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HENRY VAN DE VELDE

MEINE JAHRE
IN WEIMAR

Erinnerungen
1901–1917

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Inhaltsverzeichnis

Die Berufung nach Weimar

Weimar I - Auf der Höhe des Schaffens

Das »Kunstgewerbliche Seminar«

Jugendstil

Inspektionsfahrten mit der Großherzoginmutter

»Laienpredigten« und Folkwang-Museum

Am Weimarer Hof

Graf Kessler in Weimar

Geistiges Leben in Schloß Belvedere

Schiffsbaupläne und Orientreise für die »Hamburg-Amerika-Linie«

Affront des Kaisers

Die junge Großherzogin

Gründung des »Deutschen Künstlerbundes« 1903

Das Nietzsche-Archiv

»Das neue Weimar«

Ein adliges Original

Das tragische Ende der Großherzogin

Das Projekt eines Theaters für Louise Dumont

Sigurd Frosterus

Ein neues Hoftheater?

1905 in Paris – Gordon Craig in Weimar

Weimar II - Entscheidende Arbeiten und Ereignisse

Die Künstlerbund-Ausstellung in London 1906

Polemik um die Dresdner Kunstgewerbe-Ausstellung 1906

»Hohenhof«

Kesslers Sturz

Die Weimarer Kunstgewerbeschule

Haus »Hohe Pappeln«

Frauen in Weimar

Wanderausstellungen

Kunsttheoretische Schriften

Das Abbe-Denkmal in Jena

Werkbund

Weimar III - Enttäuschungen und Katastrophe

Weltausstellung Brüssel 1910

Das Pastorat in Riga

»Théâtre des Champs-Elysées« in Paris

Zusammentreffen mit Gabriele d’Annunzio

Vor Beginn des Ersten Weltkrieges

Ein geplantes Nietzsche-Denkmal

Werkbundtheater in Köln 1914

Werkbund-Diskussion

Zweifel nach allen Seiten

Rücktritt, Kriegsbeginn und Ende der Weimarer Zeit

Der Tod Alfred Walter Heymels

Während des Krieges in Weimar

Das Ende der deutschen Periode

DIE BERUFUNG NACH WEIMAR

Inzwischen bahnten sich Ereignisse an, die meinem Leben und meiner Arbeit eine neue Wendung gaben.

Im Jahre 1901 hatte Wilhelm Ernst in Weimar als Nachfolger seines Großvaters, des Großherzogs Karl Alexander, den Thron bestiegen. Der junge Fürst war für die Bevölkerung von Sachsen-Weimar wie auch für ganz Deutschland ein unbeschriebenes Blatt. Als Leutnant der Potsdamer Garnison stand er völlig unter preußisch-militärischem Einfluß, dem die älteren regierenden Fürsten dreißig Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches immer noch mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Zu Lebzeiten Karl Alexanders, der gerne daran erinnerte, daß er als Kind auf Goethes Knie gesessen hatte, kümmerte sich kein Mensch in Weimar oder gar in den intellektuellen Kreisen Deutschlands um den jungen Mann, der nun das schöne, aber schwere Erbe zweier außergewöhnlich ruhmvoller kultureller Epochen anzutreten hatte, der Regierungszeiten Karl Augusts und Karl Alexanders.

Der junge Großherzog Wilhelm Ernst (geboren 1876), der so plötzlich aus orthodoxem preußischem Militärmilieu nach Weimar, einem Zentrum universaler literarischer und künstlerischer Kultur, verpflanzt wurde, zeigte sich bei Hofe und vor der Bevölkerung nur in Uniform. Bei der Tafel führte er die deutsche Sprache ein an Stelle des traditionellen Französisch, auch die Menü-Karten wurden in Deutsch abgefaßt. Die eleganten, phantasievollen, kapriziösen Bezeichnungen für die Speisen, die ausgesuchte Genüsse versprachen, wurden durch pedantische, trockene Worte ersetzt. Ärgerliche Indizien, die einige Freunde Graf Kesslers, die dem Weimarer Hof angehörten, mit Unruhe erfüllten, so daß sie sich fragten, ob ein Bruch mit den großen Epochen der Tradition bevorstehe.

Auch in Berlin stellte man sich in den Kreisen der Gesellschaft wie auch in den Cafés, in denen Schriftsteller, Künstler, Journalisten verkehrten, die Frage, was in Weimar wohl geschehen würde. Alles wäre zweifellos ohne jede Konsequenz für mich geblieben, wenn sich nicht drei Menschen zusammengetan hätten mit der Absicht, die verantwortlichen Kreise in Weimar an die Bedeutung der Tradition zu erinnern und den jungen Fürsten auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Tradition in würdiger Weise fortzusetzen.

Diese drei Menschen waren Elisabeth Förster-Nietzsche, Graf Werthern, der nach dem Tod seines Vaters das Haupt einer der angesehensten thüringischen Familien geworden war, und als jüngster Harry Graf Kessler. Ihr Gedanke war, eine neue, dritte Epoche weimarischer Kultur in die Wege zu leiten, in deren Mittelpunkt der »neue Stil« stehen sollte, dem ich mich verschrieben hatte. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte dem Staatsminister Rothe, Harry Kessler dem Grafen Werthern, dem Schwager des Hofmarschalls General Palézieux, den Plan vorgetragen: die dritte Epoche sollte – in gehöriger Distanz zu den früheren – die Wiederbelebung des Kunsthandwerks wie der industriellen Kunst bringen und den Weg für einen architektonischen Stil und eine Ästhetik unserer Zeit frei machen. Sollte mich, dachte ich, das Schicksal nach Deutschland gerufen haben, um eine Aufgabe zu erfüllen, die für jene, die sie ins Auge gefaßt hatten, ebenso kühn war wie für mich vermessen?

