Die Idee eines „zweiten Lebens“, die François Jullien in Auseinandersetzung mit den Klassikern des chinesischen Denkens entwickelt, meint nicht Wiedergeburt oder neues Leben, sondern zeichnet einen Weg der stillen Verwandlung vor.
In diesem Essay lässt François Jullien die Begründer des Taoismus in einen Dialog mit europäischen Denkern treten. Dabei entwickelt er die Idee eines „zweiten Lebens“: Diskret und ohne Bruch findet eine Verschiebung in unserem Leben statt – es trifft nunmehr seine eigenen Entschlüsse und gestaltet sich um. Es belebt sich neu, kommt wieder in Gang, richtet seine Vorhaben und Ziele aus und gibt bislang unergründet gebliebene Möglichkeiten frei. Indem wir unsere Freiheit schrittweise entfalten, aus der Wiederholung heraustreten und Klarheit erlangen, leben wir fortan nicht mehr bloß, sondern beginnen zu existieren.
François Jullien, geboren 1951, lehrte an zahlreichen namhaften Universitäten weltweit. Er wurde 2010 mit dem „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken“ ausgezeichnet.
EIN ZWEITES LEBEN
PASSAGEN FORUM
Aus dem Französischen von
Christian Leitner
Passagen forum
herausgegeben von
Peter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Une seconde vie
Aus dem Französischen von Christian Leitner
Cet ouvrage a bénéficié du soutien des Programmes d’aide à la publication de l’Institut français.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-0382-8
eISBN(EPUB) 978-3-7092-5031-0
© 2017 by Éditions Grasset & Fasquelle
© der dt. Ausgabe 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Warnhinweis
I. Ein neuer Anfang?
II. Geklärte Wahrheiten
III. Das Wesen des Zweiten
IV. Nicht Alter noch Weisheit
V. Von der Erfahrung
VI. Luzidität
VII. Loslösung, Freilegung
VIII. Zweite Liebe
IX. Wiederlesen, Wiederaufnahme, Wiederverpflichtung
Finale
Anmerkungen des Übersetzers
Hinter ihren Gedanken, tatsächlich hinter allem Übrigen, bemerkt eine Figur aus einem modernen Roman, bereits im fortgeschrittenen Alter, wie sich, während sie den Vorhang vom Fenster wegzieht, das Haus gegenüber und die Straße betrachtet, eine Frage unmerklich einschleicht. Die Frage bildet ein Loch in ihren frühmorgendlichen Träumereien: Warum lebe ich noch weiter? Eines hellsichtigen Tages kann sie die Frage nicht länger vermeiden. Sogar wenn sie keinen so ärmlichen Ehemann gehabt hätte, hätte Emma sie sich gestellt. Es stimmt, eine solche Frage – vielmehr handelt es sich um die Frage, in ihrer ganzen Trivialität und Rohheit – kann man hastig begraben, man kann sie unter den Sorgen des Tages einschläfern. Doch sie treibt um, man trägt sie mit sich. Der Romancier früherer Zeiten (noch Stendhal) hatte ein leichtes Spiel, seine Figuren zu exekutieren, sie auf die eine oder andere Weise loszuwerden, oder seinen Roman schlicht unvollendet zu lassen, wenn er nichts mehr mit ihnen anzufangen wusste: wenn sie die Entdeckung des Lebens ausgelebt hatten; wenn sie sich hinreichend an Liebe und Ehrgeiz versucht hatten; wenn sie hinter eine Vielzahl von Illusionen gedrungen waren und allzu viel Klarheit erlangt hatten. Aber dieser Bequemlichkeit des Romanhaften geben wir uns nicht mehr hin. Außerdem ist man nicht der Romanautor seines eigenen Lebens.
