Der Autor

Marc Raabe – Foto © Gerald von Foris

Marc Raabe, 1968 geboren, arbeitete viele Jahre lang als Geschäftsführer und Gesellschafter einer TV- und Medienproduktion. Heute widmet er sich ausschließlich dem Schreiben. Seine Thriller mit Kommissar Tom Babylon, zuletzt erschien DIE HORNISSE, sind regelmäßig auf der LITERATUR SPIEGEL-Paperback-Bestsellerliste zu finden. Raabes Romane sind in über zehn Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Das Buch

»I love you all«, ruft der gefeierte Rockstar Brad Galloway seinen 22.000 Fans in der Berliner Waldbühne zu. Plötzlich tritt eine unbekannte Frau ins Scheinwerferlicht und überreicht ihm einen mysteriösen Umschlag. Am nächsten Abend wird Galloways ausgeblutete Leiche ans Bett gefesselt im Gästehaus der Polizei gefunden. LKA-Ermittler Tom Babylon wird zum Tatort gerufen und fahndet gemeinsam mit der Psychologin Sita Johanns nach der unbekannten Frau. Die Spur führt dreißig Jahre zurück – zu einer heimtückischen Kindesentführung mit dem Decknamen »Hornisse« – und zu einer Frau, die zwischen zwei Männern stand. Beide waren bereit zu töten. Einer sinnt noch heute auf Rache. Und das kann Tom Babylon alles kosten, was er liebt.

Marc Raabe

Die Hornisse

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Paperback
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© 2020 by Marc Raabe
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Gerald von Foris
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2446-3

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Widmung

Standing in the middle of the road is very dangerous;
you get knocked down by the traffic from both sides.
Margaret Thatcher

Prolog

Berlin, Waldbühne
Freitag, 18. Oktober
21:38 Uhr

Seine Nerven sind gespannt wie eine Bogensehne. Der DIN-A4-Umschlag, den er unter dem Innenfutter seiner Jacke versteckt hält, macht ihn nervös. Ihm ist warm, er weiß, dass er nach Schweiß riecht.

Er zeigt ein weiteres Mal seinen scheckkartengroßen Ausweis, wobei er versucht, seine Augen im Schatten der Mütze zu halten. Die zwei Typen nicken unterkühlt. Winken ihn durch. Der eine rümpft die Nase. Und so was nennt sich Security! Er hört schon die Fragen der Polizei. Die spitzen Formulierungen, den Vorwurf, dass ihnen doch etwas hätte auffallen müssen. Vermutlich werden die zwei ihren Job verlieren. Vielleicht verlieren auch noch andere ihren Job. Selbst schuld, wenn man einer blöden Plastikkarte glaubt.

Er geht zwischen mannshohen Absperrgittern das letzte Stück durch den Wald. Links, hinter dem Sichtschutz, sind die Massen. 22 290 Menschen, schreiend, jubelnd, sich im Takt wiegend und klatschend.

Gut, dass er sie nicht hört.

Gut, dass er fast gar nichts hört von all dem Aufruhr.

Er wirft noch einmal einen Blick auf das Foto in seinem Handy, prägt sich das Gesicht der Frau ein. Ende dreißig, blond. Ein wirklich hübsches Gesicht, das muss er zugeben. Aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Er steckt das Handy wieder ein. Der Ausweis schaukelt an dem langen blauen Band um seinen Hals. Die Bäume über ihm greifen in den dunklen Himmel. Der Umschlag unter seiner Jacke wiegt schwer, obwohl er recht leicht ist. Im Inneren ist etwas Längliches, Rechteckiges – so viel konnte er ertasten. Was ist länglich, rechteckig und »von zerstörerischer Kraft«?

Denn genau das war das Versprechen gewesen, der Umschlag sei »von zerstörerischer Kraft«. Mehr hat er bei der Übergabe nicht erfahren.

Schweiß läuft ihm zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Die Schaumstoffpfropfen in seinen Ohren drücken. Er hasst das taube Gefühl, das sie im Kopf machen. Doch noch mehr hasst er den Lärm, der hier herrscht. Ohne die Pfropfen in den Ohren würde ihn das alles irremachen.

Er bremst seine Schritte. Die Rückseite der Bühne liegt vor ihm, ein Klotz aus Stein und Beton, der noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt. Für die Zuschauer ist das hässliche Ding nicht zu sehen, von vorne dominiert das geschwungene weiße Dach der Waldbühne mit seinen zeltartigen Spitzen. Direkt am Hintereingang sind ein paar Dixi-Klos aufgestellt; für alle Fälle. Laminierte Zettel mit den Namen der Künstler kleben an den Türen.

Brad Galloway.

Er wünschte, die Hornisse könnte ihn jetzt sehen, könnte Zeuge sein, wie er alles ins Rollen bringt. Der Gedanke lenkt ihn für einen Moment ab. Was nicht gut ist. Er muss weiter. Erst der Umschlag, dann alles andere. Am liebsten hätte er, dass es heute gleich weitergehen würde. Aber das ist nicht der Plan.

Nervös betritt er den Gang. Roher Beton. Der Tunnel der Stars. Wer hier schon alles durchgelaufen ist!

Er öffnet den Reißverschluss seiner Jacke. Der Umschlag ist wattiert, die Oberfläche steif und glatt, sie knistert leise.

Länglich, rechteckig, von zerstörerischer Kraft.

Was könnte das sein? Plastiksprengstoff? Das würde passen. Semtex oder so was. Er will auf keinen Fall in der Nähe sein, wenn der Umschlag geöffnet wird. Denn er wird schnell geöffnet werden, allein schon wegen des roten Stempels. Urgent! – Dringend. Wie dieser Song von Foreigner aus den Achtzigern. Das war zwar etwas vor seiner Zeit, aber mit Musik kennt er sich aus. Die Melodie ist sofort in seinem Kopf.

Got fire in your veins.

Burnin’ hot – but you don’t feel the pain.

