ISBN: 978-3-99074-109-2
2. Auflage 2020, Marchtrenk, Österreich
© 2020 Verlag Federfrei
Umschlagabbildung: Richard Semik, Adobe Stock
Lektorat: S. Bähr
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Dieser Thriller ist reine Fiktion. Namen und Personen, verschiedene Ereignisse, Orte und Zeiten sind teilweise real, teilweise erfunden. Manche Menschen sind real, andere fiktiv.
Ähnlichkeiten der erfundenen Figuren mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
»Nichts in dieser Welt ist vollständig.
Das Ganze stets hinter endlosen Bildern verborgen.
Es sind die Bruchstücke, die Fragmente, die unser Sein prägen.
Unsere Geschichten, unsere Schicksale.
Und unsere Angst.«
Ich sprang über den Rand der Laderampe und verließ das Betriebsgelände. Niedergeschlagen schlurfte ich den Schotterweg entlang zu meiner alten Klapperkiste und hoffte im Stillen, dass sie anspringen möge. Der Werktag war vorbei. So, wie jeder verfluchte Tag einmal vorbeiging. So, wie er immer enden würde. Bis in alle Ewigkeit. Ohne Sinn, ohne Verstand, ohne jede Vernunft. Es war ein grässlicher Tag gewesen. Daran konnte auch die kräftige Herbstsonne nichts ändern, die sich unerbittlich über meinem Haupt ergoss. Ich schloss den Wagen auf und begab mich auf den Heimweg. Dreißig Minuten Asphalt lagen vor mir. Dreißig Minuten Wahnsinn. Ich drehte das Radio an und ließ den Tag gedanklich noch einmal Revue passieren. Doch ich fand nichts, was sich zu erinnern lohnte. Nur Leere. Nur der Drang, dem zu entfliehen.
Clara war perfekt. Und so fühlte sie sich auch, als sie sich gemütlich in die Kaschmirdecke schmiegte und den nahenden Abend herbeisehnte. Die Abende waren immer großartig. Ganz zu schweigen von den Nächten. Schon bald würde sie sich schick machen für die heutige Party. Sie liebte Partys. Den Champagner, die tolle Musik, die Männer, die sie mit Komplimenten überschütteten. Den Luxus zu tun, was auch immer ihr beliebte.
Im Stillen bedauerte sie die Kreaturen, die sich tagtäglich dem Joch der Arbeit hingaben. In ihrer Welt spielte der Existenzkampf keine Rolle. Philip hatte ins »C3« geladen. Nur das stand im Fokus. Ach, was für ein herrlicher Abend würde das werden. Eisgekühlter Wodka aus der Drei-Liter-Magnumflasche, tolle DJs und jede Menge Verehrer. Was sollte sie nur anziehen?
Ich nahm an meinem üblichen Tisch Platz und bestellte ein Glas Bier. Es war der erste Genuss des ganzen Tages. Das Bier, das geschmeidig in meinen Körper eindrang. Ich kam regelmäßig hierher und war so etwas wie ein Faktotum. Eine zur Gewohnheit gewordene Randerscheinung für die hier verkehrenden Menschen. Doch es waren nicht die Leute, die mich interessierten. Es war das Leben an und für sich. Das Kommen und Gehen. Das stetige Treiben in einer unaufhaltsamen Welt. Nur wenige blieben dauerhaft sitzen und gaben sich den Genüssen des Gerstensafts voll hin. Nur wenige? Nun, wohl kaum einer außer meiner bescheidenen Wenigkeit. Doch gerade das machte mir Spaß. Dieser endlose Fluss, der nirgends hinführte. Ein Glas Wein hier, ein Schnaps dort. Niemand blieb lange. Die Konventionen erlaubten es nicht. Nicht in einem Dorf wie Alt-Mürren, wo jeder jeden kannte. Wo mich jeder kannte. Aber ich blieb hocken. Aus Freude genauso wie aus Trotz. Denn was scherte mich die Konvention? Ich trank des Trinkens willen. Der Tag hatte genügend Opfer verlangt. Womöglich zu viele. Ich bestellte noch ein Glas und hoffte auf Wirkung. Doch die würde sich erst sehr viel später einstellen.
Clara zog ihre Strümpfe mit einem lasziven Lächeln auf ihrem purpurnen Mund an. Eigentlich war es um diese Jahreszeit noch zu warm für Strümpfe, doch sie liebte den Reiz daran. Den Reiz, den junge Männer in ihrer Nähe verspürten, wenn sie rein zufällig über ihre Nylons strichen und eine Vorstellung davon bekamen, wie sich ein echter weiblicher Körper anfühlte. Sie liebte diese Erotik, diese Unnahbarkeit und spielte sie voll aus. Nach einigen Telefonaten mit ihren langweiligen Freundinnen hatte sie erfahren, dass auch Presse und Fernsehen mit großer Zahl bei der Party erscheinen würden. Welch ein Traum. Einmal das Rampenlicht wie France Marriott zu genießen. Einem Vorbild, welchem sie schon lange nacheiferte. An diesem Abend würde sich also eine Gelegenheit bieten, in vorderster Reihe für Aufmerksamkeit zu sorgen. Als Clara all das verinnerlicht hatte, rief sie ihr »Mädchen«, wie der Geldadel seine weiblichen Bediensteten auf ebenso vertrauliche wie herablassende Weise nannte, und befahl die Herausgabe der edelsten Garderobe und des teuersten Schmucks, den sie in ihrem jungen Leben angehäuft hatte.
Ich saß in meinem Wohnzimmer mit einer Flasche Rotwein vor mir auf dem Tisch und starrte ins Leere. Don Giovanni sang gerade davon, wie sehr er alle Frauen liebte. Nun, ich hatte nur eine geliebt. Und sie war gegangen. Unwiderruflich. An einen Ort, den niemand kannte. Meine Augen blieben trocken. Es gab nichts mehr zu beweinen. Selbst meine eigene Verzweiflung nicht. Meine beiden Katzen schmiegten sich noch fester an mich und spendeten Trost. Meine beiden Katzen waren alles, was geblieben war. Der Rest war bloß noch schmerzliche Erinnerung.
Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und lauschte weiter Mozarts Genie. Schloss die Augen und begann, über mein Leben, meine Existenz, meinen Sinn, meine Zukunft nachzudenken. Ich hatte einen miesen Job, der gerade den Tariflohn abwarf, lebte in einem von meinen Eltern vererbten Haus, das immer mehr verfiel und vereinsamte zusehends.
