Dystopieband eBook 3
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Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Epilog
Der Autor
Literatur Guerillas
Dystopie eBook
Band 3
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Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne
Artwork: Timo Kümmel
Illustrationen und Buchschmuck: Sascha Lubenow
Nachdruck und weitere Verwendung
nur mit schriftlicher Genehmigung.
ISBN: 978-3-969-44161-9
»Die Welt hat sich weitergedreht«
Stephen King
Ich kann Daryll schon aus der Ferne sehen.
Er steht auf seinem Fahrrad, während er in halsbrecherischem Tempo den Sandweg zum Haus herunterrast. Das blonde Haar weht im kalten Herbstwind, und seine Jacke bläht sich wie ein Ballon um ihn herum auf. Das Klappern seines Fahrrades zerteilt die morgendliche Stille, während ich am Zaun warte und nur meinen zerschlissenen Morgenmantel trage.
»Guten Morgen, Mr. Jennings«, ruft mir der Junge keuchend entgegen. Dann tritt er mit Wucht auf die Bremse, wie jeden Morgen, und lässt eine staubige Reifenspur auf dem Weg zurück.
»Hallo, Daryll. Du bist pünktlich wie immer.«
Er sieht mich mit hellen Augen an und nickt, seine Wangen von der Anstrengung gerötet. In der Hand hält er bereits meine Zeitung.
»Ich hoffe, du hast mir diesmal bessere Nachrichten mitgebracht«, lächele ich und reiche ihm den obligatorischen Dollar, den ich dem Jungen an jedem Morgen für seine Mühen gebe. Immer noch außer Atem schüttelt Daryll den Kopf. Dabei blickt er mich mit ernstem Gesicht an.
»Ich glaube, es wird schlimmer«, murmelt er, nimmt den Geldschein und steckt ihn achtlos in die Hosentasche.
»Sie haben Berichte über diese Städte in Europa. Ich weiß ihre Namen nicht mehr. Und wenn ich alles richtig verstanden habe, ist unser Land nun auch in akuter Gefahr.«
Jetzt sieht er mich direkt an, und etwas in seinem Blick erschreckt mich. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich den ansonsten so aufgeweckten Jungen noch nie so ernst erlebt habe. Vielleicht aber auch die Angst, die ich in seinen Augen finde.
»Man sollte nicht alles für bare Münze nehmen, was in der Zeitung steht«, versuche ich Daryll zu beruhigen. Dabei spüre ich, wie falsch die Worte selbst für meine Ohren klingen.
»Ich hoffe, Sie haben recht, Mr. Jennings«, flüstert der Junge, wendet sein Fahrrad und sieht mich dann über die Schulter hinweg an.
»Ich muss weiter. Es sieht nach Regen aus, und ich will zu Hause sein, bevor es anfängt.«
»Danke dir«, entgegne ich und grüße mit der Zeitung.
Daryll nickt kurz, doch dieses Mal treffen sich unsere Blicke länger als an anderen Tagen.
Dann fährt er mit seinem roten Fahrrad wieder den Sandweg zur Straße hinauf, wobei er sich weit nach vorn beugen muss, um genügend Kraft aufzubringen.
Während das Klappern der Schutzbleche allmählich leiser wird und die herbstliche Stille in die Hügel zurückkehrt, denke ich über den angsterfüllten Blick des Jungen nach. In seinen Augen lag dieselbe Furcht, die ich selbst seit Tagen wie eine zweite, kalte Haut auf meinem Körper spüre.
Etwas in mir sagt mir, dass ich Daryll mit seinem leuchtend roten Fahrrad an diesem Morgen zum letzten Mal gesehen habe.
Ich verdränge den Gedanken so schnell, wie er aus dem Sumpf meiner Ängste aufgetaucht ist.
Während ich langsam zum Haus zurückgehe und das feuchte Gras um meine Knöchel streichelt, lese ich die nächste unheilschwangere Schlagzeile der Zeitung.
Ich weiß nicht, ob man die Zukunft träumen kann. Doch ich glaube, dass ich genau dies mein Leben lang getan habe.
Schon als kleiner Junge bin ich in der Nacht schreiend aufgewacht, das grässliche Abbild einer Welt vor Augen, die still und leer war, und deren Asche den Himmel verfinstert hatte.
Erst durch die tröstenden Worte meiner Mutter und ihrem vertrauten, warmen Geruch verblasste die schreckliche Szenerie in meinem Kopf und verkroch sich in die dunkelste Ecke meines kindlichen Verstandes, nur um in irgendeiner weiteren Nacht erneut aus ihrem Pfuhl emporzusteigen.
In den wiegenden Armen meiner Mutter verschwanden mit den Zerrbildern dieser stummen, entarteten Welt auch die Kreaturen, die sich in Schatten und Dunkelheit verbargen.
Ich vermisse meine Mutter sehr. Selbst jetzt noch, da ich ein alter Mann von fast siebzig Jahren bin, denke ich oft an diese einzigartige Frau zurück. Wenn ich heute von Ihnen träume, ist niemand mehr da, dessen Körperwärme mich beruhigen kann.
Bis vor zwei Jahren hatte Sarah in dieser Beziehung die Rolle meiner Mutter übernommen. Zweiundvierzig Jahre sind wir nun verheiratet. Sie hatte mich bereits mit meinen schrecklichen Träumen kennengelernt. Und trotzdem, oder vielleicht sogar gerade deswegen, hat unsere Ehe so lange gehalten. Rückblickend glaube ich heute, dass ich schon vor langer Zeit den Verstand verloren hätte, wenn meine Sarah nicht gewesen wäre.
Wenn ich in den Nächten mit einem heiseren Schrei auf zitternden Lippen und mit bebendem Körper aufgewacht war, meine Stirn vor Schweiß geglänzt und ich mir, wie ich sehr zu meiner Schande eingestehen muss, in den letzten Jahren immer öfter während meiner Träume in die Hose gemacht hatte, dann hat sie mich mit der gleichen warmen Stimme und den gleichen zärtlichen Berührungen beruhigt, wie es einst meine Mutter getan hatte.
