Dreißig Sekunden.
Nach dreißig Sekunden musste Oliver den Fritteusenkorb aus dem Öl holen und die Pommes kurz schwenken.
»Hast du das gesehen?«, fragte Tyrell.
»Was gesehen?«, erwiderte Oliver beiläufig.
»Der Neue! Er arbeitet erst seit gestern hier und schon darf er die Kunden bedienen! Mann, ich reiß mir hier seit einem halben Jahr den Arsch auf und stehe immer noch hinterm Grill.«
Oliver lächelte müde. Seit genau zehn Tagen arbeitete er bei McDonald’s in der East Tremont Avenue. Tyrell, sein Nachbar und Freund, hatte ihm diesen Job verschafft. Er war ein riesenhafter Kerl – mit einem Hautton so dunkel wie Bitterschokolade –, der mindestens dreihundert Pfund auf die Waage brachte.
»Das ist unfair!«, quengelte er.
»Ist doch nicht so schlimm hier«, versuchte Oliver, ihn zu besänftigen.
»Und warum arbeitest du in der Küche und nicht draußen?« Es wurde gemunkelt, dass die attraktiven Mitarbeiter recht schnell hinter die Kasse durften, während sich andere erst hocharbeiten mussten. »Mit deinem Gesicht bist du für den Job perfekt geeignet.«
»Mir gefällt’s hier«, meinte Oliver mit einem schelmischen Grinsen, bevor er auf seinen linken Unterarm deutete, der von Tattoos überzogen war. Er legte keinen Wert darauf, mit langärmeligen, hochgeschlossenen Shirts herumlaufen zu müssen. Und im Mitarbeiterhandbuch der Fast-Food-Kette stand genau das: Tattoos durften für die Kunden nicht sichtbar sein.
»Wir sind hier in East Tremont, nicht am Times Square. Um deine Tattoos schert sich doch keiner«, meinte Tyrell.
Die Pommes waren fertig und Oliver holte den Fritteusenkorb aus dem Öl.
Sieben Sekunden.
Er musste sie sieben Sekunden lang abtropfen lassen, bevor er sie in den vorgesehenen Behälter schüttete.
»Musst du nicht los?«, wollte Tyrell wissen, während er das Fleisch auf den Grill legte. Oliver blickte kurz auf seine Armbanduhr. Normalerweise blieb er noch länger und unterhielt sich mit Tyrell, während dieser Pause machte. Heute hatte er es aber eilig. Chloe Right wollte, dass er ihre Familie kennenlernte.
Er nahm die Schürze ab und überließ die Fritteuse einem Kollegen, der gerade mit seiner Schicht anfing.
Tyrell war ihm auf den Fersen, als Oliver sich in den Pausenraum aufmachte.
»Erzähl schon!«, quengelte er.
»Was willst du wissen?«
»Wer die Kleine ist! Hast du ein Foto?«
»Ein Foto?« Oliver runzelte die Stirn, bevor er das Telefon aus der Hosentasche zog und die Bilder-App öffnete. Chloe hatte vor kurzem darauf bestanden, dass er ein Foto von ihnen machte. Sie hatten sich bei Starbucks getroffen. Auf dem Bild war sie ganz nah an ihn herangerutscht. Glücklich lächelte sie in die Kamera.
»Wow! Die Kleine ist heiß! Und sicher nicht billig! Wo findet man solche Frauen?«, staunte Tyrell.
»Im Internet«, entgegnete Oliver, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte einen Blog, wo sie gerne über fremde Länder und deren Essgewohnheiten schrieb. Oliver hatte ihre Artikel kommentiert. So hatten sie sich kennengelernt.
»Bei Tinder?«, hakte Tyrell nach.
»Was ist Tinder?«
»Diese Dating-App! Lebst du hinterm Mond?«
»Nie davon gehört.« Oliver machte sich nicht auf die Suche nach Frauen, sie fanden ihn in der Regel ganz von allein.
»So einer wie du wird vermutlich auf offener Straße angesprochen«, murrte Tyrell beleidigt.