Ich hatte genug von den Menschen. Den Freundschaften, den Enttäuschungen, die sie ständig bereithielten. Etwas Dunkles, Finsteres hatte sich nach und nach in meine Seele geschlichen und breitete sich dort aus wie ein endlos langes, wallendes Tuch, das alles verdeckte, was einmal Bestand hatte. Die Uhr tickte. Die Zeit rückte näher, wann all das unerträglich wurde und mein kleines Geheimnis ihre Bestimmung erfüllte.
Clara lächelte selbstbewusst in die Kamera. Divenartig setzte sie ihr blondes, langes, wallendes Haar in Szene, spielte verführerisch mit ihren Lippen und sprühte einen Hauch von Sex in den Äther. Auf diese Gelegenheit hatte sie lange gewartet. Sich abzuheben von der restlichen Nobelgesellschaft, in der sie sich bewegte. Clara war nicht zum ersten Mal im Fernsehen zu bewundern, aber ein Interview im Societymagazin des Staatsfernsehens war wie der Aufstieg in eine ganz neue Liga. Die Berichterstatter waren schon seit Längerem an ihr interessiert. Der Durchbruch der Industriellentochter Clara Bergmann als umschwärmtes Partygirl stand kurz bevor. Und sie würde sich diese Chance nicht entgehen lassen. Was sie von sich gab, spielte letztlich keine Rolle. Es war belanglos. Sie musste nur gut aussehen. Und das tat sie. Ja, das tat sie ganz gewiss. Der Reporter, der das Gespräch mit Clara geführt hatte, verabschiedete sich verträumt von ihr und zog mit seinem Team ab. Sie hatten alles im Kasten. Weitere Partys waren im Gange. Aber Clara Bergmann hatte Eindruck hinterlassen. Ihre aufreizendes, aber dennoch elegantes silbernes Kleid, die teuren Schuhe und Accessoires, ihr dezentes Make-up, ihr wunderschönes Haar. Dieses engelhafte Gesicht, dieser Blick, der etwas ganz anderes versprach.
Ich fuhr nach der Arbeit auf direktem Weg nach Hause. Zu wütend, um die Gesellschaft weiterer Menschen zu ertragen. Ihre Anwesenheit während meines Neun-Stunden-Tags hatte vollends gereicht. Die ständigen Schikanen störten mich nicht. Im Gegenteil. Sie bestärkten mich in meinen Gedanken. Was mich störte, war die Art und Weise, wie mit Nichtprivilegierten verfahren wurde. Friss oder stirb. Der eine verkroch sich, der andere fuhr die Ellbogen aus. Verteidigte seine eigene erbärmliche Existenz. Aber zu welchem Preis? Zu immer größerer Abhängigkeit gegenüber einem Arbeitgeber, der in seiner Villa saß und auf dem Ameisenhaufen herumtrampelte, wann es ihm beliebte. Die Gesellschaft riss immer mehr entzwei. Schuf Slums und Biotope. Produzierte Elend und verkaufte Glück. Nur wenige Meter voneinander entfernt. Und doch getrennt wie fremde Welten. Ich zündete die Flamme am Gasherd und setzte Wasser auf. Wieder kamen die Erinnerungen in mir hoch. So oft hatten wir gemeinsam gekocht, gelacht, unser Leben gelebt. Einfach und bescheiden. Und doch unendlich glücklich. Ich schaltete den Fernsehapparat ein, während ich meine Mahlzeit zubereitete. Eine Sendung über irgendwelche VIPs lief auf Kanal 1. Ach, wie ich diese Parasiten mit ihren schicken Kleidern, ihren SchönheitsOPs, ihren fetten Autos und noch fetteren Brieftaschen hasste. Ich griff zur Fernbedienung, als sie plötzlich am Bildschirm erschien. »Clara Bergmann, Industriellentochter« wurde kurz eingeblendet. Bergmann. Wie sehr ich diesen Namen verachtete. Eine unbändige Wut kroch in mir hoch. Ich empfand ein Gefühl, das Hass als etwas Schönes definieren würde. Ein Gefühl, das Grausamkeit nicht beschreiben konnte. Ich registrierte nicht, was sie sagte. Ich registrierte gar nichts um mich herum. Nur dieses Gesicht brannte sich in mir ein. Dieses Gesicht, das mich aufs Niederträchtigste verhöhnte. Dieses Gesicht, das alles an mir verabscheute. Mir das Recht zu leben absprach. Ich konnte das nicht zulassen. Nicht dieses wunderschöne Gesicht, das für mich eine Fratze aus dem tiefsten Schlund der Hölle war.
Clara legte ihr Designerhandy beiseite. Das war nun schon der zwölfte Anruf seit der Ausstrahlung ihres Interviews gewesen. Und eine Stunde war noch nicht rum.
»Ach, Clara, du warst wundervoll! Clara, Schatz, wir liegen dir zu Füßen! Oh, wie schön du warst!« Ja, ja, ja. Sie wusste es auch so.
Neben ihren Freunden waren auch zwei Klatschreporterinnen auf den Plan getreten, die sie mit Fragen gelöchert hatten: »Woher haben Sie dieses tolle Kleid? Wo lassen Sie Ihre Haare machen? Haben Sie eine feste Beziehung? Wohin gehen Sie heute Abend?« Na bitte. Nun hieß es am Ball bleiben. Natürlich musste sie ihre Garderobe erweitern. Zweimal mit demselben Kleid gesehen, und schon war man tot. Sie kannte die Spielregeln. Musste ihre Einladungen künftig sondieren. Die Guten von den Schlechten trennen. Ihren ganzen persönlichen Umgang neu überdenken. Großes war im Anflug. Neue Bekanntschaften von unabsehbarer Dimension. Die »Schweinebaroness«, wie ihre Neider sie hinter vorgehaltener Hand in Anspielung auf das Fleischimperium ihres Vaters nannten, war in die oberste Riege der Prominenz ihres Landes aufgestiegen. Darüber war sie sich im Klaren. Die gesellschaftlichen Hotspots standen ihr nun offen. Und die Verehrer würden mehr denn je Schlange stehen.
All das ging ihr durch den Kopf, während sie sich für den Abend zurechtmachte. Immer in Begleitung der emsigen Hände ihres Mädchens, das für Clara gar nicht existierte. Genauso wenig existierte wie ein Mann, den ihr erster großer Triumph in Rage versetzt hatte.