Sie hat über den Gestank hinweg gesehen, der von meinen Laken aufgestiegen war, mir das nasse Haar aus der Stirn gestrichen und mich in ihren Armen gewiegt. Und nicht selten haben wir dann bis zum Morgengrauen auf diese stille Weise, wie man es nur nach über vierzig Jahren Ehe tun kann, im Bett gelegen. Ohne zu reden, einfach nur füreinander da und darauf wartend, dass der dämmernde Morgen die grausamen Alpträume mit sich fortträgt.
Ich habe Sarah nie erzählt, von was ich träume, und sie hat auch nie danach gefragt. Obwohl ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als endlich jemandem mit mir zusammen in den schwarzen, morastigen See eintauchen zu lassen, den mein Unterbewusstsein beherbergt.
Doch ich konnte es nicht. Manchmal denke ich, dass mich irgendetwas daran gehindert hat, meine Traumgespinste preiszugeben.
Vielleicht waren Sie es sogar, die mir einen seelischen Bannfluch auferlegt haben, der es mir unmöglich macht, mich selbst Menschen gegenüber, die ich über alles liebe, zu öffnen.
Sie, jene fürchterliche Kreaturen, die schattengleich durch das Dunkel dieser entvölkerten Traumwelt schleichen und mich in den Nächten martern.
Über diesen Aspekt habe ich mir nie Gedanken zu machen gewagt, denn eine solch konfuse und unheimliche Gedankenfolge hätte mich unweigerlich um den letzten Rest von Verstand gebracht.
Heute denke ich anders darüber.
Mittlerweile bin ich aus tiefster Seele davon überzeugt, dass es nicht mein eigenes Zutun ist, das mich daran hindert, von meinen nächtlichen Alpträumen zu erzählen.
Eine Zeit lang dachte ich an eine Art göttliche Obhut, die mich vor dem Spott meiner Mitmenschen zu schützen versucht. Denn wir wissen alle, wie grausam Menschen werden können, wenn sie in der Fassade ihres Gegenübers einen Riss entdecken.
Und in nichts ist der Mensch geschickter als gekonnt seine Finger in diesen Riss zu legen, zu reißen und zu graben, und die Ängste und Phobien ans Tageslicht zu befördern, die man dahinter zu verbergen sucht.
Doch wenn mich ein Gott vor Verhöhnung zu schützen versuchte, wieso ließ er es dann erst zu, dass mich meine Träume immer und immer wieder befielen?
Wurde in der Kirche nicht gepredigt, Gott sei allmächtig?
Besaß er nicht die Macht, diese grässlichen Ungetüme in meinen Träumen zu bannen?
Diese düstere Welt in meinem Kopf zu vernichten?
Die These eines göttlichen Schutzes verwarf ich schnell. Ich war nie ein sehr gläubiger Mensch gewesen. Über einen himmlischen Beistand nachzudenken und zu dem Schluss zu kommen, dass ein solcher überhaupt nicht existierte, würde mir mit Sicherheit den letzten erbärmlichen Funken an biblischem Glauben nehmen.
Schnell kam ich zu der Überzeugung, dass mir eine innere Fessel angelegt worden war. Ich schaffte es einfach nicht, über die Wesenheiten in meinen Träumen zu reden. Selbst der kleinste Versuch schürte eine unsägliche Furcht in mir, die zu Schweißausbrüchen und zitternden Anfällen führte. Und eine derart unmenschliche Angst konnte ich mir letzten Endes nur durch einen Fluch jener Kreaturen selbst erklären, welche die dunkle Seite meines Verstandes bewohnten.
Alles was ich Sarah jemals erzählen konnte, war, dass ich von einem schrecklichen Ort träumte, an dem es keine Menschen gab.
Mehr bekam ich nicht über meine Lippen, und ich weiß bis heute nicht, ob Sarah mir diese Worte je geglaubt hatte.
Aber mehr hatten Sie nie zugelassen.
Heute erzähle ich Sarah nichts mehr von meinen Träumen. Dafür, dass sie mich und meine Eigenheiten über vierzig Jahre geduldig ertragen hat, denke ich, dass sie nun, in den letzten Zügen ihres Lebens, ein klein wenig Ruhe vor meinen Psychosen verdient.
So bleibe ich seit fast zwei Jahren alleine mit jenen Träumen.
Bislang bin ich ganz gut damit klargekommen. Von einigen extremen Anfällen in der Nacht abgesehen, war ich bisher stolz darauf gewesen, meine traumatischen Gedankenspiele auch ohne die Hilfe anderer im Griff zu haben.
Doch seit einigen Tagen ist alles anders.
Während ich über die Ereignisse der vergangenen Woche nachdenke, bereite ich mit automatisierten Bewegungen Sarahs Abendessen zu.
Warmer Haferschleim, eine zerdrückte Banane und eine Kanne mit Tee.
Viel mehr habe ich nicht in der Speisekammer gefunden.
Damals, in den Tagen, als Sarah und ich unser kleines Haus auf dem Hügel noch mit Lachen und allerlei unsinnigen Scherzen erfüllt hatten, gehörte der abendliche Tee zum festen Bestandteil unseres Lebens. Als wir das Haus mit seinen niedrigen Räumen und rustikalen Klinkersteinen zu Beginn unserer Ehe gebaut hatten, war es Sarah gewesen, die das dringende Bedürfnis nach einem offenen Kamin im Wohnzimmer äußerte. Und als verliebter, junger Romeo las man seiner Julia natürlich jeden Wunsch von den Lippen ab.
So hatten wir in all den Jahren fast jeden Abend in kleinen, robusten Korbsesseln vor dem wärmenden Feuer verbracht. Während wir unseren Tee tranken, uns gegenseitig über den Rand der Tasse ansahen und ein Lächeln nicht unterdrücken konnten, hatte das Knistern und Knacken der Holzscheite im Kamin eine ganz eigene, melancholische Symphonie für uns gespielt.
Wir hatten einfach nur dagesessen, im Hintergrund leise Musik, und über das geredet, was uns der vergangene Tag beschert hatte.