Der Tunnel endet und vor ihm öffnet sich die Bühne. Licht pulsiert. Strahlen schneiden den Nebel in Scheiben. Vor seinen Augen explodiert ein Farbspektakel, Galloway und seine Band mittendrin, dahinter erheben sich die dicht besetzten Zuschauerränge des riesigen Amphitheaters.

Er kneift die Augen zusammen und mustert die Ränder der Bühne. Wo zum Teufel ist jetzt die Frau?

Eine Gruppe Menschen steht im Schatten eines Boxenturms; offenbar die Backstageloge für Groupies, Lakaien und Manager. Er läuft darauf zu, versucht im Streiflicht die Frau auszumachen. Der wattierte Umschlag scheint seltsam heiß zu werden zwischen seinen Fingern.

Wer sagt eigentlich, dass das Semtex erst hochgeht, wenn der Umschlag aufgerissen wird? Es könnte auch ein Zeitzünder sein. Oder ein Fernzünder …

Zuzutrauen wär’s ihm.

Er muss das Ding loswerden. Sofort.

Von links kommt eine Kamera herangeflogen, auf einem federnden Metallarm vor die Brust des Kameramanns geschnallt. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Linse ihn erfassen kann, huscht er beiseite. Das Bild der Steadicam erscheint groß wie ein Haus auf dem Screen an der Rückwand der Bühne und zeigt Galloways Rücken vor einem Meer aus Fans.

Ein paar Schritte noch, dann ist er bei der kleinen Menschengruppe am Rand der Bühne, und plötzlich sieht er sie. Kein Zweifel, das ist die Frau auf dem Foto. Nur ihr Gesichtsausdruck ist anders, irgendwie bedrückt. Fast tut sie ihm leid. Sie wäre besser wirklich nicht hier.

Fuck. Zweifel sind das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Die Hornisse hat das alles hier zu verantworten, niemand sonst. Ohne sie wäre das alles nie passiert. Also Umschlag übergeben und weg hier. Die Bühne vibriert. Die Frau steht da, wiegt mechanisch die Hüften, hat nur Augen für Galloway.

Er stupst sie an und hält ihr seinen Ausweis unter die Nase. »Hey. Ich soll ihm das geben«, brüllt er, hebt den Umschlag und deutet auf Brad Galloway.

Sie runzelt die Stirn, sagt etwas, doch durch die Ohrstöpsel versteht er nichts.

»Du triffst ihn doch gleich, in der Garderobe, oder?« Er tippt auf den roten Stempelaufdruck. »Ist dringend!«

Sie zuckt mit den Schultern, wirkt unschlüssig. Er nutzt den Moment und drückt ihr den Umschlag in die Hand. »Danke!«

Bevor sie etwas erwidern kann, dreht er sich um und lässt sie stehen. Auf der Treppe nimmt er jeweils drei Stufen auf einmal. Bloß nicht zur falschen Zeit am falschen Ort sein.

Konsterniert starrt sie auf den Umschlag in ihrer Hand. Was bitte war das gerade? Was bildet der Typ sich ein! Sie hat weiß Gott andere Themen, als auch noch den Kurier zu spielen.

Brads Stimme holt aus und hebt ab. Der Jubel von über zwanzigtausend Menschen schwillt an. Sie bekommt eine Gänsehaut. Sieht seine Hand, fest ums Mikrofon, hätte sie gerne woanders und schämt sich zugleich dafür. Seine Lippen berühren die Waben des Mikros, winzige Tröpfchen sprühen im Gegenlicht. Wie kann in einer Stimme so viel Seele sein?

Die Gänsehaut will und will nicht gehen.

Das wollte sie auch damals nicht. Sie hatte unten in der ersten Reihe gestanden. Es wäre besser gewesen, er hätte sie nicht gesehen. Es wurde ein fünf Tage langer gemeinsamer Rausch.

Geteilte Einsamkeit.

Gegen das Gefühl von Verlorensein anvögeln, und gleichzeitig war es so viel mehr gewesen. Ein kurzer Traum von Liebe. We are all broken, that’s how the light gets in. Brads Worte. Cohen, Hemingway, wer auch immer das geschrieben hatte, er musste Brad in die Seele geschaut haben.

Die Zwanzigtausend singen mit ihm. Für ihn. Wie zwanzigtausend Geliebte. Als würden sie alle ihre Erinnerung und ihre Gefühle teilen. Dabei gibt es niemanden, der so viel mit ihm teilt wie sie. Sie müsste es ihm nur sagen.

Die Waldbühne liegt Brad zu Füßen, und sie fragt sich, ob es nicht besser wäre zu gehen. Aber da ist der Umschlag. Sie schaut auf den Stempel. Urgent!

Plötzlich spürt sie seinen Blick. Er hat sie gesehen und streckt die Hand nach ihr aus, winkt, was so viel heißt wie: »Komm her zu mir!« Die Kamera wirft ihn riesengroß auf die Leinwand.

Sie schüttelt den Kopf, hält sich am Umschlag fest, will im Schatten bleiben. Er singt weiter, die Stimme dunkel und samtig, und er winkt erneut.

Bleib bloß weg. Ich kann nicht.

Die Sticks wirbeln auf dem Schlagzeug, die Musik schwillt zu einem gigantischen Finale an. Der letzte Gitarrenschlag geht im Jubel von Tausenden Kehlen unter. Schwärme von Handys leuchten auf der Tribüne.

Galloway brüllt: »Thank you! I love you all!«

So was von peinlich. Die billigste aller Liebeserklärungen. Und trotzdem funktioniert es, auch bei ihr.

Plötzlich steht er vor ihr. Die Steadicam fliegt auf sie zu. Sie wendet ihr Gesicht von der Kamera ab, drückt ihm dabei den Umschlag vor die Brust. Er lacht, packt sie, zieht sie heran, ohne dass sie sich wehren könnte, betrachtet den Umschlag in seinen Händen und runzelt die Stirn.

»Where have you been«, murmelt er, den Mund dicht an ihrem Ohr.

Sie antwortet nicht.

22 290 Menschen rufen: »Zu-ga-be!«

Er reißt den Umschlag auf, langsam, und sieht sie dabei an, als wäre der Umschlag ein Geschenk von ihr. Denkt er das wirklich? Sie sollte ihn aufklären.

