Über dieses Buch:
Die Besatzung des kleinen Bootes hatte nie eine Chance: Ein absichtlich falsch gesetztes Signal an der nächtlichen schottischen Küste sorgt dafür, dass das Schiff der Seenotrettung an den Klippen vor Knockhaven zerschellt. DI Marjory Fleming und ihr Team stehen vor einem Rätsel: Welches der drei Besatzungsmitglieder war Ziel des hinterhältigen Anschlags? Bald wird klar, dass jedes der Opfer nicht nur Freunde in dem kleinen Küstendorf hatte – und dass hinter der idyllischen Fassade des Ortes Abgründe von Hass und Gewalt lauern. Als ein weiterer Mord geschieht, beginnt für DI Fleming ein Wettlauf mit der Zeit, denn sie muss mit Entsetzen erkennen: Der Mörder hat sein Ziel noch längst nicht erreicht …
»Aline Templeton ist die Krimi-Königin von Schottland!« Bestsellerautorin Val McDermid
Über die Autorin:
Aline Templeton wurde in einem Fischerdorf an der schottischen Ostküste geboren. Sie studierte in Cambridge Literaturwissenschaft und arbeitete später in der Erwachsenenbildung und beim Rundfunk. Ihre Kriminalromane wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Aline Templeton lebt mit ihrer Familie in Edinburgh.
Von Aline Templeton erschien bei dotbooks bereits der Marjory-Fleming-Kriminalroman »Wer die Toten weckt«.
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eBook-Neuausgabe Juli 2020
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »The Darkness and the Deep« bei Headline, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Wenn es ans Sterben geht« bei Ullstein.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Aline Templeton
Translated from the English language: THE DARKNESS AND THE DEEP
First published in the U.K. by: Hodder & Stoughton
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Konmac, brickrena
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (tw)
ISBN 978-3-96148-870-4
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Aline Templeton
Wo der Tod lauert
Marjory Fleming ermittelt – Der zweite Fall
Aus dem Englischen von Theda Krohm-Linke
dotbooks.
Für Alison, Mark und vor allem Molly,
die erste der nächsten Generation,
mit all meiner Liebe
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit, nach einem stillen, feuchten Tag Ende September, zog der Nebel in öligen Schwaden von der Irischen See heran. Das melancholische Tuten des Nebelhorns auf dem Mull of Galloway begleitete ihn, während er über Felsen, Buchten und niedrige Klippen kroch und der Landschaft Licht und Umrisse nahm. Er hüllte das kleine Boot in der Bay of Luce ein und breitete sich an ihrer südwestlichen Küste bis zu dem alten, von Steinen umgebenen Hafen von Knockhaven aus.
In den kleinen tiefen Fenstern der weißgetünchten Häuser, die sich in der Bucht drängten, und in den Läden und Reihenhäusern, die das gewundene Band der steilen High Street säumten, gingen die Lampen an. Sie leuchteten aus den Sozialwohnungen ebenso wie aus den grauen Steinvillen im höher gelegenen neueren Teil der Stadt und strahlten aus den eleganten Häusern mit Seeblick, deren Panoramafenster bei den ersten Einwohnern des kleinen Ortes kaum auf Gegenliebe gestoßen wären. Früher hatte die Aussicht auf ihren Arbeitsplatz und ihren Feind die Fischer nicht mit romantischer Befriedigung erfüllt – obwohl das Meer auch ihre Geliebte war.
Heute abend war es ruhig in der High Street und der Shore Street, an denen die Küstenstraße, die Knockhaven grob in alt und neu teilte, vorbeiführte. Zwei Autos standen vor dem 8 'til Late-Minimarkt, und der Fish-&-Chips-Imbiß begann gerade mit seinem Abendgeschäft, aber die anderen Läden schlossen bereits, und das trübe, neblige Dämmerlicht verlockte niemanden dazu, sich länger aufzuhalten.
Plötzlich tauchte oben am Hügel ein Motorrad auf und durchbrach mit dem dumpfen Brummen seines Motors die unnatürliche Stille. Mit hoher Geschwindigkeit raste es um die Kurven in der schmalen High Street, legte sich gefährlich schräg, als es scharf in die Shore Street einbog, fuhr am Hafen entlang und hielt dann abrupt dort, wo die Straße vor der Rettungsbootstation endete. Eine Sekunde später rannte der stämmige Fahrer zum Eingang, den Schlüssel bereits in der Hand.
In dem dunklen Bootsschuppen mit dem hohen Dach fand er ohne weiteres den Lichtschalter, und einen Moment später erstrahlte alles in hellem Licht. Er öffnete bereits das Tor zur Slipanlage, wobei er in das grelle Licht der Scheinwerfer blinzelte, als ihm die neuen Anweisungen einfielen und er leise fluchend wieder zurück zu dem verschlossenen Schrank eilte, wo die Leuchtraketen aufbewahrt wurden. Noch bevor er sie nach draußen bringen konnte, um sie zu zünden, verkündete das Quietschen von Bremsen eine weitere Ankunft, dann noch eine. Mittlerweile würden sie alle auf dem Weg sein, von ihren Piepsern informiert, der Mechaniker, der zweite Steuermann, die diensthabende Mannschaft, die Ersatzmannschaft, die offiziellen Vertreter.
Er zündete die erste Rakete. Sie schoß hinauf in die Dunkelheit, wobei sie in der feuchten, dunstigen Luft nur einen gedämpften rötlichen Schimmer hinterließ. Er blickte auf die Uhr und zündete die zweite genau eine Minute später.
Alarmiert von der Hektik, hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge eingefunden, und die Böllerschüsse würden noch mehr Schaulustige anlocken. Weitere Autos fuhren an der Küste entlang die High Street hinunter und verlangsamten ihr Tempo, als die Sackgasse immer voller wurde.
Alle waren so mit dem Notfall beschäftigt, daß niemand auf das Auto achtete, das oben an der High Street auf die Hauptstraße abbog, die Scheinwerfer ausschaltete und wartete, bis der Strom der Fahrzeuge, die zum Hafen fuhren, vorüber war. Dann fuhr es in nördlicher Richtung aus der Stadt heraus, auf die Landzunge zu, die den sicheren Hafen von Knockhaven von seinem gefährlichen Nachbarn, der Felsbucht Fuill's Inlat, trennte.
Dort, wo die Straße nicht mehr beleuchtet war und nur noch die Scheinwerfer des Autos gegen die Wand des Nebels ankämpften, warf lediglich das Licht des Armaturenbretts einen schwachen Schein auf das grimmige Gesicht der Person am Steuer, die gefährlich unachtsam die schmale Straße entlangfuhr.
Dr. Ashley Randall warf aus ihren auffallend schönen himmelblauen Augen einen kalten, angewiderten Blick auf die dicke Frau, die sich in den Patientenstuhl neben ihrem Schreibtisch gequetscht hatte. Ihre Haut hatte die Struktur von Hafermehl, und sie verzog Mitleid heischend ihre schlaffen Lippen.