Der Augenblick war günstig. Eine mächtige Grundwelle hatte das Interesse des deutschen Publikums für die neuen Kunstströmungen erweckt, die seit der Dresdner Ausstellung von 1897 ans Licht getreten waren, und die Künstler aller Kunstzweige sammelten sich unter der neuen Fahne. Die Kunstkritik hielt die Öffentlichkeit in Atem. In Darmstadt hatte der junge hessische Großherzog Ernst Ludwig einer Ausstellung seine hohe Protektion und seine finanzielle Unterstützung geliehen, die auf der »Mathildenhöhe« stattfand. Dort zeigten die vom Großherzog nach Darmstadt berufenen Künstler und Architekten Häuser und Inneneinrichtungen, die nach neuen künstlerischen Prinzipien geschaffen waren. Diese Ausstellung bedeutete nichts weniger als »ein Dokument deutscher Kunst«.

Es war wichtig, dem Großherzog von Sachsen-Weimar unser Programm zu unterbreiten und ihn zu überzeugen, daß die Folgen unserer Pläne dem Land Thüringen größte Vorteile und seiner Regierung hellen Glanz verschaffen würden.

Die verschiedenen Heimindustrien des Großherzogtums lagen darnieder, und die wenigen kunstgewerblichen Betriebe, die in einigen Dörfern bestanden, kämpften um ihre Existenz; die in den größeren Orten Jena, Eisenach, Weimar und Apolda waren ohne Führung und ohne jede Aussicht, gegen die besser ausgerüsteten und günstiger gelegenen deutschen Firmen aufzukommen, die sich zur Verführung des kaufkräftigen Publikums der Mitarbeit schöpferischer Künstler versichern konnten.

Paechter, der von den Weimarer Projekten nichts ahnte, übte einen immer stärkeren Druck auf Hirschwald aus, um die Lösung meines verhängnisvollen Vertrages zu erreichen. Ich mußte unter allen Umständen frei werden, um im Augenblick, in dem die Sondierungen in Weimar zu einem bestimmten Punkt gekommen waren, unbelastet dazustehen. Es kam der Moment, Paechter über die Vorbesprechungen zu orientieren. Ich tat es in einem der von ihm entdeckten kleinen Restaurants, in denen man nach seinem, des Epikureers Urteil besser und gepflegter bedient wurde als in den aufgedonnerten, bekannten Berliner Lokalen. Von diesem Tag an rastete der gute Mann nicht, bis er mir den von Hirschwald unterschriebenen Brief bringen konnte, der die Aufhebung unseres Vertrages bestätigte.

Im übrigen blieb mir nichts als zu warten. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man sich dem Lauf der Entwicklung überlassen und darauf verzichten muß, ihn zu beschleunigen. Für mich lautete die Frage: Wird mich das Schicksal nach Uccle zurückführen oder wird es mich in Deutschland festhalten?

Ich mußte nicht lange warten. Harry Kessler ging mit solch zielbewußtem Eifer vor, daß er die Gleichgültigkeit und Vorsicht der Hofleute überwand, die vor jeder Verantwortung zurückschrecken und zu warten pflegen, bis der Souverän, dem sie mehr dienen, als daß sie ihn beraten, ihnen das Wort erteilt.

Hier jedoch handelte es sich um ein Projekt von größter Bedeutung, dem ein unerfahrener, nur militärisch vorbereiteter Fürst zustimmen sollte: ein neues Beispiel zu geben durch die Pflege einer kunstgewerblichen und architektonischen Kultur, der erfahrungsgemäß Malerei und Bildhauerei folgen, Kunstzweige, denen Großherzog Karl Alexander nur dilettantisches Interesse entgegengebracht hatte.

Nach verhältnismäßig kurzer Zeit wurde ich offiziell von Staatsminister Rothe und Hofmarschall General Palézieux zu einer Unterredung in einem der großen Hotels am Potsdamer Platz aufgefordert. Es sollte mein Programm besprochen und die Aufgabe umschrieben werden, die ich am Hof des Großherzogs und in Weimar zu erfüllen hatte.

Elisabeth Förster-Nietzsche hatte den beiden Herren offenbar nur Lobenswertes über mich gesagt; sie war vom Wunsch beseelt, die Atmosphäre der Mittelmäßigkeit zu verscheuchen, die Weimar seit dem Verschwinden Liszts erstickte. Sie träumte von einem »dritten Weimar«, in dessen Zentrum das »Nietzsche-Archiv« stehen sollte, dem sie alle Dokumente aus Nietzsches Leben und die gesamten Einkünfte aus seinen Werken überließ.

Die beiden Exzellenzen und ich saßen an einem großen Tisch im Salon des von ihnen bestimmten Berliner Hotels in einem Erker. Sie hörten mit gelegentlichen kurzen Unterbrechungen, die nebensächlichen Fragen galten, meine Darlegungen aufmerksam an. Ich sprach vom Kunsthandwerk und den kunstindustriellen Betrieben des Großherzogtums und von den zu erwartenden Aufträgen meiner Privatkundschaft, von der Einrichtung eines »Kunstgewerblichen Seminars«, das heißt von Ateliers, wo die Kunstgewerbler und Fabrikanten neue Modelle sehen und verarbeiten und wo sie Ratschläge zur Verbesserung der eigenen Produkte erhalten konnten, von der Möglichkeit, Werkstattleiter, Modelleure und Zeichner unter meiner Leitung an neuen Modellen arbeiten zu lassen. Ich erklärte, wie unter meiner ständigen Mitarbeit das handwerkliche und ästhetische Niveau der in den zerstreuten armen Dörfern verbreiteten Heimindustrie gehoben werden könnte, was den Absatz der damals in Mißkredit geratenen Erzeugnisse auf den Märkten und Messen zweifellos rasch steigern würde. Im Zusammenhang mit solchen Versuchswerkstätten, die unter dem Protektorat des Großherzogs einzurichten seien, sah ich die erste Etappe der neuen Aufgabe, mit der mich der Fürst betrauen sollte.