Die Nähe meiner Sarah zu spüren, ihre ruhige Stimme zu hören und ihr beim Reden zuzusehen, wie sich immer wieder ein Lächeln zwischen ihre Worte stahl und ihre weißen Zähne aufblitzten, war alles, was sich ein glücklicher Mann wünschen konnte.
Ich steige die Treppe ins Schlafzimmer hinauf. Das Geschirr klappert leise auf dem Tablett, und ich bleibe stehen.
Wieder einmal trifft mich die allgegenwärtige Stille wie ein Schlag. Fast erscheint es mir, als hätte ich mich in einen tiefschwarzen Mantel gehüllt, der alle Geräusche der Welt von mir fernhält.
Das Tablett auf einer Hand balancierend, blicke ich mich im Dämmerlicht des Flurs um. Lediglich einige Kerzen stehen auf dem kleinen Schränkchen, auf das wir damals immer achtlos unsere Schlüssel oder Briefe geworfen hatten.
Mein Schatten gleicht dem eines dürren Riesen an der Wand.
Als die Stille begonnen hatte, war mir das Haus wie ein düsteres Grab erschienen.
Dort, wo früher die vertrauten Lampen gebrannt und die ebenso vertrauten Schatten sich in den Ecken gedrängt hatten, versteckten sich nun Horden unsichtbarer Wesen in nachtschwarzen Nischen, deren Mäntel die vereinzelten Kerzen nicht zu durchbrechen vermochten.
Manchmal bilde ich mir ein, ihre trippelnden Füße in der Dunkelheit zu hören. Dann habe ich das Gefühl, dass sie sich mir zu nähern versuchen, jedoch nie die schützenden Schatten verlassen, so dass ich einen Blick auf ihre abnormen Körper werfen könnte.
Mir ist bewusst, dass ich mir das alles nur einbilde. Das Alter, in Verbindung mit Dunkelheit und plötzlicher Stille, ist etwas, das ich scheinbar nur schwer ertragen kann.
Es gelingt mir kaum noch, das beklemmende Gefühl abzulegen, das mich jeden Abend aufs Neue befällt, wenn ich die Kerzen anzünden muss.
Am Tag ist es nicht sehr viel heller in den Räumen. Das düstere Grau, das durch die Fenster sickert, erscheint mir sogar noch betrüblicher als das Flackern der Kerzen, das mich zumindest teilweise noch an die Abende vor dem Kaminfeuer zurückdenken lässt.
Das Schlimmste aber ist die Stille.
Abgesehen vom gelegentlichen Stöhnen des Gebälks und dem tiefen Ächzen des Fundaments im Keller, hat sich ein dichtes Tuch des Schweigens über die Welt gelegt.
Mit der freien Hand fahre ich über die Augen und spüre eine tiefe Müdigkeit hinter den Lidern. Meine Finger zittern. Ich starre sie einen Moment an, dann balle ich sie zur Faust und blicke die Treppe empor, wo eine einzelne Petroleumlampe auf dem Pfosten des Geländers ein weiches Licht über die obersten Stufen fließen lässt.
Seufzend und mit schwerfälligen Schritten steige ich den Rest der altertümlichen Holzstiege hinauf.
Das Knarren der mittleren Stufe erscheint mir, wie jeden Abend, als das schönste Geräusch, das man in dieser Welt noch finden kann. Selbst das müde Schaben meiner Füße in ihren Pantoffeln ist eine willkommene Abwechslung zum ewigen Schweigen.
Alles, was mich an eine normale Welt denken lässt, sauge ich begierig auf.
Doch es gibt nicht mehr viel, das normal ist. Nicht mehr viel, dass mich aufrecht hält.
In einem Buch eines amerikanischen Schriftstellers, das ich vor unzähligen Jahren gelesen hatte, hieß es einmal `Die Welt hat sich weitergedreht´.
Ich muss oft an diesen einen Satz denken, der mich damals schon emotional tief berührt hat.
Es mag sich verrückt anhören, aber im Stillen habe ich diesen einen Satz zur Schlagzeile der vergangenen Tage erkoren.
Wenn ich noch meine Zeitung bekommen würde, wäre der Satz von Mister Stephen King wahrscheinlich in fetten Lettern auf die erste Seite gedruckt.
Darunter das Foto einer schwarzen Welt, unter deren Himmel Aschewolken dahin ziehen, und die still und leer geworden ist.
Aber ich bekomme keine Zeitung mehr. Der junge Daryll, der mit seinem roten Fahrrad und den wehenden Haaren immer den steinigen Weg durch die Hügel gefahren ist und bei jedem der weit verteilten Häuser seine Zeitung abgeliefert hatte, war seit über einer Woche nicht mehr hier gewesen.
Ich frage mich, ob der Junge noch lebt. Und sein leuchtend rotes Fahrrad, auf das er so lange gespart hatte; steht es noch in der Garage seiner Eltern? Liegt es irgendwo auf der Straße oder in einem der Gräben, die sich aufgetan haben?
Den Jungen vermisse ich wirklich. Es tat gut, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, wenn er mir die Zeitung selbst an Regentagen durch den Vorgarten bis zur Haustür gebracht hatte. Seine Jugend ließ mich oft vergessen, wie alt ich bin.
Aber noch mehr vermisse ich meine Zeitung.
Mit ihr war auch der Strom verschwunden. Und den Generator im Schuppen anzuwerfen, wage ich nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nach all den Jahren, in denen er unbenutzt hinter Brettern und Kisten verborgen vor sich hingerostet hatte, nicht einmal daran, dass er noch funktionieren würde.
Irgendwie haben Sarah und ich nie so weit gedacht. Wir besaßen alles, was wir brauchten, um glücklich zu sein, genossen die Abgeschiedenheit unseres Heimes und die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation, und hätten nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass es einmal anders kommen könnte.
Dass die Welt sich weiterdreht, wie es Mister King vor vielen Jahren so treffend formuliert hatte.
Als ich die oberste Stufe erreiche, verharre ich einige Sekunden, um meinen geschundenen Knochen etwas Ruhe zu gönnen. Dann greife ich mit der freien Hand die Petroleumlampe auf dem Geländerpfosten und gehe den Flur entlang zum Schlafzimmer.