»Alles, was recht ist«, sagte sie gerade vorwurfsvoll, »ich wäre besser zu Hause in meinem Bett geblieben, statt mich mit meinem kranken Rücken hierher zu schleppen, wo mir doch jeder Schritt weh tut.«
»Nein, nein, Mrs. Martin, das ist genau das Falsche bei Rückenschmerzen. Wenn Sie sich nicht bewegen, wird es nur noch schlimmer. Und natürlich spielt auch Ihr Gewicht eine große Rolle – habe ich Ihnen eigentlich die Broschüre zur Gewichtsabnahme bei Fettleibigkeit gegeben?« Bei Aggie Martin hatte es keinen Zweck, taktvoll zu sein.
Aggie schnaufte beleidigt, und ihr gewaltiger Busen wogte. Verstockt erwiderte sie: »Ja, Sie haben mir irgendwelche Broschüren gegeben, aber die nützen ja nichts.«
Die Ärztin seufzte und trommelte mit ihren schlanken Fingern auf die Schreibtischplatte. »Nein, wenn Sie ignorieren, was darin steht, dann nützen sie wohl nichts. Was Sie im Moment brauchen, ist regelmäßiges, leichtes Training und zwei Paracetamol, wenn die Schmerzen zu schlimm werden. Dann werden Sie schnell merken, daß es Ihrem Rücken in ein oder zwei Tagen bessergeht.«
»Was ist mit meinem Rezept?« fragte die Frau streitlustig. »Ich habe ein Recht auf ein Rezept –«
»Nicht, wenn Sie keins brauchen«, unterbrach Dr. Ashley sie kühl. Sie stand auf, um anzudeuten, daß die Untersuchung zu Ende war. »So, Mrs. Martin –«
Ein dringliches Piepsen ertönte. Wie immer hob sich ihr der Magen – aus Erregung und aus Nervosität. Sie zog den Piepser aus der Tasche, warf einen Blick darauf und griff sofort nach der Jacke, die an einem Haken an der Tür eines offenen Schranks hinter ihr hing.
»Es tut mir leid«, sagte sie unaufrichtig, »ich muß leider weg – Notruf vom Rettungsboot. Meine Sprechstundenhilfe bringt Sie hinaus.«
Und damit war sie aus der Tür, ohne Aggie Gelegenheit zum Protest zu geben. Und dabei hatte sie doch noch den gräßlichen Schmerz erwähnen wollen, den sie im Magen verspürte, seitdem sie gestern die Blutwurst gegessen hatte.
Hinter der Theke im Eingangsbereich standen die Sprechstundenhilfen wie gewöhnlich zusammen und schwatzten. Sie drehten sich zu ihr um, als sie herauskam – wie Kühe auf der Weide, dachte Ashley verächtlich. Beinahe konnte sie ihre Kiefer mahlen sehen. Sie mochten sie nicht, aber das war ihr egal.
Sie hatte bereits das Handy in der Hand und tippte die Nummer ihres Mannes ein, während sie ihre Anweisungen gab. »Bringen Sie bitte Mrs. Martin hinaus, ja? Wir haben einen Rettungsbooteinsatz, schicken Sie also die übrigen Patienten zu jemand anderem. Wenn es ein Problem gibt, soll Dr. Lewis kommen und mich vertreten.«
Als ihr Mann abnahm, sagte sie: »Lewis? Ich habe einen Notruf. Sie rufen dich an, wenn sie in der Praxis zusätzliche Hilfe brauchen. Alles klar? Tschüs.«
Und schon war sie durch die Tür und wurde vom Nebel draußen verschluckt. Vorher allerdings hörte sie noch das beredte Schniefen von Muriel Henderson, der ältesten Empfangsdame (die zum selben Hexenzirkel wie ihre Schwiegermutter gehörte), und das für ihre Ohren bestimmte »Der arme Dr. Lewis«.
Sie schaltete die Nebelscheinwerfer ein und startete den Wagen. Ihr schwarzer BMW Z4 reagierte mit einem tief befriedigenden Grollen, und ihr Körper begann vor Freude zu prickeln, nicht nur wegen der gefährlichen Aktion, die sie erwartete, sondern auch wegen des anderen gefährlichen Hobbys, dem sie zur Zeit nachging. Ehebruch – kein schönes Wort, aber sie genoß es. Rasch fuhr sie sich mit der Hand durch ihre weichen rötlich-blonden Locken. Sie biß sich auch auf die Lippen, damit sie Farbe bekamen; es war keine Zeit, Lipgloss aufzulegen, wenn man in weniger als zehn Minuten am Einsatzort sein mußte, und wenn sie nicht pünktlich war, sprang sofort ein Ersatzmann für sie ein.
Glücklicherweise lag das Ärztezentrum, das im neueren Teil der Stadt landeinwärts an der Hauptstraße errichtet worden war, nur fünfhundert Meter von der High Street entfernt, und ihr Wohnhaus, das in einer Siedlung mit modernen Einfamilienhäusern stand, war in der anderen Richtung auch nicht viel weiter davon entfernt, deshalb hatte sie bis jetzt noch nie einen Einsatz verpaßt, wenn sie Bereitschaftsdienst hatte. Daß sie sich einen Platz in der dreiköpfigen Mannschaft erobert hatte, hatte sie dafür entschädigt, in diesem gottverlassenen Nest festzusitzen, und es war das einzige, was sie davon abgehalten hatte, Lewis und seine Mutter mit Arsen oder einem schwieriger nachweisbaren Gift um die Ecke zu bringen. Jokaste, wie Ashley ihre Schwiegermutter insgeheim nannte, war schuld daran, daß Lewis sie an den Ort seiner Kindheit verschleppt hatte, als im Ärztezentrum von Knockhaven die Stelle eines praktischen Arztes und eine Teilzeitstelle frei geworden waren. Sie hatte natürlich protestiert, schließlich gefiel ihr ihre Arbeit in einem Krankenhaus in Edinburgh, aber Lewis, der so umgänglich und freundlich war, wenn es um etwas ging, das ihn nicht interessierte, wurde geradezu unerbittlich, wenn es um seine eigenen Interessen ging.
Also konnte er ihr auch keinen Vorwurf daraus machen, daß sie jetzt ihren Neigungen folgte. Ehebruch: Lächelnd formte sie das Wort.
Sie bog gerade in die High Street ein, als sie die erste Leuchtrakete hörte. Sie kicherte. Das war Ritchies Idee gewesen: Auf einem Treffen der Ehrenvorsitzenden des Rettungsbootkomitees hatte er entdeckt, daß sich in Fowey, wo die Raketensignale vor Jahren wie in allen anderen Häfen auch eingestellt worden waren, die Gesamtsumme der Spenden erhöht hatte, weil sie wieder eingeführt worden waren. Das war zwar auf heftigen Widerstand von Willie Duncan, dem Steuermann, gestoßen, aber Ritchie hatte sich durchgesetzt. Das war meistens so. Bei der Erinnerung daran mußte Ashley wieder lächeln.