»Worüber beschwerst du dich? Ich dachte, du bist glücklich verheiratet?«
»Seit der Hosenscheißer auf der Welt ist, kann ich nachts nicht mehr schlafen. Vater sein ist echt die Härte, Mann! Und im Bett läuft sowieso nichts mehr!«, jammerte Tyrell.
Mit einem Schmunzeln ging Oliver in die Umkleidekabine, um sich seiner McDonald’s-Uniform zu entledigen. Wieder war ihm sein Freund gefolgt. Da sie zu unterschiedlichen Zeiten mit ihrer Schicht begannen, hatte Tyrell ihn noch nie ohne Klamotten gesehen. Er sog scharf Luft ein, als Oliver nur noch in Boxershorts vor ihm stand. Seine Arme, seine Schultern, seine Brust und sein Oberschenkel waren tätowiert.
»Dachte echt nicht, dass du einer bist, der so krass auf Schmerzen steht«, meinte Tyrell nüchtern. Oliver gehörte nicht zu den Empfindlichen, das stimmte. Im Gegensatz zu Tyrell beschwerte er sich nicht immerzu, wenn ein Tropfen Öl durch die Luft flog und auf seinen Armen oder im Gesicht landete. Seit Oliver hier arbeitete, hatte er sich schon zweimal am Fritteusenkorb verbrannt – es gab Schlimmeres.
»Ist ’ne lange Geschichte«, seufzte er. »Eigentlich sind’s viele Geschichten.« Jedes seiner Tattoos erzählte eine.
»Was sagt denn deine Freundin dazu?« Tyrell deutete auf seinen Oberkörper, während Oliver ein Hemd aus dem Spind holte, das er gestern erst gekauft hatte. Es war noch eingepackt, in Folie. Er hatte es bei Walmart erworben, um fünfzehn Dollar. Schnell zog er es an.
»Sie denkt, meine Tattoos sind sexy«, log Oliver. Bislang hatte Chloe – genau wie Tyrell – nur jene auf seinen Unterarmen gesehen, da er meist T-Shirts trug. Diese zumindest fand sie cool. Er wollte seine Tätowierungen nicht verstecken müssen, er legte aber auch keinen Wert darauf, sie provokant zur Schau zu stellen. Es missfiel ihm, wenn die Leute starrten. Besonders die Frauen. Sie liebten es nämlich, seinen Körper zu betrachten wie ein Exponat in einer Kunstgalerie. Dann fuhren sie mit den Fingerspitzen über die dünnen Linien, als wollten sie die Tattoos nachzeichnen und erwarteten von ihm, dass er ihnen etwas darüber erzählte.
Aber seine Geschichten behielt er lieber für sich.
»Und was sagen ihre Eltern dazu? Die Kleine sieht nicht so aus, als wäre sie in der Bronx aufgewachsen.«
»Ihre Familie ist stinkreich, das stimmt«, gab Oliver zu.
»Mann, hast du ein Glück! Und dann ist die Kleine auch noch heiß! Erzähl schon ... Hat sie im Bett ein paar Tricks drauf?«
Oliver griff erneut nach seinem Telefon und betrachtete sich das Foto. Chloe war jung, hübsch, sexy.
»Keine Ahnung«, gab er zu.
»Du hast noch nicht ...?« Tyrell machte obszöne Bewegungen mit der Hüfte und Oliver wandte sich kopfschüttelnd ab.
»Nein«, sagte er.
»Du nimmst mich auf den Arm! Komm schon!« Tyrell boxte ihm in die Seite. »Wenn schon ich nicht mehr zum Zug komme, dann muss doch wenigstens mein Kumpel Sex haben. Du willst es mir bloß nicht erzählen, gib’s zu! Mann, ich überleg gerade ernsthaft, ob ich noch mit dir befreundet sein will! Ist es zu viel verlangt, dass ich an deinem Sexleben teilhaben will, wenn ich schon selbst keins mehr habe! Sei nicht so hartherzig. Verrat mir endlich ein paar dreckige Details!« Tyrell war eine richtige Dramaqueen.
