mit dieser Sophie.“

Ich starrte ihn an. Dann drehte ich mich wieder zurück und schaute auf mein Brot herab. Milan war schon gegangen. Eigentlich sollte ich erleichtert sein, dass er mir das Ignorieren zu Tisch erspart hatte. Aber statt Freude spürte ich unangenehme Nervosität. Wenn mein Bruder wegen der gestrigen Sache nicht zum Frühstück geblieben war, musste sie ihn ziemlich mitgenommen haben. Gewöhnlich scheute er keine Konfrontation.

„Endlich einmal etwas Vernünftiges im Haus. Wer weiß, vielleicht geschehen noch Zeichen und Wunder“, fuhr Vater fort.

Ich lächelte verkniffen. Ob die Wunder, die aktuell geschahen, ihm gefallen würden, wagte ich zu bezweifeln. Schweigend packte ich das Pausenbrot ein und schulterte den Rucksack.

„Bring später Brötchen mit“, rief Vater mir hinterher, bevor die Wohnungstür ins Schloss fiel. Das beengte Gefühl in meiner Kehle verschwand auch mit Verlassen des Hauses nicht.

 

„Unglaublich!“, stöhnte Alex und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. „Ich komm’ nicht mit den Frauen klar. Die sind so kompliziert! Einmal wollen sie hier was, danach wollen sie da was. Gerade sagt Maja noch, sie will ins Kino, dann plötzlich doch nicht mehr. Zuerst lädt sie mich nach Hause ein, dann lädt sie mich wieder aus, weil ihre Mutter da ist. Ich werd’ echt bekloppt!“ Frustriert fuhr er sich durchs stoppelkurze Haar.

Es war beruhigend, wie normal der Schulalltag ablief. Ungeachtet der Dinge, die gestern vorgefallen waren, bewegte sich hier alles in geordneten Bahnen: Alex und Timo kamen zu spät zur ersten Stunde, weil Timos Moped sich nicht hatte starten lassen. Frau Zellinger verschüttete wie jede Woche in Erdkunde ihre Flasche Cola über dem Pult, da sie an chronischer Bewegungslegasthenie litt. Ich übersetzte in Latein die Einleitung der Metamorphosen von Ovid und scheiterte kläglich an der dritten Vokabel – ‚fert‘. Bitte, was? Fährt? Pferd? Alex’ Jammern über seine Dauerflamme Maja gehörte ebenfalls fest zum Alltagstrott. Seit knapp vier Monaten beschwerte er sich täglich über ihre Marotten, nur um nach Schulschluss brav und schwanzwedelnd wie ein Dackel um sie herumzuscharwenzeln und ihre Schultasche zu tragen.

Es war alles wie immer. Fast. Abgesehen davon, dass meine Gedanken von Zeit zu Zeit abdrifteten und sich fragten, warum die Welt nicht in Aufruhr war, keine Menschen schrien und Brände loderten in Anbetracht der unsagbaren Veränderungen. Ich hätte es Alex gern erzählt und wünschte mir, das lässige Lachen zu hören, mit dem er alles und jeden als unwichtig abtat, aber irgendetwas sagte mir, dass er in diesem Fall nicht lachen würde. Irgendetwas sagte mir, dass er ganz anders reagieren würde.

„Erde an Daniel“, brach es durch meine Gedanken. „Piep piep, Zentrale, wir haben ein Problem, ich glaube, wir haben Daniel verloren.“ Alex legte eine Hand über die Augen, als würde er sie beschatten, um nach mir Ausschau zu halten. „Daniel!“, rief er laut. Die halbe Klasse drehte sich um und starrte uns an, als hätten wir nicht alle Socken in der Schublade. „Daniiiiieeeel!“, rief Alex noch einmal mit mehr Pathos in der Stimme.

Ich hieb ihm den Ellbogen in die Seite. „Halt’s Maul, du Affe.“

Er grinste. „Ah, da bist du ja wieder. Mensch, wo warst du denn eben? Ich hab’ dich fast nicht mehr gesehen, so tief warst du im Tal der Trübsal verschwunden.“

Er bekam nur ein Augenrollen als Antwort.

Bevor wir das Gespräch fortsetzen konnten, rauschte Herr Schwartz in den Klassenraum, verkündete sein übliches „Good morning, Ladies and Gentlemen!“ und startete mit einer nervtötenden Runde ‚Fishbowl‘ zu unserer neuen Englischlektüre ‚Between Our Doors‘.