Als sie in die Shore Street einbog, war ein Auto vor ihr, das sie nicht kannte, also drückte sie anhaltend auf die Hupe. Der Wagen ließ sie vorbei, und sie kam am Rettungsbootschuppen an, kurz bevor die zweite Leuchtrakete in die Luft geschossen wurde.
Draußen war es mittlerweile so dunkel, daß sie nicht mehr richtig sehen konnte, was sie tat. Detective Inspector Marjory Fleming erhob sich vom Boden, wo sie gehockt hatte, reckte ihre schmerzenden Gliedmaßen und trat einen Schritt zurück, um trübsinnig ihre Arbeit zu begutachten. Was für eine dämliche Art, einen ihrer kostbaren freien Tage zu verbringen! Mit dem Pinsel in der Hand wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn, wobei sie die bereits vorhandenen schwarzen Farbspritzer verschmierte.
Normalerweise machte es ihr nichts aus anzustreichen. Normalerweise hätte sie gesagt, daß es einen doch immer wieder mit tiefer Befriedigung erfülle, die Narben des Alltags zu übertünchen und mit frischen, sauberen Wänden von vorne anzufangen, Wänden, die noch keine Spuren von Unfällen, Unachtsamkeit oder verirrten Rugbybällen aufwiesen und deshalb, wenn man es richtig bedachte, eine Art Symbolcharakter hatten. Man ließ die Probleme und Fehler der Vergangenheit hinter sich, und es hatte etwas mit Erneuerung und Hoffnung zu tun.
Der Symbolcharakter heute jedoch sprang einem förmlich ins Auge, und sie war nicht glücklich darüber. Hier, in dem hübschen rosa-weißen Zimmer unter den Dachbalken des Bauernhauses, das früher mit bunten Baumwollvorhängen und einem Patchwork-Quilt, den ihre Mutter genäht hatte, eingerichtet gewesen war, deckte sie gerade die Kindheit ihrer Tochter mit glänzender schwarzer Farbe zu.
Sie gab sich in zweierlei Hinsicht die Schuld: zum einen, weil sie Cat vor sechs Monaten versprochen hatte, sie könne sich die Farbe selbst aussuchen, und zum anderen, weil sie es nicht mehr geschafft hatte, zu einem Zeitpunkt zu streichen, an dem Cat wahrscheinlich noch Blau oder höchstens vielleicht Gelb gewählt hätte. Catriona Fleming war nie ein besonders waghalsiges Kind gewesen; ihre Grundschulzeugnisse spiegelten die vorbildliche, im positiven Sinn altmodische Schülerin wider.
Und Gott möge ihr vergeben, aber Marjory hatte sogar, als sie mit ihrem Mann Bill bei dem abendlichen Glas Whisky zusammensaß, das sie sich genehmigten, bevor er den letzten Rundgang über den Hof machte, gesagt, sie könne gar nicht verstehen, wie sie beide zu einem so besonnenen, ruhigen Kind kämen.
Lakonisch wie immer hatte Bill erwidert, vielleicht seien sie ja beide in ihrer Jugend auch nicht so radikal gewesen wie jetzt.
»Also, das gilt höchstens für dich!« hatte Marjory aufgebracht gesagt. »Kannst du dich noch an mein Alice-Cooper-Poster erinnern?«
»Ja, aber fandest du ihn wirklich gut, oder hast du es nur an die Wand gehängt, um deine Eltern zu ärgern?«
Marjory hatte finster geschwiegen und dann giftig geantwortet: »Habe ich eigentlich jemals erwähnt, wie wenig ich dich in Momenten wie diesem leiden kann?«
Vielleicht war es ja jetzt bei Cat nicht anders. Aber Schwarz!
In den sechs Monaten zwischen dem Versprechen und seiner Erfüllung war die dreizehnjährige Cat mit der Wucht eines Zehntonners von der Pubertät überrollt worden – Brüste, Pickel, Stimmungsschwankungen, grüblerische Zurückgezogenheit und die Art von jugendlicher Taubheit, bei der man Musik nur in einer Lautstärke hören kann, die Wände zum Bersten bringt.
Ihr erster Elternabend in der Kirkluce Academy war ebenfalls ein Schock gewesen, und Marjorys anfängliche Selbstgefälligkeit war schnell erschüttert worden. Cats Klassenlehrer hatte zunächst gesagt, Catriona sei, äh, zweifellos eine begabte Schülerin, und Bill hatte daraufhin lächelnd genickt, aber Marjory, die Tausende von Verhören hinter sich hatte, bei denen es zu ihren professionellen Fähigkeiten gehörte, zwischen den Zeilen zu lesen, erstarrte. Von da an wurde es immer schlimmer: Unaufmerksamkeit, Unpünktlichkeit, Schlampigkeit, unglückselige Freundschaften ...
Und genau da, dachte Marjory grimmig, während sie den Farbeimer verschloß und den Pinsel in ein Marmeladenglas mit Terpentin stellte, lag das Problem – bei der fürchterlichen Kylie.
Kylie MacEwan kam von einer der etwa zwölf Grundschulen, die im Einzugsbereich der Kirkluce Academy lagen, der weiterführenden Schule in der größten Marktstadt in Galloway. Sie lebte mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und zwei ihrer Onkel in einer kleinen Siedlung von Gemeindehäusern am Rand von Knockhaven. Dort wohnten viele anständige Leute, aber die erwachsenen Mitglieder des MacEwan-Clans gehörten nach Marjorys Erfahrung nicht dazu. Der Vater des Kindes, wer immer er sein mochte, schien nicht vorhanden zu sein.
Kylie trug mehrere Metallringe an jedem Ohrläppchen und einen glitzernden Stein am Nasenflügel; es gab auch Gerüchte über weitere, intimere Piercings, was bei einem Kind von dreizehn Jahren ein wenig beängstigend war. Vor allem wenn die eigene ruhige, unschuldige Tochter die beste Freundin war.
Marjory konnte verstehen, wie es dazu gekommen war, und sie fühlte sich auch deswegen schuldig. Die Polizei wurde von den Jugendlichen sowieso nicht gerade mit Zuneigung betrachtet, und nach den Problemen mit der Maul- und Klauenseuche im vergangenen Jahr war Cat wegen der Rolle ihrer Mutter von den Töchtern der anderen Farmer, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, geschnitten worden. Auf einmal stand sie ganz allein da, und Kylie, die von den anderen Mädchen gemieden wurde, weil sie so frühreif war, ging es genauso.
Außerdem verfügte Kylie über einen gewissen Glamour, was selbst Marjory zugeben mußte. Die hennaroten kurzen Haare, der dunkelrote Lippenstift und die Kleidung aus schwarzem Lederimitat, die sie bevorzugte, wenn sie die Schuluniform ablegte, verfehlten ihre Wirkung auf ein leicht zu beeindruckendes Mädchen vom Land nicht. Und sie hatte auch Charme; in ihren dick mit Kajal umrandeten braunen Augen blitzte ein mutwilliges Funkeln, und die vollen Lippen in dem herzförmigen kleinen Gesicht konnten sich zu einem bezaubernden Lächeln formen. Angesichts des familiären Hintergrunds hätte Marjory normalerweise große Sympathie für das Kind empfunden, doch sie fürchtete Kylies Einfluß auf ihre Tochter.
