Vorwort


1. Zur Entwicklung des Sterbens

Sterben als fremdverfügtes Schicksal

Medikalisierung des Sterbens

Vom Kampf gegen den Tod zum Einsatz für ein friedliches Sterben


2. Selbstbestimmtes Sterben zwischen Forderung und Zumutung

Die Angst vor medizinischer Übertherapie und die Einforderung des Rechts auf den eigenen Tod

Medizinische Lebensende-Entscheidungen

Selbstbestimmung beim Sterben als Zumutung für die Sterbenden

Moralisierung des Sterbens: das eigene Sterben verantworten müssen


3. Selbstbestimmung als zentraler ethischer Wert

Begriffliche Klärung

Relative Selbstbestimmung

Voraussetzungen von Selbstbestimmung

Aktuelle und antizipierte Selbstbestimmung

Stellvertretende Entscheidungen

Grenzen der Selbstbestimmung


4. Schwierigkeiten des Entscheidens über Leben und Tod

Das Ideal eines guten Sterbens

Die Frage nach der rechten Zeit zum Sterben

Entscheidungsfindung in Grenzsituationen


5. »Ars moriendi« – sich mit der eigenen Sterblichkeit anfreunden lernen

Leben lernen heißt sterben lernen

Aspekte einer Vorbereitung auf das Sterban


6. Über Rahmenbedingungen und Rollen

Rechtliche Bestimmungen

Rollendifferenzierung unter den Beteiligten

Ärztliche Information und Kommunikation

Freiheit von Druck durch das Umfeld

Gesprächspartner


7. Sterben: Entscheiden und Geschehenlassen

Selbstbestimmung als aktives und passives Geschehen

Sterben zwischen Schicksal und Machsal


8. Zu guter Letzt


Anhang

Glossar

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Autoren

Die Entwicklung der modernen Medizin hat dazu geführt, dass der Prozess des Sterbens immer mehr mit medizinischen und existenziellen Fragen verbunden ist, die von der betroffenen Person entschieden werden müssen: Welche therapeutische Option will ich noch? Wie lange soll gegen ein mögliches Sterben angekämpft werden? Welchen Preis an Einbuße von Lebensqualität und an zunehmender Gebrechlichkeit bin ich bereit, für ein gewisses Maß an Lebensverlängerung zu bezahlen? Welche Ziele möchte ich in meinem Leben noch erreichen und wann ist der Zeitpunkt gekommen, um das Sterben zuzulassen?

Wir haben heute die Möglichkeit, in beeindruckendem Maße selbst zu bestimmen, wann für uns die Zeit zum Sterben gekommen ist. Das ist gegenüber früher ein Zugewinn an Freiheit. Selbstbestimmtes Sterben ist zum neuen Paradigma unter den Rahmenbedingungen eines modernen Gesundheitswesens und einer hoch entwickelten Medizin geworden. Allerdings liegt in solcher Selbstbestimmung nicht nur ein Angebot an Freiheit. Sie erweist sich zugleich als Zumutung für Sterbende. Denn es ist gar nicht immer so einfach, herauszufinden, was man denn eigentlich will, was in einer konkreten Situation für einen stimmig ist und wie man sich entscheiden soll. Ja, manche empfinden die Herausforderung selbstbestimmten Sterbens schlicht als eine Überforderung, als eine Freiheit, die man so gar nicht unbedingt ausleben will.

Für Ärzte war es über lange Zeit indiskutabel, dass ihr Auftrag primär darin besteht, den Tod zu bekämpfen und Leben – so weit möglich – zu erhalten. Entsprechend sind viele (noch) mit dem Gespräch über die Ziele und Prioritäten der Patientinnen, über eine mögliche Therapiebegrenzung und das Zulassen des Sterbens überfordert.

