Maminkas Sommerküche
Roman
Zacharieva, Rumjana: Maminkas Sommerküche. Frankfurt am Main, Größenwahn Verlag 2020
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-957712-80-6
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ePub-eBook: 978-3-957712-81-3
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Widmung:
Für meine Töchter Svetlana und Darina und meine Enkelkinder Leonis, Laurent, Aleksandar und Teodora
Verwöhnt. Ein schönes Wort war das nicht, und ich trug es wie einen Stempel auf der Stirn. Was war es, das mir dieses Wort eintrug? Etwas mit mir schien nicht in Ordnung. Ich musste unbedingt dahinterkommen! »Achtzig Prozent und das Knopfloch entzwei!« Das sagte ich immer, wenn ich fluchte.
Jeden Morgen stieg ich auf den Esstisch, hockte mich nackt vor den Spiegel meiner Großmutter Maminka und hoffte, endlich richtige Brüste zu entdecken. Mein Spiegelbild blickte mir matt entgegen: Zwei blasse, bräunlich auslaufende Augen – meine zukünftigen Brüste – sahen mich an und sonst nichts. Ich seufzte und zog mich wieder an. Nur Bedrisch, die einzige Türkin in unserer Klasse, hatte schon ein volles Dekolleté. Trotzdem war sie dreimal sitzengeblieben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet war meine Lage nicht so hoffnungslos, wie sie im Spiegel aussah. Dieses Warten auf die Brüste machte mich nervös.
Manchmal, wenn ich die weißen Wände meines Zimmers betrachtete, packte mich die Lust zu malen, am liebsten Freitag und Robinson Crusoe an die Wand über dem Ofen, dazu in der Ferne die Silhouetten der Menschenfresser. Und zwischen Spiegel und Fenster den kleinen Clochard, wie er die Fahne der Revolution auf den Pariser Barrikaden schwenkt.
Ich wollte für die Freiheit sterben. Manchmal. »Pioniere! Man kann Heldentaten vollbringen, wenn man will!« Der Organisationsleiter hatte Recht. Man hätte zum Beispiel mehr Kamille als vorgeschrieben in den Ferien pflücken können. Ich zog es aber vor, für die Freiheit zu sterben, statt Kamille für die Kooperative zu pflücken.
Die Kamille. Nachts träumte ich davon.
Ich schwebe über einem Kamillenblütenfeld. Ich schwebe. Ich trage einen Riesenkorb, und der Korb zieht mich voran. Der Korb verwandelt sich in einen Ballon. Meine Mutter flicht einen Kranz‚ einen Kranz aus Kamillenblüten, und möchte ihn mir im Haar befestigen. Sie läuft durch das Kamillenblütenfeld und ruft meinen Namen, streckt die Hände empor, schreit. Ich aber fliege fort, entferne mich von ihr und vom Kamillenblütenfeld. Dann wird der Korb schwer, so schwer, dass er mich nach unten zieht. Ich falle langsam, halte die Luft an, der Korb ist voll mit dampfenden Kamillenblüten. »Warum hast du die Blüten nicht auf der Zeitung ausgebreitet, Mila?« ruft Großmutter plötzlich, hält sich am Korb fest. Wir versinken in einer Woge aus Kamillenduft, es wird tiefer und tiefer unter mir, ich versinke in einer Flut aus Kamillenblüten, Mutter will mir unbedingt den Kranz ins Haar stecken, sie stolpert, hält sich am Korb fest. »Halt dich fest«, ruft Maminka und streut Kamillenblüten über Mutters schwarzes Haar. »Du hast mich nie Völkerball spielen lassen, Mutter! Ich musste dauernd Brot backen ...«, sagt Mutter zu ihrer Mutter und entfernt sich, versinkt im Zeitlupentempo, und über ihrem Kopf schließt sich das Meer der Blüten. »Du darfst nie wieder die Kamille über Nacht im Korb vergessen! Sie schwitzt dann und ihre Heilkräfte schwinden«, mahnt Maminka. »Lass uns nicht weiter versinken, Großmutter, sonst können wir die Norm nicht erfüllen, und ich stehe da am Anfang des Schuljahres und kriege meine neuen Schulbücher nicht.«
Sieben Kilo Kamille!
Ich gehörte weder zu den Tüchtigsten, die drei, vier Stunden am Tag pflückten, um Geld zu verdienen, noch zu denjenigen, die sich totpflückten, nur damit sie am 15. September, dem ersten Tag des neuen Schuljahres, als Stoßarbeiter gefeiert wurden. Ich wollte weder gelobt noch gefeiert werden. Ich wünschte nicht mal, Geld zu verdienen. Ich wollte bloß meine Schulbücher haben. Sieben Kilo Kamille war der Preis. Zu hoch?
Der Traum endete meistens mit Maminkas Hand auf meiner nassgeschwitzten Stirn und einer Tasse Kamillentee, schwer gesüßt, mit einem über dem Feuer gerösteten Stück Weißbrot und einem unwillig angenommenen Happen salzigen Schafskäses. Später trank ich nur noch Lindenblütentee. Es half nichts. Als erstes musste ich unbedingt einen guten Kamillenpflücker finden. Dieses Gerät, ausgerüstet mit einem rostigen Eisenkamm mit 29 Zähnen, bestand aus einem primitiv zusammengehauenen Kasten. Der Holzkasten wog fast zwei Pfund und fasste zwei bis drei Pfund Kamillenblüten. Mit einer schwungvollen Bewegung führte ich den Eisenkamm durch die Kamille, zog den Kasten hoch, und etwa dreißig Blüten fielen in den Bauch des Holzkastens. In drei Stunden hätte er den Bauch voll haben können. Mein Arm war längst lahm, ich atmete schwer, schwitzte vor Anstrengung und maß die Zeit in Kamillenblütengramm. Mein Sommer hieß Kamille und wog sieben Kilo – von Mitte Juni bis Mitte September.
Nie schaffte ich es, mehr als eine Handvoll Kamille an einem Vormittag zu pflücken. Dann war ich gerädert für den ganzen Tag. Es blieb mir nichts anderes übrig, als jeden Tag zwei Stunden der Kamille zu widmen, sodass ich in einem Monat ... »So ist es auch gemeint«, tröstete mich Maminka. »Die wollen euch doch bloß zeigen, wie man sein Brot verdient ... es ist schon recht so! Und wenn du dumm bist und dir die Ferien damit verdirbst, so ist es deine Sache!«
Ich wollte sterben ... für die Freiheit. Manchmal. Ich stellte mir vor:
Die Tür geht auf, sie treten ein. Die Faschisten. Ledermäntel, Deutschgebrüll. Die Stimme des ersten Ledermantels: »Ihr Name, bitte!« Meine Stimme: »Soja Kosmodemjanskaja, junge sowjetische Partisanin, gequält und ermordet von den Faschisten im Zweiten Weltkrieg!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Sie lügen! Ihr wahrer Name, bitte!« Meine Stimme: »Rajna die Königin, die 1848 die Fahne der Aufständischen bestickte und im Kampf gegen die Osmanen trug!« Die Stimme des ersten Ledermantels: »Sie lügen schon wieder, aber ... lassen wir das! Haben Sie ...?« Meine Stimme: »Ja, ich habe!« Die Stimme des zweiten Ledermantels: »Abführen! Heil ...!«
Und es tat mir leid, dass es keinen Partisanenkrieg gegen die Faschisten mehr gab. Man hörte im Radio nur noch vom Kalten Krieg, und ich wollte mich daran beteiligen. Ich beschloss, den Organisationsleiter zu fragen, was dieser »Kalte Krieg« eigentlich war, und erst dann ...