Das Ratschen des Papiers geht im Lärm unter.

Warum wartet Brad nicht, bis er in der Umkleide ist?, denkt sie.

Gleich ist er offen.

Wieso eigentlich Urgent? Was kann so wichtig sein, dass er es hier auf der Bühne öffnen soll? Ein seltsames Gefühl beschleicht sie. Der Mann, der ihr vorhin den Umschlag gegeben hat, war seltsam. Die dunkle Kleidung, die Schirmmütze, der strenge Geruch von Schweiß. Aber so sind Roadies, oder?

Der Umschlag ist offen.

Brads Blick ist ein Fragezeichen.

Er fasst hinein. Zieht eine längliche, rechteckige Metalldose heraus und runzelt erneut die Stirn. Mit einer raschen Bewegung öffnet er die Dose und blickt hinein. »What the fuck …?« Mit einem Ausdruck zwischen Ekel und Verblüffung hält er ihr die Dose hin, als ob sie erklären könne, was das sein soll.

In der Aluminiumdose liegt eine kleine weiße Vogelfeder in einem Bett aus geronnenem Blut. Die Härchen sind verklebt und an manchen Stellen im dunklen Bodensatz eingetaucht, als wäre die Feder ausgeblutet und im eigenen Saft erstarrt.

Kapitel 1

Berlin-Reinickendorf
Samstag, 19. Oktober
02:14 Uhr

Gar nicht so lange her, denkt er, da gab es auch in Deutschland noch Todesurteile. Amtlich, mit Stempel. Getippt im Zwei-Finger-Suchsystem auf buckligen Schreibmaschinen mit Durchschlagpapier und ausgeführt im Verborgenen, von Soldaten ohne Uniform. Wenn man denkt wie ein Soldat, wird das Töten ganz normal.

Er legt die dritte leere Heparin-Spritze neben das Einmachglas auf dem kleinen Tisch.

Die Knoten hat er wie im Schlaf gebunden. Segelschein, mit fünfzehn. Was Boote hält, das hält alles.

Er holt einen Stuhl heran, setzt sich und betrachtet sein Werk.

Ein Lächeln kräuselt seine Lippen. Teufels Werk gegen Gottes Beitrag.

Er zieht das Messer aus der Scheide. Die Latexhandschuhe sitzen spack an den Fingern. Wie sich alles in der blanken Klinge spiegelt! Das Zimmer mit den vergilbten Vorhängen, das Bett mit dem Überwurf, der nach Staub und Mief riecht, die Seile, die sich zitternd spannen, und wenn er das Messer richtig hält, spiegelt sich darin sogar sein eigenes Gesicht.

Sein Lächeln wird hart, und er steht auf, tritt ans Bett heran, ignoriert das dumpfe Geheule, packt zu und schneidet. Das Textilklebeband auf dem Mund bläht sich, als wollte der Knebel herausspringen.

Das Einmachglas auf dem Tisch will gefüllt werden.

Also rein damit.

Dann klappt er den Deckel zu und schließt die Metallspange am Glas. Ihm ist, als ob das Gummi leise seufzt.

Er sollte Formaldehyd dazugießen, dann wird es sich länger halten.

Er setzt sich wieder hin, hält das Glas mit spitzen Fingern am Deckel, sodass er gut seinen Inhalt betrachten kann. Das Bett vor ihm ruckelt. Panisch rutschen die Pfosten in kleinen Schritten über den Boden.

Vor, zurück. Vor. Zurück, zurück.

Nach einer Weile wird das Bett still.

Und das im Gästehaus der Polizei.

Gott, das wird sie fuchsen!

Kapitel 2

Berlin-Kreuzberg
Samstag, 19. Oktober
17:48 Uhr

Tom legt seinen Sohn auf den Rücken, hebt ihn an den kurzen, immer noch speckigen Beinen etwas hoch und schiebt ihm die Windel unter den Po. Es riecht nach Chlor. Die verbeulten und mit Aufklebern übersäten Stahlschränke in der engen Umkleide der Kreuzberger Welle passen eher in einen Boxclub als in das beschauliche Kiez-Schwimmbad.

Phil gluckst und strahlt ihn an, er hat sich glücklich und müde geplanscht. Der Kleine liebt Wasser; der einzige und beste Grund für Tom, mit ihm den Schwimmkurs zu besuchen. Er ist allein unter Frauen hier, was ja an sich nichts Schlimmes wäre, doch seit sich unter den Müttern herumgesprochen hat, dass er beim LKA in der Mordkommission arbeitet, können ein paar der Mütter ihre Neugier kaum bremsen.

Ob er mit diesem schrecklichen Berlinale-Fall zu tun gehabt habe? – Was? Tatsächlich? – Ach, ob er denn diesen Dr. Bruckmann vom LKA persönlich kenne? Der sei doch nach der Schießerei am Holocaust-Mahnmal geflohen … eine Schande sei das, was er da angerichtet hat. Ob die Polizei denn gar keine Ahnung habe, wo er steckt? Und warum eigentlich der Rücktritt von Bürgermeister Otto Keller, das sei doch mehr als verdächtig, oder etwa nicht?

Tom hat mit Kursbeginn auf Durchzug geschaltet und gibt abweisende Antworten. Es gibt nichts, was er sagen könnte – selbst wenn er wollte. Bruckmann ist und bleibt verschollen, und die Anschuldigungen gegen Keller sind zu diffus, um in einen Prozess zu münden. Doch Toms Schweigen führt bisher nur dazu, dass die betreffenden Mütter ihr Bemühen noch steigern, in einer Art seltsamem Wettbewerb, wer von ihnen wohl den stillen Kommissar knacken wird. Hinter einer spanischen Wand in der Eingangshalle hat er heute vor Beginn des Kurses ein Gespräch von Regina, Bozana und Claudia mitbekommen.