»Vielleicht solltest du dich bei Tinder umsehen«, witzelte Oliver, woraufhin sein Freund ein entsetztes Gesicht zog.
»Niemals!«, sagte er entrüstet. »Bis dass der Tod uns scheidet – so was nehme ich ernst. Ich liebe meine Frau! Ich meine, deine Kleine ist ja ganz niedlich, aber mit meiner Hailey kann sie nicht mithalten! Keine Chance!«
Oliver kramte grinsend die neue Jeans aus dem Spind – auch diese hatte er erst gestern besorgt. Zwei Minuten später war er fertig angezogen.
»Und? Wie sehe ich aus?«, fragte er. Ein schicker Anzug wäre sicher die bessere Wahl gewesen. Tyrell beugte seinen massigen Oberkörper nach vorne und schnüffelte an ihm wie ein Schwein auf Trüffelsuche.
»Du stinkst nach Fritten«, sagte er geradeheraus. Wer bei McDonald’s in der Küche arbeitete, roch leider nicht nach Armanis Acqua di Giò. Zum Duschen blieb aber keine Zeit.
Chloe hatte ihn zum Abendessen bei sich zu Hause eingeladen. Ihre Familie lebte in Manhattan, 5th Avenue – wo sonst? Wenn er nicht zu spät kommen wollte, musste er sich beeilen. Ein Auto besaß er nicht, aber in New York City kam er sowieso ohne Wagen schneller voran. Er hatte vor, einen Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen, dann würde hoffentlich der Wind das Fett aus seinem Haar blasen. Im schlimmsten Fall würde sich noch ein übler Schweißgeruch dazugesellen, sollte er rennen müssen.
»Ich wünsch dir Glück! Erzähl mir später, wie’s gelaufen ist!« Tyrell klopfte ihm mit seiner massigen Pranke freundschaftlich auf die Schulter und machte sich wieder an die Arbeit.
Oliver ging zum Spiegel, der über dem kleinen Waschbecken, gleich neben den Spinden, hing. Sein Haar war etwas zerzaust, aber ansonsten sah er gut aus.
Plötzlich bimmelte sein Telefon. Anthonys Name erschien am Display. Oliver zögerte, bevor er den Anruf entgegennahm. Erst als er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand hören konnte – vor allem Tyrell nicht, der nur wieder Fragen stellen würde –, ging er dran.
»Warum rufst du an?«, blaffte Oliver ins Telefon.
»Weil ich auf dem Laufenden sein will. Wie sieht’s aus?«
»Ich treffe mich heute mit ihrer Familie – ich komme also voran.«
»Großartig. Das ging ja schnell.« Anthony klang überrascht.
»Das ist der letzte Job, den ich für euch erledige, dann bin ich raus«, stellte Oliver klar.
»Das ist der einzige Job! Oder hat die Agency jemals etwas Ähnliches von dir verlangt? Ich weiß wirklich nicht, worüber du dich beschwerst.«
Oliver schwieg. Er wusste über diesen Job so gut wie gar nichts.
»Ich brauche mehr Informationen«, sagte er.
»Dann hättest du die Agency nicht verlassen dürfen. Ich kann dir im Moment nichts Genaueres sagen«, murrte Anthony. »Und? Macht dir der neue Job mehr Spaß? Ist sicher eine wichtige Herausforderung, Burger zu braten. Keinesfalls vergeudest du damit deine Talen-«
Oliver legte zornig auf. Anthony kannte er seit über fünfzehn Jahren. Und jedes Mal, wenn er sich mit ihm unterhielt, verdüsterte sich seine Laune.
Seufzend verließ er das Gebäude. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als draußen am Straßenrand ein protziger Wagen stand – und seine neue Freundin gleich daneben.
Lässig lehnte sie gegen die Motorhaube.
Chloe trug ein Blusenshirt, dazu Hotpants und bequeme Sneakers. Die Sonnenbrille war schick und passte perfekt zu ihrem Outfit – genauso wie das selbstsichere Lächeln.