Ich stellte mir immer wieder nur etwas Winterliches darunter vor. Ich wollte mich daran beteiligen. Dass ich eines Tages ein Denkmal dafür bekommen würde, stand außer Frage.
Sommer. Ferien. Im Radio der Kalte Krieg. Mir gelingt es nicht zu verschlafen: Seit fünf Uhr früh dröhnt der Lautsprecher auf dem Dorfplatz Volkslieder, Meldungen der Volksfront, der Weltpolitik, der Kooperative. Und immer wieder heißt es: »der Kalte Krieg«. Neulich sogar, »Der Kalte Krieg ist in seine entscheidende Phase getreten.«
Wie alt ich bin? Zehn oder zwölf.
Ich sehe mich in Maminkas Bett mit dem geschnitzten Adler überm Kopf und einem Adler mit weniger pedantisch geschnitzten Federn am Fußende des Bettes liegen. Der Tag sendet seine Zeichen an mein Ohr: Das Krähen der Hähne im Schatten der Nussbäume, das Gurren der Tauben unterm Fenster, die Stimmen der Frauen, die sich unter der Weide am Dorfplatz versammeln. Gleich werden sie mit Pferdekarren oder Lastwagen aufs Feld gefahren.
»Kalter Krieg«. Die raunende Stimme der Sprechanlage will mir dauernd etwas mitteilen, das ich nicht verstehe. Wörter wie »Kapitalisten«, »Faschisten« und immer wieder »Kommunisten« bohren sich in meinen Schädel. Dann die Pfeife der Tante Mita, die ihre einzige Milchkuh zum Grasen treibt. Und die Gerüche: Palatschinkenduft, gebrannter Zucker, nasser Staub von der Straße. Die Sprechanlage redet sich in Rage. Dieser Kalte Krieg muss nahe sein. Ich frage mich nur, wie nahe.
Der Palatschinkenduft jagt mich aus dem Bett. Ich schaue durch das Fenster: Getümmel. Der Bus aus der Stadt ist soeben angekommen, die Frauen der Siebten Brigade, die immer noch nicht abgeholt worden sind, gestikulieren, als würden sie einander anschreien. Die Herde der Kooperative, die zum Grasen geführt wird, überflutet den Dorfplatz mit ihren braunen Leibern – eine Szene wie im Krieg. Großmutter hat meine Fantasie mit solchen Bildern besiedelt. Großmutter.
Ich renne die Holztreppe hinunter, betrete die Sommerküche. Maminkas Gesicht leuchtet im Halbdunkel des Raumes. Über ihrem Kopf hängen Maiskolben und Knoblauchkränze. Sie sitzt da, die Hände ineinander verknotet, die Nägel weißumrandet, die Furchen ihrer Handflächen weißgezeichnet mit Mehl.
»Großmutter, der Kalte Krieg kommt!«
»Ach, Kind! Den werden wir auch überleben ... ich hab’ schon zwei Kriege erlebt, was kann da noch passieren.«
In mir wird es kalt und dunkel.
»Was ist aber ein kalter Krieg, bitte?«
»Ich weiß es nicht, Kind. Krieg ist immer schlimm.«
Ich stehe schnell auf und umarme sie. Eifrig wischt sie sich die Mundwinkel mit dem Handrücken, gibt mir einen Kuss. Ich lasse sie nicht los. Von draußen dröhnen immer noch die Lautsprecher. Maminkas Haut, feucht und warm, riecht nach Sonnenblumenöl, Vanille und Schweiß. Ihr Ohrläppchen, das ich zwischen den Fingern halte, ist kühl. Sie riecht anders als Mutter. Hier, in ihrer Umarmung, fühle ich mich sicher. Ihre Hände sind so rau, dass sie mich jedes Mal beim Berühren kratzen.
»Komm, spiel mit mir ...«, bettele ich, »sonst weiß ich nicht, was ich tun soll.«
»Heute Morgen geht es nicht, Kind. Ich muss stricken, der Winter kommt ...«
Plötzlich zählt nur noch der Kalte Krieg. Die Kamille habe ich längst vergessen. Ich möchte in die Bibliothek gehen und Bate Stefan nach dem Kalten Krieg fragen. Großmutter ist erleichtert.
»Geh nur, Kind, geh. Dafür sitzt er ja den lieben langen Tag da und liest Bücher ... er muss es ja wissen, und wenn er es nicht weiß, wer dann?«
So untätig dasitzen und nichts tun, das konnte ich nicht. Der Kalte Krieg war nah, vielleicht war er auch schon da ...
Ich ging durch die Straßen, die langgestreckt in der Sonne brieten. Mit Kuhfladen und Pferdemist verziert, zogen sie sich unendlich hin. Ich wollte wissen, wo dieser Kalte Krieg sich abspielte und wer genau daran beteiligt war. Ich sah die Winterlandschaft unseres Dorfes, die flachen, sanften Rundungen der Umgebung, mit Schnee bedeckt, als wären sie in Maminkas Backstube entstanden: weiße, in Mehl gewälzte Riesenbrote auf einem flachen Brett, die am Eingang des Backofens warteten – der angezündete Horizont.
Oft krochen in meiner Vorstellung lauter Kolonnen von winzigen Soldaten um die Berge herum, knabberten die Gipfel vor Hunger an, richteten sich vor dem Horizonteingang auf, wollten ihren Kalten Krieg vorm Himmelsbackofen zu Ende führen. Jeder wollte siegen, es kämpften alle gegen alle und stießen einander in den Backofen hinein, wo die Sonne Wege und Wolken, Häusergiebel und Zwiebeltürme buk. Doch dann erschien Maminka am Horizont, bewaffnet mit dem Holzspaten, die ausgebleichte Schürze an. Sie schaufelte sie alle miteinander in den Backofen hinein. »Los!« Das Grün ihrer Augen leuchtete gefährlich und fremd. Schweißtropfen kullerten ihr die Nase hinab, sie schaufelte und schaufelte, bis keiner der Kalten Krieger mehr übrigblieb, bis das Mehl der Schneeberge eine bräunliche, grasverbrannte Kruste bekam und es wieder Sommer wurde.
»Tach, Mädchen!« Die alte Frau mit dem so zerfurchten Gesicht, als wäre Großvater mit dem Traktor hindurchgefahren, winkte mich mit dem Strickzeug herbei. Sie saß auf einem Schemel vor der Haustür. Ich grüßte leise zurück und trat heran. Ihr Schoß, bedeckt mit einer schwarzen Schürze, war voll Flusen. Sie spuckte in ihre Handflächen und rieb sie weg, während sie mir vorwarf, dass Großmutter immer noch nicht gekommen sei. »Sie hat doch versprochen ...«
»Sie hat keine Zeit.«
»Warum hat sie denn keine Zeit?« Die alte Frau gab sich nicht zufrieden, holte ihr Gebiss heraus und säuberte es mit der Stricknadel.