»Glaubt ihr, der ist wirklich verheiratet?«, fragte Regina, die älteste der drei Mütter. »Ich meine, ich seh den immer nur mit dem Jungen alleine.«

»Die Frau heißt Anne, glaube ich«, meinte Bozana, eine Polin mit auffallend guter Figur, die mit rot geschminkten Lippen ins Wasser ging und nie untertauchte.

»Ein Jammer«, seufzte Claudia.

»Muss doch nichts heißen, gibt bestimmt einen Grund, warum diese Anne nie mit dabei ist«, sagte Regina. »So ’nen Kerl … Also ich würde den nicht allein zum Schwimmkurs gehen lassen. Allein die Größe …«

»Welche Größe meinst du denn jetzt, Schätzchen?«, kicherte Bozana.

»Na, eins neunzig ist der doch mindestens.«

»Ach, die Größe.«

»Wobei«, meinte Claudia, »vielleicht sollte ihm mal jemand sagen, dass Dreitagebart nicht mehr in ist.«

»Wieso? Blonder Dreitagebart, ist doch sexy.«

»Wenn er nur nicht so still wäre.«

»Groß, blond, blaue Augen und still! Was wollt ihr denn mehr?«, echauffierte sich Bozana.

Claudia prustete spöttisch. Je mehr sie etwas wollte, desto mehr kleidete sie ihre Wünsche in Ablehnung – was alle wussten. »Der Engel vom Revier. Mehr Klischee geht nicht, oder?«

»Wenn mich Mr Klischee doch glücklich macht …«, sagte Bozana.

Bevor Tom mit anhören muss, was Bozana noch alles glücklich macht, hat er sich in die Männerumkleide verzogen, die vor und nach dem Kurs seine Fluchtburg ist. Die Momente, die er allein mit seinem Sohn hat, sind ohnehin viel zu selten, nicht zuletzt wegen seines Jobs.

Phil strampelt mit den Beinen. Tom hält eines davon fest, prustet ihm unter die Fußsohle, und in Phils kleinem Gesicht explodiert ein unbändiges Lachen, das Toms Herz erwärmt.

Gerade als Tom die Klettverschlüsse der Windel schließen will, klingelt sein Handy. Er angelt nach der Tasche, die hinter Phil liegt, beugt sich über ihn, bekommt das Handy zu fassen und spürt, wie es nass und warm an seiner Brust wird.

Oh nein, bitte nicht!

Mit der freien Hand drückt Tom rasch die Windel in Phils Schritt, aber es ist schon zu spät.

»Babylon«, seufzt Tom ins Telefon und betrachtet den Fleck auf seinem Hemd.

»Grauwein«, ahmt Peer Toms Seufzer nach.

»Haha«, erwidert Tom trocken. Grauweins spontane Witzelei ist eins, doch die Tatsache, dass der Kriminaltechniker ihn nach Dienstschluss anruft, verheißt nichts Gutes. »Ich hab frei«, knurrt Tom, klemmt das Handy zwischen Schulter und Ohr und schließt die Windel.

»Ich auch«, sagt Grauwein. »Und die Dispo übrigens auch. Weshalb Morten mich gebeten hat, dich anzurufen.«

»Großartig. Und?«

»Er will dich hier. Sofort.«

Tom presst die Lippen aufeinander. Seit Joseph Morten zum stellvertretenden Dezernatsleiter befördert worden ist, paart sich seine Stinkstiefeligkeit mit einem unangenehmen direktiven Ton. »Sag ihm, ich kann jetzt nicht.«

»Sag’s ihm selbst«, erwidert Grauwein. »Er dreht gerade am Rad.«

»Was zum Teufel ist denn los?« Tom kitzelt Phils kleinen Fuß und schneidet ihm eine Grimasse.

»Eine Leiche im Gästehaus der Polizei.«

»Wo?«, stutzt Tom. »Im Gästehaus …? Ist da nicht gerade die Forensik-Weiterbildung?«

»Genau.«

»Wie schlimm ist es?«

»Doppelschlimm«, sagt Grauwein. »Eine Riesensauerei. Dazu kommt, die Leiche liegt seit gestern hier, und keiner hat’s gemerkt.«

Kein Wunder, dass Morten am Rad dreht, denkt Tom. Ein Mord, und nebenan tagt das halbe Dezernat 11 für Tötungsdelikte, gemeinsam mit Kollegen aus den anderen Bundesländern. »Und das Opfer?«, fragt Tom. »Schon identifiziert?«

Grauwein zögert einen Moment, schließlich sagt er leise. »Das wirst du nicht glauben.«

Tom hat plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Da ist sie wieder, die alte Falle, die seine Furcht zuschnappen lässt wie ein Fangeisen. Mit einem Mal hat er Viola vor Augen, seine kleine Schwester, die im Alter von zehn Jahren spurlos verschwunden ist. Wie oft hat er schon geglaubt, zu einem Tatort zu kommen und vor Violas Leichnam zu stehen. In seinen Albträumen sieht Vi dann nicht einen Tag älter aus als damals. »Ich komme«, sagt er heiser und legt auf.

Er hört nicht mehr, dass Grauwein ihn noch fragt, ob er nicht wissen wolle, wer das Opfer sei.

Nein, wolle er nicht, wäre Toms Antwort gewesen.

Manchmal geht die Furcht, Viola tot aufzufinden, Hand in Hand mit einem Funken Hoffnung, dann könnte alles endlich ein Ende haben.

1989

Kapitel 3

Stahnsdorf bei Berlin
2. Mai 1989
17:48 Uhr

Oh Gott, Violas Gesicht hinter der Scheibe – vollkommen verweint! Und wie Tom mit seinen fünf Jahren neben ihr saß, ihre winzige Hand hielt, eine zornige, angestrengte Falte auf seiner glatten Stirn. Seine blauen Augen blickten verzweifelt suchend aus dem Seitenfenster.

Zwei lange Stunden.

Es zerriss Inge das Herz.

Was war sie nur für eine furchtbare Mutter?

Sie öffnete die Hintertür des Wagens. »Schatz!«

Tom presste die Lippen aufeinander, und sie nahm sein Gesicht in beide Hände. »Es tut mir leid. So, so leid.« Die zornige Falte auf Toms Stirn wich einer gewissen Erleichterung.