Das schwarze Zimmer war Ausdruck davon. Alles schwarz, hatte Cat trotzig gesagt, als die Familie beim Abendessen in der Küche des Bauernhauses saß.
»Schwarz!« Der erstaunte Ausruf ihrer Mutter löste einen Ausbruch aus.
»Oh, ich wußte ja, daß du dein Versprechen nicht hältst! Du wolltest es doch sowieso nur machen, wenn ich etwas wirklich Tristes aussuche, was dir gefällt. Es scheint dir ja echt Spaß zu machen, mein Leben zu ruinieren!« Tränen der Wut liefen Cat über die Wangen, als sie ihren Stuhl zurückschob und aufsprang.
Ihr Bruder Cameron, der mit seinen elf Jahren noch mehr oder weniger normal war, blickte auf. »Hey, bleib ruhig, ja?« sagte er und widmete sich dann wieder der Riesenportion Spaghetti bolognese auf seinem Teller.
»Cat, ich habe nicht gesagt, du dürftest kein Schwarz haben. Ich war nur überrascht. Aber wenn du dich benimmst wie ein Kleinkind und dich in einen Wutanfall hineinsteigerst, möchte ich nicht mit dir diskutieren. Wenn du aus dem Zimmer stürmen willst, dann tu das. Denk in Ruhe darüber nach in deinem –« Der Knall, mit dem die Tür zugeschlagen wurde, unterbrach ihren Satz, und Marjory führte ihn zu Ende: »– hübschen rosa Zimmer«, wobei sie Bill entschuldigend anlächelte.
»Du lieber Himmel!« sagte er nur und beschäftigte sich damit, seine Spaghetti um die Gabel zu wickeln.
Also bekam Cat ihr schwarzes Zimmer, nachdem sie sich zu einer gemurmelten Äußerung durchgerungen hatte, die man mit viel gutem Willen als Entschuldigung betrachten konnte. Anschließend hatte sie angeboten, mit Kylie zusammen beim Streichen zu helfen, was Marjory jedoch abgelehnt hatte, um ungestört wenigstens Decke und Dachbalken weiß streichen zu können, was im ursprünglichen Plan nicht vorgesehen gewesen war. Wenn es Cat jedoch nicht gefiel, blieb immer noch die traditionelle Alternative.
Marjory blickte sich noch ein letztes Mal in dem halbfertigen Zimmer um und schloß dann schaudernd die Tür.
Die Fenster bei Jackie's, dem kleinen Friseursalon in dem Gewirr von schmalen Straßen, die von der High Street abgingen, waren mit Wasserdampf beschlagen. Drinnen war es gemütlich warm durch die Hitze, die die Föns und Trockenhauben abgaben. Der süßliche Duft nach Shampoo und Haarspray überdeckte beinahe den beißenden Ammoniakgeruch der Dauerwelle bei der alten Mrs. Barclay, deren dünne weiße Haare unter den rosa Lockenwicklern und dem durchsichtigen Tuch fast verschwanden.
Jackie, die dem Salon ihren Namen gegeben hatte, trug wie ihre beiden Angestellten einen Overall in Knallpink. Sie war eine Frau in den Vierzigern, die tiefschwarz gefärbten, brüchig aussehenden Haare sorgfältig hochgesteckt. Selbst unter ihrem dicken Make-up sah man, daß ihre Wangen von der Hitze gerötet waren, während sie gekonnt mit einem Stielkamm die dünnen Strähnen glättete, bevor sie sie mit einem Schwamm mit Dauerwellflüssigkeit bestrich und einrollte. Sie steckte gerade die letzten Lockenwickler fest, als der erste Böllerschuß ertönte.
»Das ist das Rettungsboot!« Sie warf ihrer siebzehnjährigen Tochter Karyn, die gerade Haarbüschel zusammenfegte, einen Blick zu.
»Oh, um Himmels willen, dann muß Willie raus, oder?« sagte Mrs. Barclay mit zittriger Greisenstimme. »Das ist wirklich ein schrecklich gefährliches Geschäft!«
»Ach was!« erwiderte Jackie fest. »Heutzutage gibt es so viele Sicherheitsvorkehrungen an Bord, daß es sich kaum noch von einem Vergnügungsdampfer unterscheidet. Und an so einem Abend ist das Meer glatt und ruhig. Wahrscheinlich ist nur irgendein armer Teufel bei dem Nebel auf Grund gelaufen, und mit dem Radar, den sie auf dem Boot haben, können sie arbeiten wie am hellichten Tag.«
Trotz ihres selbstbewußten Tonfalls huschte jedoch ein Anflug von Angst über ihr Gesicht, als sie Karyn fragte, ob sie ihren Dad gehört habe, als er mit dem Fahrrad vorbeikam.
Karyn schüttelte den Kopf. »Aber er hat doch bestimmt den Böller abgeschossen, oder?«
»Ja, bestimmt.« Während sie mit aufgesetzter Ruhe nach der Flasche mit Dauerwellotion griff, die sie auf Mrs. Barclays rosige Kopfhaut auftragen mußte, krachte der zweite Böller. »Hast du ... hast du ihn heute mittag überhaupt gesehen, Karyn?«
Die Frage war nur beiläufig gestellt, aber der Blick, den ihre Tochter ihr zuwarf, war verständnisvoll. »Ja, hab ich, Mum. Es ging ihm gut, er hat am Schuppen gearbeitet und mit einem Touristenpaar gesprochen.«
Jackie entspannte sich sichtlich. »Na, dann ist es ja gut. Regen Sie sich nicht auf, Mrs. Barclay. Willie ist ein guter Steuermann, schließlich war er ja all die Jahre Skipper auf seinem eigenen Boot, und auch die anderen wissen ganz genau, was sie tun.«
»Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie mit dem kalten Zeug tun, das Sie mir da auf den Kopf schütten«, beschwerte sich die alte Dame. »Ich hole mir ja den Tod!«
Luke Smith stand auf der Pier, die Hände in den Taschen seiner wasserdichten Hose, ließ die schmalen Schultern hängen und blickte untröstlich dem sich entfernenden Heck der Maud and Millicent Dalrymple nach. Das Rettungsboot von Knockhaven war ein Atlantik-75-Schlauchboot, das von allen nur liebevoll Maud'n'Milly genannt wurde, nach den beiden unverheirateten alten Damen, deren großzügiges Vermächtnis den Erwerb des Bootes möglich gemacht hatte.