Welche Haltung man dazu auch einnehmen mag: Wir kommen nicht darum herum, uns mit der Realität heutigen Sterbens auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist eine Einladung, sich dieser Herausforderung zu stellen und sich auf sie einzulassen – schon bevor sich das Ende unseres Lebens abzeichnet. Getragen sind die folgenden Überlegung von der uralten Überzeugung, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Sterben, mit der eigenen Sterblichkeit lohnt – nicht nur, um am Ende des Lebens besser mit den sich stellenden medizinischen Entscheidungssituationen umgehen zu können, sondern um bereits mitten im Leben bewusster und intensiver zu leben. Das heißt, so zu leben, dass man lebenssatt wird und zu gegebener Zeit das Leben auch loslassen kann.

Wir hoffen, dass die folgenden Seiten dazu beitragen, dass mehr Menschen die Chance selbstbestimmten Sterbens als Ausdruck von Freiheit wahrnehmen können und einigermaßen sachkundig damit umgehen lernen. Und dass die folgenden Ausführungen zu einer offeneren Haltung der Medizin gegenüber dem Lebensende beitragen. Der Aufbau des Buches bzw. die Abfolge der Kapitel hat aus unserer Sicht eine innere Logik. Dennoch sollte es für jede Leserin möglich sein, dort mit der Lektüre zu beginnen, wo ihr besonderes Interesse liegt, und das eine oder andere Kapitel gegebenenfalls auch einfach zu überspringen. Das sollte dem Verständnis des Inhalts keinen Abbruch tun.

An der Entstehung eines Buches sind immer verschiedene Personen und Institutionen beteiligt. Darum haben wir als Autoren Grund zum Danken: Einmal den »Erstleserinnen und -lesern« des Manuskriptes für ihre hilfreichen Rückmeldungen: Lotti Eigenmann, Ursa Neuhaus, Eva Niedermann, Markus Minder und Dr. Uwe Sperling. Ihre Kommentare haben uns bei der Überarbeitung des Textes weitergeholfen. Sodann dem Verlag rüffer&rub für die engagierte Begleitung dieses Buchprojektes insbesondere durch Anne Rüffer, die das Manuskript lektoriert hat.

Zürich, im Juli 2020

Heinz Rüegger & Roland Kunz

Menschen sind Sterbliche; ihr Leben ist endlich und geht früher oder später unweigerlich auf den Tod zu: »Wer geboren wird, muss auch sterben.«1 Das haben Menschen grundsätzlich mit anderen Lebewesen, etwa mit Tieren, gemeinsam. Ein wesentlicher Unterschied zu den Tieren besteht allerdings darin, dass Menschen um die Endlichkeit ihres Lebens wissen, auch wenn sie dieses Wissen im Lebensalltag häufig verdrängen.2 Solches Verdrängen ist in sich selbst ein Hinweis darauf, dass Menschen um ihre Sterblichkeit eigentlich wissen, sich damit aber schwertun und diese Wirklichkeit darum möglichst lange aus ihrer Existenz auszuklammern versuchen. Das gelingt umso leichter in einer Zeit, in der Sterben und Tod dank zivilisatorischen und insbesondere medizinischen Errungenschaften für die Mehrheit der in westlichen Gesellschaften Lebenden an den Rand eines langen Lebens hinausgeschoben wurde.

Das ändert freilich nichts daran, dass unser Leben endlich ist und auf den Tod zuläuft. Der Philosoph Martin Heidegger hält darum etwas ganz Elementares fest, wenn er menschliche Existenz als ein »Sein zum Tode« oder ein »Vorlaufen zum Tode« versteht – und dies keineswegs erst im Blick auf die Sterbephase am Ende des Lebens, sondern grundsätzlich im Blick auf das ganze Leben.3

Sterben als fremdverfügtes Schicksal

Dabei ist zwischen Sterben und Tod zu unterscheiden, auch wenn diese Begriffe oft gleichgesetzt oder gar miteinander verwechselt werden. Von der Logik der Sprache her ist der Tod ein Zustand des Totseins, also des Fehlens von Leben in seiner psycho-physischen Dimension. Sterben hingegen ist eine Phase des Lebens, und zwar diejenige Phase am Ende des Lebens, in der sich der bevorstehende Tod abzeichnet und in der er schließlich eintritt.4