Inge ließ ihn los und nahm Viola auf den Arm, die ihren zarten, wuscheligen Blondschopf an ihre Wange drückte und schluchzend Luft holte. Inge wiegte sie unter Toms kritischem Blick hin und her. Der Regen wurde stärker, und Viola und sie wurden pitschnass. Inge warf einen Blick zurück zum Haus. Oben im Fenster, im ersten Stock, stand Benno und sah ihr zu. Hinter der Spiegelung in der Scheibe konnte sie sehen, wie er eine harsche Bewegung mit der Hand machte: Verschwinde da, schnell!

Hier konnte sie nicht bleiben. Wenn sie jemand sah!

»Schätzchen, wir müssen los«, murmelte sie und setzte Viola hastig neben Tom auf die Rückbank, in die selbst gebaute Sitzschale. »Mami ist gleich für euch da, ja? Habt noch ein bisschen Geduld.«

Tom nahm ganz automatisch Violas Hand. Die Kleine hielt sich an ihm fest, als gäbe es auf der Welt nichts außer seiner Hand. Sie schluchzte kurz auf, doch immerhin: Sie weinte nicht mehr.

Inge warf die Tür zu, lief um den Wagen und setzte sich hinter das Steuer der DS. Was hatte sie sich nur gedacht? Der futuristisch anmutende grüne Citroën war wie ein bunter Hund unter all den Trabis und Wartburgs auf den Straßen. Die Spitzel hatten Ohren und Augen überall. Sie hätte sich einen anderen Wagen leihen sollen, vielleicht den Trabi von Wolf und Susanne.

Sie wendete im Hof und fuhr durch das Tor auf den Feldweg. Im Rückspiegel wurde der Hof zitternd kleiner. Wenn sie jemand gesehen hatte, würde es Fragen geben. Und Fragen waren schlecht. Fragen erregten Aufmerksamkeit. Sie blickte erneut in den Rückspiegel. Ein Schlagloch ließ den Citroën schaukeln, und sie sah für einen Moment ihren Hals im Spiegel. Die Schminke verdeckte den dunkelroten Fleck unterhalb des Ohrs nur unzureichend. Sie würde nachlegen müssen, bevor sie Werner unter die Augen trat. Wenigstens hatte sie vernünftige Schminke, im Gegensatz zu den meisten anderen. Dass Werner und sie im Friedrichstadt-Palast arbeiteten, hatte weiß Gott Vorteile. An Westschminke zu kommen war einer davon. Der Citroën war ein anderer.

Wasser spritzte zu beiden Seiten aus einer Pfütze. Werner würde fragen, woher der Dreck am Wagen kam. Ihr fiel das alte Handtuch im Kofferraum ein. Das müsste reichen, um gleich in der Stadt die schlammigen Spritzer fortzuwischen.

Der Wagen holperte ein letztes Mal, dann bog sie scharf auf die Straße ein.

»Mama, wieso fährst du so schnell?«, fragte Tom.

Schnell? Inge sah auf den Tacho und erschrak. Sie hatte es nicht einmal bemerkt, so sehr war sie in Gedanken.

»Entschuldige, Schatz, du hast recht.« Sie nahm den Fuß vom Gas, und die DS wurde langsamer. Fehlte noch, dass die Polizei sie wegen überhöhter Geschwindigkeit anhielt. Auch die Meldungen der Vopo landeten am Ende bei der Stasi. Mit Ortsangabe.

»Mama?«

»Ja, Schatz?«

»Was ist das an deinem Hals?«

»Das? Ach, das ist nichts.« Im Rückspiegel sah sie, wie Tom die Stirn runzelte. Fünf Jahre und schon der reinste Lügendetektor.

Sie stellte das Radio an. RIAS. Eine lakonische, unaufgeregte Stimme verlas Nachrichten aus dem Westen. Sie hasste den Mist, den die DDR-Parteisender von sich gaben. Wenn, dann stellte sie das Radio immer auf Westfunk. Jetzt erklärte der Sprecher, dass in Ungarn offenbar gerade Grenzposten Löcher in den Zaun an der Grenze zu Österreich schnitten. Im ersten Moment überkam sie eine plötzliche Freude – nein, Hoffnung. Das war ein Dammbruch. Gut, vielleicht nur ein erster Riss, aber dabei würde es nicht bleiben. Doch dann sank ihr Mut. Das konnte nur Blödsinn sein! Eine löchrige Grenze. Das würde niemand erlauben. Wäre das wahr, dann würden sich Tausende und Abertausende aus der DDR absetzen. Sie schnaubte. Auch der Westen machte Propaganda mit Falschnachrichten. Das würde nichts an ihren Plänen ändern. Sie musste raus hier. Und Benno war ihre Fahrkarte.

Benno hatte zwei Seiten. Die, die sie magisch anzog, und die andere, manchmal etwas düstere Seite, die sie nicht weniger anziehend fand. Es machte schließlich etwas mit einem, wenn man wie er ständig Zeit unter der Erde verbrachte und Tunnel grub. Sie erinnerte sich noch genau an den Abend, an dem sie Benno Kreisler kennengelernt hatte, in einer Wirtschaft, nach einer Aufführung im Friedrichstadt-Palast. Beim dritten Bier hatte er sie angesehen, die Zigarette aus dem Mund genommen und leise gesagt: »Das ist nichts für dich hier,
oder?«

»Was?«, hatte sie gelacht. »Tanzen?«

Er nahm den letzten Schluck aus seiner Bierflasche und ließ den Zigarettenstummel in den Flaschenhals fallen. Interessiert drehte er die Flasche hin und her, als würde er ein eingesperrtes Insekt betrachten. Ein letzter Rest Glut leuchtete durch das braune Glas. Als sich ihre Blicke trafen, da hatte sie gewusst, dass er sie besser verstand, als Werner es je tun würde.

Schuldbewusst sah sie in den Rückspiegel zu ihren Kindern.