Als zweite Etappe schlug ich die Einrichtung eines »Aufsichtsamtes« zur Kontrolle von Geschmacks- und Produktionsfragen für die Gebiete des Kunsthandwerks und der Kunstindustrie vor. Als Inhaber dieses Postens sollte ich den Großherzog und die Regierung auch in Fragen der bildenden Künste beraten. Für den Augenblick sollten indessen meine Vorschläge weder den Großherzog noch mich zu weiterem verpflichten. Im Geiste sah ich, daß meine Vorschläge erheblich darüber hinausführten: zur vollständigen Erfüllung meiner Mission, in voller Freiheit und Unabhängigkeit alle meine Kräfte auf die Verwirklichung eines »neuen Stils« zu richten.

Während meines Vortrages glaubte ich, auf der spiegelglatten Oberfläche des Tisches, an dem wir saßen, die Figuren einer imaginären Schachpartie zu sehen, die ich gewinnen wollte. Als ich endete, hoben die beiden Exzellenzen die Augen, die auf mich gerichtet waren, und tauschten einen Blick, der Zustimmung zu bedeuten schien. Minister Rothe brach das Schweigen und gab mir freundlich lächelnd zu verstehen, daß ich bald über die Meinung und eventuelle Verfügungen Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs unterrichtet werden würde. Sie selbst würden dem Fürsten Vortrag halten. Alles hatte sich in einer ungezwungenen Atmosphäre gegenseitiger Achtung und ohne jedes Zeremoniell abgespielt.

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Maria van de Velde, die Frau Henry van de Veldes

Einige Tage nach diesem Gespräch erreichten mich am gleichen Morgen zwei Telegramme. Das eine kam aus Weimar mit der Einladung des Großherzogs zum Diner am kommenden Abend, das andere aus Antwerpen mit der Nachricht, daß mein Vater gestorben sei und daß das Begräbnis am übernächsten Tag stattfinde.

In die Erinnerungen an diesen für mich schicksalsmäßig so wichtigen Abend des 21. Dezember 1901 sind die Gedanken an meinen toten Vater eingewoben. Noch heute empfinde ich tiefen Schmerz, daß er nicht mehr die Entwicklung meiner Laufbahn und die offizielle Bestätigung meiner Mission erfahren durfte. Es hätte gewiß seinen Kummer über den tragischen Tod von drei seiner fünf Söhne gemildert. Seit dem Tod meiner Mutter fühlte er sich einsam, wenn auch meine Schwester Jeanne und ihr Mann, der meinem Vater herzlich verbunden war, mit liebevoller Aufmerksamkeit sich um ihn kümmerten. Wie gerne hätten Maria, die meinen Vater sehr liebte, und ich zu seiner Freude beigetragen!

Mein Bericht über diese Periode wird eines Tages mit Hilfe von Harrys Aufzeichnungen wesentlich ergänzt werden können. Wir hatten uns eine hoffnungslose Aufgabe gestellt, als wir versuchten, den Großherzog, einen von Natur aus mittelmäßigen Menschen, der einen nahezu rohen Charakter besaß, trotz allem zu einer historischen Gestalt zu machen. Heute bin ich überzeugt, daß es bei vielen historischen Gestalten nicht anders steht; sie gehen gegen besseres Wissen und Gewissen ins Buch der Geschichte ein. In Weimar begann ein Drama, über das sich wenige Zeugen dieser Epoche bewußt wurden und dessen Unvermeidlichkeit erst dann in klarem Licht erschien, als alle Illusionen geschwunden waren.

Harry Kesslers fragmentarische Aufzeichnungen, die mir seine Schwester, Wilma de Brion, zugänglich gemacht hat, sind so anschaulich, daß ich es mir nicht versagen kann, sie meinen Lesern mitzuteilen:

»21. Dezember 1901:

Früh nach Weimar gefahren. Dort van de Velde. Mit ihm Besuch bei Frau Förster-Nietzsche, bei Exzellenz Rothe, von Palézieux etc. Rothe schlug vor, der Großherzog sollte van de Velde mit dem ganz allgemein gehaltenen Auftrag berufen, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande zu heben und zu beraten. Gehalt 6000 Mark. Von einem Darlehen des Großherzogs zum Bau eines Institutes will er nichts wissen, um die Sache nicht zu komplizieren! Van de Velde schlug vor, er wolle das Geld selber aufbringen, wenn ihm in Weimar wenigstens ein Terrain unentgeltlich zugesichert werde. Im übrigen machte Rothe noch alles abhängig von der noch nicht erfolgten Entschließung des Großherzogs. Um sieben Uhr Diner beim Großherzog. Diesmal in den Prunkräumen der ersten Etage.

Dort die Erbgroßherzogin, die beiden Gräfinnen Bodmer, von Palézieux, Rothe, von Egloffstein, von Schlieffen, Graf Otto Werthern, ein Oberleutnant Müller aus Südafrika, ein Hauptmann Fliesbert aus China und einige andere. Ich saß zwischen Müller und Egloffstein; rechts neben Müller der Großherzog, van de Velde neben der Erbgroßherzogin. Nach Tisch, beim ›Cercle‹ kam die Erbgroßherzogin gleich auf mich zu und sagte mir, ihr Tischnachbar wäre ihr sehr angenehm gewesen, ›il cause‹ und wäre sehr amüsant. Die Erbgroßherzogin ging bald zurück, und wir gingen hinauf in die Zimmer des Großherzogs. Dieser sprach zuerst fast eine Stunde mit van de Velde allein in einer Ecke. Dann kam er bald zu mir und fragte mich, wie die Sache mit Krefeld (Direktor Deneken) sei. Ich sagte ihm, was ich wußte. Darauf er ganz betroffen: ›Ja, was wird dann aus uns in Weimar?‹ Ich erwiderte: ›Das haben Königliche Hoheit ja ganz in der Hand. Van de Velde hält sich an Weimar vorläufig noch gebunden. Königliche Hoheit brauchen ihm nur den bestimmten Vorschlag unter den heute bei Minister Rothe besprochenen Bedingungen zu machen und van de Velde wird sofort ja sagen.‹