Einmal war es ihm gelungen, vor Rob Anderson – dem Besitzer des Anchor Inn in der Shore Street, einem früheren Marineoffizier und zweitem Steuermann nach Willie Cox – dazusein, und als Rob eintraf, war er sogar schon in Ausrüstung gewesen. Insgeheim hatte er gehofft, daß Willie ihn vielleicht mitnehmen würde, schließlich war er doch schon auf genug Übungsfahrten dabeigewesen, du liebe Güte, und dieser Einsatz wäre bestimmt eine ideale erste Gelegenheit gewesen – es hörte sich so an, als sei nur irgendein Idiot in der Bucht auf Grund gelaufen. Aber nein, mit einer einzigen Kopfbewegung hatte Willie ihm bedeutet – als geschwätzig hatte man ihn noch nie bezeichnen können –, seine Vorbereitungen einzustellen. Rob hatte ihm einen mitleidigen Blick zugeworfen, als er seine eigene Ausrüstung aus dem Schrank holte, aber er hatte ihm auch nicht angeboten, seinen Platz einzunehmen, oder? Und natürlich war Ashley mal wieder gleich nach Willie dagewesen, wie fast immer. Manchmal würgte sie wahrscheinlich ihre Patienten mitten im Satz ab.
Es war ein Wunder, daß Willie sie überhaupt als ständiges Mannschaftsmitglied akzeptiert hatte. Ein Arzt mochte ja manchmal ganz nützlich an Bord sein, aber nötig war es sicher nicht, und außerdem hatte Willie schon mehr als einmal das alte Sprichwort zitiert, daß drei Dinge auf einem Rettungsboot nutzlos seien – ein Rollstuhl, eine Frau und ein Marineoffizier –, und jetzt stach er mit zweien davon in See. Als Luke einmal so unklug gewesen war, Ashley gegenüber eine Bemerkung deswegen zu machen, hatte sie ihm spöttisch erwidert, Willie zöge offenbar die Grenze beim Rollstuhl, was Luke als Anspielung auf seine Kompetenz empfunden hatte. Bei Ashley spielte natürlich auch eine Rolle, daß sie vom Ehrenvorsitzenden protegiert wurde. Wenn es sich wirklich nur um Protektion handelte, aber das war eine ganz andere Frage.
Im Moment lief es bei Luke nicht so besonders gut. Als er vor zwei Jahren nach Galloway gezogen war, hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Er wohnte gerne auf dem Land, und der Job als Erdkundelehrer an der Kirkluce Academy schien perfekt zu sein. Seine Stelle als Referendar an einer innerstädtischen Schule in Glasgow, eine Art Feuerprobe, die ihm fast den letzten Nerv geraubt hatte, lief aus, und er hatte sich auf die Gelegenheit gefreut, richtig unterrichten zu können, statt in jeder Stunde vergeblich zu versuchen, gegen den Lärmpegel der Klasse anzuschreien, um den Schülern etwas über die vulkanische Geologie Islands beizubringen.
Irgendwie jedoch war alles nicht so gekommen, wie er es sich vorgestellt hatte. Wieder wurde er einer Illusion beraubt, als er feststellen mußte, daß die freundlichen Landkinder genauso unruhig und respektlos ihm gegenüber waren wie die Kinder in der Stadt. Und was ihn noch mehr fuchste, war die Tatsache, daß er im Gegensatz zu Glasgow, wo niemand mit den Kindern zurechtgekommen war, hier zu den wenigen Mitgliedern des Lehrkörpers zählte, die ernsthafte Schwierigkeiten mit der Disziplin hatten.
Er hatte auch angenommen, daß es hier nicht die gleichen Probleme mit sogenanntem Substanzen-Mißbrauch geben würde, aber auch auf dem Land tranken Minderjährige reichlich Alkohol, und daß die Drogenprobleme schlimmer wurden, hatte er schon feststellen müssen. Es war wirklich deprimierend.
Und wenn er sich nicht so für das Rettungsboot engagieren würde, dann hätte er schon längst seine Sachen gepackt und sich nach einem anderen Job umgesehen, am liebsten irgendwo, wo er nie wieder gezwungen gewesen wäre, mit jemandem unter zwanzig zu sprechen. Aber er hatte ein Cottage in einer der holperigen Kopfsteinpflasterstraßen, die den alten Teil des Fischerdorfes umgaben, gemietet, in der Hoffnung, sich vielleicht ein Dingi leisten und ein bißchen segeln zu können, und dann hatte er im Pub die Rettungsbootlegenden gehört, Geschichten von Seenoteinsätzen und gescheiterten Rettungsversuchen, von Wellen hoch wie Hausmauern und Stürmen, die einem den Atem von den Lippen rissen – hochromantische Erzählungen in dieser Zeit der Fußgänger! Und diese Männer waren geachtet, galten beinahe als Helden. Luke sehnte sich nach Respekt.
Es war der stolzeste Moment seines Lebens, als er die Zusage zum Training erhielt. Er war jetzt einer von ihnen, war berechtigt, im Mannschaftsraum im Bootsschuppen zu sitzen, Trainingskurse am RNLI Cowes zu belegen, als Mannschaftsmitglied an Übungen teilzunehmen und Leuten zuzuwinken, die stehenblieben, um bewundernd zuzuschauen. All das gab ihm einen Teil der Selbstachtung zurück, die er nach einem Tag im Klassenzimmer verloren hatte.
Aber auch hier begann er, an sich zu zweifeln. »Immer nur die Brautjungfer, was?« hatte ein grinsender Mechaniker zu ihm gesagt, als sie geholfen hatten, das Boot zu Wasser zu lassen. Es war auch wirklich nicht fair, wo er sich doch so angestrengt und an jedem Trainingskurs teilgenommen hatte.
Die Maud'n'Milly war jetzt nicht mehr zu sehen. Trübsinnig drehte Luke sich um, um in den Schuppen zurückzugehen, als er spöttisches Lachen hinter sich hörte. Eine kleine Gruppe von Schaulustigen – ungefähr fünfzig vielleicht – stand immer noch an der Pier, und darunter sah er auch einige Jugendliche. Es war zu neblig, um sie deutlich zu erkennen, aber das brauchte er auch nicht – es waren bestimmt einige seiner Schüler aus der 12. Klasse, darunter höchstwahrscheinlich auch sein bete noire, Nathan Rettie, der sechzehnjährige Stiefsohn von Rob Anderson. Luke hatte einen größeren Zusammenstoß mit ihm gehabt, der zu Nats Bestrafung geführt hatte, was ihm damals wie ein Sieg erschienen war. Aber später hatte er dafür bezahlt –o ja, er hatte bezahlt.
Würdevoll – so hoffte er jedenfalls – straffte er die Schultern und wandte sich zum Gehen. Etwas pfiff an seinem Kopf vorbei, und er fuhr herum, als ein Stein an die Wand des Schuppens schlug. Die Jungen lachten immer noch, zogen sich aber bereits zurück, und er konnte nichts tun, nichts, das ihn nicht noch alberner und ohnmächtiger hätte wirken lassen.