Die Schatten weichen respektvoll vor mir zurück. Das durch einen Glaszylinder gedämpfte Licht der Lampe wirft einen sanften Schein auf die alte Tapete, deren Blumenmuster vor ungefähr vierzig Jahren modern gewesen ist. Es gibt so viel, was mich an Sarah erinnert. An manchen Tagen brennt der Schmerz wie Feuer in meinen Eingeweiden. Dann versuche ich zu vermeiden, dass meine Augen an ihrer Sammlung von Porzellanfiguren hängen bleiben. Oder an den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims, die mir voller Hohn die Geschichten einer längst erloschenen Zeit erzählen wollen.
Als ich die Schlafzimmertür erreiche, bleibe ich stehen und blicke zur dunklen Decke empor. Wie jedes Mal, wenn ich Sarahs Zimmer betrete, schicke ich einige verzweifelte Worte an einen Gott, den es womöglich gar nicht gibt.
Ich sagte ja bereits, ich war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen. Gott und die Kirche habe ich als etwas akzeptiert, das sich nun mal in meiner unmittelbaren Umgebung befindet. Etwa so wie die große Wiese hinter dem Haus, die sich bis zu den Schatten des Waldrands erstreckt. Oder aber den schäbigen Gemischtwarenladen des alten Murphy, wo Sarah und ich immer unsere Einkäufe erledigt und anschließend mit ihm noch eine Tasse Tee getrunken hatten.
All diese Dinge gehörten zu meinem Leben eben dazu. Und genauso haben Gott und seine Prediger dazugehört.
Aber er war nie etwas Besonderes für mich gewesen. Was die anderen in ihm und seinem Wirken gesehen hatten, konnte ich tief in meinem Innern nie nachvollziehen.
Warum ich ausgerechnet jetzt das Wort an ihn richte, kann ich nicht sagen.
Ein Mann mit meinem Glauben sollte der erste sein, der sagt, Gott hat sich von seiner Schöpfung abgewendet. Unter normalen Umständen müsste ich ihm vorwerfen, dass er die Menschen im Stich gelassen hat. Und wahrscheinlich hätte ich das auch wirklich lautstark getan.
Würde hinter der Tür nicht Sarah liegen.
Sie war alles, was mir noch geblieben ist. Gott hatte mir alles genommen. Die Geräusche und Gerüche der Welt, so wie ich sie seit siebzig Jahren kenne. Er hat mir das Licht genommen und die behagliche Wärme. Und nicht zuletzt jegliche Hoffnung auf das Erleben meiner Zukunft.
Nur Sarah hat er mir gelassen, auch wenn sie nicht mehr dieselbe ist wie früher.
Die Worte, die ich an Gott richte, sind kein Gebet, sondern einfach nur eine Bitte. Ich wünsche mir, wenn ich den Raum betrete und mich an ihr Bett setze, ihren Atem zu spüren und zu sehen, wie sich ihre Brust schwach hebt und senkt.
Es werden nie Gebete sein. Und auch keine Fragen nach dem Warum.
Einfach nur der Wunsch, nicht völlig allein auf der Welt zurückgelassen zu werden.
Wenn Gott nicht tot ist, wird er mir diese kleine Bitte erfüllen.
Als ich die Tür mit meiner Hüfte aufstoße, schlägt mir abgestandene Luft entgegen. Eine trockene Wärme streicht über mein Gesicht, und der säuerliche Geruch von Schweiß und Urin steigt mir in die Nase.
Die Tür quietscht leise in den Angeln.
Wieder ein Geräusch, das mich an bessere Tage zurückdenken lässt.
Sarah hatte mich oft darum gebeten, etwas gegen das nervtötende Quietschen zu unternehmen. Und immer habe ich nur genickt, und es dann vergessen.
Durch den Spalt der geschlossenen Holzläden vor dem Fenster kann ich einen letzten, dunkelgrauen Streifen Tageslicht erkennen. Als versuche eine brackige Masse durch die Ritzen ins Zimmer zu sickern. Auf einem Tisch in der Ecke brennt eine einzelne Kerze. Deren Flamme beginnt hektisch zu tanzen, als die stille Luft des Raumes von mir durcheinandergewirbelt wird.
Plötzlich erwachen die starren Schatten an den Wänden zu verzweifeltem Leben. Der alte Eichenschrank, den wir uns nur ein paar Tage nach unserer Hochzeit gekauft hatten. Der kleine Schminktisch, den Sarah noch bis vor einigen Jahren benutzt hatte, um sich hübsch zu machen. Oder aber die massigen Pfosten des Bettes, die wie stumme Wächter an der Wand emporragen, und die das Liebste beherbergen, das ich je im Leben besessen habe.
Ich stelle die Petroleumlampe neben die Kerze und blicke zum Bett hinüber.
Von irgendwo draußen dringt langgezogenes Heulen in den Raum.
Mein Blick wandert kurz zu dem finsteren Spalt zwischen den Holzläden. Dann wieder zum Bett.
Alles, was ich erkennen kann, ist die dicke Federdecke, über deren Muster die Schatten der Kerze und der Lampe huschen.
Als ich näher trete, bemerke ich, wie sich die Decke kaum merklich hebt und senkt.
Erleichtert atme ich aus und registriere erst jetzt, dass ich die ganze Zeit, seit ich den Raum betreten habe, die Luft angehalten habe.
Ein kurzer Blick zur Decke, ein ebenso kurzes und schlichtes `Danke´ an jenes Wesen, das andere als Gott bezeichnen.
Die Federn des alten Bettes quietschen leise, als ich mich neben Sarah setze. Das Tablett lege ich auf meinen Knien ab und halte es mit einer Hand fest, während ich mit der anderen zögerlich nach Sarahs blassem Gesicht taste.
Sie blickt in meine Richtung. Das macht sie immer, wenn ich mich neben sie setze. Aber manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrnimmt. Vielleicht ist es auch nur Zufall, dass ihr Kopf auf diese Seite geneigt ist.
