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Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg

Ein philosophisches Portrait

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Karl-Heinz Gerschmann
in memoriam

Vorwort

Portrait eines sich Verbergenden

Einleitung

Der Zettelkasten

Sinn und Form: Von der Humanität der Umständlichkeit

Eine diskrete Anthropologie

Destruktionen

Frühe Einstimmung: Das Schweigen der Welt

Tradition und Ursprünglichkeit

Die Geschichtlichkeit der Geschichte

Das Verfolgen der Phänomene: Anmerkungen zur Methode

Dem literarischen Nihilismus auf der Spur

Grundlegungen

Frühes Scheitern: Eine Geistesgeschichte der Technik

Die Wende zur Lebenswelt

Eine Kritik der reinen Rationalität: Metaphorologie

Der Selbstzweck der Quellen

Klassizität

Das versöhnende Glück der Theorie

Spätmittelalterliche Gotteseskalation

Die Kunst der Auslegung

Eine Bewusstseinsgeschichte der Neuzeit: Kopernikanismus

Versatzstücke einer großen Metaphorologie

Die Bedeutsamkeit des Mythos

Wenn Einer vollendet, was allen möglich ist: Goethe

Verteidigung der Deutungshoheit

Die bitterste aller Entdeckungen

In der Gelehrtenhöhle

Nachdenklichkeiten

Erhöhte Freiheitsgrade

Die Kunst der kleinen Form: Anekdoten

Gang zwischen Meistern

Horizontanreicherung der Matthäuspassion

Paradigmen zu einer ausdrücklichen Anthropologie?

Schluss

Die Sichtbarkeit Hans Blumenbergs

Nachwort

Philosophieren in der Johannisstraße 12–20, Münster

Anmerkungen

Chronologisches Verzeichnis der herangezogenen Schriften Hans Blumenbergs

Vorwort

Portrait eines sich Verbergenden

Wie soll man ein Portrait von jemandem anfertigen, der sich nicht zeigen will? Der Philosoph Hans Blumenberg schätzte die Diskretion und forderte sie ein. Zu seinen Lebzeiten erlaubte er lediglich den Abdruck von zwei Fotografien, die ihn zeigen. Als Universitätsprofessor war er vor und nach den Vorlesungen für seine Studenten nicht ansprechbar. Zu öffentlichen Vorträgen ließ er sich in späteren Jahren nicht mehr bewegen. Nach der Emeritierung zog er sich gänzlich in seine private Gelehrtenhöhle zurück und reduzierte den Kontakt zu seinen Mitmenschen auf Briefwechsel und vornehmlich nächtliche Telefonate. Seine Bücher entbehren jeder privaten Einlassung: Keine Widmungen, private schon gar nicht, kein Dank an niemanden, auch nicht an jene, die an der oftmals aufwendigen Drucklegung beteiligt waren. Die Bücher stehen wie Monolithe in der akademischen Landschaft, und so sehr sie Diskussionen angestoßen haben, so wenig haben sie die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Zeitgeist gesucht. Als Philosoph ist Blumenberg zunehmend in Deckung gegangen. Das war nicht immer so: Er war Gründungsmitglied einer der spannendsten Forschungsinitiativen der jungen bundesrepublikanischen Geisteswissenschaft, für die er den Namen erfand: Poetik und Hermeneutik. Dennoch frappiert der Umstand, es hier mit einem Philosophen zu tun zu haben, dessen Bedeutung in dem Maße gewachsen ist, wie sein Rückzug aus der Öffentlichkeit voranschritt.

Warum dann aber einem Portrait den Titel ›Hans Blumenberg‹ geben, wenn der Bezeichnete als Person sich zu entziehen suchte? Reichte es nicht, seine Werke auf zentrale Argumente und Thesen abzusuchen, diese darzustellen und zu diskutieren? Genügte nicht eine Auseinandersetzung mit den in ihnen behandelten Problemen? Wer auch nur einen Blick in eines der zahlreichen Bücher Blumenbergs geworfen hat, wird auf Anhieb bemerkt haben, wie sehr sich sein Denk- und Schreibstil vom akademisch üblich Gewordenen unterscheidet. Darin liegen sowohl ihre ungebrochene Anziehungskraft als auch die Schwierigkeiten, die man mit ihnen haben kann, begründet. Seine Bücher sind ungemein faszinierend und schwer zu lesen, äußerst anregend und zumeist umständlich, sehr stilbewusst und oftmals lang. Seine Philosophie bezeugt bis in die Feinheiten der Drucklegung der Bücher hinein ein ausgeprägtes Formbewusstsein. Dabei war dieser Autor ein Langstreckendenker, der überraschende Themen über viele Jahre und über Hunderte von Seiten verfolgte, und er war zugleich ein Meister der Miniatur. Blumenberg hat über Jahrzehnte einen unverkennbaren Personalstil ausgebildet. Seine Sprache besitzt einen ihr eigenen Klang, seine Denkwege eine ihnen eigene Typik. Darauf kommt es an: Blumenberg ist in seinem Werk auf eine sehr hintergründige Weise äußerst präsent. Der Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner, mit dem Selbstportrait in der Malerei vertraut, hat auf die durchscheinende Persönlichkeit Blumenbergs in seinen Texten hingewiesen: Durch ihren »selbstreflexiven Charakter, durch die nachdrückliche Pflege eines persönlichen literarischen Stils, erhalten seine umfangreichen Veröffentlichungen alle Kennzeichen einer betonten, wenn auch unendlich abstrakten Subjektivität«.1 Das gesamte Werk Blumenbergs lässt sich als ein diskreter Selbstausdruck dieses Philosophen lesen. Das erlaubt ein philosophisches Portrait.

Um das Profil dieser Philosophie und die geistige Physiognomie ihres Denkers hervortreten zu lassen, werde ich das gesamte Werk heranziehen, von Blumenbergs frühen akademischen Qualifikationsschriften über die klassischen Hauptwerke bis zu seinen späten Nachdenklichkeiten über die von ihm gesammelten Anekdoten. Sämtliche Reflexionsfelder, die für ihn wichtig waren, werden dabei in ihrem Zusammenhang auf einer geistigen Landkarte einzuzeichnen sein: Blumenbergs Philosophie der Technik, seine Hinwendung zu einer Theorie der Lebenswelt und der Metapher, die Bewusstseinsgeschichte der Neuzeit als Abwehr eines übermächtigen Gottes und als Folge des Kopernikanismus, die anhaltende Bedeutsamkeit des Mythos, die Not der modernen Zeitknappheit, die Schwelle der Höhle als Realismuseingang und die heutige Hörbarkeit der Matthäuspassion Bachs – um nur die wichtigsten zu nennen. Zentrale Aspekte seiner Philosophie verlangen eine Darstellung in ihrem jeweiligen Zusammenhang: die Selbsterhaltung der Vernunft, der Absolutismus der Wirklichkeit, die Phänomenologie der Geschichte etwa. Zentrale Gestalten, um die dieses philosophische Denken kreist, sind im Koordinatensystem des Werkes zu verorten: Kopernikus und Galilei, Nikolaus von Kues und Giordano Bruno, Augustinus und Wilhelm von Ockham, aber auch Thomas Mann und Theodor Fontane, vor allem aber Heidegger und Husserl. Und von unvergleichlichem Rang: Goethe. Als Klammer dient mir Blumenbergs leitende Aufmerksamkeit für den Menschen, wie sie in der philosophischen Gestalt einer Anthropologie ihren Ausdruck gefunden hat.