»Da kommt der Wagen wieder zurück.« Die Frau ließ den Vorhang sinken und trat weg vom Fenster des Cottages oben an der Straße, die hinunter nach Fuill's Inlat führte.
Ihr Mann, der in ein Fußballspiel vertieft war, das gerade im Fernsehen übertragen wurde, grunzte.
»Ich frage mich, was er hier will, an einem solchen Abend. Außerdem fährt er viel zu schnell, wo man kaum die Hand vor Augen sehen kann. Was macht er wohl hier, was meinst du?«
Seufzend erwiderte ihr Mann: »Wahrscheinlich ist es einer von den Arbeitern aus den neuen Häusern, die sie bauen. Er hat seinen Hammer oder so vergessen und hat ihn jetzt geholt.«
»Das wird vermutlich noch öfter vorkommen, wenn die Häuser erst verkauft sind.« Ihr Tonfall klang gereizt. »Dann ist es mit dem ruhigen Leben vorbei. Das wird ein Verkehr wie am Piccadilly Circus.«
Ihre Übertreibung trug ihr einen verärgerten Blick ihres Mannes ein, dann wandte er sich mit finsterem Gesicht wieder dem Fußballspiel zu. Ayr United verlor schon wieder.
Wind war aufgekommen und zerriß den Nebel in Wolkenfetzen, die grau über den nächtlichen Himmel trieben, an dem jetzt die ersten Sterne zu sehen waren. Die Maud'n'Milly fuhr brummend in den Hafen ein, während ein kleines Schnellboot an einem Tau hinter ihr her tanzte. Unter den Bogenlaternen an der Pier wartete Ritchie Elder, Ehrenvorsitzender der Rettungsbootgesellschaft von Knockhaven, eine imposante Erscheinung in seinem blauroten Rettungsboot-Sweatshirt: ein großer, breitschultriger, schlanker Mann mit gut geschnittenen eisengrauen Haaren und immer noch leicht gebräunt von seiner letzten Karibikkreuzfahrt. Seine Augen waren stahlblau, und sein scharfgeschnittenes Kinn signalisierte, daß er wußte, was er wollte und wie er es bekam. Und er hatte Erfolg. Elder's Executive Homes wurden so gebaut, wie er es bestimmte, zu dem Preis, den er festsetzte, und in dem Zeitraum, den er nannte. Mit seinen Geschäftsmethoden, wie er gerne bemerkte, machte er sich vielleicht nicht unbedingt beliebt, aber sie hatten ihm Reichtum verschafft, und Freunde konnte man sich doch immer kaufen.
Jedesmal wenn »sein Boot« sicher wieder in den Hafen einlief, war er erleichtert. Heute abend war es eine einfache Entscheidung gewesen, das Rettungsboot auf Anfrage der Küstenwache hinauszuschicken, aber bei stürmischer See lastete manchmal eine schwere Verantwortung auf ihm. Letztendlich hatte der Steuermann natürlich das Sagen, aber daß ein Seemann sich geweigert hätte, auf einen Hilferuf hinauszufahren, hatte es noch nie gegeben.
Die Maud'n'Milly legte an. Ein Mann mittleren Alters und eine Frau, eingehüllt in silberne Thermodecken, saßen im Heck; die Frau erhob sich mit zitternden Knien, als Willie den Motor abstellte und zu ihr trat, um ihr zu helfen, die Eisenleiter zur Pier hinaufzuklettern. Ihr Übergewicht machte sie ungeschickt, und sie mußte beinahe hochgeschoben werden. Elder trat vor und reichte ihr die Hand, als sie den Übergang von der Leiter auf die Pier erreicht hatte.
»Jetzt sind Sie in Sicherheit«, sagte er und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern.
Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Na, bei ihm brauche ich mich dafür bestimmt nicht zu bedanken«, sagte sie und blickte sich wütend nach dem Mann um, der ihr mit schuldbewußtem Gesichtsausdruck auf der Leiter gefolgt war. Zu allem Unglück trug er auch noch eine Kappe, auf der vorne in großen Buchstaben »Skipper« stand.
Elder unterdrückte ein Grinsen und führte sie zum Schuppen, wo sie eine Tasse Tee bekommen würden und die Chance hätten, ihre Auseinandersetzung in gemütlicherer Atmosphäre fortzusetzen. Dann ging er wieder zum Boot. »Wie ist es gelaufen?« rief er.
Ashley Randall hatte ihren Helm abgenommen, und ihre Haare fielen ihr lockig von der feuchten Luft über die Schultern. Ihre Wangen waren rosig vom frischen Wind. Sie hatte gerade Taue aufgewickelt und blickte jetzt lächelnd auf. Im grellen Licht konnte er sehen, daß ihre Augen funkelten, wahrscheinlich vor Erregung. Rückblickend oder aus Vorfreude?
»Ein Kinderspiel«, antwortete sie. »Sie hatten doch wahrhaftig kein Benzin mehr, deshalb sind sie abgetrieben. Und dann kam der Nebel, und da er keine Seekarten dabeihatte, dachte sie, sie würden gegen die Felsen getrieben und untergehen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie ihm das mindestens schon eine Stunde lang mit voller Lautstärke unter die Nase gerieben, ehe wir kamen.«
»Ich kann nicht behaupten, daß sie unbedingt der Typ Mädchen ist, bei dem ich mir wünschte, kein Benzin mehr zu haben, aber die Geschmäcker sind ja verschieden. Okay, Willie? Sollen wir sie hochziehen?«
Willie hatte den Motor wieder angelassen. »In Ordnung«, sagte er über die Schulter, und Ashley kletterte geschickt die Leiter hinauf. Sie stellte sich neben Elder auf die Pier, ihre gelbe Öljacke stand offen unter der orangefarbenen Rettungsweste. Rob Anderson, der in das kleine Schnellboot gesprungen war, um es zu vertäuen, tauchte weiter hinten an der Pier auf und kam auf sie zu, wobei er im Gehen seine Weste auszog.
»Ich bin jetzt weg, wenn Sie nichts dagegen haben, Sir. Katy ist heute abend allein in der Bar, und ich kriege Fleißpunkte, wenn ich vor dem Abendbetrieb zurück bin. Den Bericht bekommen Sie dann von Willie.«
»Na, davon wüßte ich aber was«, erwiderte Elder trocken, und der andere Mann lachte.