»Weil ...«, mir fiel spontan nichts ein. »Sie ... sie hat wirklich keine Zeit. Sie strickt!«
»Sosonagutgrüßschön.« Sie schob ihr Gebiss wieder in den Mund, wischte die Stricknadel an ihrem Knie ab und strickte weiter.
Zwei Häuser weiter saß noch eine Frau vor der Tür und ... strickte. Eigentlich ribbelte sie etwas auf; die Stricknadeln lagen neben ihr auf der Bank.
»Tach ...«, grüßte ich im Vorübergehen.
»Tach! Willst’n paar Pflaumen haben?«, lächelte sie und griff in den Korb, der auf der Bank stand. »Sag deiner Großmutter, dass sie mal vorbeikommen soll. Es gibt so viele Pflaumen in diesem Jahr, sie kann ein paar pflücken und einmachen. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst tun soll: Marmelade kochen, einmachen oder stricken. Der Winter naht.«
Sie hätte auch sagen können: »Der Kalte Krieg naht«, so viel Unruhe lag in ihren Mundwinkeln, und dabei bewegten sich ihre Finger beim Stricken noch schneller. Ich ging weiter.
Die Sonne schien auf meinen Kopf. Der Weg zur Dorfbibliothek ging am Lebensmittelgeschäft vorbei. Eine lange Schlange wartete auf ... Ja! Sie warteten auf Gummiringe für die Einmachgläser, gerade war eine Fuhre aus der Stadt gekommen. Der Winter nahte. Sie waren geschickt, die Erwachsenen. Sie waren sich einig. Keiner von ihnen traute sich zu sagen: »Der Kalte Krieg naht!« Alle hatten keine Zeit. Sie waren am Einmachen, Stricken, Vorbereiten. Sie backten selber Brot, im Sommer, und sparten die Coupons, die ihnen die Kooperative austeilte, für den Winter auf. Wenn zufällig genug Zucker ins Lebensmittelgeschäft geliefert worden war, kaufte jeder gleich einen Zentner. Monatelang gab es dann keinen mehr zu kaufen. Sie rannten in die Stadt und stiegen vollbepackt aus den Bussen aus. Sie hatten wieder mal auf Vorrat gekauft: Stoffe, händevoll Aspirin für die Einweckgläser, Seife und Schmalz.
Plötzlich wollte ich nur noch sitzen. Sitzen und ruhen. Da setzte ich mich nun auf eine Holzbank. Meine Füße waren heiß in den Gummischuhen. Am liebsten hätte ich was getrunken, aber die nächste Wasserstelle war gegenüber der Dorfbibliothek. Unterm Lautsprecher versammelten sich lechzende Hühner mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenen Schnäbeln. Zwei Zigeunerkinder bohrten hingebungsvoll in der Nase und fütterten die Hühner damit. Ein alter, zahnloser Mann ging schlurfend an ihnen vorbei und schimpfte sie aus. Zwei junge Männer bemühten sich, ein Transparent mit der Aufschrift »Alles für den Menschen« über die Straße zu spannen, und stiegen gleichzeitig die Stufen der Holztreppe empor. Der Lautsprecher forderte die Zigeunerkinder, die Hühner, den alten Mann und die zwei Aktivisten zu Sparmaßnahmen auf und versprach die Erfüllung des Jahresplans sieben Monate früher als vorgesehen. Dann machte er sie aufmerksam auf den Kalten Krieg und erinnerte sie nochmals daran, dass dieser in seine entscheidende Phase getreten war.
Ich stand auf. Ich hatte keine Zeit mehr, zur Bibliothek zu laufen. Ich wusste, was los war. Ich eilte und achtete weder auf die Kuhfladen noch auf die Steine unterwegs. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. In den Höfen wurden Seifen, Marmeladen und sonst noch was gekocht. Die Frauen strickten um die Wette. Endlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Keuchend, verschwitzt, stellte ich mich vor Maminka hin und verlangte laut:
»Großmutter, bring mir das Stricken bei!«
»Du willst stricken?«
»Ja!«
»Was willst du denn stricken?«
»Handschuhe! Handschuhe für den Kalten Krieg!«
Es riecht nach Palatschinken. Ich stürze die Treppe hinunter.
Das würde ich im Winter nie tun, da unsere offene Holzterrasse dem Schnee und dem Regen völlig ausgeliefert ist und dauernd einfriert. Eine komische Treppe ist das, die zu der Terrasse hinaufführt: Sie gleicht eher einer Leiter. Zwischen den Stufen kann man bis in den Keller hinabblicken. Wenn Besuch da ist und die Männer im Hof noch eine rauchen und etwas länger schwatzen, gehen die Frauen vor und halten ihre Röcke fest. Der Wind ist tückisch. Es ist still, so still, dass kein Quittenblatt sich rührt. Plötzlich kommt ein Windstoß, als hätte das Kind eines Riesen mal eben über die Straße geprustet. Und wieder ist es still. Maminka ging immer schnell, egal, ob sie etwas die Kellertreppe hinaufschleppte oder den Hof mit leeren Händen durchquerte. Ihre Haltung – die Haltung eines Menschen, der stets gegen den Wind gehen muss. Sie bot dem Wind ihre Stirn und ihre Schulter, die Hände hielten die Röcke fest, als würde sie unentwegt eine steile Treppe hinaufsteigen.
Manchmal weiß ich nicht, ob ich das alles geträumt habe:
Das ... Ein vierjähriges Kind steigt die Treppe hinauf. Es hält seine Röcke fest. Es trägt eine Porzellanschüssel. An den Füßen Maminkas Galoschen. Noch zwei Stufen. Das Kind rutscht aus, schreit nicht. Rutscht durch die zwei obersten Stufen hindurch, bis in den Keller hinab, schreit nicht, hält die Schüssel fest. Die Kichererbsen darin beschreiben einen Bogen, weit, von der zweitobersten Stufe bis zum Keller hinab.