Sie stellte das Radio aus und fuhr eine Weile schweigend, dann fielen ihr die Pfützen an der Potsdamer Allee ein. Tief und groß. Das könnte gehen, auch ohne Handtuch. Sie fuhr einen kleinen Umweg, lenkte den Wagen durch die Pfützen, wendete und fuhr noch mal rauschend durch die Wasserlachen. Ein Hoch auf die schlechten Straßen. Der Mangel an Asphalt hatte auch etwas Gutes.

»Was machst du, Mama?«

»Ach, ich bin heute etwas schusselig. Ich bin falsch abgebogen.«

»Ist Papa zu Hause?«

»Ich weiß nicht, Schatz«, sagte Inge. »Wart mal, ich muss kurz was schauen.«

Sie hielt am Straßenrand an, stieg aus und begutachtete die Kotflügel. Keine Dreckspritzer mehr. Gut so!

Sie stieg zurück in den Wagen, wollte gerade losfahren, doch dann drehte sie sich um und sah Tom mit ernstem Blick an. »Schatz, du musst mir etwas versprechen. Es ist ganz doll wichtig.«

»Was denn, Mama?«

Gott, wie hoch seine Stimme klang. Wie klein. Fünf Jahre! Ob er verstehen würde, was hiervon abhing?

»Ich will, dass du Papa nichts von unserem Ausflug sagst, ja? Auf gar keinen Fall.«

»Warum?«

»Weil es wichtig ist. Und wenn Papa dich fragt, sag einfach, wir haben Susanne besucht, ja?«

»Aber wir waren doch gar nicht bei Susanne.«

Himmelherrgott!, flehte sie still. »Schatz, ich weiß. Aber es ist wirklich wichtig, sonst kriegen wir Ärger.«

»Schlimmen Ärger?«, fragte Tom.

»Sehr, sehr großen Ärger. Versprichst du’s mir?«

Tom schwieg einen Moment. Dann nickte er bedächtig, auf eine kindliche Art geradezu feierlich, als wüsste er um den Ernst der Lage. Vielleicht, dachte Inge, hat er auch nur die Panik in meiner Stimme bemerkt. Wie auch immer, Toms blaue Augen waren klar wie Bergseen, und er sah sie unverwandt an. »Gut, Mama.«

Sie seufzte. Ein kurzer Moment der Erleichterung. Tom war einfach ein Seelchen.

Kapitel 4

Berlin-Kreuzberg
Samstag, 19. Oktober
18:16 Uhr

Tom hebt Phil sanft aus dem Kindersitz. Der Kleine ist auf der Rückfahrt eingeschlafen.

»Alles okay?«, fragt Anne leise, als er mit Phil auf dem Arm die Wohnung im Erdgeschoss des Heckmannufers betritt. Wortlos lädt Tom die Tasche mit den Schwimmsachen an der Garderobe ab und bettet Phil auf das Sofa. Seine finstere Miene ist Anne Antwort genug.

»Die nächste Leiche, hm?« Anne breitet eine dünne Wolldecke mit Tiermotiven über Phil aus. Eisbären, Tiger und Füchse. »Können eure Toten nicht mal zu normalen Arbeitszeiten auftauchen?«

»Normal ist eine Erfindung der Gewerkschaften«, erwidert Tom. »Damit haben die Toten nichts am Hut.«

»Gott«, seufzt Anne. »Ich werde schon genauso zynisch wie du.« Sie gibt ihm einen Kuss und fasst mit den Fingern in seine noch feuchten Haare. »Weiß man schon, wer?«

»Interessiert’s dich wirklich?«

»Hast recht, ich will’s gar nicht wissen. Ich wollte nur …«

»… freundlich sein«, sagt Tom mit Anne im Chor. Dieser Satz ist in der letzten Zeit zum ironischen Ritual zwischen ihnen geworden. Sie haben sich eisern vorgenommen, sich wieder mehr füreinander zu interessieren. Zwischen dem Umsorgen von Phil, Toms Polizeiarbeit und Annes Job als Cutterin beim Fernsehen bleibt wenig Zeit für sie als Paar; es gibt allenfalls kurze Abende, an denen sie meist todmüde und wortkarg sind. Auch heute sieht Anne aus, als hätte sie kaum geschlafen, was vielleicht auch daran liegt, dass sie gestern Abend mit einer Freundin um die Häuser gezogen ist. Eine Art Befreiungsschlag, der nur noch selten stattfindet. »Was ist das eigentlich für ein Fleck auf deiner Brust?«, fragt sie.

Tom ist bereits auf dem Weg ins Bad im Souterrain und knöpft sein Hemd auf. »Ein kleiner Unfall«, ruft er, wäscht sich ab und zieht kurzerhand das Hemd vom Vortag an, das noch im Bad liegt.

»Ich muss los«, ruft er. »Wart nicht auf mich, ja?«

»Ich sprech mal mit den Gewerkschaften«, seufzt Anne. »Vielleicht reden die ja doch mal mit deinen Toten.«

Kurz darauf biegt Tom von der Ruppiner Chaussee auf das Gelände der Polizei Berlin in Reinickendorf, auf dem auch die Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienstakademie liegt. Er hält an der Pforte und weist sich als LKA-Ermittler aus. Ein uniformierter Beamter vergleicht das kleine biometrische Foto mit Toms Gesicht, dann inspiziert er mit neugierigen Blicken den alten dunkelblauen S-Klasse-Benz. »Schickes Ding«, murmelt er anerkennend. Seine Nase steht schief, wie nach einem schlecht verheilten Treffer bei einem Faustkampf.

»Säuft nur zu viel«, brummt Tom.

»Tun wir das nicht alle?«, grinst der Beamte.

Nicht alle, denkt Tom. Aber Polizist sein will verdaut werden, und eine Kopfschmerztablette reicht vielen nicht. Der Beamte hat begriffen, dass Tom nicht zu Scherzen aufgelegt ist, nickt ihm zu und winkt ihn durch. Der Diesel schnurrt dunkel beim Anfahren. Dass der Wagen sechsunddreißig Jahre alt ist – ebenso alt wie Tom –, merkt man dem Motor nicht an.