»Ich dachte mir, ich komme dich abholen«, verkündete sie und klopfte auf die Motorhaube. Oliver grinste schief.
Mit ihren zweiundzwanzig Jahren glaubte Chloe, alles über die Welt zu wissen. Vor allem glaubte sie, mehr darüber zu wissen als er. Schließlich hatte sie Geld. Eine Menge Geld.
Freudestrahlend kam sie auf ihn zu, hakte sich bei ihm ein und zerrte ihn zum Wagen. Ehe er sich versah, saß er auf dem Rücksitz, gleich neben ihr. Interessiert lugte er zu dem Kerl hinterm Steuer. Das Haar war schlohweiß, der schwarze Anzug saß perfekt. Er sah aus wie einer, der seinen Job sehr ernst nahm.
»Das ist Bill, unser Chauffeur. Normalerweise fährt er Jamie durch die Gegend«, erklärte sie.
Jamie ...
Diesen Namen hörte Oliver nicht zum ersten Mal. Vermutlich handelte es sich um ihren Bruder. Dass Chloe mit einem Freund ankam, der bei McDonald’s arbeitete, würde ihm mit Sicherheit nicht gefallen.
»Das Hemd steht dir«, meinte sie mit einem Lächeln. Bislang hatte sie ihn nur in T-Shirts gesehen. Ihm war klar, dass er für diesen Anlass nicht gut genug angezogen war. Auch war ihm nicht entgangen, dass Chloe ihn für einen mittellosen Träumer hielt, der ziellos durchs Leben stolperte.
Sich an Chloe Right heranzumachen – so lautete sein Auftrag. Es war kein Zufall gewesen, dass er ihren Blog kommentiert hatte. Bislang lief alles nach Plan.
Sie fuhren Richtung Süden und überquerten den Harlem River. Chloe quasselte derweil drauflos – so wie immer.
»Lass dich von Jamie nicht irritieren. Aber meine Mutter wird dich mögen.« Also stand schon fest, dass Jamie ihn nicht mögen würde. Vermutlich wollte dieser Jamie, dass Oliver so schnell wie möglich aus dem Leben seiner Schwester verschwand. Er würde in Zukunft vorsichtig sein müssen.
Chloe erzählte und erzählte. Eigentlich lauschte er gerne ihren Geschichten, nur heute nicht. Auf dieses Abendessen hatte er überhaupt keine Lust. Er hatte auf diesen verdammten Job keine Lust!
Lieber wäre er in sein Apartment gefahren und hätte sich auf seinem winzigen Balkon ein Bier gegönnt, während er darauf wartete, dass über New York City die Nacht hereinbrach. Vermutlich war er der Einzige, der gerne den Geräuschen der Stadt lauschte. Ob es nun das ständige Sirenengeheul war oder die gelegentlichen Schüsse, die immer mal wieder abgefeuert wurden – das Leben in der Bronx war roh und laut. Er war dort aufgewachsen, und nach fünfundzwanzig Jahren war er zurückgekehrt. Warum bloß? Es war ja nicht so, als würde er New York als sein Zuhause betrachten.
»Wir sind da«, sagte Chloe plötzlich.
Sie stiegen aus und standen vor einem beeindruckenden Gebäude aus der Vorkriegszeit. Oliver legte den Kopf in den Nacken und sah hoch.
»Das wird mit Sicherheit interessant werden«, meinte sie mit einem zufriedenen Lächeln und zog ihn energisch ins Innere.
»Warum willst du mich eigentlich deiner Familie vorstellen?«, fragte er geradeheraus. Sie waren kein Paar. Kein einziges Mal hatten sie sich geküsst – und Oliver hatte auch nicht vor, etwas daran zu ändern. Dass er sich stets sehr reserviert gab, schien Chloe nicht zu entmutigen. Ob sie etwas im Schilde führte? Wahrscheinlich waren sie beide unehrlich zueinander.
»Du bist ein netter Kerl und ich will, dass sie dich kennenlernen. Das ist alles!« Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend, dabei war es gerade diese Fröhlichkeit, mit der es ihr spielend leicht gelang, anderen Menschen ihren Willen aufzuzwingen.