Die Wirklichkeit des Todes ist jenseits aller irdischmenschlichen Erfahrung und entzieht sich der aktiven Gestaltung durch die Betroffenen. Sie ist deshalb auch unabhängig vom geschichtlich-kulturellen Wandel. Im Tod sind alle zu allen Zeiten gleich. Anders verhält es sich mit dem Prozess des Sterbens. Wie sich dieser vollzieht, hängt von vielerlei individuellen und geschichtlichen Faktoren ab: von bestehenden Erkrankungen, von den Möglichkeiten und Angeboten medizinischer Intervention, von der mitmenschlichen Begleitung und Pflege, von den örtlichen Gegebenheiten und von der Art, wie Menschen Leben und Sterben interpretieren und sich diesen gegenüber verhalten. Insofern ist das Sterben von Menschen vielfältig, und die diesbezüglichen Erfahrungen verändern sich im Verlauf der geschichtlich-kulturellen Entwicklung. Man kann durchaus sagen, dass unterschiedliche Zeiten und Kulturen jeweils ihren eigenen typischen Stil des Sterbens entwickeln.5

Wie unterschiedlich die menschliche Sterblichkeit in verschiedenen Kulturen und Zeiten auch interpretiert worden ist, in einem zentralen Punkt deckte sich die Erfahrung von Menschen bis in die jüngste Vergangenheit: Sterben zu müssen und dem bevorstehenden Tod ausgesetzt zu sein war Inbegriff eines fremdverfügten Schicksals, gegen das die Betroffenen nichts ausrichten konnten. Es zwang sie in eine passive Rolle, in der sie sich nur ergeben in das fügen konnten, was ihnen widerfuhr. Der Tod wurde erfahren als eine »Schicksalsmacht, der wir zwar mit allen Fasern unserer Existenz zu entfliehen suchen, der wir aber letztlich doch nicht entkommen können«.6

Diese Erfahrung rückt etwas für das menschliche Selbstverständnis seit Urzeiten Zentrales ins Bewusstsein: dass das Leben begrenzt ist, und zwar durch Grenzen, die der Mensch in der Regel nicht selbst zieht, sondern auf die er stößt als eine nicht selbst gesuchte Widerfahrnis. Der Tod kommt, stößt dem Menschen zu, er holt ihn, wie das in der Kunstgeschichte immer wieder mit der Gestalt des Sensenmanns zum Ausdruck gebracht wurde.7 In solchen Grenzen begegnet dem Menschen eine Macht, über die er nicht verfügt, die ihn übersteigt, die aber seinem Leben einen Horizont und möglichen Sinn gibt. Vor diesem Horizont weiß sich der Mensch auf etwas Größeres bezogen, dem er nur in der Haltung des Zulassens und Geschehenlassens gerecht werden kann.

Der Tod und das ihn herbeiführende Sterben entzogen sich menschlicher Verfügungs- und Entscheidungsgewalt, außer bei Opfern von menschlicher Gewalt. Es war das Schicksal, das zuschlug, oder der Herr über Leben und Tod, der bestimmte. Und es war der Part des Menschen, sich ins Unvermeidliche zu fügen und die eigene Ohnmacht angesichts des bevorstehenden Todes auszuhalten.

Medikalisierung des Sterbens

Mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin vollzog sich ein folgenschwerer Bruch: Sterben und Tod wurden nun als etwas verstanden, das von natürlich-biologischen Parametern abhängt und in das grundsätzlich medizinisch eingegriffen werden kann. Damit war der Weg in die Medikalisierung des Sterbens beschritten.8 Sterben wurde pathologisiert und zu einem Thema der Medizin; es wurde zu einem Problem, gegen das mit medizinischen Mitteln – auch wenn diese anfänglich noch sehr beschränkt waren – angekämpft werden konnte.