Ihre Augen blicken ausdruckslos, die Pupillen sind mit einer milchigen Schicht überzogen. Früher einmal waren sie von einem bestechenden Blau gewesen.
Oftmals liest man in romantischen Romanen von tiefen Seen, die man in den Augen wunderschöner Frauen finden kann. Und dass man auf ewig darin versinken könnte, hinabtauchen bis auf den Grund des Paradieses.
Bei Sarah waren diese Worte keine leeren Phrasen gewesen. Ihre Augen hatten geleuchtet und wurden von einem kindlichen, neugierigen Leben beseelt. Wenn sie einen angeblickt hatte, war die Welt um einen herum zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. So klischeehaft sich das auch anhören mag. Ein Blick in dieses unergründliche Blau - in diese tiefen, geheimnisvollen Seen - und man war nur noch von dem Wunsch besessen, absolut alles für den Besitzer dieser herrlichen, kraftvollen Augen zu tun.
Heute ist der Spiegel ihrer Seele zerbrochen. Über die blaue See hat sich immerwährender, dichter Nebel gelegt, der jede Farbe in tristes Grau verwandelt.
Ihr Mund ist offen, ihre Lippen rissig und grau. Saurer Atem, wie man ihn vom morgendlichen Erwachen her kennt, schlägt mir in schwachen Zügen entgegen.
Ich streiche durch ihr Haar, das ihr zerzaust in die Stirn hängt.
Wann immer es geht, versuche ich ihr das Haar zu kämmen. Doch meistens schaffe ich es nur, sie zu waschen und umzuziehen, bevor sie wieder ihre Augen schließt und einschläft.
Mit zärtlichen Bewegungen versuche ich, ihre grauen Locken zu ordnen. Die Haut ihrer Stirn ist trocken und schuppig. Um ihre Augen haben sich tiefe Ringe gebildet.
»Sarah«, flüstere ich leise und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Der Gestank von Schweiß und frischen Fäkalien steigt mir in die Nase.
»Liebling. Ich habe dein Essen mitgebracht.«
Ich drehe mich in ihre Richtung, so dass das Tablett zwischen uns auf meinen Knien balanciert.
»Und frischen Tee.«
Die Erinnerung, die der Geruch der Teekanne mit sich trägt, tut immer noch so weh wie am ersten Tag. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange.
»Komm, Liebling. Lass uns essen, bevor es kalt wird.«
Der Haferschleim ist schon fast abgekühlt. Ich lege meine linke Hand unter ihren Kopf und stütze Sarah, während ich mit der rechten den Löffel in den Haferschleim tauche.
Ein leises Stöhnen tröpfelt zwischen ihren spröden Lippen hervor, als ich den Löffel in ihrem Mund verschwinden lasse.
Ob sie mich wahrnimmt, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob sie spürt, dass sie etwas zu Essen bekommt.
Manchmal bewegen sich ihre Pupillen unter der milchigen Schicht ihrer Augen.
Doch meistens starren sie mich nur aschenfarbig an.
Während ich Sarah füttere, beginne ich erstickt `Blue Spanish Eyes´ zu summen.
Unser beider Lieblingslied.
Der graue Spalt zwischen den Fensterläden wird zu tiefem Schwarz. Irgendwann setze ich mich in den großen Korbsessel, den ich vor das Fenster gestellt habe und der so ausgerichtet ist, dass ich Sarah betrachten kann.
Sie ist eingeschlafen, nachdem ich ihre Windeln gewechselt habe.
Das Tablett mit dem leeren Teller und der noch halb vollen Teetasse steht auf dem Nachttisch neben dem Bett.
Meine Gedanken schweifen ab. Während ich auf das bleiche Oval von Sarahs Gesicht starre, denke ich an Barry. Wie mag es ihm wohl ergangen sein? Und was ist mit Ashley? Was mit Demi? Die nächste Fragen, die unweigerlich folgen, sind, ob unser Sohn und seine Familie überhaupt noch am Leben sind. Ob es ihnen gut geht, und falls ja, was sie wohl gerade tun.
Wie immer, wenn diese Fragen wie ein Rudel gefräßiger Raubtiere über mich herfallen, spüre ich eine schmerzhafte Beklemmung in der Brust, und das Atmen fällt mir schwer. Wie oft habe ich Barrys Nummer gewählt, als das Telefon noch funktionierte? Und wie oft habe ich der anonymen Computerstimme gelauscht, die mir emotionslos mitteilte, dass der Gesprächspartner vorübergehend nicht erreichbar sei. Ich konzentriere mich wieder auf Sarah und lausche ihrem zufriedenen Brummen und gelegentlichen tiefen Luftholen. Dann schließe ich selbst die Augen, und die gespenstische Stille dieser toten Welt nimmt mich mit in einen unruhigen Schlaf.
`Ich muss die Vorräte auffüllen´, denke ich noch.
Dann schlafe ich ein.
Sarah hat mich zu einem leidenschaftlichen Schwimmer gemacht. Schon als ich sie das erste Mal im Haus meines Bruders gesehen hatte, war ich in das tiefe Blau ihrer Augen eingetaucht.
Und auch heute Abend existiert nur diese berauschende Farbe in meiner kleinen Welt.
Während ich neben ihr hergehe, werfe ich immer wieder verstohlene Blicke in ihre Richtung. Sie hält den ihren gesenkt, so dass ihr Gesicht in den Schatten ihres langen Haares verborgen ist.
Auf diese Weise kann sie mich nicht dabei ertappen, wie ich sie immer wieder ansehe.
Selbst ihr Schatten, der von den Straßenlaternen auf das Pflaster geworfen und verzerrt wird, hat etwas Sinnliches.
Die Art und Weise, wie unsere beiden Schatten miteinander auf dem Grau der Straße harmonieren, gefällt mir. Irgendwie habe ich das unbestimmte Gefühl, dass die beiden Konturen zueinander gehören. Wir werden beide in die Länge gezogen, wenn die Laterne hinter uns zurückbleibt, und verschwinden kurz, wenn die nächste Lampe auftaucht.
Ich bin versucht, unsere Schatten miteinander verschmelzen zu lassen, indem ich ihre Hand nehme. Doch der Gedanke ist absurd.