In meinem Magen zieht sich etwas zusammen. Das Gefühl, in einem hinabstürzenden Aufzug zu sitzen ... Das Zusammenziehen im Bauch – damals. Der Vergleich mit dem Aufzug – heute. Der rote Himmel, der sich über meine Augen legt – das Blut, das aus der Kopfwunde fließt. Damals der Schmerz, heute das Bild eines roten Himmels über den Augen. Und immer wieder der Versuch, das Damals nachzuvollziehen. Der Überblick rückwärts und das ungeduldige Klopfen an der Schwelle der damaligen Empfindung. Heute sehe ich. Damals spürte ich: die raue Hand meiner Maminka, die mir frisch abgeschnittene Schafwolle in die Wunde über dem Haaransatz stopft, überzeugt von den Heilkräften jener Stelle, an der sich der Lammschwanz hochstellt, um ein paar schwarze Bohnen abzuschütteln. Djado, mein Großvater, der mich hält und mir schwer ins Gesicht atmet, sein Geruch nach Tabak, Zwiebeln und Schnaps, sein spöttisches Lächeln. »Manche haben Stroh im Kopf, und du – Schafwolle!«
Jedes Jahr wurde der Backofen von Maminka eigenhändig repariert und mit Pferdemist verputzt. Für den Mist war ich verantwortlich. Ich verpasste zwar die Morgenportion, da die Herde der Kooperative viel zu früh an unserem Haus vorbei zur Weide zog, aber abends wartete ich genau wie die Nachbarskinder, versteckt hinter der Pforte, die Nase zwischen die Latten gepresst, auf die Herde und zählte jeden Pferdeapfel, der vor unserer Haustür fiel, damit ich ihn, sobald die letzten Tiere vorüber waren, auflesen konnte. Ich war nicht sehr schnell, sodass mir manch kostbarer Pferdeapfel abhandenkam, wenn alle Kinder zugleich ihren Beobachtungsposten verließen und mit Eimern und Schaufeln auf die Straße stürzten. Trotzdem schaffte ich innerhalb einer Woche so viel heran, dass unser Backofen prächtig verputzt werden konnte. Nach ein paar Tagen war er von der bissigen Sonne so weit getrocknet, dass wir das erste Frühjahrsbrot darin backen konnten. Vier Riesenbrote in der Woche. Die Coupons, die uns die Kooperative austeilte, hoben wir für den Winter auf.
Alles läuft immer in gleicher Weise ab: In einer schweren Holzwanne liegt ein Berg aus Mehl. Maminkas Hand gräbt im Vorgebirge eine weiße Grube, in die sie in Blasen aufgequollene Hefe hineingießt. Mit einer regelmäßigen, kreisförmigen Bewegung gräbt sie den Mehlberg unter. Ihre Finger arbeiten sich langsam voran, wie ein Maulwurf, so lange, bis der ganze Berg verschwunden ist. Nur zwei Hände voll Teig sind von ihm übriggeblieben, mickrig, grauweiß. Dann fängt das Kneten an. Ich sehe gespannt zu, wie sich Maminkas Stirn schnell und immer schneller mit kleinen Schweißtropfen bedeckt. Sie sind beinahe kugelrund. Bald ist ihre Oberlippe ganz nass. Die Schweißperlen rollen von der Stirn die Nase herunter und manche landen im Teig. Sie wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken und knetet, knetet immer weiter. Ich bin müde vom Zugucken. Fast schlafe ich im Stehen ein. Maminka deckt den Teig liebevoll mit dem schönen handgewebten Tuch aus ihrer Hochzeitstruhe zu. Er muss in der Holzwanne übernachten, »schlafen muss er«, meint sie.
Eines Tages kam mein Großvater herein, volltrunken, wie er es immer um jene Tageszeit war. Er sah Maminka zornig an und schimpfte auf die Kommunisten und ihre ganze Sippe. Sie hätten ihm die Kneipe geraubt und verjubelt. Und er wunderte sich, dass die Amerikaner immer noch nicht da waren, um sie ihm zurückzugeben.
»Möge Gott die Händchen der Kommunisten vergolden, dass sie dir die Kneipe weggenommen haben ... du bist ja auch ohne Kneipe voll ... Und die Amerikaner ...«, fügte Maminka hinzu, »können mir gestohlen bleiben.«
Worauf er mit geballter Faust auf sie losging. Ich sah die fleischige Faust, fühlte den Luftstrom an meinem Gesicht vorbei und streckte den Fuß aus. Djado verlor das Gleichgewicht, und seine Faust landete im Teig.
»Mamka wi!«, fluchte er obszön, irgendeine Mutter betreffend, und schlug zu. Wir rührten uns nicht, platt an die Wand gedrückt. Als ihm die Fäuste wehtaten, nahm er den Teig und schmiss ihn an die Wand. »Mamka wi!«, schrie er dabei, holte den Teig von der Wand herunter, warf ihn in die Holzwanne, schnappte sich die Schaufel und schlug auf ihn ein, bis er selbst, völlig erschöpft, auf den Fußboden sank und – »Mamka wi!« – einschlief.
Maminka pickte die wenigen Holzspäne, die sie fand, aus dem Teig heraus. »So gut war das Brot noch nie durchgeknetet«, meinte sie, legte es vorsichtig wie ein Baby in die Wanne zurück und deckte es wieder zu. Am anderen Morgen war der Teig so aufgegangen, dass er die Holzwanne hinunterlief. Wir mussten ihn vom Boden auflesen und konnten zum ersten Mal fünf statt vier Brote daraus backen.
Der Wunsch, etwas länger zu schlafen, war jeden Morgen unwiderstehlich. Wie lange hielt ich es mit geschlossenen Augen aus? Das Zittern der eigenen Wimpern war ein Zeichen des Wachseins, aber solange die Lider geschlossen blieben, war der Tag noch nicht da. Und er blieb draußen, vor dem Tor der Augen, sandte kleine Zeichen an mein Ohr, immer wieder die gleichen Zeichen: das Krähen der Hähne in Baba Penas Hof; das Gurren der Tauben im Geäst des wilden Nussbaumes unterm Fenster; die Stimmen der Frauen der Siebten Brigade, die sich im kurzen Schatten der Trauerweide mitten im Dorf – wie jeden Tag – versammelten, um mit Pferdekarren oder mit einem Laster aufs Feld gefahren zu werden; die Pfeife der Tante Mita, die wieder einmal ihre einzige Milchkuh zum Grasen trieb ... Dann sandte der Tag, jeder Tag von Neuem, seine Gerüche aus. Durch das offene Fenster drang Palatschinkenduft, gemischt mit Rauch und kühler Luft. Dann roch es nach gebranntem Zucker. Ich öffnete die Augen jedes Mal mit dem Gefühl, betrogen zu sein: die Hähne, die Tauben, die Frauen, die Pferdekarren, der Laster, die Mita Maneva mit der Milchkuh ... All das wurde immer zu einem Stück gekalkter Decke über meinem Kopf, wenn ich die Augen öffnete. Die Gewissheit jedoch, dass die Palatschinken noch da waren, ließ mich die Treppe hinuntersausen.
Die Sommerküche war ein dunkles, aus Lehmwänden und zwei winzigen Fenstern bestehendes, viereckiges Loch. Eine Höhle, in der die Gerüche meiner Kindheit dicht aufeinanderprallten, einander bekämpften und durchdrangen: heißes Sonnenblumenöl, Bohnenkraut, Vanille und gebrannter Zucker; Duft nach getrocknetem Mischobst aus Aprikosen, Quitten, Äpfeln und Pflaumen; Duft nach trocknenden Wollsocken und Lindenblüten, Knoblauch und frischgeschnittenen Zwiebeln, brennendem Holz und Essig. Maminka wusch ihr Haar ausschließlich mit Regenwasser und spülte es zum Schluss mit einer dünnen Essiglösung nach. Einmal in der Woche sah ich ihre Haare offen und berührte sie. Sie glänzten, gelöst, in regelmäßigen Wellen.