Dabei gilt es stets zweierlei zu beobachten: was Blumenberg macht und wie er es macht. Neben den Abschnitten dieses Portraits, die sich den Themen seiner Bücher widmen, werde ich in eigenen Zwischenbetrachtungen die Charakteristika dieses Philosophierens herauszustellen suchen: die Physiognomie seiner Denkform, das versöhnende Glück der Theorie, den Selbstzweck der Quellen, die Humanität der Umständlichkeit, die Kunst der Auslegung und die Kultivierung der Nachdenklichkeit. Bei Blumenberg liegt nichts auf der Hand, oft nicht einmal, worum es in seinen Büchern geht. Oft ist der zweite Blick vonnöten, angereichert mit den Kenntnissen des übrigen Werkes und den Reflexionen über die Eigenarten der Herangehensweise. Nur mit einem Doppelblick auf den behandelten Gegenstand und auf die Art seiner Behandlung lassen sich Blumenberg und seine Philosophie profilieren.

Das Portraitieren hat eine dienende Funktion. Es zielt darauf, den Abzubildenden hervortreten zu lassen. Indem es aber Konturen verstärkt, das zu Erfassende ins rechte Licht setzt und Randständiges abblendet, mit der Perspektive arbeitet und auf Prägnanz setzt, verrät es den unweigerlich subjektiven Zugriff. Dennoch ist es nicht mein Ziel, Blumenbergs Philosophie zu beurteilen, sondern sie beurteilbarer zu machen.

Zwar hat dieses Portrait aufgrund des allmählichen Nachvollzugs der Gedankenlinien der Werke den Charakter einer Denkbiographie, aber es gilt sich zu vergegenwärtigen, dass bei Blumenberg die Publikationsfolge seiner Bücher oftmals nicht die Chronologie seines Denkens widerspiegelt. Die Anfänge mancher spät erschienenen Werke reichen viele Jahre zurück. Die Höhlenausgänge von 1989 etwa haben einen Vorlauf von mehr als drei Jahrzehnten. Zudem hat Blumenberg an verschiedenen Projekten zugleich gearbeitet und sie nebeneinander vorangetrieben. Das Erscheinungsdatum eines Buches sagt daher nur bedingt etwas aus über seine denkbiographische Verortung. Für postume Veröffentlichungen gilt dies insbesondere. Teile der Beschreibung des Menschen, 2006 aus dem Nachlass gehoben, gehen auf die späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre zurück, stellen also kein Alterswerk dar, obgleich sie erst spät veröffentlicht wurden. Für eine Leseanstiftung, als die sich dieses Portrait versteht, sind aber die Finessen der werkimmanenten Genese zweitrangig.

Ich halte es daher trotz aller Vorbehalte für sinnvoll, mit der Lizenz zur Abweichung, der Philosophie Blumenbergs weitestgehend anhand der Abfolge seiner Publikationen zu folgen. Das jeweilige Erscheinungsdatum – soweit es in Blumenbergs Hand lag – zeichnet sich dadurch aus, dass Blumenberg als der penible Autor, der er war, einen zu verschiedenen Zeiten wiederholt durchgesehenen Text für druckreif erachtet hat. Dieses Portrait favorisiert daher die Perspektive des Lesers auf die sich entfaltende Gebirgslandschaft der Philosophie dieses Denkers, nicht die des Autors aus seiner Binnenperspektive. Alles in allem lassen sich, wie ich meine, dabei Werkphasen behutsam voneinander abheben und der Bogen einer intellektuellen Biographie spannen.

Manches verdiente eine eigene, ausführliche Darstellung, die aber eine Spezialstudie verlangen würde: Blumenbergs Verhältnis zur Phänomenologie Husserls etwa oder seine Einbindung in den Arbeitskreis Poetik und Hermeneutik. Das kann und will dieses Portrait nicht leisten. Ebenso wenig strebt es eine Einbeziehung der inzwischen umfangreichen Literatur zu Blumenberg an. So wichtig diese Beiträge für das Verständnis des Werkes auch sein mögen, suche ich nicht die Auseinandersetzung mit ihnen. Das würde den Charakter – und den Umfang – dieses Buches zu sehr verändern und aus einem Einzelportrait ein Gruppenbild werden lassen.

Darüber hinaus hält sich dieses Portrait der leichteren Zugänglichkeit und Vergleichbarkeit mit dem Abgebildeten wegen vornehmlich an die publizierten Bücher, Aufsätze und Feuilletonbeiträge Blumenbergs – schon das ist mehr als genug. Briefwechsel ziehe ich in der Regel nur und sehr zurückhaltend heran, wenn sie bereits ediert vorliegen und somit inzwischen zum Bestandteil des publizierten Werkes zählen. Auf den umfangreichen, im Marbacher Literaturarchiv lagernden Nachlass Blumenbergs zuzugreifen, verzichte ich. Allein ein dort befindliches Konvolut an Kurzessays – mit der Abkürzung ›UNF‹ für ›Unfertiges‹ oder ›Unerlaubte Fragmente‹ –, die bis auf wenige Ausnahmen unveröffentlicht sind, umfasst Tausende von Seiten! Da dieses Portrait zur Lektüre verleiten will, hält es sich an die jedem leicht zugänglichen oberen Stockwerke des publizierten Werkes und überlässt das Durchforsten des Archivkellers anderen. Blumenbergs Doktorarbeit und Habilitationsschrift aber, wenngleich zu Lebzeiten unveröffentlicht, werden aufgrund ihres besonderen Gewichtes einbezogen.

Mein Portrait ist nicht für die Kenner geschrieben, die mit jedem Text Blumenbergs bis in die Fußnoten hinein vertraut sind. Es versteht sich eher als eine Handreichung für jene, die bei einem seiner Bücher ins Stocken geraten oder die Lektüre gar abzubrechen geneigt sind. Ein Überblick über die gedanklichen Verbindungen innerhalb eines Buches und zwischen den Publikationen ist oft nicht leicht und schon gar nicht auf den ersten Blick zu gewinnen. Das vorliegende Buch sucht Wege durch dieses Hochgebirge der Gelehrsamkeit und philosophischen Reflexion zu bahnen, dabei die verschiedenen Erkenntnisgipfel zu kartographieren, Ein- und Ausblicke zu ermöglichen, Rezeptionsabstürze zu verhindern und schließlich zum eigenen gedanklichen Bergsteigen im Werk dieses Philosophen anzuregen.