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Schloß Belvedere, Weimar

Der Großherzog meinte, das würde er gern tun. Darauf ich: ›Soll ich van de Velde vielleicht dazu herholen?‹ ›Ja, bitte!‹ Ich ging darauf auf van de Velde zu, der im Gespräch war mit jemandem, den Rücken gekehrt, faßte ihn an und drehte ihn um, dem Großherzog zu. Der Großherzog streckte ihm unter verlegenen Worten die Hand entgegen, und die Sache war gemacht. Nachher, bis halb ein Uhr mit Werthern und van de Velde im Hotel ›Erbprinz‹ gesessen.«

Harry Kessler notiert in seinem Journal unter dem Datum des folgenden Tages einen Abschiedsbesuch bei Frau Förster-Nietzsche, die wir als erste von dem Ereignis in Kenntnis setzten, und unsere Aufwartung bei der Großherzoginmutter in Schloß Belvedere.

Eine Allee von mächtigen, mehr als hundertjährigen Kastanienbäumen verbindet Weimar mit dem Schloß. Auf halbem Weg öffnet sich der Blick auf die weite hügelige Ebene; hier beginnt der Anstieg zum Plateau, auf dem das Schloß steht. Oberstallmeister Graf von Finckenstein kutschierte persönlich. Schon bald sah man wie durch einen dichten Schleier, der vom Geäst der mit ein wenig Schnee bedeckten Bäume gebildet wurde, die kadmiumgelbe Fassade des in italienischem Barock erbauten Schlosses. Im weiten Park befindet sich das Gartentheater, für das Goethe einige Stücke geschrieben hat, die er selbst dort zur Aufführung brachte. Hier fühlt man sich dem ruhmreichen historischen Weimar näher als im Stadtpalais. Die Großherzoginmutter empfing uns mit betonter Herzlichkeit. Beim Tee erzählte sie uns ungezwungen von ihrem Leben in den Frühlings- und Sommermonaten. Dieses Jahr hatte sich ihre Übersiedlung nach ihrem Winterquartier Rom verzögert, von wo aus sie verhältnismäßig bald zurückzukehren gedachte. Sie erklärte sich mit Vergnügen bereit, vom Frühling an zu meiner Verfügung zu sein, um möglichst rasch die Verbindungen zu den Kunsthandwerkern und den Vertretern der Kunstindustrie herzustellen.

Sie hätte uns noch lange bei sich behalten, wenn ich nicht dem Grafen von Finckenstein und Harry Kessler zugeflüstert hätte, daß ich unbedingt in einer halben Stunde am Bahnhof sein müsse. Dieser plötzliche Aufbruch war ein Verstoß gegen die Etikette, die vorschreibt, daß die Fürstin das Zeichen zur Beendigung eines Gespräches oder Besuches gibt. Ich hatte niemand erzählt, welches tragische Zusammentreffen mich zwang, den Abendschnellzug Berlin-Frankfurt zu nehmen, um rechtzeitig in Antwerpen anzukommen. Kessler instruierte den Oberstallmeister, und ich verabschiedete mich von meiner Gastgeberin, die über mein vorschriftswidriges Verhalten verstimmt war. Mir war die grundlose und grobe Kränkung der Großherzoginmutter, die sich mir gegenüber so entgegenkommend und liebenswürdig gezeigt hatte, unendlich peinlich.

Graf Finckenstein übernahm es, mich noch am gleichen Abend bei der Großherzoginmutter zu entschuldigen. Für mich war es eine harte Prüfung, den Schmerz über den Tod meines Vaters während der zwei Tage zu unterdrücken, die mich an Weimar und an einen Fürsten binden sollten, über dessen Charakter niemand etwas ahnte. Wenn ich damals schon die Prinzessin Reuß, die Schwester des Vaters Wilhelm Ernsts gekannt hätte, so hätte sie mich vor dieser raschen Entscheidung gewarnt, die einen so tiefen Einfluß auf mein Schicksal und das der Meinen haben sollte.

Der Leser mag sich vorstellen, in welchem Zustand ich in Antwerpen ankam. Ich fühlte mich wie ein plötzlich erwachender Nachtwandler vor dem Sarg meines Vaters, den die Nachricht über die Entscheidung in Weimar tief befriedigt hätte. Und wie wünschte ich selbst, ihm meine Dankbarkeit für seine Güte zu bezeigen, mit der er materielle Opfer auf sich genommen hatte, damit ich in aller Unabhängigkeit bis zum Augenblick meiner Hochzeit meinen Weg gehen konnte.

Maria gegenüber empfand ich Skrupel, daß ich die für sie und unsere Kinder so wichtige Entscheidung allein getroffen hatte. Harry hatte am Morgen seiner Rückkehr nach Berlin – zur gleichen Stunde, zu der ich dem Begräbnis meines Vaters beiwohnte – Maria über alles unterrichtet. Mit der gleichen Entschlossenheit, die sie seit unserer Verlobung stets bewiesen hatte, stimmte sie dem Opfer zu, welches das Schicksal von mir forderte: dem endgültigen Verzicht auf das Haus »Bloemenwerf« und auf unsere Freunde in Belgien.

Es stand uns die Lösung einer Reihe von großen Schwierigkeiten bevor. Ich sage »uns«, weil Maria an all diesen Problemen lebhaften Anteil nahm und weil sie viel dazu beitrug, die Lage zu entwirren: einen Aufenthalt abzubrechen, der von der Berliner Gesellschaft mit so viel Interesse und Wohlwollen begrüßt worden war, und vor allem den Vertrag mit Hirschwald aufzulösen, bevor die sensationelle Neuigkeit meiner Berufung nach Weimar bekanntgegeben werden konnte. Aus diesem Grund hatte ich vom Großherzog von Sachsen-Weimar einen Aufschub von wenigen Monaten erbeten.