Ich betrat die Sommerküche. Meine Haut, gespannt von der Kälte der Morgenluft während des kurzen Laufs die offene Treppe hinunter an den Quittenbäumen vorbei, fühlte sich feucht und fast süßklebrig an, sobald mir die mit so vielen Gerüchen getränkte Wärme entgegenschlug. Maminkas Gesicht, verjüngt und gerötet vom Feuer, leuchtet im Halbdunkel der Sommerküche, heute noch, genau wie damals. Maminka schiebt mir gleich zwei Palatschinken auf den Teller. »Iss!«
Ich esse. Ich schaue ihr zu, wie sie die Haare löst, wie sie mit den flinken Bewegungen ihrer Finger die zwei langen Seile von Zöpfen löst und sich in eine Königin verwandelt. Mit dem Holzkamm kämmt sie das fließende Haar, das Haar aus Kupfer.
»Iss weiter, ich muss das ja auch mal machen, später hab’ ich keine Zeit«. Sie fühlt sich schuldig, dass sie die Pracht vor mir ausbreitet, Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter! Ich schaue ihr wie gebannt zu. Ist sie es, die kleine flinke Frau, die immer dem Wind Schulter und Stirn bietet, wenn sie mit leeren Händen den Hof durchquert oder Schweres die Kellertreppe hinaufschleppt, abgearbeitet und überwiegend schweigsam, dem Suff, dem Zorn, der Tyrannei Großvaters ausgesetzt? Ist sie es, meine Maminka, oder ist sie die Loreley oder Rapunzel, oder irgendeine Prinzessin, eine Königin aus den slawischen oder deutschen Märchen, die ich so gern lese?
Die Verwandlung Maminkas verzaubert mich, ich wage es nicht, den Tisch mit den Palatschinken zu verlassen, zu ihr zu gehen und mich umarmen zu lassen, die langen Haare im Gesicht zu spüren, nein, da darf nur die Sonne hin, die den Quittenbaum verlässt, das Fensterglas in tausend Kristallen bricht und in den Kupferhaaren meiner Maminka schwelgt. Ich schaue ihr zu, und mir wird bewusst, wie jung sie ist. Sie ist meine Großmutter, aber sie hätte meine Mutter sein können, denn Maminka ist jung und hübsch mit ihren Kupferhaaren und grünen Augen, mit ihrem schmalen Körper; aber vor lauter Arbeit und Kummer merkt keiner, wie hübsch sie ist. Nur ich.
Ich kaue langsam die Palatschinken mit der doppelt gekochten Quittenmarmelade. So treibt Maminka ihr den Schimmel aus: gekocht, verkocht, bis sie tot wird und von der ganzen Marmelade nichts als Zucker und ein köstlicher Geschmack übrigbleibt. Ich kaue, schaue ihr zu, und erst, wenn es anfängt, nach Essig zu riechen, bleibt vom Zauber nichts mehr übrig, nur zwei Seile von nassen Kupferzöpfen.
Die Sonne kehrt in den Quittenbaum zurück, kittet beim Hinausschlüpfen das Fensterglas; mich erfüllt ein bekanntes Gefühl: Ich habe viel Zeit vor mir, ich habe viel zu tun und weiß nicht, was ich zuerst tun soll. Maminka meint, ich soll zuerst spielen gehen.
»Und die Kamille?«
»Es braucht ja nicht gleich am ersten Tag zu sein«. Sie nippt an ihrem schwergesüßten Lindenblütentee.
Sie weiß, wie unglücklich ich bin, da es Sonntag ist und ich mir keinen Kamillenpflücker ausleihen kann. Beim Abräumen des Tisches verspricht sie mir, mit mir in die Blindengasse zu gehen und dort etwas Brennnesseln zu pflücken, während ich Kamille pflücke. Maminka steht langsam vom Tisch auf. Ihre Hand verselbstständigt sich, greift in die Tasche der ausgebleichten Schürze.
»Nimm ihn ...«, reicht mir ihren Holzkamm, der breite und dicke Zähne hat, »damit kannst du bis morgen Kamille pflücken, dann sehen wir weiter! Verlier ihn bloß nicht, ich habe keinen anderen!«
Ich laufe hinaus, ein letztes Bild im Kopf: Maminka gegen die Tür, im Gegenlicht, ruhig, undurchsichtig. Ein Schatten.
Jedes Mal, wenn ich das »andere Zimmer« betrat, hielt ich den Atem an. Es war wirklich anders als alle anderen Zimmer. Es war stets aufgeräumt und wurde nur dann betreten, wenn Maminka etwas aus ihrer Hochzeitstruhe holen musste oder wenn Gäste da waren. Meine Eltern schliefen immer dort, wenn sie uns besuchten. Meine Tanten mit ihren Männern auch.
Eines Tages betrat ich das »andere Zimmer«‚ ohne zu klopfen. Im Bett kämpfte meine jüngste Tante mit ihrem Bräutigam und hatte ein rotes Gesicht, als hätte sie stundenlang vor dem Backofen gestanden. Dabei schien der Kampf nach vorgeschriebenen Regeln zu verlaufen. Die Bewegungen unter der Decke waren heftig und regelmäßig, und der Onkel grunzte und atmete tief. Es berührte mich unangenehm, und ich vergaß es schnell oder versuchte es zu vergessen.
Danach klopfte ich an jede Tür und wartete lange, ehe ich irgendwo eintrat, auch wenn wir keine Gäste hatten.
Ich klopfe an. Ich betrete das »andere Zimmer«. Kühle. Ich bin barfuß. Unter den Fußsohlen das noppige Muster des handgewebten Teppichs. Es riecht nach Mottenpulver und Lindenblüten. Durch die geschlossenen Fenster, verdunkelt mit Reispapier, wird das grelle Licht gefiltert. Auf der Fensterbank die toten Mücken und Fliegen, ausgetrocknet. Das Bett: leer. Auf der Fensterbank: die Schachtel Pralinen. Jeden Tag darf ich nur einmal hinein, jeden Tag nur eine Praline, damit sie bis zum Ende des Monats reichen – bis Mutter und Vater aus der Stadt eine neue Schachtel geschickt haben. Mein Herz schlägt hoch bis in den Hals: Und was wäre, wenn ich mal zwei nähme? Manchmal sind es keine Pralinen. Manchmal sind es Orangen. Dann darf ich nur eine halbe haben, die zweite Hälfte bleibt für den nächsten Tag. Es sind keine Orangen, die auf der Fensterbank auf mich warten, es sind kleine runde Sonnen, die im Mund zergehen und die ich am liebsten mit der Schale essen würde, aber ich darf es nicht.
Ich betrat das »andere Zimmer«, und während ich mit geschlossenen Augen die Praline oder die halbe Orange im Mund zergehen ließ, sah ich Schiffe, beladen mit Orangen und Schokolade. Das Häuschen von Hänsel und Gretel war nichts im Vergleich mit meinen Fantasien, mit meiner Gier nach Süßem. Ich wagte es nie, eine zweite Praline oder die zweite Hälfte der Orange aufzuessen.
Im »anderen Zimmer«, neben der Nähmaschine, steht der Sack mit dem Würfelzucker an die Wand gelehnt. Ein Zentner Zucker in großen, 50 oder 100 Gramm schweren Würfeln lagert dort, und ich hole mir einen Würfel heraus, hocke mich neben den Sack hin und knabbere an dem Zucker, bis Maminka mich ruft. Dann schiebe ich den angeknabberten Würfel in die Schürzentasche und gehe hinaus.