Drei Stunden später klingelte es zum Schulschluss. Erschrocken stellte ich fest, dass ich zum ersten Mal in meiner dreizehnjährigen Schullaufbahn unglücklich darüber war. Ich hätte gern eine längere Gnadenfrist gehabt, bis ich mich meinem Bruder stellen musste.

„Hast du heute Bock auf Fifa?“, fragte Alex mich, als er, Timo, Sascha und ich beim Parkplatz vor der Schule angekommen waren.

Ohne eine Sekunde zu zögern, sagte ich: „Klar.“

„Echt?“ Ein Strahlen lief über Alex’ Gesicht. „Mega! Und ich dachte, für dich existiert nur Mathe.“

„Ich kann nicht die ganze Zeit lernen.“

„Gott sei Dank. Am Ende besteht doch noch Hoffnung für dich.“ Er warf mir den Arm über die Schultern. „Auf in den Kampf!“

„Geht ihr auf Janines Party nächstes Wochenende?“, fragte Timo, während er sich den Helm aufsetzte und die Schnalle unter dem Kinn schloss. „Die Feier soll echt groß werden. Ich glaub’, alle Mädels aus der b und c sind eingeladen.“

„Na klar!“, nahm mir Alex die Antwort ab. „Wird Zeit, dass wir was feines Kleines für Daniel finden.“

Ich überlegte einen Moment und stimmte ihm dann zu. „Ja, eigentlich keine schlechte Idee.“ Vielleicht war es gut, auf einer Party auf andere Gedanken zu kommen. Wer wusste das schon? Es konnte ja sein, dass ich meinen Spaß haben würde. Es war viel zu lange her, seit ich das letzte Mal ein hübsches Mädchen im Arm gehalten hatte.

Alex schüttelte fassungslos den Kopf. „Leute, ich weiß nicht, was mit Daniel los ist, aber es gefällt mir.“

 

Bis kurz vor fünf quartierte ich mich bei Alex ein. Mit seinen drei Geschwistern bewohnte er die obere Etage eines geräumigen Hauses und allein sein Zimmer war etwa so groß wie unser Wohnzimmer. Nach acht Spielen, sechs Siegen und ein paar Runden Mario Kart legte ich schweren Herzens den Controller nieder. Länger konnte ich mich beim besten Willen nicht vor Zuhause drücken. Ich hatte Vater immerhin versprochen, beim Bäcker vorbeizugehen, und war zu allem Überfluss fürs Kochen eingeteilt.

„Krass, dass du das so durchziehst“, kommentierte Alex meine Entschuldigung. „Wie oft kochst du? Einmal die Woche?“

„Zweimal. Das ist der Deal.“ Ich zuckte mit den Schultern.

Die Abmachung, dass Milan und ich ab und zu ein Mittag- oder Abendessen übernahmen, war ein unbeliebtes, aber festes Ritual. Vater hatte darauf bestanden. ‚Es gibt hier zwar keine Frau im Haushalt, aber das heißt nicht, dass nicht ordentlich gekocht wird‘, lautete seine Devise. Heute Abend war ich an der Reihe. Reispfanne mit Gemüse stand auf dem Plan.

Damit es zeitlich nicht zu knapp werden würde, verabschiedete ich mich von Alex, machte einen Abstecher in den Supermarkt und kam vollbepackt mit Einkaufstüten daheim an. Die Haustür zum Treppenhaus stand zum Glück offen und ich stieg die zwei Stockwerke zur Wohnungstür hinauf. Mit dem kleinen Finger meiner rechten Hand kam ich gerade so an den Klingelknopf. In der Wohnung surrte es. Zehn Sekunden vergingen. Ich drückte erneut. War niemand da?

„Milan?“, hörte ich Vaters Stimme im Inneren. „Jetzt mach doch mal die Tür auf!“ Es folgten wieder ein paar Sekunden Stille. Dann polternde Schritte.

Vater riss die Tür auf und ich sah ihm augenblicklich an, dass sein Geduldsfaden heute schon gerissen war. „Wenn der sich nicht gleich zusammenreißt, kann er was erleben“, brummte er und nahm mir eine der Tüten ab. „Mir reicht es.“

„Was war denn?“, fragte ich, folgte ihm in die Küche und sortierte die Einkäufe wahlweise in den Kühlschrank oder auf die Küchenzeile.

„Frag mich bitte nicht. Er hat den ganzen Tag eine Laune, das ist kaum auszuhalten.“ Vater seufzte. „Ich schreibe noch ein Runde, okay?“

„Ja.“

„Ich hole Milan. Er soll dir hier helfen.“

Hastig schüttelte ich den Kopf. „Ich mach’ das schon allein.“

„Doch, doch, das wird ihm guttun. Mit dem Verkriechen ist jetzt Schluss.“ Entschieden knallte er die Reispackung auf die Ablage und ging. Direkt darauf rief er: „Auf! Du hilfst jetzt Daniel beim Schneiden.“ Sein Ton zeigte deutlich, dass er keinen Widerspruch duldete.