Paechter gelang es rasch, von Hirschwald die Einwilligung zu einer gütlichen Trennung zu erhalten. Viele, scheinbar widersprechende Gründe veranlaßten Hirschwald zu dieser Entscheidung: der fanatische Antisemitismus Karl Ernst Osthaus’; die Gefahr, die Kundschaft aus den Kreisen der Aristokratie und der hohen Beamtenschaft des Reiches zu verlieren, die auf meiner Seite standen, und die Furcht, sich zu sehr in einer künstlerischen Richtung vorgewagt zu haben, welcher der Kaiser ablehnend gegenüberstand. Paechter hoffte, daß Weimar für uns ein sichererer Hafen würde als Berlin, wo – wie er in seinem saftigen Berliner Dialekt sagte – der Künstler wie ein Fisch behandelt werde, dessen gutes Fleisch man genießt und ebenso rasch vergißt; am nächsten Tag verzehrt man den nächsten Fisch.

Bevor wir Berlin verließen, hatten wir noch viele gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen und vor allem von vielen Freunden Abschied zu nehmen. Das Abschiedsessen, das wir Maximilian Harden, Walther Rathenau und Samuel Sänger gaben, dem eifrigen Mitarbeiter der unabhängigen Zeitschrift »Die Neue Rundschau«, der später Marias jüngere Schwester, die Schülerin des Geigers Eugène Ysaÿe, heiratete, erhielt eine besondere Bedeutung. Harden wollte ich den Dank für die Unterstützung abstatten, die er meiner Sache in seiner Zeitschrift »Die Zukunft« geliehen hatte, und zu Rathenau hatte sich seit meinen Vorträgen im Hause Cornelia Richters eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Gegen Ende der Mahlzeit waren unsere Geister vom lebhaften Gedankenaustausch, von den ausgezeichneten Speisen und dem guten Wein erhitzt. Als Maria die Tafel aufgehoben hatte und wir uns in den Salon begaben, sagte ich zu Harden: »Könnte ich nur einmal wie Sie, mein lieber Freund, in einer Festung oder einem Gefängnis in Ruhe leben und mich sammeln, um die Entdeckung zu überdenken, zu der mich gerade eben unser Gespräch geführt hat.«

Wir saßen um den Tisch, Maria füllte unsere Kaffeetassen und Likörgläser. Harden nahm das Gespräch wieder auf und wendete sich an Rathenau und Sänger: »Van de Velde hat ein so großes Bedürfnis nach Ruhe, daß er bereit zu sein scheint, sich mit radikalen Mitteln den Verpflichtungen zu entziehen, die ihn hindern, über eine eben gemachte Entdeckung nachzudenken. Er beneidet mich um die Methode, die ich anzuwenden pflege: das Verbrechen der Majestätsbeleidigung.«

Es verstand sich von selbst, daß ich nähere Erklärungen schuldig war. Maria wollte gehen, um uns »unter Männern« allein zu lassen; sie blieb stehen, um die neue Wahrheit zu erfahren, die mir aufgegangen war. Im Laufe unseres Gesprächs über die Fragen vernunftgemäßer Gestaltung war ich mir darüber klargeworden, daß die Entwicklung der von den Architekten und Kunsthandwerkern verwendeten Materialien seit der Antike in einer einzigen Richtung erfolgt: in der Richtung einer fortschreitenden Entmaterialisierung und Verringerung ihrer Schwere. Ich erinnerte an einige Beispiele. An die Entwicklung des Steines, die in der Gotik zu einer völligen Entmaterialisierung führt, an mittelalterliche Schmiedearbeiten, an das Filigran orientalischen Schmuckes, an venezianisches Glas, persische Teppiche und an Brüsseler Spitzen. Harden riß ein Blatt von seinem unvermeidlichen Notizblock, notierte den wesentlichen Inhalt meiner Worte und ließ sie von den Anwesenden unterschreiben. Dieses Blatt ist das erste Zeugnis einer Beobachtung, der alle Anwesenden in einer Atmosphäre von Begeisterung und guter Laune kapitale Bedeutung beimaßen. Ich selbst wünschte sechs Monate Ferien, um über die Entdeckung zu meditieren und ein Manuskript auszuarbeiten, das Harden zur Verfügung gestellt werden sollte.

In Berlin vollendete ich noch die letzten Zeichnungen und Modelle für die Einrichtung von Osthaus’ Folkwang-Museum. Ich versuchte, Profile zu entwerfen, die zu den Balken und zum Metallgerüst des Gebäudes paßten. Mir schwebte dabei eine enge Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur vor. Es waren für die kleinen isolierten oder in Bündeln zusammengefaßten Stützbalken neuartige Profile zu schaffen, die mit der Konstruktion aufs engste zusammengingen. Die entstehenden Kurven und Profile waren ebenso frei von jedem dekorativen Hintergedanken wie die organisch entstandenen Kapitelle des dorischen oder ionischen Stils. Ich hatte ein Problem zu lösen, das in der Natur durch das Verhältnis von Skelett und Fleisch vorgebildet ist. Von hier aus gesehen, beantwortet sich die Frage nach der Verkleidung eines Metallgerüstes in gesunder und normaler Weise.

WEIMAR I

AUF DER HÖHE DES SCHAFFENS

In Weimar zogen wir in ein neues Haus in der Cranachstraße im Wohnviertel »Silberblick«; es lag nur wenige hundert Meter von Elisabeth Förster-Nietzsches Villa entfernt. Ich hatte meinen treuen Mitarbeiter Hugo Westberg von Berlin nach Weimar mitgenommen, einen intelligenten, freundlichen Schweden, der sich von einem einfachen Kunsttischler zu einem hervorragenden Zeichner entwickelt hatte. Er war ein guter Freund unserer Familie geworden. Zusammen mit Maria richtete er mit den wenigen beweglichen Möbeln, die wir aus Haus »Bloemenwerf« kommen ließen, die Wohnung ein.