Die Äpfel sind schon faustgroß, aber immer noch sauer. Ich hole mir einen vom Baum, werfe ihn hundertmal gegen die Hauswand, fange ihn auf und immer wieder gegen die Wand, bis er rundum weicher geworden und mit braunen Druckstellen bedeckt ist und der saure Saft an manchen Stellen herausspritzt. Dann eine Untertasse mit zerstampftem Würfelzucker holen, abbeißen, in den Zucker tunken, den sauren Saft, mit Zucker gemischt, durch die Zähne fließen lassen, träumen von Schiffen, beladen mit Schokolade und Orangen.
Neben dem Sack mit dem Würfelzucker im »anderen Zimmer« zu hocken und zu träumen war jedoch weit weniger aufregend, als hinter dem Holzstapel im Hof zu hocken und zu warten. Bis Montag hatte ich mein Problem gelöst. Endlich konnte ich in Ruhe hinter dem Stall verschwinden und darauf warten, dass der Truthahn die Henne bestieg. Ich musste nur aufpassen, dass mich keiner sah, musste so tun, als ob ich spielte! Maminka ahnte meine schlimmen Gedanken nicht und goss gerade das Seifenwasser von der Wäsche an die Quittenbäume. Sie meinte, Seifenwasser sei gut für die Quitten.
Ich hockte mich hinter einen Stapel Holz und wartete. Die Hühner ächzen und beklagen die Mittagshitze, obwohl es noch längst kein Mittag ist. Das Dorf ist leer. Das dumpfe Brummen der Traktoren da draußen im Feld, das Krächzen der Säge, die sich jeden Tag um diese Zeit meldet. Über meinem Kopf die heranreifenden Mirabellen, die Blätter und die grünen, sonnigen Spinnweben. Manchmal kriecht mir ein unsichtbarer Faden übers Gesicht. Ich warte. Ich wage nicht, die Backsteinsplitter umzudrehen, obwohl ich es gerne täte: Unter jedem Backstein wohnt ein Regenwurm.
Da sind sie! Die Truthenne schreitet geziert, passt auf, dass sie nicht in Hühnerkacke tritt, und pickt unentwegt irgendetwas vom Boden auf. Es sieht so aus, als würde sie der Truthahn überhaupt nicht interessieren. Er plustert sich auf. Er ist ganz rot im Gesicht. Er tanzt, er tobt: »Sieh mich an, ich komme!« Mein Herz schlägt schneller. Was ist es denn, dieses Etwas, das sich mit jedem aufgewirbelten Staubwölkchen unter den Füßen des Truthahns in mir breit macht? Ich bücke mich, knie mich hin, stütze mich mit den Händen auf den Boden, liege fast unter dem Stapel Holz. Ich will alles sehen, alles, was sich sehen lässt! Jahrelang glaubte ich, das Geschlecht des Truthahns hinge ihm von der Nase herunter – bis ich eines Tages merkte, dass er genau wie der Hahn die Henne bestieg und seinen Hintern an ihrem Hintern festdrückte. Dass das Weibchen immer dem Männchen unterlag, empfand ich als ungerecht. Und es schmerzte mich, wenn der Truthahn seiner Henne die Federn mit den Krallen auszureißen begann, sobald sie unter ihm lag.
Wenn Maminka einen Hahn geschlachtet hatte, holte sie ihm vorsichtig die Eier heraus. Gekocht schmeckten sie besonders gut, und sie legte sie immer auf meinen Teller. »Ich verstehe nur nicht, warum er seine Eier nicht legt, wenn er welche hat«, sagte ich bei solchen Gelegenheiten zu Maminka, die meine Frage unkommentiert im Raum stehenließ. So schien mir der Truthahn ziemlich unnütz zu sein: bloß fressen, die Henne besteigen und noch nicht mal Eier legen!
Wie oft blieb ich auf dem Boden liegen, während die Steinchen und die trockenen Klümpchen Erde meine nackten Knie und meine Handflächen blutig rissen. So war es gut: über mir die Mirabellen und die grünen Spinnennetze, die Blätter, die unentwegt miteinander tuschelten, der Schmerz an den Knien und den Handflächen. Stummsein. Wehtun. Warten. Das hatte viel miteinander zu tun.
Maminkas langgezogenes »Kooomm!« schreckt mich auf. Ich springe auf, reibe meine Knie, entferne vorsichtig, aber hastig die kleinen Steinchen und die Erdkrümel, verschmiere das Blut. »Ich kooooomme!« Ob Großmutter gemerkt hat, dass ich die zwei da beim Liebesspiel beobachtet habe?
Ich nähere mich Maminka langsam, sehr langsam, am Nussbaum vorbei. Mein Schatten geht mir brav nach, dann geht er Maminkas Schatten nach.
»Ich muss ein Körbchen für die Kamille mitnehmen, nicht wahr?« Mein Schatten steckt den Holzkamm in die Schürze, während Maminkas Schatten beschwichtigend auf ihn einredet: »Nimm lieber eine Tasse mit, Mila! Mehr schaffst du sowieso nicht mit dem Kamm.« Großmutters Schatten breitet verzweifelt die Arme aus, schlägt sich mit beiden Händen an den Kopf: »Sieben Kilo Kamille, Gott sei mit Euch!«
Mein Schatten zuckt mit den Schultern. Er weiß nicht genau, mit wem Gott sein soll. Mit denen, die uns diese Norm auferlegt haben, oder mit mir und den anderen Kindern, die die Norm erfüllen müssen?
Maminka kochte die beste Brennnesselsuppe, die ich je gegessen habe. Im Frühjahr, ehe der Spinat noch ans Wachsen dachte, war sie schon da. Wir alle, geplagt vom grünen Hunger, konnten das erste Grün nicht abwarten. Unsere Bäuche, verwöhnt, gereizt und einen Winter lang geplagt durch das sauer eingelegte Gemüse, »den Wintersalat«, wie man es nannte, und durch das Sauerkraut, sehnten uns nach einem frischen Blatt. Und das erste Essbare, das man entlang der Steinmauern und unter den Holzstapeln fand, war die Brennnessel. Wir bereiteten daraus den ersten Frühlingssalat, die erste Frühlingssuppe und sogar den ersten grünen Auflauf mit Reis, Zwiebeln und Eiern. Die Brennnessel gab es fast das ganze Jahr über bis zum späten Herbst, doch sie verlor ihre Anziehungskraft, sobald der Kopfsalat, die Radieschen und die Lauchzwiebeln geerntet wurden. Im Sommer kam es höchst selten vor, dass man eine Brennnesselsuppe vorgesetzt bekam; die gab es nur dann, wenn Großvater großen Hunger hatte und es nicht abwarten könnte, dass das eigentliche Essen auf dem Herd fertig war.
Wir gehen durch das leere Dorf. Es ist heiß und staubig. Wir nähern uns der Blindengasse und ziehen unsere Schuhe aus. Der Staub glüht – ein vertrautes Gefühl. Ich beobachte Großmutters Füße.