Das Laub lag unter den Bäumen, die Sonne verbarg sich hinter einem trüben Schleier. Einem Schleier, der auch mein Herz ummantelte. Melancholie durchströmte meinen Körper. Zwei Jahre, seitdem sie gegangen war. Zwei Jahre ohne jede Perspektive. Zwei Jahre mit dem Gewehrlauf an der Schläfe. Doch noch war es nicht so weit. Ich hatte neben dem kleinen Haus in Alt-Mürren auch ein größeres Grundstück weit abseits des Dorfes, beinahe schon im Wald gelegen, von meinen Eltern geerbt. Ein verwildertes, schlecht umzäuntes Stück Land im tiefsten Waldviertel, dem ich in den vergangenen zwanzig Monaten viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. In früheren, besseren Zeiten befand sich hier einmal ein kleines Sägewerk. Die gefällten Bäume wurden vor Ort verarbeitet und als Bretter abtransportiert. So wurde es noch zu Zeiten meines Großvaters gehandhabt. Doch der Bedarf an Holz stieg, die Kapazitäten genügten den neuen Anforderungen nicht mehr, und die Holzhändlerfamilie, der ich entsprang, wechselte auf ein größeres, moderneres Areal. Nun, das war alles Geschichte. Der Niedergang der Branche, der Abstieg meiner Familie in die Bedeutungslosigkeit. Geschichte im Angesicht einer globalisierten Welt, die alles verschluckte. Alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellte oder nicht anpasste.
Schon kurz nachdem sie gegangen war, hatte ich mit den Arbeiten am Gelände begonnen. Hatte mir einen alten, schäbigen Pritschenwagen besorgt, den ich direkt am Grundstück unterstellte. Zu Beginn war die Arbeit, der ich mich jedes Wochenende widmete, sehr mühsam gewesen. Dem Wildwuchs jahrzehntelanger Vernachlässigung war nur schwerlich beizukommen. Was sich letztlich als ein Segen herausstellte. Denn alles, was ich benötigte, war ein schmaler Zugang zum alten Sägewerk. Der Rest sollte im Schutze der Natur ruhig verborgen bleiben.
Nachdem ich einen befestigten Pfad errichtet hatte, machte ich mich daran, das Gebäude selbst, oder was davon übrig geblieben war, neu aufzubauen. Im Klartext hieß das, dass ich den etwa zwanzig Quadratmeter großen Schuppen, der über der Sägemaschine errichtet worden war, einfach abriss. Dazu war nicht viel nötig, da das Holz morsch war und die Konstruktion schon nach wenigen gezielten Schlägen in sich zusammenfiel. Nachdem das Bretterwerk entfernt war, machte ich mich an die Demontage der Maschine. Dank des Rosts brauchte ich dafür gute zwei Monate. Manche Teile waren so schwer, dass ich sie nur mühsam bewegen konnte. Die Entsorgung bereitete kaum Probleme. Ja, ich verdiente bei den Schrotthändlern damit noch etwas Geld.
Vom Kellerboden bis zum Plafond reichend, zog ich einen Eisenzaun samt verschließbarem Tor ein, den ich nach langer Recherche im Internet halbwegs günstig erworben hatte. Dieser teilte den Raum etwa bei zwei Dritteln. Auf diesen etwas bizarr wirkenden Unterbau setzte ich ein selbst gezimmertes Blockhaus und baute einen schleusenähnlichen Abgang zum Keller.
Nach und nach gestaltete ich das Gebäude ebenso wohnlich wie zweckmäßig, stabilisierte den aus Granitsteinen gemauerten Kellerraum, brachte kleine, mit starkem Plexiglas verkleidete Webcams darin an und lebte mein bedauernswertes Leben abseits der werkreichen Wochenenden weiter. Bis zu dem Tag, als dieses Gesicht am Bildschirm erschien und sich in meine Seele brannte.
Ich machte meinen Computer an und stieg ins Internet ein. Seit Wochen tat ich in meiner Freizeit kaum etwas anderes. Das Netz war eine echte Fundgrube. Hier blieb wirklich nichts verborgen. Und schon gar nicht Clara Bergmann, die nach Öffentlichkeit lechzte und immer öfter ins Fadenkreuz der Klatschreporter geriet. Je mehr ich sie kennen lernte oder zumindest kennen zu lernen schien, desto mehr trank ich. Und desto mehr stauten meine Wut, mein ganzer Zorn sich auf, der sich auf diese eine Person projizierte. All die Berichte über ihr ausschweifendes Leben. All die Fotos mit ständig wechselnden Begleitungen. Mit diesem arroganten Blick bei den abendlichen Amüsements jenseits jeglicher Realität. Ihr ganzes Leben, ihre ganze Existenz schien eine endlose Party, eine endlose Verschwendung zu sein.
Auf meinen Streifzügen durch die virtuelle Welt wurde ich ein wahrer Experte für die gesellschaftliche Dekadenz in diesem Land. Wer mit wem, wo, wann, wie, warum, wie viel. Der Markt war voll davon und verlangte ständig nach neuen Sensationen. Die Nachfrage schien endlos. Die Nachfrage einsamer Menschen, die über solche Personen ein Zweitleben führten. War ich etwa auch einer davon? Nun, gewiss nicht. Was mich interessierte, war Clara, alles andere war Beiwerk. Und selbst Clara interessierte mich nicht wirklich. Nur der Drang, sie zu bestrafen. Ihr ganzes unwürdiges Wesen, ihr ganzes nutzloses, ignorantes Sein zu offenbaren. Ganz besonders aufschlussreich war ihre eigene Website. Hier blieb dem geneigten Betrachter kaum ein Detail verborgen. Akribisch wurde jedes Ereignis, bei dem sie eine Rolle gespielt hatte, durchleuchtet und mit bunten Bildern dokumentiert. Hier ein Ball, dort eine Eröffnung. Hier eine Gala, dort eine Party. Stets umrahmt vom erlauchten Kreis derer, die sich mit Banknoten ihre teuren Havannas anzündeten und im Dom Perignon zu baden pflegten. Sogar ein Terminkalender für Presse und Fernsehen war online gestellt. Clara Bergmann, der gläserne Mensch.