Für die Ausstattung eines kleinen Salons griff er auf Möbelzeichnungen zurück, die für die Brüsseler »Ateliers« entworfen worden waren. Er setzte sich mit dem Weimarer Hoftischler Scheidemantel in Verbindung, der sich bereit erklärte, die Ausführung zu übernehmen. Es zeigte sich rasch, daß Scheidemantel ein kultivierter, seinem Beruf leidenschaftlich ergebener Kunsthandwerker war, dessen Vorfahren seit weiß Gott wie langer Zeit sich im gleichen Beruf betätigt hatten. Als ich nach Weimar kam, beschäftigte er etwa zwanzig Arbeiter. Bald darauf waren es mehr als doppelt so viele. Er erkannte, daß Hugo Westberg ein vorzüglicher Fachmann war. Als dritter im Bunde saß ich oft auf einem Haufen Bretter in der Werkstatt und leitete die Arbeit in Richtung auf die Ziele, die ich mir zu erreichen vorgenommen hatte. So kam es, daß Scheidemantel alle meine während der Weimarer Jahre entworfenen Möbel ausführte. Seine Hingabe und seine Gewissenhaftigkeit wirkten beispielhaft auf die anderen Kunsthandwerker des Großherzogtums, die mit mir zusammenarbeiteten.

Westberg fand in den aus Uccle mitgebrachten Kisten genügend »Dahlia«-Tapetenrollen, die verwendet werden konnten. Die ganze Einrichtung der Wohnung konnte so arrangiert werden, daß Maria und ich nicht zu sehr unter der banalen und kleinbürgerlichen Folge der Räume zu leiden hatten. Man konnte einigermaßen in einer Atmosphäre atmen, aus der die schlimmste Häßlichkeit verbannt war und die sich von dem Durcheinander unterschied, das in den Häusern der kleinen Residenz das Normale war.

Den meisten unserer Besucher mißfielen vor allem unsere Bilder. Ich erinnere mich an das Entsetzen einer alten Gräfin, die vor den Bildern Signacs, Matisses und Vuillards im Eßzimmer mit dem Ausdruck tiefster Bestürzung sagte: »Und Sie, Professor, finden so etwas schön!« Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen. In solchen Momenten sah ich, welche Unwissenheit, welche Distanz überwunden werden mußten, um meiner neuen Umgebung näherzubringen, was mir selbstverständlich war.

Für die Räumlichkeiten des »Kunstgewerblichen Seminars« und meiner Privatateliers entschied ich mich für ein altes, weitläufiges Haus, in dem einst der Maler Friedrich Preller, eine der Weimarer Lokalgrößen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gelebt hatte. Früher lag es mitten in den Feldern zwischen der Belvedere-Allee und dem Park. Auch jetzt hatte es noch seinen Charakter als »Landhaus« bewahrt; es lag für sich und war von schönen Bäumen umgeben. Im Erdgeschoß und in der ersten Etage richtete ich das Seminar mit allen nötigen Werktischen ein, in der zweiten meine Ateliers. Es lag mir daran, so rasch wie möglich die Verbindung zwischen meiner früheren Tätigkeit und meinen zukünftigen Aufgaben herzustellen. Mein Arbeitsfeld war bedeutend größer geworden und meine Autorität durch meine neue Stellung offiziell anerkannt.

Als wir kaum in unsrer neuen Wohnung eingerichtet waren, erschien bei mir der Präsident des Vereins Deutscher Ingenieure, der Generaldirektor W. von Oechelhäuser. Er stellte sich mit allen seinen Titeln vor, und wir setzten uns im kleinen Salon zusammen. Der Geheimrat kam in offizieller Mission. Die letzte Generalversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure ließ mir durch ihn den Dank für ein Kapitel in meinem Buch »Die Renaissance im Kunstgewerbe« aussprechen, das die Mitglieder des Vereins tief beeindruckt hatte. In diesem Kapitel hatte ich gefordert, daß der Ingenieur dem Künstler gleichgestellt werden solle; die Werke des Brücken- und Schiffsbaus, die Lokomotiven und anderen Maschinen wie auch die großen Straßen und die Anlage von Städten seien ebenso als Werke der Kunst zu betrachten wie die Architektur, die Malerei, die Bildhauerei, die Dichtung oder die Musik.

Lange vor meiner Zeit hatten schon Emile Zola und Joris Karl Huysmans die »Kunst der Ingenieure« verteidigt, erklärte ich dem Geheimrat, und Napoleon I. hatte verlangt, daß die großen Werke des Chausséebaus gleichberechtigt mit den Denkmälern, Gemälden und Werken der Bildhauerei an den alljährlichen Wettbewerben des Departements der Künste teilnehmen sollten. Mit aller Deutlichkeit wies ich im weiteren Verlauf unserer Unterredung auf den Mißbrauch hin, jedem Architekten, Maler, Bildhauer oder Schriftsteller den Rang eines »Künstlers« zuzumessen, nur weil er eine dieser Künste »ausübt«. Ich könne diesen Rang nur einigen wenigen zuerkennen. Bei den Ingenieuren sei es wohl kaum anders, fügte ich etwas boshaft hinzu.

Kurz nach dem Besuch des Präsidenten von Oechelhäuser erhielt ich zwei architektonische Aufträge, den einen von Herbert Esche, den anderen von einem Arzt in Den Haag, Doktor Leuring. Für Herbert Esche hatte ich schon 1898 Möbel entworfen. Mit der für Harry Kessler geschaffenen Einrichtung waren sie die letzten, die in den Brüsseler »Ateliers« hergestellt worden waren. Jetzt hatte Herbert Esche ein Grundstück an der Peripherie von Chemnitz gekauft. Er wünschte, ein Haus zu haben, das mit dem Geist der für ihn geschaffenen Möbel und anderen Gegenstände übereinstimmte, um endlich den zwischen der Einrichtung und der vulgären und prätentiösen Mietswohnung bestehenden Widerspruch zu beseitigen, in dem er lebte. Er empfand, wie er mir sagte, diesen Kontrast als eine ständige Beleidigung, von der ihn nur ein von mir entworfenes Haus befreien könne, dessen Außenbau der gleichen künstlerischen Konzeption entspräche wie der Innenbau und die Möbel. Von Doktor Leuring wußte ich nur, daß er ein intimer Freund des Malers Jan Thorn Prikker war und dessen Geschmack, seine Überzeugungen und vor allem seine Vorliebe für exotische Dinge teilte.