»Na ja, gut, dann eben von Ashley. Aber es gibt eigentlich nicht viel zu berichten – nur das übliche unwichtige Zeug. Manche Leute sollte man besser gar nicht erst auf ein Boot lassen.«
Er verschwand im Schuppen, um seine restliche Ausrüstung abzulegen. An der Slipanlage hatten sich schon Schaulustige versammelt, die beobachteten, wie Willie das Boot so geschickt heranmanövrierte, daß das Kabel der Winde daran befestigt werden konnte. Elder und Ashley blieben allein auf der Pier zurück. Instinktiv traten sie aus dem Lichtkegel der Laterne, hielten jedoch bewußt Distanz zueinander. Allerdings stand er nahe genug, daß sie ihn murmeln hörte: »Heute abend?«
Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Ich muß meinen Mann anrufen und ihm Bescheid sagen, daß ich wieder da bin.« Sie sprach absichtlich so laut, daß jeder sie hören konnte. »Er macht sich immer solche Sorgen, der Gute!«
Dieses Mal wählte sie jedoch nicht seine Handynummer, sondern rief auf dem Festnetz zu Hause an. Nach einem Moment legte sie auf. »Ach«, sagte sie, »er ist bestimmt zum Abendessen zu seiner Mutter gegangen. Ich störe sie besser nicht, falls sie gerade essen.«
Sie warfen sich einen Blick des Einvernehmens zu, dann gingen sie zur Slipanlage, wo die Maud'n'Milly gerade Stück für Stück aus dem Wasser gezogen wurde.
»Wie lief es mit Willie?« Seine Stimme klang ein wenig besorgt. Sie hatte ihm vor einiger Zeit ihre Befürchtungen mitgeteilt.
»Kein Problem heute abend«, versicherte sie ihm. »Und sieh dir an, wie er sie hineingebracht hat – Rob mag ja als zweiter Steuermann in Ordnung sein, aber er würde einen Riesenaufstand darum machen. Und Willie kennt die Küste wie seine Westentasche – wenn man erst drei Jahre hier lebt, hat man dieses Wissen einfach nicht. Rob ist auf jeden Fall nicht halb soviel Seemann wie Willie, ganz gleich, in welchem Zustand er ist.«
»Es ist vermutlich auch ein großer Unterschied, ob man auf einem Zerstörer oder in einem Fischkutter zur See fährt. Aber trotzdem – riskier bitte nicht deine Sicherheit – oder die von jemand anderem.«
»Nein, das verspreche ich dir. Aber bei gefährlichen Manövern ist er eben unerreicht.«
»Ach, ich weiß nicht.« Er blickte sie nicht an, lächelte aber. »Auf dem Gebiet finde ich mich selbst auch nicht so übel.«
»Da fährt schon wieder eins!« Die Frau erreichte das Fenster zu spät, um das Auto noch zu sehen, das die Straße nach Fuill's Inlat hinunterfuhr. »Also, die müssen ja heute jede Menge Hämmer vergessen haben, wenn du recht hast.«
»Das wird ein gutes Training für dich, Jeanie, allabendlich ständig aufzuspringen, wenn sie die Häuser erst verkauft haben.« Da seine Mannschaft verloren hatte, war er äußerst schlecht gelaunt. »Du gewöhnst dich besser schon einmal daran, kann ich dir sagen.«
»Und sieh mal – jetzt biegt schon wieder einer von der Hauptstraße ab!« Jeanies Stimme war schrill. »Eins von diesen neumodischen großen, tollen Dingern, die aussehen wie kleine Lastwagen mit großen Reifen.«
Das weckte beinahe das Interesse ihres Mannes. »Das wird der Bauunternehmer sein – dieser Elder. Er fährt einen von diesen großen Mitsubishis. Demnächst eröffnen sie das Musterhaus – vielleicht zeigt er es ja schon mal jemandem.«
»Dann müssen wir uns also damit abfinden, daß sie nicht nur tagsüber hier rauf und runter fahren, sondern auch noch nachts? Der Bauverkehr war schon schlimm genug, aber wenn es jetzt auch noch nachts anfängt – na ja, ich werde wohl noch mal bei der Stadtverwaltung anrufen, obwohl die einem ja auch nicht helfen können.«
Plötzlich sprang Ron auf und ging aus dem Zimmer. Sie starrte ihm nach. Kurz darauf kam er wieder zurück, einen Wattebausch in der Hand.
»Stopf dir das in deine Lauscher, damit du nichts mehr hörst«, sagte er brutal. »Sonst hole ich dir das nächste Mal Pflaster für deinen Mund aus dem Badezimmer!«
Dorothy Randall fand, er sah heute abend müde und irgendwie gestreßt aus, was die ewige Flamme des Hasses, den sie für ihre Schwiegertochter empfand, noch ein bißchen mehr zum Lodern brachte, als sie mit ihrem Sohn in ihrer viktorianischen Villa, The Hollies, am Rand von Knockhaven am Abendbrottisch saß. Sie hatte die Kerzen in dem Silberleuchter auf dem nachgemachten georgianischen Eßtisch angezündet; das Zimmer mit der gestreiften Tapete im Regency-Stil wirkte dann immer besonders warm und einladend, fand sie, vor allem, wenn die schweren roten Samtvorhänge vor dem Erkerfenster zugezogen waren.
Es war ziemlich hektisch nach seinem Anruf gewesen, weil sie soviel zu tun hatte, aber irgendwie hatte sie es doch geschafft, das Essen zuzubereiten und sich auch noch umzuziehen, in ein hellblaues Twinset, mit ihrer Perlenkette natürlich, und den dazu passenden Rock. Sie war stolz darauf, daß sie für ihren Sohn immer ruhig und gepflegt aussah – ohne deshalb ihre Prinzipien aufzugeben. Ashleys Vorstellung von einer richtigen Mahlzeit schien darin zu bestehen, ein Fertiggericht auf dem Teller zu servieren, statt es direkt aus der Folienverpackung zu essen, dabei mochte Lewis, der arme liebe Junge, doch so gerne leckere, nett angerichtete Hausmannskost.
Da sie heute abend erst zwei Stunden vorher Bescheid bekommen hatte, hatte sie nur einen Apfelkuchen aus dem Tiefkühler nehmen und zwei Steaks zum Auftauen in die Mikrowelle legen können. Das tat sie nicht gerne, aber es ging wenigstens schnell, und sie hatte rasch noch eine Käsesauce zum Blumenkohl gemacht – das mochte er so sehr. Und sie sah ihm so gerne beim Essen zu, beobachtete, wie er mit seinen Arzthänden geschickt das Fleisch zerteilte. Sie verschlang ihren Sohn mit den Augen und rührte ihr eigenes Steak kaum an, als würde sein Anblick allein ihren Hunger stillen. Er sah so gut aus, mit seinen dunklen, welligen Haaren und den blauen Augen mit Wimpern so lang und dicht wie bei einem Mädchen – und er war so ein guter Junge, schließlich war er gegen den Willen dieser Harpyie, der es irgendwie gelungen war, ihn zu umgarnen, zu seiner Mutter zurückgekehrt. Oh, er sagte nicht viel – Lewis war immer schon sehr zurückhaltend gewesen –, aber seine Mutter spürte, was er bei dieser Frau durchmachte. Er war viel zu gutmütig, das war das Problem, und setzte ihren ständigen Forderungen einfach nichts entgegen. Sie hatte schon von Muriel Henderson gehört, wie sie sich in der Praxis aufführte – und auch, wie sie sich draußen benahm.