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften gibt kritisch zu bedenken: »Die technisch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten haben einen Teil der in der Medizin Tätigen dazu verführt, gewagte Zukunftsszenarien zu entwerfen. Diese bewerten Krankheit und Tod nicht mehr als unbesiegbar, sondern stellen sie nur noch als ein technisch ungelöstes Problem dar. [...] Über Limitierungen im Sinne des vernünftigerweise Machbaren wird auf allen Seiten nur zögernd nachgedacht.«9

Dank den Fortschritten der medizinischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten sind wir heute in einer Situation, in der der Medizin ein eindrückliches Arsenal an Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung steht, um Patienten, die früher unweigerlich ihren lebensbedrohenden Krankheiten erlegen wären, erfolgreich zu behandeln. Das heißt nicht unbedingt, dass eine Heilung möglich ist; in vielen Fällen können Patientinnen aber durch entsprechende Maßnahmen mindestens am Leben erhalten, ihr Sterben verhindert und ihr Tod hinausgeschoben werden. Patienten am Lebensende befinden sich aus medizinischer Sicht selten in einer Situation, in der keine Behandlung mehr möglich ist. Praktisch in jeder Situation gibt es inzwischen medikamentöse und technische Möglichkeiten zur Lebenserhaltung bzw. -verlängerung. Grenzen der Machbarkeit verschieben sich immer mehr.10

Eindrücklich zeigt sich diese Entwicklung am Beispiel der Altersstruktur von Dialysepatienten. Die über 75-Jährigen bilden heute die größte Gruppe, die mit der Dialysebehandlung beginnt. Entsprechend hat sich der Anteil alter Menschen, die nur dank eines Nierenersatzverfahrens weiterleben, innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Ein anderes Beispiel ist der Ersatz von kranken Herzklappen. War zuvor die Sterblichkeit von über 80-Jährigen bei einem chirurgischen Klappenersatz sehr hoch, weshalb der Eingriff nur sehr zurückhaltend durchgeführt wurde, bietet sich nun der risikoarme Ersatz mittels Katheter-Technik an. Hohes Alter ist dabei kein Hinderungsgrund mehr. Die meisten Menschen sterben aktuell nach mehr oder weniger umfangreichen medizinischen Interventionen. In der westlichen Welt mit ihrem modernen Gesundheitswesen wird man es nur noch selten mit einem von technischer Intervention gänzlich unbeeinflussten Sterben zu tun haben.11 Der Schlussbericht zu den 33 Forschungsprojekten des Nationalen Forschungsprogramms »Lebensende«12 (NFP 67) hält fest, dass so etwas wie ein »natürliches Sterben«, d.h. ein von medizinisch-technischen Interventionen unbeeinflusster Krankheitsverlauf, der von sich aus zum Sterben führt, unter den heutigen Bedingungen unseres Gesundheitssystems kaum mehr eine mögliche Orientierungsgröße darstellt.13

Das hat zur Konsequenz, dass Krankheitsverläufe am Lebensende in immer höherem Maße in vielfältige und oft komplexe Entscheidungssituationen führen. Denn »je mehr Behandlungsmöglichkeiten für Schwerkranke und Sterbende aufgrund des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts […] zur Verfügung stehen, desto häufiger sind Entscheidungen zu treffen, die das Sterben beeinflussen. Heutzutage gehen den meisten Todesfällen, die für Ärztinnen und Ärzte nicht unerwartet eintreten – sogenannte ›nicht plötzliche und nicht-unerwartete Todesfälle‹ –, medizinische Entscheidungen voraus, die eine Verkürzung der verbleiben den Lebenszeit in Kauf nehmen oder sogar beabsichtigen«.14 Im Jahr 2013 wurden von den Ärzten, die einen Totenschein ausfüllten, 71% der Todesfälle in der Schweiz als erwartet bezeichnet und 82% davon (58,7% aller ausgewerteten Todesfälle) als Folge einer bewussten Entscheidung angesehen.15 Solche Entscheidungen sind also nichts Außergewöhnliches mehr. Aufgrund der vielen Möglichkeiten moderner Medizin, das Sterben gezielt hinauszuzögern, sind sie sogar meistens unausweichlich. Dabei ist zu bedenken, dass unter den Bedingungen eines modernen Gesundheitswesens auch der Verzicht auf jeglichen Eingriff eine medizinische Entscheidung darstellt.16 So oder so, die Medikalisierung des Sterbens hat dazu geführt, dass Sterben »zu einem Prozess unentwegten Entscheidens«17 geworden ist. Man muss sich klarmachen, was für ein kulturgeschichtlicher Paradigmenwechsel sich damit vollzogen hat: Während Jahrhunderten gab es nur eine Situation, in der das Sterben mit dem eigenen Entscheiden zum Sterben verbunden war: der Suizid (oder »Selbstmord«, wie man früher sagte). Und der galt als Sündenfall par excellence, den die Gesellschaft mit allen möglichen rechtlichen, sozialen und religiösen Verboten und Tabus zu verhindern suchte. Was so während Jahrhunderten streng vermieden werden musste, das Zusammenfallen von Sterben und Entscheid zum Sterben, das wird quasi »über Nacht« zum geforderten Normalfall:18 Selbstbestimmtes Entscheiden über das eigene Sterben wird vom Gesundheitssystem dem sterbenden Individuum abgefordert – allermeist zwar nicht im Hinblick auf einen potenziellen Suizid, wohl aber als Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, als bewusste Entscheidung, das Sterben nicht mehr zu verhindern, sondern zuzulassen, obwohl man es in vielen Fällen durchaus noch durch medizinische Intervention hinausschieben könnte. Es geht letztlich da rum, dass nicht einfach gestorben wird, sondern »sterben gelassen« werden muss.19