Blumenberg mochte nicht durchschaut, aber er wollte gelesen werden. In der Gestalt seines umfangreichen und vielschichtigen Werkes hat er uns gleichsam eine Lebendmaske seines scharfsinnigen, humorvollen, ausdauernden und von der Hinfälligkeit gequälten Geistes hinterlassen. Warum hinter diese Maske schauen wollen? »Der Mensch will sich mitteilen«, hat er bekannt, »aber dies setzt voraus, daß er verborgen und undurchsichtig ist, insoweit er es will und sich der Offenheit entzieht.«2 In seiner Philosophie – und nur in ihr – haben wir den Selbstausdruck Blumenbergs vor uns, den er aus der zunehmenden Verborgenheit heraus gesucht hat.

Einleitung

Der Zettelkasten

Selten hat eine bedeutende Philosophie ein derart sinnlich zugängliches Fundament aufzuweisen, wie es bei Hans Blumenberg der Fall ist: Seine Werke, die Tausende von Seiten füllen, ruhen auf dem Grund von Abertausenden von Zetteln. Genauer gesagt handelt es sich um Karteikarten, mit handschriftlichen und auf Schreibmaschine getippten Zitaten, mit und ohne Kommentar versehen, um Karten mit aufgeklebten Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften und gefüllt mit eigenen Reflexionen. Sie stellen Dokumente einer über Jahrzehnte ununterbrochenen Lektüre- und Denktätigkeit dar und begründen ein akribisch gepflegtes Stichwortarchiv, das für die schriftstellerische Produktivität seines Nutzers nahezu unentbehrlich war.

Für die Ordnung der Karteikarten verwendete Blumenberg einen Rollenstempel. Die fortlaufende Nummerierung machte eine Chronologie seiner quellengeleiteten Gedankengänge über mehr als vierzig Jahre unmittelbar nachvollziehbar, wäre die numerische Ordnung des Zettelkastens von seinem Nutzer nicht zugunsten der kreativen Zusammenstellung der Karteien zu Themengruppen preisgegeben worden. Für seine Schreibprojekte entnahm Blumenberg einzelne Karten ihrer Entstehungsordnung, stellte sie zu thematischen Einheiten zusammen und versah sie mit Siglen – etwa ›AMY‹ für Arbeit am Mythos –, um aus diesen Neugruppierungen Texte und ganze Bücher erwachsen zu lassen. Jede derart genutzte Karteikarte wurde mit drei roten Schrägstrichen an der oberen rechten Ecke markiert und auf der Rückseite mit einem Vermerk zum Einsatzort des Exzerpts versehen. Eine zu häufige Verwendung und somit penetrante Wiederholung von Schlüsselfundstücken und Lieblingszitaten schloss Blumenberg aus, da er nach mehrfachem Gebrauch ganze Stapel an Karteikarten aussortierte und sorgfältig in Papier oder in Umschläge verpackte.

Blumenberg hat um 1941 mit der Erstellung von Karteikarten begonnen. Die erste Sammlung wurde Opfer eines Luftangriffs während des Zweiten Weltkrieges – später hat Blumenberg sein wertvolles Archiv einem feuerfesten Tresorschrank anvertraut. Über den jährlichen Zuwachs, die Gesamtzahl der Karteikarten und deren Verwendung legte sich Blumenberg penibel Rechenschaft ab. Am 1. August 1945 konnte er als Beleg des Neuanfangs 280 Karteikarten verzeichnen. Nicht ohne Stolz über seine erfolgreiche Arbeit im Bergwerk der Denkgeschichte präsentierte er im Frühjahr 1966 die zehntausendste Karte seinem langjährigen Mitarbeiter Karl-Heinz Gerschmann. Auch andere Autoren haben sich vor dem Aufkommen digitaler Speichermöglichkeiten des Systems über die Jahrzehnte angelegter Zettelkästen bedient – Niklas Luhmanns Zettelkasten ist legendär. Blumenbergs handgreifliche Gedankeninseln sind daher durchaus zeittypisch und an sich nicht ungewöhnlich. Der Umfang aber schon: Am 24. April 1984, im Jahr von Blumenbergs Emeritierung, beherbergten die Zettelkästen 24 000 nummerierte Karteikarten. Insgesamt enthält der Zettelkasten etwa 30 000 Exzerpte und Überlegungen.1

Der philosophische Reiz eines derartigen Gedankenarchivs besteht in der ermöglichten Variabilität seiner Bedeutungsfundstücke. Erst die Isolation eines Zitats von seinem ursprünglichen Kontext im Textfluss des Werkes, dem es entnommen worden ist, eröffnet das Spiel der überraschenden Kombination. Durs Grünbein hat mit Blick auf seine Poetik einmal von den »kleinen Entladungen« gesprochen, »die aus der Reibung gewisser elektrostatischer Wörter folgen«.2 Dieser Reiz, in einer Verszeile lustvoll Unerwartetes nebeneinanderzustellen, findet sich offensichtlich auch in Blumenbergs Umgang mit in Zitaten verdichteten Gedanken wieder: Wenn ein gegenwärtiger Autor mit einem mittelalterlichen Kollegen ›kurzgeschlossen‹ wird, wenn Husserl auf Platon trifft, eine Gedichtzeile auf ein Traktat, dann kann sich ein Funkenflug der Vernunft einstellen. In diesem Sinne gleicht die Arbeit mit einem umfangreichen Zettelkasten einer Alchemie des Geistigen: Die ungewohnte Zusammenstellung steigert das Herbeizitierte gegenseitig, verwandelt und wiederbelebt die Gedankenfunde. Eine solche Kombinatorik setzt eine Lust am Überraschungsmoment, ein sehr gutes Gedächtnis und eine Meisterschaft in der Zusammenführung des auf den ersten Blick oftmals heterogenen Quellenmaterials voraus.