„Nee, mach’ ich nicht“, hörte ich Milan fauchen. Sofort kehrte das Druckgefühl in meiner Kehle zurück.

„Und ob du das machst. Wenn du nicht gleich in der Küche stehst, kannst du dir dein Essen selbst machen.“

„Ich will gar nichts essen!“

„Entweder du hilfst jetzt oder du kochst in Zukunft dreimal die Woche.“ Das Argument zog. Es gab wenig, was Milan mehr hasste als Kochen.

Ein Murren war zu hören, dann ein Scheppern und schließlich nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie sich mein Bruder schwerfällig in die Küche schleppte und neben mir stehen blieb.

Wortlos schob ich ihm eine gewaschene Paprika und ein Schneidebrettchen hin. Ebenfalls schweigend holte er ein Messer aus der Besteckschublade und begann mit der Arbeit. So schnippelten wir vor uns hin. Die Situation erschien unwirklich. Der stets vorlaute, nie um einen Kommentar verlegene Milan gab keinen Mucks von sich, obwohl er zum Paprika-Schneiden gezwungen worden war. Als er mit der ersten Paprika fertig war, streckte er sich, um eine Glasschüssel aus dem Hängeschrank über der Arbeitsfläche zu holen.

„Warte, ich mach’ das“, sagte ich schnell.

Er hatte die Schüssel bereits aus dem Schrank herausgezogen, als meine Finger seine Hand berührten. Sofort zuckte er zurück und ließ sie los. Klirrend zersprang das Glas auf dem Laminat.

Im gleichen Moment sahen wir uns an. Zack – schoss mir ein erschrockener Adrenalinstoß durch den Köper. Milan sah mitgenommen aus. Sein Pullover war zerknittert und das Haar stand wild in alle Richtungen. Mein Blick huschte über die geröteten Nasenflügel. Seine Lippen waren zu einem schmalen, weißen Strich zusammengepresst. Er sagte kein Wort.

„Milan! Mein Gott, was soll denn das?“, herrschte Vater ihn von hinten an. Er musste das Klirren in seinem Arbeitszimmer gehört haben.

Ich schob Milan ein Stück zu Seite, bückte mich und sammelte die Scherben auf. „Alles gut, mein Fehler“, wiegelte ich ab. „Ich mach’ das sauber.“

Mein Bruder blieb regungslos stehen. Ich spürte, wie er mich von oben beobachtete.

„Du kannst warten, bis das Essen fertig ist.“ Ich wagte es nicht, ihn anzusehen.

„Lass mal“, sagte er tonlos. „Ich hab’ keinen Hunger.“ Dann verschwand er aus der Küche.

Er kam nicht wieder; nicht einmal, als appetitlicher Currygeruch durch die Wohnung waberte. Vater und ich aßen zu zweit und ich hatte das Gefühl, es war ihm letztendlich ganz recht. Als alleinerziehender Vater war er zwar einiges gewöhnt, doch irgendwann war auch seine Geduld am Ende. Wenn er – wie heute – bereits gestresst aus der Redaktion kam und einen Artikel schreiben musste, war das schnell der Fall. An solchen Tagen verkroch er sich manchmal bis lange nach Dienstschluss im Arbeitszimmer.

Nach dem Essen räumten wir ab; anschließend setzte ich mich für eine abendliche Runde Stochastik an den Schreibtisch. Leider wollte mein Kopf nicht so konzentriert arbeiten, wie ich mir das gewünscht hätte. Immer wieder drifteten die Gedanken ab. Mein Bruder war niemand, der häufig weinte. Ich konnte mich nur an drei Mal erinnern: den Tag, an dem er sich das linke Schienbein beim Kicken gebrochen hatte, den Moment, in dem ihm klargeworden war, dass seine liebste Animeserie abgesetzt wurde, und gestern Abend. Und doch hatte es ausgesehen, als hätte er erneut geweint. Obwohl es mich nicht kümmern sollte – immerhin kümmerte er sich auch nicht um mich, wenn es mir schlecht ging – fühlte ich mich verantwortlich. Nervensäge hin oder her, er war mein Bruder und ich auf eine verquere Art schuld daran, dass er durch den Wind war. Ob ich mit ihm reden sollte?