Puh, kichert Viola auf dem Beifahrersitz. Wenn der noch länger hier reingestarrt hätte, dann hätte er mich vielleicht sogar entdeckt.

»Das wär doch mal was«, murmelt Tom.

Der Sitz neben ihm ist leer, und doch sitzt dort seine kleine Schwester, gerade so, als wäre sie aus Fleisch und Blut; eine quietschfidele Zehnjährige mit strubbeligen blonden Locken, bekleidet mit einem etwas zu großen Schlafanzug in Altherrenmuster.

Es gab Phasen in Toms Leben, da war Viola fast ganz verschwunden. Nur um sich bei der nächsten Gelegenheit wieder in sein Leben zu schleichen. Oft wird er sie dann wochenlang nicht los, hört sie, sieht sie und fällt zurück in die Zeit, als er Vi Tag und Nacht gesucht hat.

Jetzt komm schon, sagt Vi. Ich versuch dich nur aufzumuntern. Du hast doch nicht ernsthaft gedacht, dass ich das Opfer bin, oder?

Gedacht nicht, eher gefühlt.

Tom Babylon, seufzt Vi mit sorgenvoller Miene. Wann wirst du endlich erwachsen?

Statt zu antworten, lässt Tom auch auf ihrer Seite die Scheibe herab. Der Geruch von alten Fichten weht ins Auto. Die Oktobersonne steht tief und sticht zwischen den Bäumen hindurch. Lichtflecken huschen durch das Wageninnere. Als sich der Wald teilt, taucht das rote Ziegeldach des Gästehauses der Polizei auf. Die Reifen machen ein flatterndes Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster. Das weitläufige Gästehaus ist ein niedriger, weiß verputzter Bau mit hohem rotem Satteldach. Das Gebäude hat eine T-Form; der hintere linke Flügel verschwindet hinter einem Gerüst und wird offenbar gerade saniert. Putz und Dachschindeln sind mehr als nur in die Jahre gekommen.

Auf dem Rasen vor dem Haus parkt die für Kapitalverbrechen übliche Mischung: Leichenwagen, Notarzt, Kriminaltechnik, zwei Streifenwagen und zivile LKA-Fahrzeuge; dazu Sita Johanns’ goldfarbener Saab. Die große, schlanke Psychologin steigt gerade aus dem Wagen. Tom parkt direkt hinter ihr.

»Hey, Sita.«

»Hallo, Tom.« Ihre dunklen Augen blicken ruhig. Sita ist Halbkubanerin, ihr Teint zeugt noch vom Sommer, mit einem intensiven Bronzeton. Ihre raspelkurzen schwarzen Haare betonen ihr markantes Gesicht und die Brandnarbe, die von ihrem linken Ohr bis zur Wange verläuft. Für einen Moment meint Tom einen Hauch von Alkohol wahrzunehmen, der von Sita ausgeht. Doch sie wirkt absolut klar und nüchtern. Er ist vermutlich der einzige Mensch unter den Kollegen, der weiß, dass Sita eine seit vielen Jahren trockene Alkoholikerin ist.

»Weißt du schon irgendwas?«, fragt Tom.

Sita schüttelt den Kopf. »Nur dass Morten nervös sein wird, Grauwein seine ekelhaften Bonbons rauskramt und Frohloff grinst, als gäb’s den Tod nicht, und sich beim Nachdenken den letzten Flaum vom Kopf kratzt.«

»Familientreffen also«, sagt Tom und lächelt schief. »Spricht für den Sonderstatus der Leiche.«

»Oder den des Fundorts«, ergänzt Sita und deutet auf das Gästehaus. Das Gebäude und der umliegende Weg sind provisorisch mit Flatterband abgeriegelt. »Das Gelände ist doch so etwas wie ein Sperrgebiet. Nur Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrleute. Und auch die kommen nicht ohne Ausweis am Pförtner vorbei.«

»Was Morten vermutlich doppelt nervös macht«, sagt Tom. Er nimmt weiße Plastikfüßlinge aus dem Handschuhfach seines Wagens und zieht sie über seine Stiefel, dann zwängt er seine großen Hände in Latexhandschuhe. Sita tut es ihm gleich. »Hast du das von Interpol mit Bruckmann gehört?«, fragt sie.

»Nein, was denn?«

»Frohloff hat eine Meldung über I-24/7 bekommen, Bruckmann wäre in Kapstadt gesehen worden.«

»Südafrika«, murmelt Tom. »Warum ausgerechnet da?«

»Wahrscheinlich hat Bruckmann irgendeine alte ANC-Verbindung genutzt, um dort unterzutauchen.«

Tom hebt das Flatterband für Sita hoch und taucht dann nach ihr darunter durch. »Die DDR hatte Verbindung zu Nelson Mandelas Antiapartheidsbewegung?«

»Oh ja. Bis dann 89 die Mauer fiel. Hochschulausbildungen, paramilitärische Ausrüstungen, Waffen … Wer weiß, wen Bruckmann da noch von früher kennt. Er hatte es schon immer raus, die richtigen Leute zu kennen und jeden und alles zu manipulieren. Erinnerst du dich, er hat mich damals in unsere erste gemeinsame Soko geholt, damit ich dich unter Kontrolle halte.«

»Der große Puppenspieler«, sagt Tom bitter.

»Der große Narzisst«, erwidert Sita. »Hast du zufällig den Epstein-Fall in den USA verfolgt?«

»Dieser schwerreiche Kinderschänder?«

»Bruckmann erinnert mich irgendwie an ihn. Nicht nur, weil er der ›Teufel‹ war und als junger Mann über Jahre Mädchen eingesperrt, missbraucht und getötet hat, was wir ihm vermutlich nie beweisen können. Aber vor allem wegen seiner Fähigkeit, so überzeugend zu sein, dass er glaubt, mit allem durchzukommen.«

Der Kies knirscht unter ihren Schritten. Sie laufen am Rand des Weges, um keine Spuren zu verwischen.

»Vermutlich kriegen wir ihn nie«, knurrt Tom.