Der souveräne Umgang mit Zehntausenden von Reflexionsinseln, die sich erst in der erzeugten neuen Textur als archipelartig und somit untergründig miteinander verbunden offenbaren, macht einen Teil dessen aus, was an Blumenbergs Texten so fasziniert: Mit Kommentaren und Verweisen von Hand ausgestattet, ermöglichten es die Karteikarten ihrem Nutzer, traditionsgesättigte Werke zu verfassen, in denen oftmals Zitate unterschiedlichster Herkunft aus entlegensten Winkeln der abendländischen Denkhistorie zu einer überraschenden problemgeschichtlichen Nachbarschaft gefunden haben. So werden Autoren und deren Texte im wechselvollen Nacheinander gruppiert: Schlägt man ein beliebiges Kapitel in einem Buch von Blumenberg auf, etwa »Apokalypse und Paradies« aus Lebenszeit und Weltzeit, weisen die Fußnoten die Apokalypse des Johannes, Jean Paul, Irenäus von Lyon, Michel de Montaigne und Arthur Schopenhauer als herangezogene Referenzquellen aus. Blumenberg denkt zusammen, was zusammengehört, aber durch Jahrhunderte, mitunter Jahrtausende voneinander getrennt ist. Darauf muss man erst einmal kommen, das biblische Motiv vom ›Buch des Lebens‹, in dem im Himmel die Taten der Menschen und ihr Heilsstatus verzeichnet werden, innerhalb weniger Seiten mit der Autobiographie von Jean-Jacques Rousseau in Beziehung zu setzen, schrieb doch der Genfer mit seinen Confessions selbst das Buch seines Lebens, um Rechenschaft abzulegen von seinen Taten.3

In der Stiftung einer Gedankenbrücke von der einen zur anderen Sinnfigur, vom einen zum anderen Zitat, beglaubigt sich die Souveränität des Zettelkastennutzers gegenüber seinem unermesslich scheinenden Material. Je rigider der methodische Zwang der Quellenarbeit ist, desto freier hat der denkerische Zugriff auf das Archiv zu sein, wenn das philosophische Denken nicht der Fülle an Zitierbarem erliegen und verkümmern soll. Doch wie frei darf der Umgang mit dem mitunter weit Auseinanderliegenden werden, damit den intellektuellen Edelsteinen, von ihren jeweiligen Horizonten und Kontexten gereinigt, keine Gewalt angetan wird, wenn sie in ein neues gedankliches Mosaik eingefügt werden?

Um Gefahr und Herausforderung ermessen zu können, die der philosophische Umgang mit Zehntausenden von isolierten Zitaten bedeuten, ist man gut beraten, bei der Bezeichnung ›Zettelkasten‹ zu bleiben, anstatt von ›Karteikasten‹ zu sprechen, auch wenn Blumenbergs Archivsystem aus Karteikarten besteht. Zettel und Karteien hängen ohnehin zusammen: In der antiken Welt bezeichnete das lateinische Wort scida oder scheda ein Stück, das man für Notizen von einem Papyrusblatt abriss, von flüchtiger Dauer, der Vorläufer des ›Zettels‹; die charta, aus der die ›Kartei‹ wurde, bezeichnete ein Papyrusblatt und ein Stückchen Papier für rasche Aufzeichnungen. Die Kartei als Informationsträger eroberte sich erst in den großen Bibliotheken der Moderne mit ihren vordigitalen Archivsystemen durch ihre Dauerhaftigkeit und den Vorzug der normierten Größe die Stellung des bevorzugten Formats. Bleibt man also beim Zettel als Hauptbegriff, bekommt die Gefahr des sich ›Verzettelns‹ einen Namen. Dieser Begriff entstammt ursprünglich dem Weberhandwerk: Der Weber arbeitet mit Kettfäden, auch Zettel genannt, um für das Gewebe eine Längsrichtung vorzugeben, zu der die Schussfäden quer eingeführt werden. Wer sich also verzettelt, kommt mit dem Gewirr an Fäden nicht mehr klar. Die Nähe zum Versinken in einer Unmenge an Notizen liegt auf der Hand. Für das aus den Zettelkästen Zusammengestellte besteht, wie Blumenberg es einmal formuliert hat, gleichermaßen die Gefahr, »wertvoll vom Gesichtspunkt der Materialsammlung, aber hilflos in der Interpretation«4 zu sein – die Anforderung an die deutende Interpretation wächst mit dem zu bewältigenden Quellenreichtum. Wie aber kann aus einer Zettelwirtschaft, trotz aller Verweissysteme und Übersichten, ein Textgewebe hervorgehen, das durch einen Erzählstrang zusammengehalten wird?

Ein weiterer Fallstrick beim Verzetteln der Tradition liegt in der Verwandlung des Lesers in einen Zitatenjäger. Da Blumenberg genauestens notiert hat, was er wann gelesen hat, werden auch Lektüreunterbrechungen offenbar. Mitunter legte er ein gelesenes Buch beiseite, um Jahre später an genau der Stelle der Unterbrechung wieder mit der Lektüre einzusetzen. Auch wenn man ein noch so gutes Gedächtnis unterstellt, lassen Bücher einen derart abrupten Umgang mit ihrer Gesamtkonzeption nicht zu. Der argumentative Bogen geht verloren oder wird erst gar nicht verfolgt, wenn man – wie Blumenberg mit Lineal und Stift bewaffnet – für das eigene Schaffen interessante Einzelstellen zu entdecken sucht. Blumenberg hat es aber auf eine Isolierung der Zitatfunde geradezu angelegt, nutzte er doch für das Exzerpieren von wissenschaftlichen Monographien keine zusammenhängenden Kladden für Notate. Der Reiz des auf einer Karteikarte Festgehaltenen bestand für ihn gerade in der Hervorhebung des Gedankenfundes durch Abschottung, die erst eine Zuweisung eines Ortes in einem neuen Gedankenkontext zuließ. Blumenberg besaß einen ausgeprägten Spürsinn für Quellen und ihr oftmals verdecktes Potenzial. Es wird vielen Lesern so ergehen, in seinen Werken auf Zitate zu stoßen, »über die man hinwegläse, brächte sie nicht ein Interpret wie Blumenberg zum Funkeln«.5 Angesichts der Herausforderung, die nicht so sehr die Erstellung, sondern vornehmlich der fruchtbare Umgang mit einem großen Archiv an Gedankensplittern darstellt, ist es durchaus bemerkenswert, dass Blumenberg an der Maßlosigkeit seines Zettelkastens philosophisch nicht zugrunde gegangen ist. Seine Philosophie bezeugt vielmehr durch ihre gedanklichen Kontinuitätsstiftungen, wie sie in den großen problemgeschichtlichen Narrativen ihren Ausdruck gefunden haben, eine intellektuelle Meisterung der Überfülle des bedenkenswerten Materials.

Zugleich gehört es zum Glück des Nutzers eines Zettelkastens, wenn sich die Verbindung zwischen zwei scheinbar weit auseinanderliegenden Gedankenmotiven wie von selbst einstellt, sobald man die Notizen nebeneinanderlegt. Erst die präparierende Hervorhebung und somit Kontextabschottung schafft jene verblüffende Verknüpfungsbereitschaft der Fundstücke, wenn etwa in dem Buch Lebenszeit und Weltzeit der Satz aus der Apokalypse des Johannes, der Teufel wisse, dass er wenig Zeit habe, als Vorbereitung für das folgende Kapitel über das Betreiben des Untergangs durch Hitlers Vernichtungswahn dient. Wer für eine derartige Geometrie von Sinnfiguren auch über große Zeiträume hinweg unempfänglich ist, wer nicht ins Staunen gerät, wenn das eine zum anderen findet und sich überraschenderweise fügt oder als gegensätzlich spiegelt, dem wird ein wichtiges Lustmoment der Schriften Blumenbergs verborgen bleiben. So eindrucksvoll der Zettelkasten in seiner materialisierten Gestalt auch ist – das philosophisch Spannende findet zwischen den einzelnen Karteikarten statt.