Es verging eine weitere halbe Stunde, in der ich grübelte, bis ich mich schließlich erhob. Was auch immer geklärt werden musste, es musste jetzt gemacht werden.

Ich klopfte an seiner Zimmertür, wartete einen Moment und trat ein, als keine Antwort kam. Milan lag flach auf dem Bett, die Arme über dem Kopf verschränkt.

„Wer hat gesagt, dass du reinkommen kannst?“, klang es undeutlich zwischen seinen Armen hervor.

„Ich glaub’, wir müssen reden.“

„Nee, ich glaub’ nicht, dass wir reden müssen“, kam es zurück. Er nahm die Arme herunter, schaute mich jedoch nicht an, sondern fixierte die Decke.

„Wär’ vielleicht ganz gut, wenn du mir das erklärst.“

Er schloss die Augen. „Was soll ich da erklären?“ Und leiser: „Du hast mich ja nicht ausreden lassen, als ich’s sagen wollte.“

Ich spürte, dass ich nervöser wurde. Ich versuchte zwar, ruhig zu bleiben, aber es war kein normales Gespräch. Darüber konnte ich mich nicht hinwegtäuschen.

„Wenn das dein Ernst war … Also … ich versteh’s nicht“, gab ich zu.

Milan schnaubte. „Da geht’s uns beiden gleich.“ Er blickte noch einen Moment schweigend nach oben, bis er begriff, dass er nicht um die Aussprache herumkommen würde. Mit einem tiefen Seufzen setzte er sich auf und sah mich nachdenklich an. „Ist nicht so, dass ich irgendwann aufgewacht bin und dachte ‚Holla, die Waldfee, ist Daniel ein heißes Schnittchen‘.“ Er verzog das Gesicht. „Du bist echt langweilig, weißt du das?“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Milan schien keine Antwort zu erwarten. „Na, wie auch immer. Das war halt so ein komisches Gefühl. Da war plötzlich was.“

„Wo war was?“, fragte ich verständnislos.

„Na da!“ Er fuchtelte mit dem Zeigefinger zwischen uns hin und her.

„Bei mir ist da nix.“

„Das ist mir klar“, sagte er und schnitt eine Grimasse. „Es geht gerade ausnahmsweise nicht um dich.“

„Hm“, brummte ich. „Und jetzt?“

„Jetzt versuch’ ich, das wieder loszuwerden. Und wo du schon Bescheid weißt, kannst du mir auch gleich dabei helfen“, stellte er fest.

„Wie soll ich dir denn helfen?“ Verwirrt sah ich ihn an. Obwohl ich in sein Zimmer gekommen war, um das Thema zu klären, fühlte ich mich bisher keinen Deut schlauer als vorher.

Milan erwiderte meinen Blick beharrlich. „Einmal“, sagte er leise, aber entschieden. „Lass mich dich nur einmal küssen.“

Mein Herz machte einen erschrockenen Satz. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich schüttelte rasch den Kopf. „Das ist doch –“

„Nur einmal“, unterbrach er mich mit Nachdruck. „Danach ist es vorbei. Ich werd’ das nie wieder fragen, versprochen. Ich will nur einmal sehen …“ Er zögerte kurz. „… wie es ist.“

Ich konnte ein verlegenes Lachen nicht unterdrücken. „Und was glaubst du, was dann passiert? Dass wir auf einem weißen Schimmel in den Sonnenuntergang reiten?“

„Nee“, knurrte er. „Aber vielleicht ist’s eklig. So weiß ich wenigstens, dass ich mir das nur eingebildet hab’.“

Auf eine merkwürdige Art machte es Sinn. Es wäre eine zwar unschöne, aber schnelle Möglichkeit, das Thema zu beenden. Und wenn ich wirklich zusagte, war er mir etwas schuldig. Ganz gewaltig schuldig. Was grundsätzlich nie verkehrt war.

„Einmal?“, wiederholte ich.

Damit er sah, dass das alles Unfug war. Dass der Gedanke, der sich in seinem Hirn festgesetzt hatte, nicht mehr war als das: ein Hirngespinst in Form einer vorübergehenden emotionalen Verirrung. Fix behoben. Klebeband drüber. Wahrscheinlich würde es nicht länger dauern als den Bruchteil einer Sekunde, bis er sich mit übertriebenen Würgegeräuschen wieder von mir löste. Ich schmunzelte in der Gewissheit, dass exakt das passieren würde.

Ich nickte.

Milan schluckte; sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.