Ob er wohl wußte, was alle behaupteten, daß sie ihn zum Narren machte? Und nicht nur ihn, nein auch ihre Schwiegermutter; Lewis würde ja niemand etwas offen ins Gesicht sagen, aber es gab durchaus Leute, die unverschämt genug waren, ihr gegenüber Andeutungen fallen zu lassen. (»Es ist sicher nicht einfach für den armen Dr. Lewis, daß seine Frau so mit ihren Freunden vom Rettungsboot beschäftigt ist.«) Sie taten dann immer mitleidig, obwohl sie auf solche Bemerkungen nur sehr kühl reagierte.
Sie hatte es nicht gewagt, ihrem Sohn etwas davon zu sagen. Sie und Lewis standen sich zwar nahe, aber über seine Ehe redete er nicht mit ihr. Sie sah nur manchmal, wie schwierig es für ihn war, aber er behielt seine Probleme für sich, so wie er es schon als kleiner Junge getan hatte, und sie hatte jahrelang mit ihrer Meinung über Ashley hinter dem Berg gehalten, um der Frau keinen Vorwand zu geben, gegen sie zu sticheln. Wenn sie es falsch anfing, wenn Lewis dem Überbringer der schlechten Nachricht die Schuld gab, war alles umsonst gewesen. Jahrelang hatte sie im verborgenen daran gearbeitet, diese katastrophale Ehe zu beenden, aus der offensichtlich nie der Sohn hervorgehen würde, den Lewis so sehr verdient hatte, oder das Enkelkind, nach dem sie sich verzehrte. Ashley war eben kein mütterlicher Typ, wie sie einmal lachend zu Dorothy gesagt hatte.
»Du hattest heute frei, nicht wahr? Mußtest du in die Praxis, um Ashley zu vertreten?« Muriel hatte ihr erzählt, wie oft das passierte.
Er schüttelte den Kopf. »Sie hat mir Bescheid gesagt, aber es wäre ein bißchen kompliziert gewesen, wenn sie mich wirklich gebraucht hätten. Ich bin von St. Ninian's Cave zur Isle of Whithorn gewandert – der Blick auf Burrow Head war spektakulär, als die Landschaft langsam im Nebel verschwand –, und als ich zurück kam, war die Sprechstunde schon längst vorbei.«
»Wann kommt denn das arme Mädchen heute abend nach Hause?« fragte Dorothy mit aufgesetzter Munterkeit. »Es ist so ein anstrengendes Hobby, nicht wahr?«
Lewis seufzte. »Ich glaube nicht, daß sie es so sieht. Ein Hobby kann man aufgeben, wenn es einen zu sehr beansprucht. Sie beschreibt es eher als eine Art Berufung – der Ruf des Meeres, so in etwa.« Er lächelte kläglich. »Ehrlich gesagt, den Symptomen nach kommt es mir eher wie eine Sucht vor.«
»Wahrscheinlich ist es so, als gehörte man einem sehr exklusiven Club an, oder? Ja, das kann wirklich süchtig machen – weißt du noch, wie schrecklich wichtig es dir als kleinem Jungen war, zu dem Geheimclub zu gehören, der gerade angesagt war, mit all den Paßwörtern und geheimen Ritualen?«
»Du liebe Güte, Mutter, wie lange ist das denn schon her? Ja, ich erinnere mich – das hat Spaß gemacht!« Er lächelte versonnen.
Scheinbar konzentriert schnitt sie ein Stück von ihrem Steak ab und sagte so beiläufig wie möglich: »Und natürlich schließt man auch enge Freundschaften, wenn man bei so etwas mitmacht, nicht wahr? Diese Aufregung und Spannung in lebensbedrohlichen Situationen schafft besondere Bindungen zwischen den Menschen, mit denen man arbeitet, sehr intime Beziehungen ...«
Sie war zu weit gegangen. Lewis blickte sie aus kalten blauen Augen scharf an. »Oh, ich glaube, Ashley kann ganz gut damit umgehen. Das Steak war sehr gut, Mutter. War es vom Metzger in der Shore Street? Ashley und ich entschuldigen es immer mit Zeitmangel, daß wir nur Fertiggerichte kaufen, aber eigentlich ist ein Steak ja ganz schnell und einfach zubereitet.«
»Und es schmeckt auch viel besser, nicht wahr?« Dorothy erhob sich, um die Teller abzuräumen. »Und jetzt gibt es selbstgebackenen Apfelkuchen. Mit richtiger Vanillesauce natürlich.«
Also hatte er auch etwas gehört. Wenn es – Entwicklungen gab, wie sollte sie diese am besten nutzen? Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie in die Küche ging.
Ashley Randall saß am Fußende des breiten Bettes im luxuriösen Elternschlafzimmer des Musterhauses von Elder's Executive Homes und hakte ihren weißen Spitzenbüstenhalter zu. Im angrenzenden Badezimmer kämmte sich Ritchie vor dem Spiegel die Haare.
»Ich muß mich entschuldigen, daß das Wasser zum Duschen noch nicht angeschlossen ist«, rief er über die Schulter. »Wenn ich darauf bestanden hätte, wären sie mißtrauisch geworden. Es hat ja schon Gerede gegeben, weil ich das Haus so früh eingerichtet habe.«
»Lewis ist wahrscheinlich noch bei seiner Mutter, und wenn er schon wieder zu Hause ist, kann ich immer noch sagen, ich hätte in der Station nicht geduscht, weil ich so schnell wie möglich bei ihm sein wollte.«
»Meinst du, das kauft er dir ab?«
»Er glaubt mir alles. Das gefällt mir eigentlich am besten an ihm.«
Elder trat aus dem Badezimmer. »Bist du dir sicher? Blöd ist er eigentlich nicht.«
»Nein, das stimmt. Aber er ist zufrieden – er denkt, die Welt ist zu seinem Wohle eingerichtet, und er kann sich nicht vorstellen, daß irgend etwas seine Vorstellungen zerstören könnte.«
Sie stand auf und schlüpfte in ihre cremefarbene Seidenbluse. Er legte die Arme von hinten um sie, knöpfte sie auf und küßte ihren Nacken. Lächelnd löste sie sich von ihm. »Nein, Ritchie«, schimpfte sie mit gespielter Strenge. »Wir werden ein bißchen zu übermütig.« Sie knöpfte ihre Bluse wieder zu und zog sich die Hose an.
Elder seufzte. »Wenn du meinst. Wann kann ich dich wiedersehen?«
»Nun – es wird so bald keinen Einsatz geben, oder?« Sie blickte sich in dem luxuriösen Zimmer mit dem weichen Licht, dem dicken Teppichboden und dem falschen Pelzüberwurf auf dem Bett um. »Und was wollen wir überhaupt machen, wenn die Häuser hier verkauft werden? Es ist doch bald soweit. Irgendwo ins Hotel zu gehen ist viel zu riskant, dazu kennt man uns beide hier in der Gegend zu gut, und ich bin aus dem Alter heraus, es auf einem Autorücksitz zu treiben. Auch wenn es ein komfortabler Mitsubishi ist.«
»Hmm. Ich werde mir also etwas überlegen müssen.«