Aus dem Bodensatz der flachen Notizkarten hat Blumenberg ein Hochgebirge an gelehrten Büchern erwachsen lassen, die eine Geschichte der Gegenwart nachzeichnen. Sie suchen im Bildungskanon der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihresgleichen. Das ist nicht ohne Anerkennung geblieben. Odo Marquard hat in Blumenbergs Werk – »trotz Adorno und Gehlen und Gadamer, trotz Lübbe und Habermas« – das »wohl faszinierendste Œuvre der Nachkriegszeit in Deutschland«6 ausgemacht. Eckhard Nordhofen nannte Blumenberg den »vielleicht gelehrtesten Denker des Landes«, für dessen Beschreibung man »eine eigene Klasse einrichten müßte«;7 für ihn sind Blumenbergs Bücher »gelehrte Schatzhäuser, reich und dick, die Bücher eines einzigartig Belesenen«.8 Henning Ritter zeigte sich beeindruckt von dem »Reichtum solcher Bildung in einem Umfang, wie sie sonst von kaum einem mehr produktiv beherrscht« werde, und der zu Leseerfahrungen führe, »für die es innerhalb der Philosophie keine Parallele«9 gebe. Es ist von »auf eine fast schon absonderliche Art gebildeten Büchern«10 gesprochen worden. Thomas Assheuer lobte seine »meisterhaften Deutungen«.11 Blumenbergs Schriften haben somit ein Echo ausgelöst – weit über die akademische Fachwelt hinaus, wie die genannten Feuilletonisten belegen –, das ihn als einen »der bedeutendsten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit«12 auszeichnet. Damit nicht genug: Blumenbergs literarisch ambitionierter Stil hat zu einer Prosa geführt, die, wie manche meinen, »seit Thomas Mann im Deutschen unerreicht geblieben ist«.13 Nicht umsonst zählte Frank Schirrmacher Blumenberg zu den »führenden Schriftstellern des Landes«.14

Dem haben andere widersprochen. Ferdinand Fellmann hat stellvertretend für analytisch geschulte Geister kritisiert, Blumenbergs Stil wirke »stellenweise manieriert«.15 Die Germanistin Hannelore Schlaffer hat Blumenbergs Schreibstil, vor allem mit Blick auf den 1987 erschienenen Essayband Die Sorge geht über den Fluß, einer Grundsatzkritik unterzogen und Blumenberg als »dilettierenden Poeten« bezeichnet, der Adornos Stil – vor allem in Minima Moralia – »bis zur Verkrampfung«16 zu imitieren unternommen habe. Auch die sich in seinem Denken dokumentierende Gelehrsamkeit als Frucht seines Zettelkastens hat kritische Vorbehalte provoziert. Selbst Zeitgenossen, die Blumenbergs Leistung zu schätzen wussten, Karl Löwith etwa, monierten mitunter ein Missverhältnis von Anstrengung und Ertrag: »Wozu dieser Aufwand an scharfsinnigen Überlegungen« und an »ausgebreiteter historischer Bildung«?17 Nahezu wortgleich Kurt Flasch: »Warum diese vielen Wege? Wozu der ungeheure gelehrte Aufwand?«18 Weshalb also den mühsamen Durchgang durch die heranzitierte Geistesgeschichte wählen, wenn es doch auch ohne Exzesse an Quellenmaterial geht? Edmund Husserl oder Ludwig Wittgenstein kommen einem in den Sinn, sucht man nach Denkern, die – von Detailkenntnissen der Geistesgeschichte oftmals unbehelligt – nahezu zitatfrei philosophiert haben. Im Kern seien Blumenbergs Antworten auf die Fragen des Lebens recht einfach, urteilt Hermann Lübbe, aber Blumenberg verstecke das, »gleicherweise diskret wie trivialitätsscheu, hinter den Reichtümern seines überaus gebildeten Zettelkastens«.19

Sollte sich die stupende Gelehrsamkeit Blumenbergs als Prunk erweisen, um philosophische Dürftigkeit zu kaschieren? Wer in Münster studiert hat, konnte noch während seiner Lehrtätigkeit von einer unter den Studenten kursierenden und hinter vorgehaltener Hand kolportierten Frage hören, die dem Philosophen gestellt worden sei: Was würde er eigentlich tun, so die Provokation, wenn man all seine Zettelkästen auf dem Münsteraner Prinzipalmarkt ausschütten würde?

Härter hätte die Infragestellung nicht ausfallen können, grundsätzlicher nicht der Vorwurf. Mit einer einzigen Frage wird die genuine Produktivität dieses Philosophen, seine denkerische Impulskraft und systematische Souveränität, angezweifelt. Alles voll von Zitaten, mag man einen berühmten Satz des Thales variieren. Ein Beleg nach dem anderen, ein ermüdender Historismus an Gelehrsamkeit, Rezeptionsgeschichte statt Philosophie – so ist die Provokation zu lesen. Seit den Anfangstagen der Philosophie ist Sokrates, der nichts Geschriebenes hinterlassen hat, Inbegriff einer Frische des dialogischen Denkens, demgegenüber zitatschwere Texte gelehrter Autoren schnell behäbig wirken können.

Ich halte diese Kritik für falsch, aber fruchtbar. Man sollte ihr nicht vorschnell den Stachel ziehen, indem man – völlig zu Recht! – auf die umfangreichen Texte Blumenbergs verweist, die nahezu ohne den Gedankenfahrplan sortierter Karteikarten auskommen und die philosophische Kraft dieses Denkers mehr als belegen – man denke nur an die ausladende wie intensive Beschreibung des Menschen. Die vorgetragene Kritik aber zwingt dazu, die imponierende Materialität des Zettelkastens zurückzustellen und stattdessen über seine Bedeutung zu philosophieren. Solange man über ihn den Kopf schüttelt, da man den dafür notwendigen Arbeitseifer als eine Kompensation von Defiziten entlarven zu können meint, oder solange man voller Bewunderung auf ihn blickt, als hätte man den weltlichen Gral philosophischen Denkens vor sich, bleibt äußerlich, was doch der philosophischen Reflexion bedarf.