Gemeinsam spazierten sie zum Fahrstuhl. Wie erwartet, gab es hier eine Menge Sicherheitspersonal. Wäre nicht Chloe an seiner Seite gewesen, hätte er bestimmt keinen Fuß in dieses Gebäude setzen können. Der Sicherheitsbeamte, an dem sie vorbeischritten, grüßte Chloe höflich, während er Oliver misstrauisch beäugte.
Sie betraten den Aufzug und fuhren hoch. Chloe schwieg. Dann auf einmal platzte die Wahrheit aus ihr heraus:
»Kannst du meinen Freund spielen? Nur für heute?« Gespannt schaute sie zu ihm auf.
»Klar«, erwiderte er nach einer kurzen Pause. Sie lächelte zufrieden. Wie vermutet, hatte sie etwas vor.
Der Aufzug hielt. Natürlich lebte ihre Familie ganz oben, in einem Penthouse. Sicher hatten sie einen wunderbaren Blick auf den Central Park und die Manhattan Skyline.
Er zupfte an seinem Hemdkragen und schloss den obersten Knopf, um die Tattoos zu verbergen. Hätte er sich eine Krawatte umbinden sollen?
Ach, was kümmerte es ihn? Das hier war nur ein Job. Der erste und hoffentlich auch der letzte dieser Art.
Jamie Right saß im Besprechungsraum und betrachtete die PR-Fotos für die neue Kollektion. Die Fashion Week war in wenigen Wochen. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Als Chief Creative Officer lastete viel Verantwortung auf ihren Schultern. Noch vor drei Monaten hatte ihr Onkel diese Position innegehabt. Niemand hatte damit gerechnet, dass er sich vorzeitig aus dem Unternehmen zurückziehen würde – und weswegen? Um seinen Lebensabend mit seinem neuen Lover in einem Strandhaus in Miami Beach zu verbringen. Dieser alte Narr!
Nun stand Jamie an der Spitze des kreativen Teams von The Line, einem Luxus-Modelabel, das in Handarbeit individuell maßgeschneiderte Modekreationen aus hochwertigen Materialien anbot. Die meisten Stoffe importierten sie aus Italien und Frankreich. Jamies Aufgabe war es, die Produktionen zu kontrollieren und die Modeschauen zu leiten. Kein Entwurf schaffte es auf den Laufsteg, ohne von ihr abgesegnet worden zu sein.
»Wir sollten die Besprechung lieber ein andermal fortsetzen«, entschied sie. Ihre Mitarbeiter schenkten ihr verwunderte Blicke. Für Jamie stand die Arbeit normalerweise immer an erster Stelle. Aber heute musste sie sich um etwas anderes kümmern.
Zum Abendessen wollte sie keinesfalls zu spät kommen.
Alle Anwesenden erhoben sich und wünschten ihr noch einen schönen Abend. Nur Abigail Harris blieb zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie sogleich. Seit über fünfzehn Jahren arbeitete sie für The Line als Designerin. Ihre Entwürfe kombinierten auf raffinierte Weise Eleganz mit Schlichtheit. Beides Eigenschaften, die Abigail perfekt verkörperte. Als Jamie angefangen hatte, für das Modelabel zu arbeiten, hatte sie es nicht leicht gehabt. Sie hatte beweisen müssen, dass ihr die Position in diesem Unternehmen aufgrund ihres Talents zustand – und sie diese nicht nur erworben hatte, da sie die Nichte von Stephen Right war. Abigail war eine der wenigen gewesen, die sich nicht davon hatten irritieren lassen, als Jamie vor knapp fünf Jahren in kürzester Zeit zur Chefdesignerin aufgestiegen war.
»Chloe will uns heute Abend ihren neuen Freund vorstellen«, erzählte Jamie ohne Umschweife. »Sicher wieder so ein Clown.« Der wievielte war das jetzt? Jamie hatte schon vor einer Weile aufgehört zu zählen.