Einige Artikel in der Boulevardpresse befassten sich mit diesem Thema und zeigten sich besorgt über die Offenheit vieler junger Damen, die die Gefahren einer derart aggressiven Zurschaustellung stark unterschätzten. Natürlich wiesen sie im selben Atemzug auf die kommenden Auftritte besagter Mädchen hin. Ja, die Scheinheiligkeit der Medien faszinierte mich. Jeder wichtige Mord wurde in den Redaktionen überschwänglich gefeiert, jede Katastrophe mit einem Festbankett bedacht. Die Maske der Betroffenheit saß nun einmal nicht immer sehr fest. Was zählte, waren möglichst schlechte Nachrichten, hohe Auflagezahlen oder zweistellige Einschaltquoten. Das Diktat des Markts beherrschte alles. Und Rädchen wie Clara Bergmann hielten diese Philosophie am Laufen. Ich schloss das Fenster zu Claras Website. Neues hatte ich heute nicht erfahren. Aber was gab es noch zu ergründen? Nur noch eines. Ich wollte sie in Fleisch und Blut sehen, abseits eines toten Bildschirmes. Nur so konnte ich meinen Entschluss festigen. Oder ihn verwerfen.
Ich schritt noch einmal die Absperrgitter entlang. Die Barrieren, die noch vor einer Stunde den Zaun bildeten.
Es war Samstagnacht. Die Wiener Nobeldiskothek »C3« lag vor mir. Wie ein Irrgarten, dessen Zutritt ich niemals erreichen würde. Hunderte von Menschen hatten sich ums Portal gedrängt. Hatten versucht, ins Innere des Heiligtums vorzudringen. Hatten gejubelt, als die Übermenschen an ihnen vorbeigeschritten waren. Die abgewiesenen Massen hatten sich nach diesen glorreichen Auftritten langsam verloren, und übrig blieb allein ich, der weiterhin am hinteren Ende der Absperrung stand. Dort, wo ich vor Stunden im Schutze kreischender Teenager auf einen Körper blickte, der mich elektrisierte. Die Makellosigkeit, mit der sie aus dem vorgefahrenen Wagen stieg und jenseits der Absperrungen posierte. Ach, allein, wie sie das Auto verlassen hatte. Zuerst rechtes Bein, dann linkes. Dann dieser unendlich sexy Griff in den Schritt und die beiden Arme, die wie durch Zauberhand einen Menschen zum Vorschein brachten, der noch aufregender war als ein Orgasmus.
Aber ebenso schnell der Glanz gekommen war, verschwand er auch wieder. Übrig blieb nur eine Hülle, die über den ausgerollten Teppich schwebte und schließlich im Blitzlichtgewitter verschwand. Übrig blieb nichts weiter als Verachtung.
All diese Überlegungen blieben jenen muskelbepackten Billiganzugträgern erspart, die nach dem Einzug der Götter in den Olymp an der Pforte ihre Witze rissen und das unprivilegierte Volk, zu dem sie schon morgen selbst wieder zählen würden, aufs Derbste abwiesen. Ja, das römische Reich war nie machtvoller. Und der Plan, der sich alldem entgegenstellen würde.
Der Advent war inzwischen angebrochen, und meine Wochenendfahrten nach Wien waren zur Routine geworden. Meine gut getarnten Besuche vor dem Anwesen der Familie Bergmann in Döbling, meine Beobachtungen ihrer glamourösen Auftritte. Die vollständige Ausstattung meines kleinen Domizils am Waldesrand war beinahe abgeschlossen. Nun benötigte ich nur noch ein kleines, aber entscheidendes Werkzeug. Zu diesem Zweck fuhr ich ins nahe gelegene Tschechien. Ich fuhr nach Tschechisch-Mürren, stellte meinen Wagen im Zentrum ab und kaufte in einem großen Textilgeschäft einige Sachen vom Wühltisch ein. Billige Bekleidung für Sie und Ihn. Nachdem ich mich auch in einer Apotheke eingedeckt hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg in die Außenbezirke. Die Mauern wurden grauer, das Licht düsterer, die Luft schwerer. Das Ghetto hatte seine eigenen Farben und Gerüche. Stets trist, stets dunkel, stets vergiftet. Ich ging zu einer Adresse, die ich im Web recherchiert hatte. Eine Adresse im Souterrain eines mit Gerümpel völlig verstellten Hinterhofs. Hier konnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Doch ich hatte schon lange aufgehört, irgendetwas zu fühlen, was nicht unmittelbar mit Wut, Zorn oder Hass zusammenhing. Für Angst war kein Platz mehr in meinem Leben. Denn Angst setzte in letzter Konsequenz Hoffnung voraus. Und die gab es nicht. Nicht für mich. Nicht, seitdem sie gegangen war. Es gab nichts mehr zu verlieren. Ich stieg die schmutzigen Stufen hinab und drückte auf die Klingel. Nichts passierte. Ich klingelte nochmals. Nichts. Ich machte wieder kehrt, als mit einem Mal die schäbige Tür zu knarren begann und eine kleine, zierliche asiatisch aussehende Frau aus dem Spalt lugte. Eine fremde Sprache kam über ihre Lippen. Weniger an mich, als an jemand anderen hinter ihr im Raum gerichtet. Mit einem Ruck wurde die Tür aufgestoßen, und ein wenig einladend wirkender Vietnamese starrte mich feindselig an.
»Was willst du hier?«, fragte er herausfordernd. Sein Deutsch war passabel. Ich überlegte kurz, wie ich die Sache am besten angehen sollte und entschied mich dann für die Offensive.
»Eine Waffe«, war meine Antwort. Er zog die Augenbrauen hoch, schätzte mich nochmals kurz ab und bat mich schließlich einzutreten. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er sich unwissend stellen würde. Solange bis er sich versichert hatte, dass ich kein Spitzel oder Verräter war. Er erkannte meine Überraschung, als er mir einen Stuhl in der Küche zuwies.
»Du bist Ausländer. Polizei erkenne ich sofort.« Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Ich hatte gehört, dass es sehr einfach wäre, hier eine Waffe zu einem guten Preis zu erhalten. Ohne Fragen. Aber das verblüffte mich nun doch.
»Welches Fabrikat?«, wollte er wissen.
»Pi 80, samt Munition«, war meine knappe Auskunft. Ich war während meines Militärdienstes auf dieser sehr gebräuchlichen Pistole ausgebildet worden. Sie lag gut in der Hand, hatte starke Wirkung und konnte leicht verborgen werden. Der Vietnamese sagte etwas zu der kleinen Frau, die im Vorzimmer gewartet hatte und nun die Wohnung verließ. Ich sah ihn fragend an. Holte sie etwa Verstärkung? Wieder schien er meine Gedanken zu lesen.