Auf die höhnische Frage, was das Ausschütten der Karteikarten auf dem Münsteraner Prinzipalmarkt für ihn bedeuten würde, hat Blumenberg nicht reagiert, zumindest ist mir keine Antwort zu Ohren gekommen. Gleichwohl lassen sich in seinen Texten Andeutungen finden, wie er den Angriff hätte parieren können. Blumenberg stemmt sich mit seinem gesamten Werk gegen die von ihm diagnostizierte gegenwärtige »Zeit der Verachtung von Gelehrsamkeit«.20 Er verweist auf die Folge von »Jahrzehnten entschlossener Destruktion klassischer Anteile am Bildungswesen«.21 Für ihn ein verheerender Vorgang, der die Reichweite unseres Denkens limitiert, denn: »Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.«22 Zeichen für die »intellektuelle Gesundheit« sei die »Spannweite von Unvereinbarkeiten im Hinblick auf ein und dieselbe Sache, die ausgehalten wird und dazu noch Anreiz bietet, Gewinn aus der Beirrung zu ziehen«.23 Der Zettelkasten als Archiv des widersprüchlich Gedachten wird zum Anlass geistiger Gymnastik und zum Instrument der eigenen Humanisierung, die darin besteht, Welt zu haben.

Vehement tritt Blumenberg daher der Naivität entgegen, die meint, auch in der Philosophie auf den sich aus der Tradition nährenden Bildungsreichtum verzichten und die Geschichte Geschichte sein lassen zu können. Dem »Vorteil der Authentizität durch Geschichtslosigkeit«, der Husserl und Wittgenstein als maßgeblichen Denkern der Moderne zugutezukommen scheint, stellt Blumenberg das »Risiko der Lächerlichkeit« entgegen, die in der »Verblüffung« besteht, »daß schon lange und vielgestaltig gesagt worden ist, was einer zum erstenmal gesagt zu haben meint«.24 Jedes noch so sehr auf Aktualität und Gegenwärtigkeit geeichte Denken verdankt sich für ihn einem gewachsenen Hintergrund seiner Ermöglichung, der oft nur ausgeblendet und mitunter nicht einmal bemerkt wird, aber in seiner konstituierenden Kraft vorausgesetzt werden muss. Daher ist Ungeschichtlichkeit für Blumenberg »eine opportunistische Marscherleichterung mit verhängnisvollen Folgen«.25 Wir haben nicht Geschichte, wir sind Geschichte: »Daß die Auswahl von Weltdeutungen, die Entscheidung unter Lebensformen bereits erfolgt ist, macht den Sachverhalt aus, Geschichte zu haben.«26

Als Repräsentanten für die Kultivierung einer vermeintlichen Geschichtslosigkeit führt Blumenberg Denker wie René Descartes an, der postuliert hat, für die Wissenschaften sei insgesamt überhaupt kein Gedächtnis nötig.27 Da Descartes auch die Philosophie zu den Wissenschaften zählte, sank für ihn auch die ihr eigene Tradition zu einem Hort zu überwindender Vorurteile herab. Noch Husserl wird als Cartesianer – in Blumenbergs Worten – ein »Geschichtsverächter«28 sein und die Jahrtausende als eine Vorgeschichte seiner Phänomenologie zusammenschnurren lassen. Größer könnte die Distanz Blumenbergs zu dem Protorationalisten der Neuzeit und Erneuerer des geschichtslosen Neuanfangs nicht sein. In seinem umfangreichsten wie vielleicht gelehrtesten Buch, Höhlenausgänge, betreibt Blumenberg mit großem Aufwand eine geschichtliche Umfeldanreicherung des platonischen Höhlengleichnisses. Dieser in Buchform gebrachte Anticartesianismus, die rationale als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Gedankenpunkten auszuschlagen und stattdessen all die Um- und Abwege zu verfolgen, die das Höhlengleichnis durch die Denkgeschichte genommen hat, hat ihn drei Jahrzehnte Erinnerungsarbeit gekostet. Heidegger dagegen behandelte das platonische Höhlengleichnis, wie Blumenberg kopfschüttelnd anmerkt, »wie ein Vorsokratikerfragment: als habe man ringsum nichts«.29 Und während Blumenberg die mäandernden Denkwege des Menschen in seiner Geschichte in opulenten Werken abzuschreiten unternommen hat, kultivierte Wittgenstein in seinen Augen eine »Rhetorik der Kargheit« mit einer »apodiktischen Kürze seiner Sätze«.30 Blumenberg verweist auf Wittgensteins Pflichtvortrag als neues Mitglied des Cambridge University Moral Science Club im Jahr 1912, der die Frage »Was ist Philosophie?« zum Thema hatte und laut Protokoll nur vier Minuten gedauert hat.

Der Streit um den Nutzen und Nachteil des Zettelkastens für das Philosophieren – nur das möchte ich andeuten – ist kein äußerlicher, kein in persönlichen Animositäten aufgehender, sondern selbst ein philosophischer. Man kann es auch so sagen: Je sicherer man sich sein kann, Wahrheiten vorweisen zu können, desto eher kann man auf die Unmenge an Dokumenten des jemals Gedachten verzichten. Je mehr aber das andauernde Provisorium von Selbst- und Weltdeutungen anerkannt wird, desto spannender, hilfreicher und notwendiger werden die Auskünfte anderer und eben auch vormals Gewesener. Insofern ist Blumenbergs Zettelkasten auch ein materialisierter Ausdruck der anthropologischen Grundeinsicht, den Menschen als ein kognitives Mängelwesen zu begreifen, da ihm Wahrheit nicht leicht zugänglich ist und er dadurch erst den unersättlichen Appetit auf die Weltdeutung anderer bekommt. Platon hat keinen Zettelkasten angelegt.

Der Zettelkasten ist Ausdruck der Anerkennung einer unumgänglichen Umwegigkeit der menschlichen Selbsterkenntnis. Wo letzte Evidenzen nicht momentan erreichbar sind, setzen Ausführlichkeit und Umständlichkeit ein. »Über das Endgültige läßt sich nicht so viel sagen wie über das Vorläufige.«31 Umwegigkeit aber ist im Kern nichts anderes als Kultur, die wiederum in der Vermeidung der kürzesten Wege besteht. Erst die vielen, manchmal schon ausgetretenen und selten kurzen Wege, die gegangen werden, spannen ein Netz an Bewusstseinsrouten über unsere Welt. Damit kommen die anderen erneut ins Spiel: »Nicht jeder erlebt alles, wenn auf Umwegen gegangen wird; dafür aber auch nicht alle dasselbe, wie wenn auf dem kürzesten Weg gegangen würde. Andersherum: Alles hat Aussicht, erlebt zu werden, wenn es gelingt, alle auf Umwegen gehen zu lassen.«32 Darin besteht die Kostbarkeit alles von Menschen Erfahrenen, Gedachten und zum Ausdruck Gebrachten. »Jeder hat für jeden, den Voraussetzungen nach, etwas in pectore«, also unter Verschluss, »was nur er herauszugeben vermag und wodurch er Anspruch auf das erwirbt, was der andere seinerseits auf seinem Weg ad notam«, also zur Kenntnis, »genommen hat.«33 Jedes konservierte und präparierte Zitat auf einer von Blumenbergs Karteikarten ist Teil dieses humanen Tauschhandels mit Einsichten über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. Jedes von ihnen ist eine Wegmarke einer gelebten und sich zum Ausdruck bringenden biographischen Bewusstseinsgeschichte.