Chloes letzter Freund war Filmemacher gewesen. Ein Taugenichts mit zerrissenen Jeans und Rastazöpfen, der davon geträumt hatte, in New York groß rauszukommen. Mit nur tausend Dollar in der Tasche hatte er sich von Philadelphia nach Manhattan aufgemacht. Eine Woche lang hatte er in Chloes Zimmer geschlafen, weil er sich die Miete nicht hatte leisten können! Jamie bekam einen hochroten Kopf, wenn sie sich daran erinnerte, dass sie mit diesem Kerl für kurze Zeit hatte zusammenleben müssen!
Verärgert griff sie nach ihrem Smartphone. Chloe hatte ihr sogar ein Foto von ihrer neuen Eroberung geschickt. Ist er nicht umwerfend?, hatte sie dazugeschrieben. Das Foto hatte sie mit Herzchen versehen. Wurde sie denn nie erwachsen? Der Altersunterschied von zehn Jahren machte sich deutlich bemerkbar. Jamie musste sich ständig um sie sorgen.
»Das ist er«, sagte sie zu Abigail und zeigte ihr das Foto. Jamie wollte immer wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Aber dieser Kerl gab ihr Rätsel auf. Während jeder von Chloes Ex-Freunden einen Facebook- oder Instagram-Account gehabt hatte – den Jamie hatte stalken können –, war dieser Typ ein völlig Unbekannter. Oliver Wrong – wie der Name schon sagte: Mit dem stimmte doch etwas nicht!
»Sieht gut aus! Aber ist er nicht einige Jahre älter?«, sagte Abigail.
»Er ist in meinem Alter, vermutlich.«
Schlecht sah er tatsächlich nicht aus. Er war kräftig gebaut, aber nicht übertrieben muskulös. Die Augen waren blau wie der Hudson River in Touristenbroschüren. Das kurze, widerspenstige Haar schimmerte in einem facettenreichen Dunkelblond. Das Lächeln war ... Das Lächeln war umwerfend.
Jamie drückte sich beinahe die Nase am Handydisplay platt. Wenigstens hatte er keinen Nasenring wie der Kerl mit den Rastazöpfen! Den Typen hätte sie am liebsten an diesem hässlichen Ding gepackt und aus der Wohnung gezerrt! Zum Glück hatte sich Chloe bald schon nach einem neuen Freund umgesehen. So war es Jamie erspart geblieben, ihn aus dem Apartment zu prügeln – denn früher oder später wäre ihr der Geduldsfaden mit Sicherheit gerissen!
»Willst du ihn wieder vergraulen?«, fragte Abigail.
»Vergraulen? Was soll denn das heißen?«
»Ich meine, eigentlich geht dich das doch nichts an ...«
»Ich vergraule niemanden!« Jedenfalls hatte sie bislang niemanden vergraulen müssen, weil Chloes Beziehungen ohnehin nie von langer Dauer gewesen waren. Jamie beschränkte sich darauf, das eine oder andere Gespräch mit den Männern zu führen und ihnen dabei auf möglichst subtile – oder vielleicht auch nicht ganz so subtile – Weise klarzumachen, dass sie nicht erfolgreich genug waren, um mit einer Right liiert zu sein.
»Was macht er eigentlich beruflich?«, fragte Abigail, als könnte sie Jamies Gedanken lesen.
»Er ist in der Food-Branche tätig«, sagte sie.
»Und was heißt das genau?«
»Dass er im schlimmsten Fall an einer Straßenecke Pizzaschnitten um einen Dollar verkauft.« Jamie machte sich keine Illusionen. Dass es sich bei dem Kerl um einen erfolgreichen Unternehmer handelte, hielt sie für ausgeschlossen. Ihre Schwester schien viel eher von recht fragwürdigen Fantasten angetan zu sein, die glaubten, in New York City Karriere machen zu können. Einfach so. Mit einem Fingerschnippen.