»Sie holt die Pistole. Oder glaubst du, ich habe die Ware hier herumliegen?«
Ich sah mich etwas um und fragte mich, wie viel er wohl verlangen würde. Und wie viel bei dem Deal für ihn übrig blieb. Angesichts dieser schäbigen Behausung konnte das nicht gerade üppig sein. Legal oder illegal. Es war stets das Gleiche. Die Kleinen standen bis zum Hals mit drinnen. Und die Bosse sahnten ab, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen. Konzernchefs oder Mafiosi. Wo lag da schon der Unterschied? Die Frau kam zurück und legte einen Schuhkarton vor ihren Gebieter. Er nahm die schwarze Waffe raus und schob sie mir zu. Die Patronen behielt er bei sich. Um etwas professionell zu wirken, nahm ich kurz das Magazin ab und ließ den Schlitten vor und wieder zurück gleiten.
»Fünfhundert Euro, mit sechzig Schuss«, kam es von meinem Gegenüber. Ein halber Monatslohn. Trotzdem war das sehr günstig. Ich griff in meine Jackentasche und zog die Hunderter einzeln aus dem Futter. Dann erhoben wir uns. Ich steckte die Pistole unter meine Kleidung und folgte der Frau, die mir die Eingangstür öffnete. Dort wurde mir auch die Munition überreicht. Ich wollte noch etwas zum Abschied sagen, doch das Schloss war bereits wieder eingerastet. Mein erster und wiederum auch letzter Kontakt mit der Unterwelt. Ohne jeden Nervenkitzel, ohne Glanz und Abenteuer. So nüchtern und steril wie die Realität, mit der ich konfrontiert war.
Es war Heiligabend, und die Sonne verschwand langsam hinter dem Gebäude, gegenüber dem ich mich befand. Der Villa der Bergmanns. Frohe Weihnachten, Arschlöcher. Seit gut fünf Stunden wartete ich bereits auf die Rückkehr von Clara. Sie hatte am Vormittag das Anwesen mit ihrem roten Mercedes verlassen. Durch die getönten Scheiben war sie kaum zu erkennen gewesen. Das Grundstück war gut gesichert. Hohe Steinmauern, automatisches Stahlgittertor, Kameras, die den ganzen Bürgersteig im Blick hatten. Einbrecher hatten hier einen schweren Stand. Gegenüber lagen einige kleinere Stadtvillen mit normalen Heckenzäunen und teilweise frei zugänglichen Hauszufahrten. Die Besitzer, meist Wirtschaftsleute, flüchteten an Wochenenden und Feiertagen zu ihren Familien aufs Land. Oder vor den Fotografen, die das Anwesen der Bergmanns hin und wieder belagerten. Vor allem, wenn Clara mal wieder für Aufregung gesorgt hatte.
Heute war alles ruhig. Die Presse nahm sich eine kurze Auszeit, die Anrainer waren wie üblich verreist. Nur eines der vier Häuser schien nicht verwaist zu sein. Jenes ganz am Ende der Straße. Als ich am Vormittag hier eingetroffen war, hatte ich meinen Wagen hinter dem Mülltonnenverbau am anderen Ende der Straße geparkt und mich in einem Garten hinter einer Hecke versteckt. So wie schon so oft. Der Verbau verbarg meinen Wagen völlig und war auch dann nicht zu sehen, wenn man direkt vor den Mülltonnen stand. Ich stand also völlig unbehelligt hinter meiner leicht beschneiten Hecke und wartete ab. Die Sonne war längst untergegangen, und die Kälte wurde langsam unerträglich. Wo blieb sie so lange? Auf ihrer Website hatte man keinerlei Termine verlautbart. Meine Gedanken begannen zu kreisen. Führten zu dem Tag, an dem ich sie im Fernsehen erblickt hatte. Führten zu meinem Entschluss, sie zu bestrafen. Führten zu meiner Jagd nach ihrer Nähe, die entrückter schien denn je. Führten zu meiner Verzweiflung über mein Dasein, über mein Schicksal. Führten zu der Kellerwohnung, wo ich eine Waffe wie eine Flasche Wasser erstanden hatte. Führten hierher zurück, wo ich auf sie wartete.
Endlich näherte ihr Wagen sich. Die Zusatzlichter vor dem Tor gingen an. Für einen Moment geschah gar nichts, dann wurde die Hupe betätigt. Nochmals. Nochmals. Immer ungeduldiger. Adrenalin schoss mir durch den Körper. Etwas stimmte nicht. Das Tor ging nicht zur Seite. War die Fernbedienung im Eimer? Dann stieg sie aus. Blondes, wallendes Haar, schwarzer Pelzmantel, der ihren offensichtlich sehr kurzen Rock verbarg, schwarze Nylons, goldene Pumps. Wütend schritt sie zum Tor und begann, in ihrer Tasche zu kramen. Offensichtlich suchte sie den Schlüssel, der in Kombination mit einem Zahlencode das Tor öffnete. Wieder passierte nichts. Der Mechanismus schien der Kälte Tribut zu zollen. Zornig drückte sie die Gegensprechanlage. Keine zwanzig Meter von mir entfernt. Als sie schließlich ihr Handy aus der Tasche zog, rannte ich los. So, wie ich es schon Tausende Male im Kopf durchgespielt hatte. Im vollen Lauf holte ich eine Schimaske aus der linken Jackentasche und zog sie über. Aus der rechten brachte ich ein mit Chloroform getränktes Tuch zum Vorschein. Als sie mich hörte, drehte sie sich ruckartig um. Doch es war schon zu spät. Wuchtig stieß ich sie gegen die Mauer und drückte ihr unbarmherzig den Lappen aufs Gesicht. Sie wehrte sich, doch mein eiserner Griff und das Betäubungsmittel zeigten schon nach wenigen Sekunden Wirkung. Wie in Ekstase umklammerte ich ihren Körper, begrub ihn unter meinem eigenen. Ich spürte nicht den Schmerz ihrer anfänglich noch starken Schläge. Auch nicht das Blut, das mir ihre langen Fingernägel aus dem Leib kratzten. Ich war fixiert, ja beinahe hypnotisiert von diesen azurblauen Augen, die mich voller Entsetzen anblickten.
Es war ebenso schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Und doch erschien mir die ganze Attacke eine Ewigkeit zu dauern. Als sie endlich bewusstlos war, schulterte ich sie und rannte zu meinem Auto. Jetzt zählte jede Sekunde.