Tatsächlich leben wir nicht mehr in jenem Zeitalter, in dem sich die philosophische Fragestellung mit ausreichend Abstand zum Subjekt auf mehrere Ebenen verteilen ließ, die einander ohne weitere Diskrepanzen gegenüberstehen und sich koordinieren: Was kann ich „wissen“ – was soll ich „tun“ – was darf ich „hoffen“. Erkenntnis, Moral und Unsterblichkeitsglaube stellen keine Zwecke mehr dar, die sich für allgemeingültig und von vornherein legitim halten. Denn die Wissenschaft ist nunmehr von Zweifeln hinsichtlich ihres Gebrauchs ergriffen, die Tugend ist bis in ihre Ursprünge hinein, die man für heilig hielt, verdächtig geworden, und der Glaube tut sich schwer, irgendein Jenseits, sei es nun eines der Geschichte oder eines des Heils, glaubhaft zu machen. Daher also sind wir, durch eine noch nicht hinreichend untersuchte stille Verkehrung, von einer Moral der Vorschrift – jener der Vernunftregeln, der Verhaltensimperative oder des Dogmas – zu einer Ethik der Förderung übergegangen. Unser Fragen hat sich auf die menschliche Fähigkeit zurückgezogen, das Leben als Existenz zu entfalten. Was bedeutet jedoch „existieren“, wenn ich daraus – indem ich es dem Denken des Seins ablocke, um darauf ein Denken des Lebens zu gründen – das moderne Verb mache, den entscheidenden Begriff, um den alles sich dreht? Aus ihm geht dieser frühmorgendliche Gedanke hervor: Wird es mir gelingen, mich von meinem früheren Leben – von meinem in seiner Welt festgefahrenen Leben – zu lösen, um einen neuen Tag zu beginnen? Oder um die Bedingung dieser Frage zu erhellen: Bin ich heute soweit gekommen, mir mein vergangenes Leben zunutze zu machen, um, indem ich darauf zurückkomme und mich davon absetze, mein Leben nicht mehr zu wiederholen, sondern es „wiederaufzunehmen“, um mein Leben reformieren und endlich damit beginnen zu können, wirklich zu „existieren“?
Eine solche Fragestellung lässt sich zwar auch auf der Ebene des gegenwärtigen Persönlichkeitsentwicklungs- und Glücksmarkts formulieren, um sich in Hinblick auf sie möglichst billig zu beruhigen. Man kann sie im Rahmen schön zurechtgehobelter Weisheitsbanalitäten einfassen und dabei ein mehr oder weniger heiteres Sichabfinden anstreben. Doch ebenso kann man sich philosophisch mit ihr auseinandersetzen wollen, um einen mutigeren Ausgang zu suchen – das heißt einen erfinderischen.
Ebendies werde ich hier vorschlagen, indem ich das Konzept eines zweiten Lebens entwickle.
Wir haben nur ein Leben, das ist ganz offenkundig. Wir können unser Leben nicht verlassen und wieder zu ihm zurückkehren. Kaum ist man sich seiner selbst bewusst geworden, stellt man fest, dass man in dieser kontinuierlichen Partie eingeschlossen ist, die uns von Akt zu Akt führt, von Stunde zu Stunde, vom Schlaf zum Wachen, ohne Zäsur oder Unterbrechung, ohne Pause und ohne Zwischenspiel, ohne Einhalt und Ruhe – ohne eine „sichere Rast“: In dieser Partie gibt es kein Draußen, von wo aus man seinen Platz neuerlich einnehmen könnte. In einer zügigen Bewegung geht es vom Aufschwung der Jugend bis hin zur Erschöpfung: „ein Leben“. Wir haben kein Leben zum Auswechseln und kein Ersatzleben. Wir können das Leben nicht von Neuem ausspielen, wie man einen Würfel ein zweites Mal wirft oder wie man einen Spielstein vom Brett entfernt und neu setzt – wie Antiphon sagte: anathesthai ton bion ouk estin. Das Leben kann kein zweites Mal gespielt werden, es ist keine Partie, die man neu beginnen kann. Deshalb muss man sich, schließt der Moralist, voll und ganz in den gegenwärtigen Augenblick einbringen, da dieser Augenblick niemals wiederkehren kann, und sich hüten, Dinge zu verschleppen. Deswegen darf man das Leben nicht verschieben, indem man sich stets nur vorbereitet und alles auf morgen vertagt, ohne je zu leben. – Oder aber es wird behauptet, es gebe ein „anderes Leben“, für das dieses hier tatsächlich nur Vorbereitung und schmerzvolle Vorausschau ist: das Leben im Jenseits, das „wahre Leben“, vera vita, im „Paradies“, das Leben, das entschädigt und belohnt, auf das man wartet, das der Glaube verspricht und dessen Eingangstür der Tod ist. Dann erst hebt sich angeblich ein Vorhang und das Leben kann beginnen …