Langsam stand er auf und trat auf mich zu. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu, nur dass er nicht seine Hand nach meiner ausstreckte, sondern beide Handflächen leicht auf meine Brust legte. Sein Gesicht kam meinem näher. Es war ein verrücktes Gefühl; verrückt auf eine so fundamentale Art, dass ich mich zusammenreißen musste, um ihm nicht auszuweichen. Einmal war ausgemacht. Dann würde Schluss sein. Einmal würde ich das durchstehen. Ich hatte nicht mitgezählt, wie viele Mädchen ich schon geküsst hatte. Es waren sieben oder acht gewesen; mal auf der Klassenfahrt ins Allgäu, mal auf Partys, mal bei Dates. Nichts Besonderes.

Unsere Lippen trafen sich. In meinem Gehirn explodierten die Synapsen.

Wie ein gewaltiger Stromstoß durchfuhr es mich von Kopf bis Fuß, genau in dem Moment, in dem er mich berührte. Es war nur eine sachte Berührung, kaum mehr als ein zaghaftes Flattern, ängstlich und behutsam, doch in meinem Körper tobte es. Heiß stieg es mir in den Kopf und meine Kehle wurde eng. Der Herzschlag setzte einen Takt aus; im nächsten Augenblick holperte er in doppelter Geschwindigkeit in meiner Brust.

Ich hatte die Augen weit aufgerissen, sah Milans geschlossene Lider mit den blonden Wimpern viel zu nah vor mir, roch seine Haut. Er schlang seine Arme um meine Hüften, zog mich näher an sich, seine Brust schmiegte sich an meine, der Druck auf meinen Lippen wurde fester. Völlig überwältigt schloss ich ebenfalls die Augen. Wie von selbst wanderte eine meiner Hände auf seinen Rücken, die andere verschwand in den Locken. Als ich seine Zunge spürte, öffneten sich meine Lippen. Stürmisch drang ich in seinen Mund ein.

Er keuchte und presste sich an mich. Meine Hände fuhren unkontrolliert über seinen Körper, streichelten die Wangen, den Hals, strichen seine Seiten entlang und glitten dann hinauf bis in den Nacken, wo sie sich wieder in seinem Haar vergruben. Pulsierende Hitze jagte durch mich hindurch.

„Jungs?“, gelangte Vaters Stimme von fern an meine Ohren. „Kann mir einer von euch kurz mit der Lampe helfen?“

Wir stoben auseinander. Fast wäre Milan rücklings über seinen Schreibtischstuhl gestolpert, so abrupt taumelte er nach hinten. Ich knallte mit dem Rücken gegen den Schrank. Regungslos blieb ich dort stehen und versuchte, damit klarzukommen, wie weich meine Knie waren. Wäre nicht neben mir der Griff der Schranktür gewesen, an dem ich mich festklammerte, wäre ich haltlos zu Boden gesackt.

Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. Sein Gesicht war von hektischen Flecken übersät, rund um seinen Mund war die Haut gerötet.

„Oh scheiße“, flüsterte er.

Und ich dachte dasselbe. Oh scheiße.

 

3.

Ich füllte die zur Kuhle geformten Hände mit kaltem Wasser, sog es in den Mund, gurgelte und spie es wieder ins Waschbecken, bevor ich von vorn begann. Minutenlang tat ich das wie besessen. Obwohl ich wusste, dass es nichts brachte, dass jedes verräterische Molekül längst aus meinem Mund verschwunden war, konnte ich nicht aufhören. Ich wollte alles herauswaschen. Den Geschmack aus meinem Mund. Das Gefühl aus meinem Körper. Die Erinnerung aus meinem Kopf. Was um Himmels willen war geschehen?

Aus dem Spiegel starrte mir mein Gesicht entgegen. Wassertropfen rannen über das Kinn. Heftig rieb ich mir mit beiden Händen über die Lippen und die kurzen, braunen Bartstoppeln. Fuck. Die Haut um meinen Mund brannte.

Gesicht, Hals, Brust … Die Stellen, die Milan berührt hatte, fühlten sich heiß an. Mein Herz stolperte in einem unregelmäßigen Takt. Es war alles, was hätte falsch laufen können, gnadenlos falsch gelaufen. Ich hatte erwartet, dass mich der Kuss anekeln würde, dass ich mich überwinden müsste, seine Berührung überhaupt zuzulassen. Dass ich danach froh wäre, dass die Sache erledigt war, und ich es hoffentlich bald vergessen würde. Doch so war es nicht gewesen.

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Während ich mich von einer Seite zur anderen wälzte, spulte mein Gehirn immer wieder dieselbe Szene ab. Und jedes Mal brodelte das Entsetzen von Neuem in mir.