Ich öffnete die hintere Tür an der Fahrerseite, zwängte sie ruppig auf die Rückbank, stieg vorne ein und startete den Motor. Ohne das Licht anzumachen, manövrierte ich den Wagen aus dem engen Parkplatz und bog schließlich in eine Verbindungsstraße weg vom Grundstück der Bergmanns ein. Die gut zweihundert Meter bis zur nächsten Kreuzung fuhr ich auf der falschen Seite, da sich hier noch immer eine Grundstücksmauer mit Kameras befand. Erst als ich diese Straße verlassen hatte, wechselte ich wieder in den normalen Verkehr. Aber ich war ohnehin alleine unterwegs. Es war Heiligabend. Nicht einmal die Polizeistreifen hatten Interesse an einer Dienstfahrt. Dennoch, Eile war geboten. Ein Mercedes mit angemachtem Licht, offener Tür, Handy und Damentasche, verstreut am Bürgersteig, würde nicht lange unentdeckt bleiben. Auch nicht an Weihnachten. Und schließlich hatte Clara ja auch geklingelt. Hatte das etwa niemand gehört? Wie auch immer. Ich fuhr zügig, aber nicht zu schnell. Bloß keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.
Das Villenviertel verschwand, und ich erreichte die ersten Vororte Wiens. Schließlich verschwanden auch diese, und ich fuhr auf offener Landstraße. Ich mied die Autobahn und ihre Überwachungssysteme. An einem kleinen, verlassenen Rastplatz blieb ich stehen und wechselte die am Morgen gestohlenen Nummernschilder gegen meine eigenen aus. Man konnte nie wissen. Das Klauen der Schilder war einfach und ungefährlich. Bei jeder meiner Fahrten zu Clara hatte ich diese Vorsichtsmaßnahme getroffen. Immer in der Hoffnung auf den richtigen Augenblick. Der nun gekommen war. Völlig unverhofft. An einem Tag, der besser nicht sein konnte.
Clara schien immer noch bewusstlos zu sein. Doch ich ging auf Nummer sicher, fesselte Arme und Beine mit Kabelbindern und steckte ihr einen Knebel in den Mund. Fast war ich gewillt, ihn zu küssen. Diesen honigsüßen, knallroten Lippenstiftmund. Aber ich ließ es sein, ließ noch einmal meine Blicke über ihren Körper schweifen und warf letztendlich eine große, dicke Decke darüber. Es war Zeit, von hier zu verschwinden. Es war Zeit, sie nach Hause zu bringen.
Stille und Dunkelheit. Das erwartete Clara, als sie erwachte und benommen ihre Augen öffnete. Ein stechender Geruch lag in ihrer Nase. Wieso war ihr Bett so hart? Sie tastete nach der Nachttischlampe, doch da war nichts. Kein Nachttisch, keine Lampe. Wo war sie? Was war passiert? Schemenhaft kamen die Erinnerungen zurück. Das Tor war nicht aufgegangen. Verdammter Hausmeister. Aber was war dann geschehen? Ein wutverzerrtes Gesicht, ein weißes Tuch, ein schummriger Schleier. Und dann nichts mehr. Panik überkam sie. Sie sprang auf, raus aus diesem Bett. Hektisch trippelte sie mit ausgestreckten Armen herum. Die Dunkelheit war absolut, schwärzer als der Nachthimmel jemals sein konnte. Immer wieder stieß sie an Gegenstände, was unterschiedliche Geräusche heraufbeschwor.
Plötzlich blieb sie stehen und begann zu rufen. »Hilfe! Hilfe! Wo bin ich hier bloß?« Immer lauter. Immer hysterischer. So lange, bis sie völlig zusammenbrach. Nach einer Weile besann sie sich. Vielleicht hatte alles eine einfache Erklärung. Sicherlich hatte man ihr einen Streich gespielt. Einen ziemlich miesen. Sie erhob sich und tastete weiter herum. Stein, Holz, Metall, Kunststoff. Dann runde Stangen. Sie stolperte daran entlang. So lange, bis sie wieder Stein spürte. Das waren Gitter. Daran gab es keinen Zweifel. Neuerlich flutete ein Schwall voller Panik ihren Körper. Gitter? Das war ein Gefängnis! Wieder begann sie zu schreien. Zu weinen. Schluchzend stand sie da im Dunkeln. Die Hände um die Gitterstäbe geklammert. Die Welt war verschwunden. Ihre Welt.
Die Finsternis drückte sie gnadenlos zu Boden, während eine Ebene höher ein Mann auf einen schwarzen Bildschirm starrte.
Eine unbestimmte, schier endlose Zeit schien vergangen zu sein. Eine Zeit voller Angst und Hoffnungslosigkeit. Immer wieder war sie umhergeirrt, immer wieder hatte sie gerufen, gefleht. Doch nichts war geschehen. Nur Stille und Dunkelheit. Sie war verstört, verzagt, ohne jede Antwort. Nur eines war gewiss. Man hatte sie entführt. Daran gab es keinen Zweifel. Mit fester Stimme begann sie zu sprechen.
»Ich weiß, dass Sie mich hören. Welche Forderungen stellen Sie? Mein Vater wird bestimmt darauf eingehen!«
Nichts. Sie versuchte es weiter. Unterdrückte ihre Angst und versuchte, stark zu sein. Hier galt es, am Leben zu bleiben. So viel war jetzt schon klar. Aber wie? Es gab keine Reaktionen, keinerlei Bereitschaft, mit ihr zu kommunizieren. Wollte man sie hier etwa sterben lassen? Aus reinem Spaß? Doch bevor sie noch weiter in ihre Überlegungen eindringen konnte, ging plötzlich das Licht an. Ein grelles, gelbes, unerträgliches Licht. Sie warf sich zu Boden und versuchte, sich, so gut es ging, davor abzuschirmen. Schrittweise ließ sie mehr davon durch ihre schützenden Hände auf ihre Augen fallen. Dann erhob sie sich und begann, sich umzusehen.