Dieser Abend ist unser erster von unzähligen, die noch folgen sollten.
So behalte ich den Wunsch bei mir und konzentriere mich darauf, einen möglichst seriösen Eindruck auf Sarah zu machen. Mein Vater hat mir einmal gesagt, der erste Eindruck, den man bei einer Frau hinterlässt, sei der Wichtigste.
Sie redet nicht viel, und wenn, dann mit leiser Stimme.
Die meiste Zeit schweige auch ich, da ich weiß, dass es viele Frauen nicht gerne haben, wenn ihre männliche Begleitung zu viel redet.
Seit einer Woche bin ich nun aus Europa zurück.
`Eine Auszeit nehmen´, nannte ich meinen Trip über den Atlantik. Mein trister Bürojob war mir zuviel geworden, ebenso die stets gepflegten Masken meiner Kollegen und das gleißende Neonlicht, denen ich acht Stunden am Tag ausgesetzt war.
Das, in Verbindung mit dem hektischen Klappern der Schreibmaschinen, hatte mich irgendwann zu der Überzeugung gebracht, dass es an der Zeit war, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und dem mechanisierten und langweiligen Leben den Rücken zu kehren. Mit meinen Ersparnissen konnte ich mir eine Reise quer durch Europa finanzieren. Und so hatte ich voller Inbrunst die Metropolen des Kontinents besucht, von denen ich normalerweise nur aus den Zeitschriften oder dem Fernsehen etwas erfahren hatte.
Paris, London, Athen und München waren nur einige Stationen meiner Odyssee gewesen. Und in jeder dieser Städte fühlte ich mich, trotz des Trubels und der lauten Menschen, zufrieden und entspannt. Obwohl die Rastlosigkeit, die sie ausstrahlten, die Eile im Büro noch bei Weitem übertraf.
Am zweiten Tag, nachdem ich wieder sicher in der Heimat gelandet war, hatte mich mein Bruder Alan in sein Haus eingeladen, um den Abend mit ihm und seiner Frau Sheila beim gemütlichen Abendessen zu verbringen.
Zu diesem Anlass war auch Sheilas beste Freundin Sarah eingeladen.
Ob es Zufall war oder ein inszeniertes Spiel wusste ich nicht zu sagen.
Doch war ich Alan und Sheila für dieses Arrangement durchaus dankbar gewesen.
Denn von diesem Abend an war Blau meine Lieblingsfarbe.
Es hat weitere zwei Tage gedauert, bis ich endlich den Mut gefunden hatte, Sarah über die Telefonnummer, die mir Sheila mit einem Augenzwinkern zugesteckt hatte, anzurufen. Und weitere zwei Tage musste ich harren, bis ich endlich mit ihr durch die Straßen unserer kleinen Stadt schlendern konnte.
Wir sind auf dem Weg zu einem kleinen Restaurant, das mir Alan empfohlen hatte.
Wenn ich daran denke, Sarah beim Essen gegenüberzusitzen, bekomme ich weiche Knie. Ich weiß, dass ich sie anstarren und mich wie ein kleiner, schüchterner Junge verhalten werde. Ihr außerdem Komplimente wegen ihrer herrlichen Augen machen werde, die sie alle schon hundert Mal gehört hat. Und ich werde ihr meine Abenteuergeschichten aus dem Büro erzählen, bis sie sich gelangweilt von mir abwendet.
`Dieser Abend ist etwas ganz Besonderes in meinem Leben´, denke ich mir. Und gleichzeitig werde ich mit jedem Schritt, mit dem wir uns dem Restaurant nähern, nervöser.
So seltsam sich das auch anhören mag, aber ich will nicht, dass die beiden Schatten auf dem trostlosen Pflaster jemals wieder getrennt werden …
Ein langgezogenes, unmenschliches Heulen lässt mich aufschrecken.
Verwirrt blicke ich mich um. Die Kerze ist heruntergebrannt. Die Flamme der Petroleumlampe leuchtet ruhig.
Die Schatten im Zimmer haben sich in ein vergessenes Grau gewandelt.
Von Sarahs Bett kann ich ein leises Schnarchen hören.
Ein Blick zum Holzladen vor dem Fenster bestätigt mir meine Vermutung. Ich muss am Abend eingeschlafen sein und habe die ganze Nacht in dem Korbsessel verbracht.
Das Heulen …
Erschrocken starre ich auf den grauen Spalt zwischen den Läden. Der neue Tag beginnt mit der gleichen Dunkelheit wie die Tage davor.
Fast eine Minute lausche ich angestrengt. Doch dieser unheimliche Laut, der seit Tagen das Einzige ist, das das Schweigen der Welt bricht, wiederholt sich nicht. Mein kraftloser Blick fällt auf die Uhr an meinem Handgelenk. Das letzte Geschenk von Sarah. Ich drehe den Arm so, dass der gelbe Schein der Lampe sich auf dem Glas der Uhr spiegelt.
Fast acht Uhr.
Die Nacht ist vorüber. Am Tage hört man Sie nicht.
Das Heulen muss von einer letzten verirrten Kreatur stammen. Oder von meinen düsteren Träumen erzeugt worden sein.
Mein Blick fällt wieder auf Sarah.
Sie wirkt friedlich. Ihre Brust hebt sich in langsamen Atemzügen. Dass ich in dieser Nacht nicht neben ihr gelegen habe, hat sie nicht einmal gemerkt.
So, wie sie oft nicht weiß, dass ich bei ihr bin.
Oder dass sie noch lebt …
Meine Knochen protestieren ächzend ob der langen Nacht im Sessel. So gerne ich mir auch einzureden versuche, für mein Alter relativ rüstig zu sein, so sehr werde ich in diesen Minuten Lügen gestraft.
Es kostet mich eine gewaltige Anstrengung zum Bett zu gelangen, wo ich mich mit einem heiseren Stöhnen auf den Rand der Matratze setze.
Während ich mit der Hand den schmerzenden Rücken zu massieren versuche, blicke ich auf das friedliche, schlafende Gesicht von Sarah.