Wiederum stellte ich mir die Frage, ob ich mich jemals mit anderen Menschen so weit identifizieren könnte, um für sie zu tun, was ich mit dem Haus »Bloemenwerf« auf natürlichste Weise für Maria und mich geschaffen hatte. Die Antwort auf diese Frage hing eng mit der Entwicklung meiner Laufbahn zusammen. Der Umkreis meiner Tätigkeit breitete sich aus. Ich hatte mir wesentliche Kenntnisse in allen Techniken des Kunsthandwerks erworben; jetzt galt es, mir die besonderen Grundlagen der architektonischen Konstruktion anzueignen. Im Grunde war es für mich keine große Sache. Ich glaube tatsächlich, daß es komplizierter und schwieriger ist, den Detailplan eines Stuhles zu entwerfen als die Pläne für eine Villa, eine Schule, ein Hotel oder einen Bahnhof.

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Die Villa Esche in Chemnitz, eines der ersten von van de Velde entworfenen Häuser

Die beiden Häuser in Holland und Deutschland erregten das gleiche Erstaunen, die gleiche Kritik und das gleiche Lob wie einige Jahre vorher unser Haus »Bloemenwerf« in Belgien. Es zeigte sich, daß ich mehr und mehr auch auf dem Gebiet der Architektur zu den Bahnbrechern gehörte, die mit Hilfe des Prinzips der vernunftgemäßen Gestaltung wirksam zur Erneuerung beigetragen haben. Alle meine Bauten, die den am Beginn meiner architektonischen Laufbahn stehenden Häusern »Bloemenwerf«, Esche und Leuring folgten, sind Zeugnisse meines persönlichen Beitrages zur Entwicklung des »neuen Stils« geworden.

Das »Kunstgewerbliche Seminar«

Meine Berufung nach Weimar als künstlerischer Berater wurde weithin als außerordentliches Ereignis empfunden und die mir gestellte Aufgabe mit großem Interesse verfolgt. In keinem Lande gab es etwas Ähnliches, und kein Souverän, keine Regierung hatte daran gedacht, das verfallene Kunsthandwerk unter ihren Schutz zu nehmen, obwohl es ein großes historisches Vorbild gab: den Tuchhändlersohn Colbert, der als Minister Ludwigs XIV. die französischen Manufakturen gegründet hatte.

Es fiel besonders auf, daß die Wahl des Großherzoges Wilhelm Ernst auf einen ausländischen Künstler gefallen war, dessen Meinungen und Schöpfungen in den offiziellen Kreisen als subversiv und revolutionär verschrien waren. Der Großherzog indessen stützte sich auf die Meinung seiner nächsten Berater, die für Weimar eine neue Ära herbeizuführen und eine Tradition wiederzubeleben wünschten, die schon zweimal zu Höhepunkten des Geisteslebens geführt hatte. Die Dienste, die der Großherzog von mir erwartete, waren auf realistische Ziele gerichtet. Sowohl künstlerische wie wirtschaftliche Interessen veranlaßten ihn und seine Regierung, mich mit der Aufgabe zu betrauen, das Niveau der kunsthandwerklichen und kunst-industriellen Produktion zu heben.

Zunächst galt es, meine Ideen zu konsolidieren und bei den Handwerkern und Industriellen möglichst rasch bekanntzumachen. Ich gründete deshalb neben meinen Privatateliers, zu denen sich gleich nach meiner Übersiedlung nach Weimar spontan einige Schüler gemeldet hatten, ein Institut zur Unterstützung der Arbeit von Kunsthandwerk und Industrie, genauer gesagt eine Art Laboratorium, in dem sich jeder Handwerker oder Fabrikant kostenlos beraten und seine Erzeugnisse analysieren und verbessern lassen konnte. Zu Beginn war ich alles in einer Person: Berater, Anreger, Korrigierender. Später, nachdem ich die Kunstgewerbeschule ins Leben gerufen hatte, halfen mir meine Mitarbeiter und auch Schüler. Die fruchtbaren Ergebnisse dieser Institution zeigten sich sehr rasch.

Ich taufte dieses Institut »Kunstgewerbliches Seminar«, weil ich überzeugt war, dort den Samen sammeln und verteilen zu können, der dann im Kunsthandwerk und in der Kunstindustrie aufgehen sollte. Jeder Zeichner oder Modelleur konnte unter meiner Kontrolle seine Arbeit durchführen, die er dann in seinem Betrieb weiterentwickelte. Ich glaube sagen zu dürfen, daß keiner dieser Zeichner oder Modelleure in seine Fabrik oder Werkstatt zurückgekehrt ist, der nicht wirklich glücklich war, einmal in einer Atmosphäre gearbeitet zu haben, in der im Gegensatz zu den Fabriken keine Hast herrschte, wo sekundäre und engherzige Interessen verbannt und wo alles darauf angelegt war, sauber zu arbeiten, befriedigende Ergebnisse zu erzielen und die vollkommenste Form zu finden. Alle sind ermutigt, erfrischt und bereichert von Wissen und von den ihnen vermittelten Grundsätzen, die ich bei den Korrekturen zu erklären und formulieren versuchte, wieder an ihre Arbeit gegangen. Sie vervollständigten ihre Kenntnisse im Umgang mit meinen Mitarbeitern und Schülern, die ihrerseits Wesentliches von den Fachhandwerkern lernten. Diese wiederum profitierten vom Talent meiner Schüler und von ihrer jungfräulichen Frische und ihrer Freiheit von jedem merkantilen Hintergedanken. Später, nach der Gründung der Kunstgewerbeschule, veranstaltete ich unter den fortgeschrittenen Schülern mehrmals Wettbewerbe, bei denen Modelle geschaffen werden mußten, die durch Vermittlung des Seminars den interessierten Industriellen zur Ausarbeitung überlassen wurden.