Ja, sie hatte recht gehabt. Das war ein Gefängnis. Ein schweres Gitter trennte ihre Zelle von einem schmäleren Gang, der eine kleine Ausbuchtung in der Mitte besaß und mit einer Eisentür sein Ende fand. Dann drehte sie sich um und betrachtete ihr Verlies. Ein mit Eisenrohren zusammengeschweißtes Bettgestell befand sich neben der durch die Gitterstäbe getrennten Tür. Gegen den Uhrzeigersinn schaute sie weiter. In der Ecke stand eine Behelfstoilette, die mit einem Plastikvorhang abgeschirmt werden konnte. Auf einem Tischchen stand eine mit Wasser befüllte Blechwanne. Darüber hing ein Spiegel, darunter befanden sich zwei durchsichtige Wasserbehälter. Sollte sie sich etwa hier waschen? In Gegenwart zweier eingebetteter Kameras, die sie bereits an der Decke erblickt hatte. Gegenüber der abgetrennten Wandausbuchtung stand ein kleiner Kleiderschrank, davor ein Tisch und ein Stuhl. Direkt daneben ein weiterer, etwas niedrigerer Kasten.
In der zweiten Mauerecke schließlich eine kleine Anrichte mit einem alten Fernseher und einem noch älteren DVD-Player darunter. Vis-à-vis dem Bett war ein wuchtiger, safeähnlicher Schrank mit einem klobigen Schlüssel daran. Das Wort »Überleben« war darauf mit schlampiger Schrift gepinselt. Links davon endete dieses spartanische Abteil mit einer Gittertür, die wieder auf den Gang führte. Instinktiv stürzte Clara zu jenem Tor, drückte und zerrte an der ehernen Klinke. Aber nichts rührte sich. Zu massiv war hier alles gebaut. Ohne Schlüssel war ein Entkommen unmöglich. Verzweifelt rüttelte sie an den Stäben und ließ erst, als die Kräfte langsam schwanden, davon ab. Sie musste vernünftig bleiben, rational denken. Immer wieder betete sie sich das vor. Und immer wieder warf sie diesen Entschluss selbst über Bord. Zu bizarr, zu unwirklich kam ihr all das vor. Sie öffnete den versperrten Schrank. Einige Konserven befanden sich darin. Und Beutel mit Trockengerichten. Wasserflaschen und ein Gaskocher samt Kartuschen. Ein Feuerzeug. Na prima. Auch noch selbst kochen.
Clara ging zum Kleiderkasten. Zwei pinkfarbene Jogginganzüge lagen darin. Sehr ordinär. Damenunterwäsche von der Stange. Pantoffeln. Erst jetzt wurde ihr ihre eigene Bekleidung bewusst. Ihre Garderobe wirkte in diesem Ambiente befremdlich. Unpassend. Beinahe lächerlich. Aber sie musste Würde bewahren. Schließlich kam sie aus höchsten Kreisen. Bewundert und verehrt von Tausenden.
Sie ging zum Tisch und erblickte ein schmales, mit dem Wort »Clara« beschriftetes Kuvert. Sicherlich die Lösegeldbedingungen. Sie riss den Umschlag auf und hatte dabei bereits einiges von ihrem Ego wiedergewonnen. In ihrer Welt gab es keine Bedrohungen. Kein Schicksal, keine Menschlichkeit, keinen Tod. Nur Geld, Belustigung und Spaß. Sie begann zu lesen. Und je mehr sie las, desto mehr schwand dieses Ego wieder.
»Zu Beginn einige grundsätzliche Anmerkungen. Sie befinden sich in einem abgelegenen Kellerraum. Also geben Sie sich keine Mühe, irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Es ist vergebens. Sollte ich bei meinen unregelmäßigen Beobachtungen jedoch ungebührliche Verhaltensweisen Ihrerseits feststellen, werde ich diese umgehend sanktionieren. Also seien Sie ein braves Mädchen, und benehmen Sie sich. Weiters setze ich Sie darüber in Kenntnis, dass ich Ihre Lebensversicherung bin. Sollte mir etwas zustoßen, werden Sie höchstwahrscheinlich niemals gefunden. Die Vorräte sind begrenzt und auf etwa eine Woche rationiert. Also seien Sie umsichtig, und verschwenden Sie nichts. Auch kein Wasser. Ich verstehe durchaus die Lage, in der Sie sich ab nun befinden und werde versuchen, Nachsicht zu üben. Reizen Sie mich jedoch nicht. Sie würden es bereuen. Nun zu einigen organisatorischen Dingen. Zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens erhalten Sie keinen Strom. Also auch kein Licht und keine Wärme. Nach jedem Toilettengang streuen Sie etwas Sand über Ihre Verrichtung. Ist der Zylinder voll, schieben Sie ihn durch die Gitterstäbe. Sand und weitere Zylinder befinden sich direkt hinter der Toilette. Achten Sie auf die Hygiene. Sollten Sie krank werden – ich bin kein Arzt. Und werde auch keinen rufen. Im Kasten neben dem Kleiderschrank befindet sich unter anderem ein kleiner Heizstrahler, den Sie in eine der beiden Wandsteckdosen einstöpseln können. Und Reinigungsutensilien. Halten Sie diesen Raum sauber. Ihre Putzfrau wird es bestimmt nicht tun. Überschüssiges Wasser leeren Sie in den Ausguss unterhalb der Wasserbehälter. Wie gesagt, seien Sie sparsam damit. Zum Zeitvertreib finden Sie im Schrank mit den Reinigungsmitteln einige Bücher und DVDs. Alles Weitere werden wir erörtern, wenn ich Ihnen Nachschub bringe. Falls ich dann noch Lust dazu habe.«
Clara faltete das Blatt und steckte es zurück in den Umschlag. Sie wusste nicht, ob sie gerade beobachtet wurde. Nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen. Wahrscheinlich war der Raum schalldicht isoliert. In einem Punkt war sie sich ziemlich sicher. Die Kameras liefen auf Bildschirme irgendwo da oben. Waren aber nicht online. Das wäre zu gefährlich gewesen. Und anhand der Nachricht musste sie davon ausgehen, es mit einer umsichtigen Person zu tun zu haben. Wie konnte man unbehelligt ein Gefängnis bauen? Wie konnte man einen Menschen direkt vor seinem Haus entführen? Hier spielten offenbar Fanatismus und Intelligenz zusammen. Also hatte sie es mit einem Psychopathen zu tun. Dieser Gedanke erschreckte Clara bis ins Mark. Aber was gab es sonst für Alternativen? Er stellte keinerlei Forderungen und schwor sie offensichtlich auf einen längeren Aufenthalt ein. Der Brief war sehr sachlich gehalten, die Anrede höflich. Er sah also den Menschen in ihr. Das war ermutigend.