Dabei ist der ideelle Tauschhandel mit Welterfahrungen unter den Bedingungen der Geschichte jenseits der Zeitgenossenschaft ein einseitiger. Der Textfund als ausdrückliches oder unausdrückliches Dokument eines humanen Wirklichkeitsverständnisses, das uns aus der Tiefe der Zeit erreicht, bereichert unsere Welthaltigkeit, ohne dass wir in der Lage wären, dessen Autor etwas von unserer Weltsicht zurückzugeben. Schon Bernard de Fontenelle hat in seinen Nouveaux dialogues des morts, die 1683 erschienen sind, eine Dankesschuld empfunden. In seiner Vorbemerkung wendet er sich an Lukian, den antiken Begründer des Genres der Nekrikoi dialogoi, der ›Totengespräche‹. Es sei nur billig, »daß ich, nachdem ich eine Idee aufgegriffen habe, die Euch gehört, Euch dafür auch eine gewisse Huldigung darbringe«.34 Das gilt auch für die erlaubten Einsichten in die Umwege anderer, denen wir ebenso eine ›gewisse Huldigung‹, quelque sorte d’hommage,35 schuldig sind.

Der Zettelkasten Blumenbergs, insofern er Zitate Verstorbener enthält, gleicht einem Friedhof des Gedachten, das in den Texten des Philosophen seine Auferstehung feiern soll. Das mag angesichts sonstiger pragmatischer Funktionsbeschreibungen pathetisch anmuten, doch Blumenberg selbst war – bei seltenen Gelegenheiten – das Pathos nicht fremd. Er hat von einer »elementaren Obligation« gesprochen, »Menschliches nicht verloren zu geben«.36 Es sei dabei »nicht Sache unserer Wahl, sondern des an uns bestehenden Anspruches, die Ubiquität des Menschlichen präsent zu halten«.37 In dieser anerkannten Verpflichtung drückt sich ein Humanismus aus, der die Arbeit mit einem so reichhaltigen Archiv über den Aspekt des Nutzens für seinen Besitzer erhebt.

Faktisch begrenzt, steht das Archiv zumindest symbolisch für die prinzipiell unabschließbare Verzettelung der gedachten Welt. Darauf verweist schon das Ordnungsprinzip der Kartennummerierung. Zwar sieht das numerische System eine erste, aber keine letzte Karte vor, könnte doch der Zählung nach stets eine weitere folgen. Es ist darüber hinaus ein leicht zu übersehender Aspekt, dass Blumenberg zwar im Nachhinein Karteikarten zu Themengruppen für seine Bücher zusammengestellt, aber eben nicht im Vorhinein gedankliche Schubladen entworfen hat, die dann lediglich noch mit passendem Material bestückt zu werden brauchten. Darin drückt sich eine Rezeptionsoffenheit aus, die ebenso unbedingt ist wie die Verpflichtung zur Erinnerung, zur memoria. Pathos und Nüchternheit, Ethos und Pragmatismus bestimmen Blumenbergs Umgang mit dem Zettelkasten gleichermaßen. Nichts ist randständig genug, zu abgelegen, zu skurril oder befremdlich, um nicht einen gleichrangigen Ort im Zettelarchiv der bewussten Welt zu finden – ebendiese Gleichwertigkeit als Dokument des Humanen bringt die normierte Karteikarte zum Ausdruck, die einem Wort Goethes kein anderes Format zuweist als einem Gedanken von Wilhelm Busch oder eines nahezu vergessenen Autors von den Rändern der intellektuellen Welt. »Die Ureinwohner Patagoniens ebenso wie die … Kwakiutl«, die Ureinwohner Vancouver Islands in Kanada, »haben einen Anspruch darauf, nicht nur am Leben gelassen zu werden, sondern auch von denen, die Theorie betreiben, theoretisch nicht vergessen zu werden, den Anteil an der Menschheit in ihrer Person gewürdigt und bewahrt zu sehen«.38

Das gilt für jeden. Blumenberg hat im begrenzten Feld seiner geistesgeschichtlichen Studien dem elementaren Wunsch des Menschen, nicht vergessen werden zu wollen, exemplarisch entsprochen. »Auch Geschichte der Philosophie, weiterhin Geschichte der Wissenschaften zu betreiben, kann nur eine der Formen sein, Anspruch auf die Achtung der Kommenden geltend zu machen, indem wir sie den Gewesenen erweisen.«39 Und sei es, indem man ihnen zunächst eine Karteikarte zuweist.

Sinn und Form:
Von der Humanität der Umständlichkeit

Die großen Werke Blumenbergs sind umständlich, oftmals schwer zugänglich und unübersichtlich, sie überwältigen den Leser mit ihrem Quellen- und Deutungsreichtum. Für den Seminarbetrieb an heutigen Universitäten sind sie nahezu ungeeignet – was nicht gegen die Bücher sprechen muss. Sie sind klassisch zu nennen, da in den Büchern Die Legitimität der Neuzeit, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Die Lesbarkeit der Welt, Arbeit am Mythos, Lebenszeit und Weltzeit und Höhlenausgänge – um nur die wichtigsten zu nennen, die zwischen 1966 und 1989 erschienen sind – die Erträge jahrzehntelanger Vorarbeit ihren formvollendeten Abschluss gefunden haben. Sie sind idealtypische Verwirklichungen der von Blumenberg kultivierten Form des Philosophierens.

Wir werden uns daran gewöhnen dürfen, an Blumenbergs Schriften andere Fragen heranzutragen, als wir üblicherweise bei der Rezeption philosophischer Werke zu stellen gewohnt sind. Ich möchte das in eine These fassen, deren mögliche Verteidigung weniger von Interesse ist als ihr heuristischer Aufschlusswert: Blumenbergs Philosophie erreicht in seinen klassischen Werken eine bemerkenswert hohe Übereinstimmung von Form und Inhalt, Gestalt und Aussage. Ihnen liegen kompositorische Gestaltungsmomente zugrunde, die man in wissenschaftlicher Literatur gemeinhin nicht erwartet. Blumenbergs Philosophie, die von ihm kultivierte Form des Denkens und Schreibens, versucht bis in ihren formalen Auftritt Ausdruck jener Wirklichkeit zu sein, mit der sie es zu tun hat. Derartige Aspekte – wie thematische Spiegelungen, epische Erzählformen, die Anzahl von Kapiteln oder Buchteilen, die Zitationsweise und die Erstellung von Namenregistern – mag man vorschnell als äußerlich abtun. Wer aber Blumenbergs Philosophie nicht bis in ihre Ausgestaltung hinein verfolgt, verpasst beim Warten auf griffige Thesen und Argumente das wesentliche Moment dieser mitunter meisterlich vollzogenen Reflexionsform: Die Form ist Ausdruck des Inhalts.