Ihre Augenlider flackern. Ich frage mich, von was sie gerade träumt.
War sie überhaupt noch dazu in der Lage zu träumen?
Die Haut über ihren Wangen spannt sich. Im Schein der Petroleumlampe und des dämmernden Morgens wirkt sie kränklich gelb.
Ihre Lippen sind nicht mehr als eine zusammengekniffene Linie. Trocken und rissig.
Ein glänzender Speichelfaden rinnt aus ihrem Mundwinkel und läuft ihre Wange hinab zum Hals.
»Erzähl mir deine Träume«, flüstere ich und streiche ihr verschwitztes Haar aus der Stirn. Ich habe das Gefühl, harte Stahlwolle zu berühren.
Sie regt sich kurz. Ihr Gesicht scheint sich mir entgegenzustrecken. Ein tonloses Keuchen entrinnt ihrer Kehle.
Ich denke an den Traum der Nacht zurück. Bruchstücke davon haben sich in meinem Unterbewusstsein abgesetzt.
Sarahs Augen und unsere Schatten auf rissigem, grauen Asphalt. Meine Angst, mich ihr in dem kleinen Restaurant gegenüberzusetzen.
Am meisten jedoch der unbändige Wunsch, dass sich diese Schatten nie wieder trennen mögen.
Mit zitternden Fingern nehme ich ihre Hand in meine und drücke sie sanft.
Ich weiß, dass ich zart mit ihr umgehen muss, denn ihr Körper ist zerbrechlich geworden. Ein Schatten jener Sarah, an deren Stärke ich mich einst geklammert hatte.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie meinen Druck erwidert. Doch mir ist bewusst, dass dies bloß die Wünsche eines einsamen, alten Mannes sind.
Ihre Hand liegt schlaff und kalt in der meinen.
Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett steht das Tablett mit einem letzten Rest Haferschleim. Er erinnert mich daran, was ich an diesem Tag zu erledigen habe.
Nachdem ich Sarah mit einem Lappen gewaschen und sie umgezogen habe, setze ich mich noch einmal zu ihr und betrachte ihr hageres Gesicht.
Bilder meines Traumes versuchen, sich in meine Erinnerung zu stehlen. Doch ich verdränge sie.
»Ich gehe zu Murphy«, sage ich leise und beuge mich dabei nach vorn, damit Sarah mich besser verstehen kann. Ich weiß, dass sie es nicht tut. Doch es ist eine alte Gewohnheit von mir. Und Gewohnheiten sind alles, was mir von unserer gemeinsamen Zeit geblieben ist.
»Unsere Vorräte gehen zur Neige.«
Mein Blick fällt zu dem schmalen Streifen Licht, der zähflüssig durch die Ritzen des Fensterladens tropft.
»Ich hoffe nur, dass es Murphy gut geht.«
Die letzten Worte sage ich zu mir selbst, während ich Sarahs kalte Hand nervös in der meinen halte. In Gedanken füge ich hinzu … und er noch lebt.
Fast zehn Tage ist es her, seit ich Murphy zum letzten Mal gesehen habe.
Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wir hatten Strom und Wasser. Und am Abend konnte ich mich vor den Fernseher setzen und mir eine Wiederholung von `Quincy´ auf dem Serienkanal anschauen. Dazu natürlich eine Tasse Tee, um der alten Zeiten willen.
Doch die Welt hat sich weitergedreht, denke ich mir. Mein Blick verharrt auf dem kränklichen Streifen Tageslicht, der sich auf dem Teppich wie eine schmutzige Pfütze ausbreitet.
Die Welt jenseits der Fensterläden ist still geworden. Und keiner weiß, was wirklich geschehen ist.
In den ersten beiden Tagen, als der Strom noch da war, habe ich einiges im Fernsehen gesehen, das mich zunächst nicht wirklich interessiert hatte.
Sie sprachen von terroristischen Anschlägen und Vergeltungsmaßnahmen. Und von Bakterien, die freigesetzt wurden. Als ich damit begann, den nervösen Nachrichtensprechern näher zuzuhören, fiel der Strom aus. Und bis heute habe ich ihn nicht wiederbekommen. Eine Zeitung erhalte ich auch nicht mehr. Der junge Daryll hat sich seit Beginn der … der was? Der Stille? Der Wandlung?
Der junge Daryll hat sich nicht mehr blicken lassen. Aber das erwähnte ich ja bereits. So bin ich auf das angewiesen, was meine Phantasie aus den wenigen Meldungen formt, die ich im Fernsehen bewusst wahrgenommen habe, und wie sie diese verarbeitet.
Und das Ergebnis meiner nächtlichen Grübeleien gefällt mir ganz und gar nicht.
Selbst das Telefon funktioniert inzwischen nicht mehr. Und ein Handy haben Sarah und ich nie besessen.
Früher habe ich oft mit Murphy telefoniert. Es waren nie lange Gespräche gewesen. Männer sagen sich, was zu sagen ist, und das war es dann auch schon.
Das ist einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Männer und Frauen.
Plötzlich beginne ich, mir Sorgen um Murphy zu machen.
Zehn Tage sind vergangen, seit ich das letzte Mal in seinem Laden gewesen bin.
Kurz bevor die Welt zum Teufel gegangen ist.
Ich frage mich, wieso ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, mal zu Murphy zu fahren und nachzuforschen, ob er mehr weiß als ich.
Irgendwie ist mir der Gedanke nie gekommen.
Vielleicht liegt es daran, dass ich ein alter Mann bin. Senilität und ähnliche Worte, die ich zu vermeiden suche. Vielleicht aber hatte ich einfach nur Angst, was ich zu sehen bekomme, wenn ich runter zu Murphys kleiner Blockhütte fahre, in der er lebt und seinen Gemischtwarenhandel betreibt. Ich habe, seit es begonnen hat, kein Auto vorbeifahren gehört. Oder sonst irgendwelche Geräusche, die mich an etwas Lebendiges da draußen erinnern.
Aber die leere Speisekammer in der Küche zwingt mich dazu, die Sicherheit meines Hauses zu verlassen. Ob ich nun will oder nicht.