Dennoch drohte er ihr auch. Und gab mit der »Putzfrau« einen Seitenhieb auf ihre Herkunft. »Er verachtet mich«, schoss es Clara durch den Kopf. Nun, das beruhte ja wohl auf Gegenseitigkeit. Und es handelte sich um einen Mann. Einen einzelnen Mann. Clara las das Papier nochmals, um vielleicht weitere Erkenntnisse über den Verfasser zu erlangen. Doch da war nichts mehr. Ein einzelner, ziemlich sicher männlicher Entführer, intelligent, der sie verachtete und kein Arzt war. Offensichtlich jedoch einen benötigte. Jemanden, der sein krankes Hirn wieder in Ordnung brachte. Sie erhob sich vom Stuhl und überlegte, was sie nun tun sollte. Ihr BlackBerry war weg. Gitter, Beton und Stahltüren trennten sie von der Welt. Was blieb, waren diese paar Quadratmeter Hölle. Sie setzte sich aufs Bett und begann zu weinen. Legte ihren Kopf in ihre Hände und schluchzte hemmungslos. Sie war am Boden zerstört. Instinktiv schrie sie nach ihrer Mutter. Einer Mutter, die sie nie geliebt hatte. Und von der sie nie Liebe erfuhr. Stets waren Kindermädchen zwischen ihnen gestanden. Hatten die Nähe, die Wärme, die Berührung verhindert. Was blieb, waren Kälte und Entfremdung. Doch nun rief sie nach diesem Schutz, dieser Geborgenheit.
»Mama, Mama, bitte hilf mir!« Doch es war zu spät. Mama war nicht hier. Mama war schon lange gegangen. Nur die Hülle, der Schatten, der Wunsch waren von ihr geblieben. Und die Einsamkeit.
Das Licht ging an und riss Clara abrupt aus ihren verworrenen Träumen. Der siebente Tag seit der Entführung war angebrochen. Silvester. Aber was bedeutete das alles schon? Weihnachten, Silvester, Neujahr. Nichts davon war mehr real. Bloß noch Fiktion in einem Leben, das keines mehr war. Sie rollte sich aus der kratzigen Decke und lief zum Heizlüfter, den sie augenblicklich einschaltete. Es war während der Nacht entsetzlich kalt geworden. Wie in jeder Nacht. Bibbernd setzte sie sich davor und ließ die warme Luft auf sich zuströmen. Die Nächte waren kaum erträglich. Der Frost, der langsam aufkam und in ihre Knochen schlich. Der unruhige, beinahe apathische Schlaf. Erst gegen Morgen wurde es aufgrund der Müdigkeit etwas besser. Doch da brachte sie das grelle Licht auch schon wieder in ihre Welt zurück. Ihr Peiniger, den sie noch immer nicht gesehen hatte, trieb ein perfides Spiel mit ihr. Es waren nur Kleinigkeiten, die sie in Summe jedoch an ihre Grenzen trieben. In einem der Schränke lag beispielsweise ein bereits mit einer Schlinge versehenes Seil. Bei den Büchern, meist Kriminalromane, fehlten die entscheidenden letzten Seiten. Die DVDs waren immer wieder einmal zerkratzt. Auf manchen Lebensmittelverpackungen prangten schwarze Totenköpfe, die Beschreibung war in einer fremden Schrift. Das Wasser hatte einen unangenehmen Geschmack, der unwillkürlich an Gift erinnerte.
»Was habe ich Ihnen denn getan, dass Sie mich so hassen!«, hatte sie mehr als einmal in den Raum gerufen. Doch nie war eine Reaktion gekommen.
Anfangs hatte Clara Schwierigkeiten mit dem Gaskocher gehabt. Aus der Not heraus kam sie schließlich doch damit zurecht und hatte so zumindest eine warme Mahlzeit am Tag. Diese erzwungene Selbstä
»Will mich dieser Sadist hier verrecken lassen?«, dachte sie voller Angst bei sich. »Hat er sich die viele Mühe gemacht, um mich hier sterben zu sehen?« Und plötzlich kam ihr ein noch viel grauenvollerer Gedanke. »Bin ich etwa nicht die Erste, die all das hier erleidet?« Anzeichen dafür gab es keine direkten. Aber was hieß das schon? Die Wände waren frisch getüncht. Der Boden konnte leicht gewaschen werden. Auch die Gitter hatten einen neuen Anstrich erhalten. Etwa, um das Blut zu verdecken? Die Möbel waren abgewohnt, aber nicht beschädigt. Clara konnte durchaus nicht die erste Bezieherin dieses fragwürdigen Etablissements gewesen sein. Doch das war jetzt nicht die Frage. Sie brauchte dringend neue Lebensmittel. Und der Mann, der sie beschaffen sollte, war noch immer nicht aufgetaucht. Die Lebensversicherung. Sie hatte Angst vor dieser Begegnung, sollte sie denn überhaupt stattfinden. Angst vor dem, was er ihr alles antun würde. Schläge, Erniedrigung, Vergewaltigung, Folter, Mord.
All diese Wörter geisterten seit Tagen in ihrem Kopf umher. Hingen wie das bedrohliche Damoklesschwert über ihr. Und dennoch. Wie schlimm es auch immer kommen würde. Er musste endlich hier erscheinen. Nachdem sie wieder etwas aufgetaut war und die Raumtemperatur erträglich wurde, begab sie sich zur Wasserwanne und besorgte ihre morgendliche Toilette. Das Wasser war trüb und mit einem schmierigen Film überzogen. Doch sie konnte es nicht wegleeren. Zu kostbar erschien ihr diese stinkige Suppe. Sieben Tage, und aus ihr war ein Tier geworden. Sie blickte in den Spiegel. Sieben Tage, und ein Monster schaute ihr entgegen. Kein Lidschatten, kein Rouge, kein Lipgloss. Nur Tränensäcke unter den Augen, aufgesprungene Lippen und ein ungesunder Teint waren geblieben. Sieben Tage, und sie war ihre eigene Putzfrau und Köchin geworden. Sie ging zum Kleiderschrank und wechselte den Jogginganzug. Sehnsüchtig griff sie nach ihrem Pelzmantel. Sehnsüchtig blickte sie auf ihre Pumps und schlüpfte in die Filzpantoffel. Sieben Tage, und ein Freak war aus ihr geworden. Genauso ein Freak wie all diese Idioten, die mit Digicams und selbst gemalten Transparenten hinter den Absperrungen standen und wie die Tiere kreischten. Sieben Tage, und der Griff an der Stahltür senkte sich hinab.