»Warum hast du nur vier Zehen, Maminka?«
»Djado Minko, dein Urgroßvater, hat mir den einen Zeh abgeschnitten, als ich klein war ...«
Die Sonne prallt auf meinen Kopf.
»So klein wie du, Mila.«
Und während ihre dünnen Lippen die einzelnen Worte formen, schaudert es mich; sie ist es nicht, die spricht, ich bin es, die von damals ausrückt, und während ich dies heute erzähle, werden die Mila und die Maminka eins. Djado Minko nähert sich, mit dem Taschenmesser in der Hand, dem Kind.
»Es tut nicht weh, pass auf, es tut nicht weh ... Der Zeh muss weg, sonst stirbst du ... mit einem blauen Pickel ist nicht zu spaßen!«
Da schreit ein Kind durch die Blindengasse, der Schmerz zerschellt an den Fensterscheiben, die Fensterscheiben sind mit Reispapier versperrt. Das Dorf ist leer, und der Schrei verdampft an den Wänden der heißen Häuser. Da brüllt ein Kind vierzig Jahre zurück in der Zeit und fast dreißig Jahre vorwärts, bis der Klageton eins wird und zu Buchstaben erstarrt. Da tritt plötzlich die alte Frau aus dem Kind heraus, setzt sich an den Rand der staubigen Straße, aus der einen werden zwei.
»Ist ja gut, mein Kind, es hat nur ganz kurz wehgetan ... hast du denn schon wieder kein Taschentuch? Mila! Wie oft soll ich dir das sagen, der Djado Minko hat es richtig gemacht! Er hat das Messer vorher in den Schnaps getaucht, und wie du siehst, lebe ich noch!«
Ich stand auf. Meine Handflächen waren feucht geworden, und ich merkte, dass ich vor Angst einen steifen Hals bekommen hatte. Maminka zog die Gummigaloschen wieder an, holte die Lederhandschuhe aus dem bunten Säckchen heraus, zog sie an und trat in die Brennnesseln hinein. Sie suchte die jüngsten Pflanzen, die an den Wurzeln seitwärts sprossen, und verstaute sie in ihrem Wollsäckchen. Ich zog meine Schlappen auch an. Die durchgeschwitzten Socken ließ ich in der Sonne lüften. Dann nahm ich den Holzkamm und beugte mich über das kleine Meer Kamille, das die Brennnesseln umgab. Der Kamm hatte vierundzwanzig Zähne; es passten genau dreiundzwanzig Kamillenblüten hinein. Ein Schwung mit dem Kamm durch die Kamille und hochziehen, als würde ich die Blüten kämmen. Die Hälfte fiel sofort wieder auf den Boden. Der Grund meiner Tasse wurde mit dem Rest der Blüten kaum bedeckt. Ob ich schon zehn Gramm gepflückt habe? Ich muss unbedingt einen richtigen Kamillenpflücker haben, sonst bin ich erledigt, dachte ich unentwegt.
Nach einer halben Stunde war meine Tasse fast voll, Maminkas Wollsäckchen mit den Brennnesseln auch, und wir machten uns auf den Weg nach Hause.
»Wie viel hab’ ich denn wohl gepflückt, Maminka?«, versuchte ich das Gewicht in der vollen Tasse zu schätzen. »100 Gramm vielleicht?«
»Höchstens fünfzig, Mila ... doch bis Montag sind es nur noch 25 Gramm.« Maminkas Antwort traf mich völlig unvorbereitet. Die Kamille trocknete schnell aus, das war es! Ich schaute sie verzweifelt an. »... wir packen das schon!«, klang Großmutter sicher, aber ich war untröstlich. Später erfuhr ich, dass man uns drei Kilo getrocknete oder sieben Kilo frische Kamille als erfüllte Norm anerkannte.
Aber erst viel später.
Das Weib, das das Wort »verwöhnt« hatte fallenlassen, war längst weg. Das hatte ich schon mehrere Male gehört, fast immer, wenn mich meine Eltern an der Bushaltestelle abküssten. Ich mochte keine nassen Küsse und ließ sie nur zu, wenn es unumgänglich war.
Der Bus fährt ab.
Mich packt etwas an der Gurgel, so fest, als würde mir eine Schlinge umgelegt. Man zieht zwar nicht zu, aber die Angst vor der Schlinge reicht. Dann klammere ich mich an Mutters Hals fest. Der Schaffner blickt finster drein, es eilt ... Die nassen Küsse machen mir nichts mehr aus, mir läuft es gleichermaßen aus Nase und Augen. Meine Lippen schwellen an, die Haut spannt sich.
Der Bus fährt ab.
Ich klammere mich an Maminkas Hals fest, so fest, als würde ich selbst die Schlinge zuziehen, doch nicht mehr um meinen eigenen Hals. Ein unsichtbarer Scheibenwischer verschmiert meine Sicht.
Der Bus fährt ab.
Ich rieche ihn, ich höre ihn, ich fühle die Schwingungen des großen Körpers, vollgestopft mit neugierigen Blicken. Maminka und ich schreiten ganz langsam, als würden wir eine riesige Glaskugel zwischen uns tragen, als hätten wir Angst, sie würde beim ersten unvorsichtigen Wort oder Schritt einfach zerspringen. Mein Blick klärt sich mit jedem Schritt mehr; die Häuser sind wieder da, den Bordstein kann ich am Rande erkennen. Meine Muskeln werden auf einmal locker, fast weich, in mir breitet sich ein weiches, weißes Kissen aus. Das Kissen ist so groß, dass ich ganz darauf passe. Eingerollt in mir selbst, ruhig und frei‚ werde ich da liegen bis zum nächsten Mal.
In zwei Wochen besuchen uns Mutter und Vater wieder.
Nie wusste ich, wann der Bus ankam. Nie wusste ich, mit welchem Bus sie fuhren. Ich wusste nur, dass es heute sein sollte. So bestand Heute aus lauter ineinander verwobenen Spannungsmustern, die mit jeder vergangenen Stunde lichter und greller wurden: das Hinaufklettern auf die Fensterbank, das Überblicken des Dorfplatzes mit der Wasserstelle und dem langen, schmalen Trauerweidenschatten, der bis zum Mittag schrumpfte und den Platz freigab, dafür aber dicker wurde, um gegen Abend wieder lang und schmal zu werden ... Das Verharren mit Blick auf die Straße, das Steifwerden, das Ausmachen des ersten Staubwölkchens, das aus Richtung Stadt aufflammte ...
Erst waren es die Pferde der Kooperative, die zum Grasen getrieben wurden, die die Straße mit der zähen Masse ihrer Leiber überfluteten und unter meinem Fenster aus dem Nebel flossen. Ihr Fluss, aus bräunlich-glänzenden Wellen getrieben, verzweigte sich an der Wasserstelle, überquerte das Schattenfeld der Trauerweide, dröhnte mit tausend Hufen und mächtigem Schnauben, kehrte zur Straße zurück, floss weiter, zäh und gewaltig. Jetzt war das Flussbett der Straße trocken, besät mit Pferdemist, der in der Sonne dampfte und glänzte, bis sich die Staubwolken über ihn legten.
Wieder steif werden, warten.