Jamie rieb sich die Augen, weil sie viel zu lange aus zu geringer Entfernung auf das Display gestarrt hatte. Irgendetwas an diesem Kerl war seltsam. Er war anders als die Männer, die Chloe für gewöhnlich anschleppte. Wirkte er erwachsener? Ernster? Jamie wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht nur an seinem Alter lag.
»Gefällt er dir, oder warum starrst du so?«, fragte Abigail.
»Irgendwie sieht er interessant aus«, gab Jamie zu. Vielleicht wünschte sie sich sogar, kein leichtes Spiel mit ihm zu haben. Jungen, erfolglosen Möchtegern-Filmemachern, Straßenkünstlern oder Pizzalieferanten klarzumachen, dass Chloe eine Frau war, die in einer ganz anderen Liga spielte, machte Jamie keinen Spaß.
»Schade. Wenn deine Schwester ihn sich nicht schon geschnappt hätte, könntest du doch dein Glück versuchen!« Abigail grinste besonders breit und Jamie erwiderte mit einem bitterbösen Blick.
»Männer sind nutzlos«, sagte sie kühl.
»Nun, mir fällt zumindest eine Sache ein, wofür sie nütz-«
»Ich mein’s ernst.« Jamie wollte von Männern, Beziehungen und der Liebe nichts hören. »Männer sind reine Zeitverschwendung. Und du weißt, dass ich meine Zeit nicht gerne verschwende.« Mit David, einem Investmentbanker, war sie fünf Jahre zusammen gewesen, bevor sie herausgefunden hatte, dass er sie von Anfang an betrogen hatte. Jamie war sich so dumm vorgekommen! Sie hasste nichts mehr als das! Niemand sollte es wagen, sie lächerlich zu machen. Niemand.
Und für Chloe galt das auch. Es war doch offensichtlich, dass diese Männer sich eine reiche Freundin angeln wollten, die ihre erfolglosen Projekte und dummen Ideen unterstützte, in ihre Start-ups investierte. Jamie wusste, dass Chloe genau das schon etliche Male getan hatte.
Den Männern war nicht zu trauen. Weder den erfolglosen noch den erfolgreichen.
»Reine Zeitverschwendung ...«, murmelte Jamie vor sich hin.
»Und trotzdem starrst du schon seit zehn Minuten auf das Bild eines Mannes und verschwendest somit deine Zeit«, sagte Abigail.
»Er sitzt auf dem Foto neben meiner Schwester, die ihn verliebt anlächelt. Hier geht es um Chloe!« Jamie kaute an ihren Fingernägeln, ließ es aber sofort bleiben, als sie sich dessen bewusst wurde. Ihre letzte Maniküre lag noch nicht lange zurück. Auch mit solchen Dingen verschwendete sie nicht mehr Zeit als nötig, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die sich seit kurzem häufiger im Nagelstudio aufzuhalten schien als im Büro. Ob auch sie einen neuen Liebhaber hatte?
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Abigail.
»Ich werde mir den Kerl ansehen und mich mit ihm unterhalten. So wie immer.« Jamie lächelte diebisch.
»Die Männer tun mir leid.«
»Müssen sie nicht, glaub mir!« Sie bekamen nur, was sie verdienten! Jamie hatte sich schon früh im Leben behaupten müssen. Es gab niemanden, der sie einzuschüchtern vermochte. Dieser Kerl schon gar nicht! Ob Oliver Wrong auch einer war, der seine Miete nicht bezahlen konnte?
»Ich muss los«, sagte sie und stopfte das Handy in ihre Handtasche, die sie selbst entworfen hatte. Neben Frauen- und Herrenmode, bot The Line auch Handtaschen, Schuhe und Accessoires an.
Ohne ein weiteres Wort rauschte sie aus ihrem Büro und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Normalerweise stand ihr Chauffeur Bill draußen, um sie nach Hause zu bringen. Heute musste sie ein Taxi herbeiwinken, da Chloe ihren Freund unbedingt hatte abholen wollen. Der Kerl hatte nicht mal ein eigenes Auto.