Daher sind Blumenbergs oftmals umfangreiche Werke nicht abkürzbar. Als Jacob Taubes für eine Tagung den Autor des ein Jahr zuvor erschienenen Buches Die Legitimität der Neuzeit darum bat, den Kolloquiumsteilnehmern für den zu diskutierenden Teil dieses umfangreichen Werkes einen Leitfaden an die Hand zu geben und eine Kurzfassung seiner These zu erstellen, reagierte Blumenberg erbost. Er empfand es als Zumutung, das von ihm aus den Tiefen der Antike entfaltete Panorama des Epochenübergangs vom Mittelalter zur Neuzeit auf einen handhabbaren Umfang reduzieren zu sollen. Er erwehrte sich der Anfrage mit Zitaten aus der Negativen Dialektik Adornos, die zur Kenntnis zu nehmen Taubes ihm dringend angeraten hatte. »Das Wesen wird durchs Résumé des Wesentlichen verfälscht«, ist darin zu lesen, und: »Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren lässt, spricht gegen sie.«40

Damit kommt das Vorhaben, ein philosophisches Portrait von Hans Blumenberg zu zeichnen, scheinbar an sein Ende, bevor es begonnen hat. Jedes Buch über die Philosophie Blumenbergs, das sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit speziellen Aspekten beschränkt, sondern die Kontur dieser Philosophie im Ganzen darzustellen sucht, hat sich dem Vorwurf zu stellen, leisten zu wollen, was Blumenberg selbst verweigerte und darüber hinaus für unmöglich hielt. Philosophie ist nicht abkürzbar. Die Fülle ihrer mitunter verschlungenen Gedankenwege lässt sich nicht verknappen. Allen Einleitungsbänden zum Trotz vermag keine noch so umsichtige Zusammenfassung dem Leser die Mühe zu ersparen, eine anspruchsvolle Philosophie nur dann erfassen zu können, wenn er sich ihr in toto aussetzt und ihren Gedanken gleichsam in Echtzeit folgt. »Dazu braucht es aber viel, viel Zeit«,41 wie schon Taubes bemerkte. Wenn sich eine Philosophie auf eine Quintessenz reduzieren lässt, ist sie schlecht gedacht worden.

Aber ist nicht Blumenbergs Weigerung, eine Kurzfassung seiner Neuzeitdeutung zu bieten, wie sie jedes Werklexikon nicht unversucht lassen wird,42 lediglich Ausdruck der Eitelkeit eines Autors, der jeden einzelnen seiner Gedanken für wichtig hält? Wenn ein philosophischer Entwurf aus begründeten Argumenten besteht, warum soll dann keine systematische Zuspitzung möglich sein? Ist nicht vieles an einem philosophischen Text Beiwerk, Stilblüte und seitenfüllendes Zugeständnis an die Üblichkeiten von Textproduktionen? Man mag beim Gedanken an den Verzicht auf jede Umständlichkeit und als Inbegriff eines ›schlackenfreien‹ Textes Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus vor Augen haben – Blumenbergs Bücher bieten das Gegenteil: Sie sind umfangreich und umwegig, ja mitunter maßlos bis zur Unhöflichkeit gegenüber dem Leser. Das beginnt schon mit den Inhaltsverzeichnissen, die sich der raschen Auskunft über die behandelten Themen verweigern und somit ihren üblichen Dienst nur bedingt erfüllen. Nur der kundige Leser wird bei der Kapitelüberschrift »Im Fliegenglas« aus dem Buch Höhlenausgänge erraten, dass es dort um Wittgenstein geht. Alle übrigen haben das Kapitel erst zu lesen, bevor sich ihnen der Sinn der Überschrift erschließt. Dabei kann der Zusammenhang auch äußerst lose sein: »Vor Realschulmännern« heißt ein Kapitel aus demselben Buch, und es handelt von Ernst Mach – der am 16. April 1886 vor der Versammlung des deutschen Realschulmännervereins in Dortmund einen Vortrag hielt. In dem Buch Die Lesbarkeit der Welt lautet die Überschrift eines Kapitels »Tendenzen bei Annäherung an das neunzehnte Jahrhundert« – kein weiterer Hinweis darauf, dass es darin um das ungeheuerliche Buchprojekt der französischen Encyclopédie geht. Oder, als ein weiteres Beispiel, der vierte Teil von Arbeit am Mythos: Wenngleich es sich mit der dortigen Goethe-Interpretation um den Kern dieses Buches handelt, taucht der Name des Protagonisten in den Kapitelüberschriften nicht auf! Carl Schmitt hat in einem Akt nachholender Ausdrücklichkeit in seinem Exemplar handschriftlich gleich den Titel des ganzen Buches entsprechend geändert: Arbeit am Goethe-Mythos,43 so hätte nach ihm das Buch heißen müssen.

Was mit den Inhaltsverzeichnissen als Verrätselung beginnt, setzt sich in Blumenbergs Büchern als Ganzes fort. Sie bieten weder zu Beginn einen Ausblick auf das in ihnen Gebotene, noch fasst ein Resümée dem Leser den Ertrag zusammen. Odo Marquard hat angesichts der weit ausgreifenden Relektüren der Geistesgeschichte, die oftmals auf Hunderten von Seiten von der Antike bis in die Gegenwart führen, wertschätzend von »als gelehrte Wälzer getarnten Problemkrimis«44 gesprochen. Doch diese versuchte Nobilitierung verrät einen untergründigen Apologiebedarf: Blumenbergs Bücher, vor allem die in Rede stehenden großen Studien zur Geschichte des Denkens, sind schwer zu lesen. Seinen Erfolg beim Lesepublikum und in den Feuilletons verdankt Blumenberg vor allem den späteren essayistischen Bänden, etwa in der Bibliothek Suhrkamp. Dem idealtypischen Meisterwerk seiner philosophischen Kunst der Interpretation, der annähernd achthundert Seiten starken Genesis der kopernikanischen Welt, wurde dagegen nur ein bescheidener Erfolg zuteil. Im Grunde war das Buch ein publizistischer Misserfolg. Man braucht einen langen Atem, um in diesen Wälzern nicht stecken zu bleiben, da sie die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers zu überfordern drohen. Man muss es nicht als Studentenschelte verstehen, wenn ich darauf hingewiesen habe, dass sich Blumenbergs Bücher kaum für den heutigen akademischen Seminarbetrieb eignen. Sie sind in der gegenwärtigen philosophischen Lehre so gut wie nicht präsent. Karl Löwith hat davon gesprochen, man habe sich durch Blumenbergs »komplizierte Denk- und Schreibweise«45 regelrecht durchzuarbeiten. Und Dieter Henrich hat Blumenbergs Bücher als Werke bezeichnet, die »durch ein gewaltiges Arsenal von Kenntnissen zu schwer erschließbaren Massiven hochgesteigert«46 worden sind. Um in der Metapher zu bleiben: Bei der Lektüre droht dem Leser in der Steilwand des Denkens der Absturz.

Höhlenausgängenjeden