Sterben wird zur Aufgabe eines medizinischen Managements. Es ist gerade zentral für heutige Sterbeverläufe, dass wir mitbestimmen können, ja in vielen Fällen sogar müssen, wie wir sterben möchten.20 Darauf sind wir kulturell und mental nicht vorbereitet. Kein Wunder, fühlen sich viele angesichts dieses Paradigmenwechsels überfordert – so sehr ihn manche auch als Ausweitung persönlicher Freiheit und individueller Handlungsautonomie begrüßen mögen.

Vom Kampf gegen den Tod zum Einsatz für ein friedliches Sterben

Der Umgang mit Sterben und Tod gehörte jahrhundertelang nicht zu den Aufgaben der Medizin. Im »Corpus Hippocraticum«, einer maßgebenden Sammlung medizinischer Texte aus vorchristlicher Zeit, wird dem Arzt ausdrücklich geraten, sich von Sterbenden fernzuhalten. Die Betreuung und Begleitung von Sterbenden war Sache der Angehörigen oder von Geistlichen. Man kann geradezu von einer »historischen ›Nicht-Zuständigkeit‹ des Arztes für den Prozess des Sterbens und des Todes« sprechen.21 Gegen den Tod konnte medizinisch nichts getan werden, und auch der Sterbeprozess konnte nicht wesentlich gelindert werden. Deshalb galt das Augenmerk primär der richtigen inneren Einstellung des Sterbenden, mit der dieser seinem unausweichlichen Geschick entgegengehen sollte. Als Anleitung dazu entwickelte sich im Mittelalter die Literaturgattung »Ars moriendi« mit Anleitungen zur Kunst eines guten, gottergebenen Sterbens.22 Diese Situation änderte sich mit dem Aufkommen einer naturwissenschaftlich basierten Medizin. Das Sterben wurde nun als biologische Folge fortschreitender Krankheitsprozesse verstanden; durch rasante Fortschritte der pharmakologischen und medizinischen Wissenschaften wurden wirksame Möglichkeiten entwickelt, dagegen anzugehen. Der Internist Frank Nager hat darauf hingewiesen, dass »der Tod für die Mediziner des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters ein ›factum brutum‹ – eine nackte Tatsache – ist, dem sie den unerbittlichen Kampf angesagt haben. […] Im 20. Jahrhundert hat sich die moderne Heiltechnik zu einer gigantischen Veranstaltung gegen Sterben und Tod entwickelt.«23 Die heute noch da und dort vorherrschende »Todesverdrängung moderner Heiltechniker« hat den Tod zum Erzfeind der Medizin erklärt: »Von Berufs wegen ist er [der Tod] unser Feind, um nicht zu sagen – unser Todfeind.«24 Nun sind eine Medizin und ein Gesundheitssystem, die den Tod vor allem als zu bekämpfenden Feind wahrnehmen, letztlich unmenschlich und lebensfeindlich.25 Sie nehmen die Endlichkeit des menschlichen Lebens als elementaren Aspekt der »condition humaine« nicht ernst und können deshalb auch das Sterben von Menschen als wichtigen letzten Teil des Lebens nicht hilfreich begleiten. Peter Steiger, Intensivmediziner am Zürcher Universitäts-Spital, kommentiert eine heute weit verbreitete Tendenz insbesondere der Spitzenmedizin mit der lapidaren Feststellung: »Man will die Menschen heutzutage nicht mehr sterben lassen.«26 Kein Wunder, dass die Angst bei vielen Menschen groß ist, nicht sterben zu können beziehungsweise aufgrund medizinischen Intervenierens nicht sterben zu dürfen, obwohl das Leben eigentlich zu Ende geht.27