Aus der schmalen, hohen Staubwolke taucht der Laster auf, der die Frauen der Siebten Brigade zur Arbeit fährt, ein uraltes, klappriges Dorftier, das einige Minuten im Schatten verschnauft und dann wieder losfährt, beladen mit Harken, Decken und Frauengeschwätz. Dann kommen die Schafe. Sie folgen ihrer eigenen breiten Spur aus Glockenklang und Hundegebell, aus klagendem »Bäääh«, durchstochen vom scharfen Pfeifton des Schäfers, der, vier Finger in den Mund gesteckt, die Herde treibt. Der niedrigen, wolligen Wolke folgt der erste Bus. Er kommt im langsamen Schafschritt heran, erst das Dach mit den Koffern, dann die steile, in der Sonne blinkende Glasfront, kommt die Biegung der unsichtbaren Straße heraufgezogen. Der Bus fährt langsam, zu langsam und zu gemütlich, der Bus treibt die Schafe vor sich her, als wäre er der Schäfer.
Manchmal hatte ich Glück und meine Eltern kamen schon mit dem ersten Bus an.
Dann war Heute schon am Vormittag vorbei, und wir drei suchten den ganzen Hof nach Überraschungen ab, die ich vorbereitet hatte: das neuentdeckte Taubennest im Geäst des Nussbaumes, das Mauseloch hinter dem Hühnerstall, das sich später als das Loch eines Marders entpuppte – aber erst, als Maminkas Hühner reihenweise erdrosselt gefunden wurden –, die im »anderen Zimmer« stehende Kiste mit den abgeschnittenen, langen braunen Zöpfen, zwanzig Jahre lang ...
Dann zeigten sie mir ihre Überraschungen, die so schön nach Stadt rochen: backsteinähnliche Marzipanwürfel, goldfarbene Äpfel, die mehlig waren und das ganze Zimmer mit ihrem Duft beherrschten, steinharte Brezeln, luftgetrocknet, die ich den ganzen Tag als Kette um den Hals trug und beknabberte, und zwei bis drei Liter Bosa, jenes beigebraune, dicke und aus Weizen gebraute Getränk, das süß und sehr nahrhaft war und nicht so sauer wie die abgestandene Bosa im dörflichen Süßwarengeschäft ...
Lange wurde gegessen und gesprochen. Es wurde nur Schönes gesprochen: Wir waren immer gesund gewesen, auch wenn ich gerade die Masern hinter mich gebracht hatte; Maminka und Djado hatten sich immer prächtig verstanden, auch wenn er sie gerade am Tag davor verprügelt hatte ...
Dann gingen meine Eltern und ich spazieren.
Ich gehe zwischen den beiden, halte ihre Hände fest, balanciere die riesige Schleife auf meinem Kopf, bin rot bis zum Haaransatz. Sie sind da ... Gelegentlich küsse ich Vaters Hemdsärmel, der so schön nach Waschpulver und Staub riecht, streichele Mutters Ellenbogen, der so komisch runzelig und hilflos an ihrem dunklen glatten Arm klebt.
Das ist es wohl, was die Bauern meinen, wenn sie mich anstarren. Das ist es, wenn sie denken, dass ich verwöhnt bin: »Verwöhnt«. Ein schönes Wort war das nicht, und ich trug es wie einen Stempel auf der Stirn. Was war es, das mir dieses Wort eintrug? Etwas mit mir schien nicht in Ordnung. Ich musste unbedingt dahinterkommen!
Ich bin nie richtig in den Kindergarten gegangen. Ich wollte nicht. Dann, auf einmal, wollte ich doch, aber dann durfte ich nicht. »Du darfst nicht, weil deine Eltern nicht in der Kooperative sind.«
Für mich gab es einen Platz in einem Kindergarten in der Stadt, versicherte mir Maminka, aber ich konnte nicht den Platz eines anderen Kindes aus dem Dorf einnehmen. Alle, Plätze und Kinder, waren gezählt, und es gehörte sich nicht, dass ein Kind bei den Großeltern lebte, wo doch seine eigenen Eltern in der Stadt arbeiteten und lebten. Das leuchtete mir ein. Großmutter hatte ihr Bestes getan. »Ich habe sogar mit dem Bürgermeister gesprochen ... es geht eben nicht!«
Eines Tages jedoch, als Maminka mit den anderen Frauen der Siebten Brigade aufs Feld gehen und ich zu Hause allein bleiben sollte, nahm sie mich an die Hand, schleppte mich hinter sich her, brachte mich doch noch in den Kindergarten und sprach lange mit der Kindergärtnerin, die dauernd die Schultern hochzog und auf ihre eigene dicke Brust zeigte. Ich hockte dann unter dem Nussbaum und verfolgte das Gespräch aus der Ferne. Der ganze Kindergarten glich einem Aquarium: hinten die kleinen, bunten Fischlein, die Kinder, die dauernd den Sandkasten belagerten und die Schaukel stürmten; im Vordergrund die zwei großen Fische, Maminka und die dicke Kindergärtnerin, die stets mit der kurzen Flosse auf ihre eigene Brust zeigte. Die Fischchen musterten mich stumm aus der Ferne, als sei ich eine unbekannte Amphibie. Schließlich kam Großmutter zu mir. Sie nähert sich mit gelöstem Gesicht, sie lächelt mich an, sie zeigt mir ihre mit Silber bezogenen Seitenzähne.
»Du darfst bleiben!« Und sie gibt mir einen Henkelmann mit Gekochtem, ein Stück Brot und einen Löffel.
»Du sollst nicht weinen, Maminka«. Ich bleibe, während sie sich entfernt, und ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Beutel anfangen soll. Ich sehe mich um und stelle ihn vorsichtig am Nussbaum ab, in eine kleine Vertiefung in der Erde, so dass die Suppe nicht auslaufen kann.
Der Kindergartenhof ist weitläufig. Kleine Sträucher teilen ihn, grenzen den Gemüsegarten ab, in dem stets eine der Kindergärtnerinnen wühlt. Eine niedrige Steinmauer trennt Kindergarten und Kirchhof. Hinter der niedrigen Steinmauer das fleißige Geräusch einer Harke: »Chrrrrsss, chrrrrsss!« Baba Popadija, die Frau des Popen, müht sich mit den Stangenbohnen ab. Im Schatten ist es kalt, aber ich traue mich nicht, die Schattengrenze zu überschreiten. Ich erkälte mich lieber, als mich den Blicken der anderen auszusetzen. Ich bleibe dort, wo ich bin, unterm dichten Dach der großen, sehnigen Blätter.
Ich kam mir überflüssig vor. Überflüssig und allein. Obwohl mich ein Junge einmal auf die Schaukel ließ – worauf ich mich sofort in ihn verliebte. Als die Kinder zum Mittagessen gerufen wurden, stellte ich mich als letzte an und glaubte, mitessen zu müssen. Ich sah durch die Tür die vielen schönen kleinen Tischchen, die Stühlchen, und fragte mich, bei wem ich wohl sitzen würde, ob vielleicht bei dem Jungen, der mich auf die Schaukel gelassen hatte? Als fast alle Kinder saßen, fragte die Kindergärtnerin, ob ich Hunger hätte, und ich bildete mir ein, sie hätten kein Essen für mich.
»Nein danke!«