Mit einem heiseren Stöhnen auf den Lippen beuge ich mich zu Sarah hinab und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie riecht nach frischer Seife. Doch vermag dies den Gestank eines Sterbenden nicht zu überdecken.
»Ich bin bald zurück, Liebes«, flüstere ich. Dann decke ich sie zu und lösche die kleine Flamme der Petroleumlampe.
»Ich werde Tee mitbringen.«
Mittlerweile fällt genügend Tageslicht durch die geschlossenen Läden, dass ich mich in den grauen Schatten des Hauses sicher bewegen kann.
Auf einem kleinen Sekretär vor dem Schlafzimmer liegt mein altes Jagdgewehr.
Ich war nie ein Freund der Waffe und habe sie in all den Jahren nie benutzt.
Aber Sarah war stets der Meinung gewesen, dass sie ein gewisser Schutz in dieser abgelegenen Gegend beruhigen würde. Deshalb hab ich vor über zwanzig Jahren in Devon, der nächstgrößeren Stadt, das Gewehr gekauft und es in einem eigens dafür angefertigten Schrank aufbewahrt. Dort hat es dann all die Jahre unberührt gestanden, vergessen von Sarah und mir.
Es war eine AYA mit Kaliber 12 gewesen, für die ich auch ein größeres Format bekommen hätte.
Doch ich hatte damals keine Ahnung von Waffen, und Kaliber 12 erschien mir in der friedlichen Umgebung unserer Hügel als ausreichend.
Erst jetzt habe ich es wieder hervorgeholt und war nach kurzer Überprüfung erstaunt, dass es immer noch funktionstüchtig ist. Ich habe es etwas gesäubert und eingeölt und die Kammern für die Patronen sowie den Doppellauf überprüft.
Alles scheint in Ordnung zu sein, sofern ich das mir meinem laienhaften Blick beurteilen kann.
Zu Anfang hatte ich geglaubt, dass ich das Gewehr ganz sicher nicht brauchen werde. Im Grunde habe ich es nur aus dem Schrank genommen, um Sarah einen Gefallen zu tun. Ich habe ihr immer ihre Wünsche von den Augen abgelesen. Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Auch wenn sie wohl nie erfahren wird, dass ich das Gewehr nach all den Jahren wieder an mich genommen habe.
Mittlerweile denke ich über den Grund, weshalb ich so viel Sorgfalt auf die Funktionalität der Waffe gelegt habe, anders.
Seit ich vor vier Tagen eine dieser Kreaturen gesehen habe ...
Ich kann nicht einmal sagen, um was es sich eigentlich gehandelt hatte.
Mein erster Gedanke war gewesen, dass ich einen Shoggothen gesehen habe.
Auch wenn seine Erscheinungsform nicht der jener gallertartigen Wesen glich, die H.P. Lovecraft in seinen Geschichten umschreibt.
Aber es war der erste Begriff, der mir in den Sinn gekommen war, als hätte mir jemand dieses Wort zugeflüstert. Deshalb nannte ich die Kreatur so.
Sarah hatte damals schon recht gehabt. Man fühlt sich sicherer mit einer Waffe.
Gerade in Tagen wie diesen. Ich nehme das Gewehr, überprüfe, ob die Kammern geladen sind, und stecke einige weitere Munitionshülsen in die Tasche meiner alten Cordjacke, die über dem Sekretär an einem Haken hängt.
Dann gehe ich ins Badezimmer, zünde zwei Kerzen an und erledige mein Geschäft. Ich wasche mich mit kaltem Wasser aus einer alten Porzellanschüssel, die ich ins Waschbecken gestellt habe.
Dabei versuche ich das alte, verzweifelte Gesicht im Spiegel zu ignorieren.
Mit der Jacke und dem Gewehr gehe ich in die Küche und lasse einen kritischen Blick durch die Speisekammer wandern. Schließlich stecke ich etwas Geld ein und gehe durch den Hintereingang hinaus in den kleinen Garten, den Sarah früher einmal angelegt hat. Heute wachsen dort nur noch Unkraut und dorniges Buschwerk.
Auf der kleinen hölzernen Veranda bleibe ich stehen. Das Gewehr liegt in meiner Armbeuge, der Lauf ist zu Boden gerichtet.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich in der letzten Woche nach draußen gegangen bin.
Zweimal war ich frisches Wasser aus dem alten Brunnen holen. Und einmal hatte ich versucht über das Autoradio einen Sender zu empfangen, jedoch ohne den geringsten Erfolg.
Jedes Mal, wenn ich auf der Veranda gestanden hatte, hat mich diese unnatürliche Stille wie eine undurchdringliche Wand empfangen.
Ich stehe reglos auf den verwitterten und ausgetretenen Holzblanken und lasse meinen Blick durch den Garten gleiten.
Die welken Blätter einiger Büsche bewegen sich leicht in einer kühlen Brise. Und durch das an manchen Stellen kniehohe Unkraut streicht eine traurige Bewegung, als würde selbst der Wind zu fliehen versuchen. Doch all das erzeugt in meinem Kopf keinerlei Geräusche.
Das Land ist still.
Ein körperhaftes Schweigen hat sich wie eine gigantische Glocke über die Welt gelegt. Fast bekomme ich das Gefühl, ich bräuchte nur die Hände nach vorn auszustrecken, um diese Stille ergreifen zu können.
Mein Blick fällt über den windschiefen Lattenzaun zu der weiten Wiese hin, die sich bis an den Rand des Waldes erstreckt.
Die schwarze Front der Bäume ist lediglich als grauer Schemen im morgendlichen Dunst zu erkennen. Die Wiese wirkt starr, als wäre sie über Nacht gefroren. Über kleinen Tümpeln, die sich in den Senken gebildet haben, kann ich das träge Spiel weißer Nebelschleier beobachten.
Wenn ich früher an dieser Stelle gestanden habe, konnte ich das Geschrei der Vögel hören, die über das Gras flogen und sich im Sturzflug auf ihre Beute stürzten.
Oder das einsame Röhren der Hirsche drang aus den Wäldern zu mir herüber.
Jetzt höre ich gar nichts.