Nun werde ich mich hier von dem einen wie vom anderen lossagen, vom Glauben ebenso wie von der „Evidenz“, um mir die Frage zu stellen, ob nicht ein „zweites“ Leben möglich und sogar erreichbar ist. Um mich zu fragen, ob im Leben nicht ein neuer Anfang statthaben kann, ohne dass man doch ein Anderswo oder eine Hoffnung beschwören müsste; ohne der Versuchung nachzugeben, einen unmöglich zu rechtfertigenden Bruch in der Erfahrung einzuführen: Dieser würde die Prozesshaftigkeit zertrümmern, die den Lauf des Lebens ausmacht und auf die allein ich mich folglich verlassen kann, ohne in die alte Mythologie von der Auslöschung des Vergangenen und von der Wiedergeburt zurückzufallen. Inwieweit kann ich – innerhalb der Kontinuität meines Lebens – von neuem zu leben beginnen? Das zweite Leben kann, da es kein anderes Leben gibt, nur dieses Leben hier sein, wobei es sich fortsetzt und zugleich ausreichend von sich selbst dissoziiert, sodass ein Neubeginn sich abzeichnen kann, sodass etwas in unserem Leben neu ausgespielt werden kann. Und sogar so, dass unser Leben in seinem Ablauf selbst ein neues Leben gebären kann, das durch Abstandnehmen vom vorherigen – das heißt durch eine Abkehr vom gewöhnlichen Leben, durch ein Ausscheren aus dessen Spurrille, ektos patou – ein Leben ist, das endlich anfangen kann. Das also nunmehr auf Grundlage dessen gewählt wird, was bereits darin zu erkennen war. Dieses zweite Leben ist ein befördertes Leben, in dem wir endlich zu existieren beginnen.
Dies also, ohne dass ein Einschnitt verkündet würde, ohne ein großes, von außen kommendes Ereignis oder eine Bekehrung. Ohne Sturz vom Ross, der uns eines Tages auf Haaresbreite dem Tod nahegebracht hätte. Ohne einen Wagenunfall, auf den die Offenbarung folgt: ohne dass die Kutsche gegen die Brüstung des Pont de Neuilly hätte prallen müssen und umgekippt wäre1 – da ist kein Schleier, von dem man hoffen könnte, dass er plötzlich durch irgendeine Katastrophe zerrissen wird und dass dahinter eine Wahrheit zum Vorschein kommt. Dieses „zweite Leben“ geht aus der Immanenz des Lebens selbst hervor, eines Lebens allerdings, das so weit elaboriert und reflektiert worden, so sehr zur Übereinstimmung gelangt ist, dass irgendetwas, das es noch einengte, sich allmählich ganz von selbst endgültig gelöst hat; dass eine Entscheidung stumm herangereift ist, sich vertieft und bestärkt hat, auf die man sich immer besser stützen kann, um sich ein wenig von sich selbst zu lösen, vom Haftvermögen der eigenen Vergangenheit, und sein Leben neu zu beginnen. In diskreter Weise überdenken wir unser Leben, es erhält neuen Schwung, lichtet seine Verpflichtungen aus und gibt neue Möglichkeiten frei, bis man eines Tages, sich diese heimlichen Windungen zunutze machend, hinreichend Abstand erlangen kann, um erstmals imstande zu sein, sein Leben als Ganzes neu zu betrachten und ihm eine neue Orientierung zu geben: es von der Last zu befreien, die es beschwerte, die Stricke zu lösen, die es umfingen und banden, in einer „Flaute“, am Dock – und ihm einen neuen Aufbruch zu schenken. Oder ist es nicht gar womöglich der erste?