An der Tür des Gästehauses erwartet sie ein blasser junger Streifenpolizist mit unstetem Blick.

»KHK Babylon, meine Kollegin Johanns.« Tom hält ihm seinen Ausweis hin.

Der Polizist nickt. »Ich soll Sie reinbringen.« Seine Stimme flattert. Der Tatort hat ihn mitgenommen.

Wortlos passieren sie den Empfang und biegen nach links ab. Billige alte Holztäfelungen wechseln sich mit Tapeten aus den Siebzigern ab. Hirschgeweihe und ausgestopfte Wildtiere zieren die Wände. Das Gästehaus der Polizei ist berüchtigt für seine angestaubte Inneneinrichtung. Tom fasst in seine Jackentasche und will eine Methylphenidat-Tablette aus dem Blister drücken, entscheidet sich dann aber dagegen, auch deshalb, weil er weiß, dass er die Dinger viel zu oft nimmt, um wach und auf Spur zu bleiben. Er muss an den Beamten beim Einlass denken: Tun wir das nicht alle?

Nach einem langen Gang mit Gästezimmern kommen sie zu einer Staubschutztür aus weißem Vlies. Dahinter liegt der stillgelegte Flügel des Hauses, in dem Bauarbeiten stattfinden. Der Flur liegt im Halbdunkel, die Lampen sind demontiert, die Tapeten von den Wänden gekratzt und die Holztüren mit Beize behandelt. Der Geruch von Chemikalien und Feuchtigkeit steigt Tom in die Nase. Am Ende des Ganges dringt Licht aus einer offenen Tür.

»Immer den Scheinwerfern nach«, murmelt der Polizist. Tom strafft die Schultern und holt tief Luft. Sita ist dicht hinter ihm. Der erste Moment am Tatort ist immer der härteste. Am besten atmet man ihn weg. Er nickt Sita zu, und sie betreten das Zimmer.

Im Raum ist es gleißend hell, die Einrichtung ist unberührt. Vor einem halb geöffneten Fenster weht eine vergilbte Gardine. Kleine gelbe Plastikschilder mit schwarzen Zahlen sind im Raum verteilt. Eine alte Schirmlampe mit Troddeln ziert eine Anrichte aus dunklem Holz. Der Parkettboden ist stumpf, ein staubiger kreisrunder Teppich mit einem spießigen Muster ist etwas verrutscht und gibt ein helleres Stück Boden preis. Auf dem Teppich steht ein Stuhl, der auf das Bett ausgerichtet ist, ein antiquiertes Holzbett mit schweren Pfosten und poliertem Kopf- und Fußteil. Mittig über dem Bett prangt ein ausgestopfter Hirschkopf an der Wand. Peer Grauwein steht mit verschränkten Armen neben dem Bett und schaut einem Arzt zu, vermutlich dem bestellten Gerichtsmediziner, der sich über einen Körper beugt. Tom hört, wie Sita leise aufstöhnt, und sieht aus dem Augenwinkel, dass sie sich abwendet.

Auf dem Bett sitzt mit dem Rücken zum Kopfteil ein wachsbleicher Mann, etwa Anfang vierzig, nur mit einem aufgeknöpften Hemd bekleidet. Sein Kopf hängt schlaff zur Seite, sein Blick ist erstarrt und dabei seltsam neutral. Um seine Mundpartie ist silbernes Klebeband gewickelt, das an den Rändern in seine Haut einschneidet. Seine Arme und Beine sind gespreizt und jeweils mit straff gespannten Seilen an die Pfosten des Bettes gebunden. Um die Hüften und den Oberkörper sind weitere Seile geschlungen, die ihn in der sitzenden Haltung fixieren. Auf seine Brust ist mit einem breiten Stift etwas geschrieben worden, in schwarzen Druckbuchstaben, doch der Anfang und das Ende sind vom Hemd verdeckt. Zwischen seinen nackten Beinen hat sich ein tiefroter, fast schwarzer Fleck von der Größe eines Wagenrades auf der Matratze ausgebreitet. Dort, wo sein Glied sein sollte, ist ein dunkler Stumpf.

»Mein Gott«, stöhnt Sita.

»Ist okay. Ich mach das hier drinnen«, murmelt Tom. »Das musst du dir nicht geben.«

»Darum geht’s nicht«, erwidert Sita.

»Nicht?«

»Doch, auch … aber – erkennst du ihn nicht?«

»Du weißt, wer das ist?« Tom schaut in das fahle Gesicht des Mannes und versucht vergeblich, eine Verbindung herzustellen.

Der Arzt richtet sich auf und schaut Tom verwundert an.

Grauwein räuspert sich und tritt neben Tom. »Das ist nicht irgendwer«, setzt er mit rauer Stimme an. »Das ist –«

»Brad Galloway«, platzt es aus Sita heraus.

»Das ist Galloway?« Tom erinnert sich, den Namen oft gehört zu haben, meistens im Radio oder im Zusammenhang mit der ein oder anderen Fernsehshow, aber wenn es um Gesichter von Stars aus der Musikszene geht, dann kann er bestenfalls Mick Jagger von Lady Gaga unterscheiden – ganz im Gegensatz zu Anne.

»Irische Wurzeln, in die Staaten ausgewandert, Spätzünder. Mit dreißig entdeckt und dann ging’s sssst.« Grauweins Hand deutet steil nach oben. »Gold, Platin, Grammys, alles, was das Künstlerherz begehrt. Er müsste jetzt etwa vierzig sein. Vor ein paar Jahren war er im Gespräch für die Halbzeitshow des Superbowl, aber am Ende hat Bruno Mars das Rennen gemacht.«

Tom nickt still. Er schaut den Arzt an. »Darf ich?«, fragt er und nimmt dem Mediziner einen Kugelschreiber aus dessen Brusttasche, dann beugt er sich über Galloway und schiebt mit der Spitze des Stiftes das Hemd beiseite, sodass er die schwarze Schrift auf Galloways Brust lesen kann:

WAS ZÄHLT DAS LEBEN DEINER LIEBEN?