Gegen eine solche einseitige medizinische Haltung hat sich in neuerer Zeit zunehmend Widerspruch erhoben. So hat etwa der Medizinethiker Daniel Callahan schon in den 1990er-Jahren eindringlich gefordert, die Medizin müsse die menschliche Sterblichkeit ganz neu ernst nehmen und dem Tod wieder seinen berechtigten Platz im Leben eines Menschen zugestehen. Er hält fest: »Die Tatsache seines unabwendbaren Sieges – seiner letzten Notwendigkeit – muss wieder in das eigene Selbstverständnis der Medizin aufgenommen werden, muss ein Teil ihrer Aufgabe werden, eine Begrenzung ihrer Kunst, die aber gleichzeitig die Natur dieser Kunst definiert.«28 Callahan ist überzeugt: »Eine Medizin, die sich eine Akzeptanz des Todes ganz zu eigen gemacht hätte, wäre eine große Veränderung im Vergleich zu ihrem gegenwärtigen Konzept; sie könnte dann den Raum schaffen, in dem die Sorge für die Sterbenden nicht ein nachträglicher Einfall wäre, wenn alles andere versagt hat, sondern dies für sich selbst als eines ihrer Ziele sehen. Diese Sorge um einen friedlichen Tod sollte genauso Ziel der Medizin sein wie die Förderung der Gesundheit.«29 Diese Überzeugung hat Eingang gefunden in den von Callahan geleiteten Prozess einer breit abgestützten internationalen Definition der Ziele der Medizin, die zu dem 1996 veröffentlichten »Hastings Report« führte: Die letzte von vier Zielbestimmungen besagt, zu den Aufgaben der Medizin gehöre »die Verhinderung eines vorzeitigen Todes und das Streben nach einem friedvollen Tod«.30 Hier tritt das Bemühen um die Ermöglichung eines friedlichen Sterbens gleichrangig neben den Kampf gegen einen vorzeitigen Tod als zentrale Aufgabe der Medizin in den Blick. Diese Perspektive ist in neuerer Zeit insbesondere in der Entwicklung einer Palliative Care und als Teil davon einer Palliativmedizin als eigener medizinischer Disziplin umgesetzt worden.31 Palliative Care verzichtet bewusst darauf, einen sich abzeichnenden Sterbeprozess durch kurative, auf Heilung zielende medizinische Maßnahmen aufzuhalten und den Tod zu bekämpfen; sie akzeptiert das Sterben und den Tod als fundamentale, zum Leben gehörende Phänomene. Palliative Care konzentriert sich darauf, durch umfassende lindernde Maßnahmen den Sterbeprozess zu erleichtern und die Lebensqualität der betroffenen Patientinnen so gut wie möglich zu unterstützen. Im Fokus steht also eine Medizin, die die »Gleichrangigkeit von ärztlichem Heilungsauftrag und ärztlichem Auftrag zur Hilfe im Sterben« ernst nimmt.32 Ziel ist nicht mehr Lebenserhalt oder Lebensverlängerung. Ziel ist nicht mehr der Kampf gegen den »Todfeind Tod«. Ziel ist vielmehr die Ermöglichung eines friedlichen, eines »guten« Sterbens – so weit das nur irgendwie möglich ist. Und dazu gehört, die Autonomie eines Patienten und seine Selbstbestimmung auch bezüglich seiner Vorstellungen und Wünsche eines »guten« Sterbens absolut zu respektieren.