Das »Seminar« wurde das wirksamste Instrument, um auf dem kürzesten Weg zu dem Ziel zu gelangen, das ich mir gesetzt hatte: zur Zusammenarbeit von Künstler, Kunsthandwerker und Fabrikant. Ich habe diese Zusammenarbeit sechs Jahre vor der Gründung des Werkbundes und zwanzig Jahre vor dem »Bauhaus« verwirklicht. Im Verlauf meiner Darstellung komme ich noch einmal auf die Gründung des Werkbundes zurück. Was den Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, betrifft, den ich als meinen Nachfolger empfahl, so gehöre ich zu den aufrichtigen Bewunderern des Elans, mit dem er meine unter schwierigen Umständen von 1901 bis 1914 durchgeführten Bestrebungen aufgenommen und verbreitet hat.

Eine Reihe von Fabrikanten wurde sich rasch über die praktischen Vorteile des »Kunstgewerblichen Seminars« klar. Sie schlugen ihrerseits dem Seminar die Veranstaltung von Wettbewerben vor, zu denen sie bescheidene Beiträge zur Verfügung stellten. Auch die Regierung bediente sich mehrmals dieser Möglichkeit, um Modelle für die Korbflechterei, die Töpferei und für Spielzeuge zu erhalten, die im Großherzogtum Sachsen-Weimar im Rahmen der Hausindustrie erzeugt wurden.

Ich erkannte aber bald, daß mit der Überlassung einer Zeichnung oder eines Modells an den Kunsthandwerker oder Fabrikanten längst nicht alles getan war. Die Ausführung ließ dermaßen zu wünschen übrig, und die Materialien waren von derart schlechter Qualität, daß alle unsere Anstrengungen im Seminar wie auch die der Zeichner und Modelleure, die während ihres Aufenthaltes in Weimar ihr Bestes zu geben versuchten, vereitelt, wenn nicht zunichte gemacht wurden. Auf alles, was nicht unter meiner ständigen Leitung und Überwachung im direkten Umkreis meines Ateliers geschah, hatte ich nur wenig oder überhaupt keinen Einfluß. In den Werkstätten der Weimarer Kunsthandwerker jedoch, wo ich wohlgelitten und sehr oft mit dabei war, fühlten sich die mit der Ausführung der Modelle und Zeichnungen betrauten Arbeiter ermutigt, so daß die Ergebnisse auch entsprechend gut waren.

Außerhalb Weimars kümmerten sich nur verhältnismäßig wenige Kunsthandwerker oder Fabriken um unsere Bestrebungen. Die Porzellan-, Teppich- und Spielzeugindustrie produzierte vor allem Massenware zu möglichst billigen Preisen. Die erfreulichsten Auswirkungen meiner Anstrengungen realisierten sich in den Erzeugnissen der Töpferei in Bürgel, der Korbflechtereien in Tannroda und der Fabrik in Ruhla, die Pfeifen und Zigarrenspitzen aus Meerschaum herstellte.

Was in Weimar geschah, war kein vereinzeltes Experiment. Auch das Verantwortungsgefühl des Großherzogs der Tradition gegenüber, das ihn zum Handeln bestimmte, hatte seine Ursachen. Den Fürsten der deutschen Bundesstaaten war jede Initiative auf dem Feld der großen Politik und jede tatsächliche Mitwirkung an der Leitung des Kaiserreiches versagt. Wenn ihnen nach den Jahren des Militärdienstes oder als Korpsstudenten einer Universität noch eine Spur von Interesse außer für die Jagd verblieb, suchten sie eine gewisse Befriedigung durch Förderung dessen, was man Kunst und Kultur nannte. Unter aufgeklärten und begeisterungsfähigen Fürsten hat es immer Rivalitäten gegeben, die sich oft als fruchtbar erwiesen. So entwickelte sich je nach der besonderen Vorliebe des regierenden Souveräns eine Tradition, die bald dem Theater, der Musik, der Literatur oder der Malerei zugute kam. Weimar, Gotha, Meiningen, Karlsruhe und Stuttgart, München und Dresden wetteiferten auf den Gebieten der Kunst, wie die zahlreichen deutschen Universitäten zum großen Vorteil der Wissenschaft miteinander rivalisierten. Wir erlebten damals den Konkurrenzkampf der großen Zentren Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln oder Düsseldorf auf dem Gebiet der Museen, ein Beispiel der Großzügigkeit der Bürger, die aus Lokalpatriotismus bestrebt waren, mit ihren eigenen Museen diejenigen der Nachbarstädte zu übertrumpfen. Verglichen mit solcher allgemeinen Aktivität mußte die mir zugewiesene spezielle Aufgabe – das moralische Niveau und damit die Qualität der Produktion zu heben – als ungewöhnlich erscheinen.

Wir befanden uns in einem kleinen Land, dessen patriarchalische Sitten und Vorstellungen noch nicht dem Schock sozialer und ökonomischer Erschütterungen ausgesetzt worden waren. Abgesehen von den beiden Weltfirmen Zeiss und Schott in Jena waren die zahlreichen Industrien des Landes Eigentum kleiner Leute. Wenn sie auch gezwungen waren, ein wenig über ihren eigenen Horizont zu schauen, so behielten sie doch die alten thüringischen Sitten und ihre jahrhundertealte Anhänglichkeit an das Fürstenhaus bei.

Ich erkannte, daß gerade aus dieser Anhänglichkeit und den traditionellen Produktionsbedingungen Nutzen zu ziehen sei. Eine Reihe von Berichten an den Großherzog war das Ergebnis meiner ersten Inspektionen. Es hätte mir noch Freude gemacht, diese Rapporte aus den Akten des Ministeriums auszugraben, wo sie zusammen mit anderen Aktenstößen verstaubten.

Jugendstil