Wo er wohl wohnte? In Brooklyn? Oder irgendwo in einem winzigen Apartment in Manhattan? Vielleicht in Inwood, da war die Bronx ja nicht mehr weit!
Jamie stellte sich an den Straßenrand und hob die Hand. In kürzester Zeit hielt ein gelbes Taxi und nahm sie mit. Sie holte den Taschenspiegel aus ihrer Handtasche, während sie vergeblich versuchte, es sich auf der Rückbank bequem zu machen. In den Deckel des kleinen Spiegels war The Line in goldenen Lettern eingraviert. Es war eine Spezialanfertigung. In ihrem Leben drehte sich alles um das Modelabel.
Sie würde Chloes neuem Freund gleich bei der ersten Begegnung klarmachen, dass er in dieser Familie nichts zu suchen – und ganz sicher nichts zu melden – hatte. Makelloses Aussehen war wichtig, wenn sie ihn auf Anhieb einschüchtern wollte. Also kontrollierte sie ihr Make-up und puderte die Nase. Die falschen Wimpern saßen perfekt, den Lippenstift musste sie auffrischen. Als sie mit ihrem Look zufrieden war, sah sie aus dem Fenster des fahrenden Wagens. Sie würden gleich da sein.
Ihr Handy bimmelte. Chloe hatte ihr geschrieben.
Arbeitest du heute länger?, stand da und gleich darunter war ein wütender Smiley. Warum verhielt sie sich nur immerzu wie ein trotziges Kind? Die Fashion School hatte sie vor zwei Monaten abgebrochen. Jamie war schrecklich enttäuscht gewesen. Mode würde sie nicht interessieren, hatte Chloe gesagt. Sie hätte im Leben mehr vor, als ständig nur zu arbeiten, so wie Jamie. Was war verwerflich daran, wenn man seinen Job liebte? Davon abgesehen, wünschte sich Jamie auch ab und zu eine Auszeit, aber leider konnte sie sich diese nicht leisten. Sie musste The Line erfolgreich in die Zukunft führen. Unzählige Jobs hingen davon ab, dass sie die richtigen Entscheidungen traf.
Erneut ertönte ein Klingeln.
Ich wollte dir doch Oliver vorstellen!, las Jamie.
Diesmal hatte ihr Chloe ein Foto geschickt, wo ihre Lippen einen Kussmund formten, bereit, Olivers Wange zu berühren, während sie sich an seinem Arm festhielt. Im Hintergrund entdeckte Jamie den großen Kronleuchter, der in ihrem Wohnzimmer hing. Sie waren bereits zu Hause. Oliver schielte zu Chloe und sah tatsächlich etwas verliebt aus. Die Verliebtheit würde sie ihm schon austreiben – ganz bestimmt!
Als sie das Handy wieder in die Handtasche stopfen wollte, erhielt sie einen Anruf von ihrer Mutter, die heute nicht im Büro gewesen war.
»Was ist los?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Ich werde es nicht pünktlich zum Abendessen schaffen. Regel du das, Jamie.«
Regel du das, Jamie ...
Wie oft hatte sie diese Worte in den letzten zehn Jahren gehört? Sicher unzählige Male.
»Du willst dich also vor dem Abendessen drücken?«, brummte Jamie. Das war so typisch für ihre Mutter!
»Du machst das schon!«, sagte diese und legte auf.
Jamie schnaubte ungläubig. Stets war es ihre Aufgabe, die böse Schwester zu spielen. Ihre Mutter hielt von Chloes Freunden nämlich rein gar nichts – dennoch war immer Jamie diejenige, die eingreifen musste.
Das Taxi hielt und sie stieg aus. Mit schnellen Schritten betrat sie das Gebäude und ging zum Fahrstuhl. Auf das »Guten Abend, Ms. Right«, antwortete sie mit einem freundlichen Kopfnicken. Die Handtasche baumelte an ihrem angewinkelten Arm und die Absätze ihrer Stilettos klackten auf dem Kalksteinboden.
Dieser Oliver sollte sich lieber auf etwas gefasst machen! Gerade jetzt, da Jamie richtig sauer war.