Man kann also von einem „zweiten Leben“ sprechen, nicht etwa weil man plötzlich mit einer „zweiten Sicht“ begabt wäre, sondern weil sich in dem Blick, den man aufs Leben richtet, allmählich etwas Verstand abgelagert hat, weil über Nacht eine Art Klarsicht gekommen ist, sodass man endlich wahrzunehmen beginnt, nicht etwa hinter den Dingen – aufgrund eines Risses, der die Wahrheit einer anderen Ordnung, die uns sonst verborgen wäre, sichtbar macht –, sondern durch sie hindurch. Im dicken Teig des Lebens würden damit Zusammenhänge durchscheinen, die man zuvor nicht bemerkt hat. Das bedeutet, dass man nun eine Feinzeichnung des Lebens zu erkennen beginnt, die in seinem Flechtwerk Konfigurationen sichtbar macht, innerlicher als man geglaubt hätte, und vor allem als man es uns je gelehrt hat (könnte man das überhaupt?) – das möchte ich Luzidität nennen. Sie zeichnen ein ganz anderes Bild als jenes, das man vom Leben anfangs wahrgenommen hatte, sie breiten sich vor unseren Augen aus, während sie zugleich in der Materie des Lebens selbst eingeschlossen – „begriffen“ – sind und sich von ihr nicht ablösen lassen. Auch errichten sie abseits des Konkreten keine andere Erkenntnisebene, die theoretischer oder metaphysischer Ordnung wäre, sondern bleiben „im Elemente“ der Erfahrung, dieses Mal jedoch der gewahrten. Gewöhnlich ist es die Literatur (der Roman), die sie explizit macht, nicht die Philosophie. Weil sie nicht abstrakt sind, können sie neuen Halt geben, nicht einen Zugriff auf das Leben (wobei dieses „auf“ die ragende Distanz eines Äußeren bezeichnete), sondern Halt im Leben, das heißt in seinem Grundgewebe und seiner stofflichen Dichte: auf gleicher Höhe mit dem Leben und seinem einzigartigen Ablauf. Denn wenn die Erfahrung sich klärt, wandelt sich der Horizont und eine andere innere Szene taucht auf. Nicht ein Jenseits wird projektiert, sondern unerforschte Ressourcen werden unten, im Diesseits entdeckt. Ist dieses zweite Leben nicht womöglich etwas wie ein „zweiter Wind“, oder sagen wir eine zweite Chance (chaance: die Weise, wie einmal die Würfel gefallen sind)? Dann muss man sich allerdings fragen, was dieses „zweite“ bedeuten kann.
Denn die Rede von einem „neuen“ Leben (Neuanfang), wie ich sie zunächst vorgebracht habe, ist ihrerseits nicht ganz zutreffend, beruft sich noch zu sehr auf die Vorstellung und die Bequemlichkeit eines „Einschnitts“ – sie war nur ein Versuch anzudeuten, worum es geht. Denn ein neues Leben, das man auf Wunsch herbeibeschwört und das mit einem Schlag unsere Existenz völlig verändern würde, ist nicht möglich. Es sei denn man projiziert, wie ich schon sagte, den Bruch einer Bekehrung hinein, entblößt den „alten Menschen“, den palaios anthropos, komplett und kleidet ihn neu ein, wie es das religiöse Denken gerühmt hat – doch müsste man damit den „Skandal“ hinnehmen, den ein solcher Hiatus mit seiner Willkür für die Vernunft darstellt. Und schleppt man nicht etwa trotz der verkündeten Befreiung immer noch alle möglichen Lumpen der Vergangenheit mit sich herum? Es gibt kein so großes Ereignis oder Aufwallen, nicht einmal auf dem Weg nach Damaskus, dass es das Leben radikal verändern könnte – allerhöchstens kann es sich um eine Umkehr handeln. Deswegen ist ein zweites Leben immer nur in der Fortsetzung dessen möglich, was man rückblickend das „erste“ nennen wird. Von diesem grenzt es sich unmerklich ab, ehe es sich behauptet. Stets wird ein zweites Leben stufenweise extrahiert, es setzt sich ab, indem es sich allmählich dem eingeschlagenen Lebensweg entzieht, obwohl es zugleich von diesem herrührt, und eröffnet dabei wieder neue Möglichkeiten: durch langsame Reifung, minimale Veränderungen, kaum sichtbare oder anekdotisch scheinende Abweichungen, die sich jedoch nach und nach miteinander verbinden, sich verzweigen, verstärken und gerinnen, sich strecken und an Intensität gewinnen, bis sie erste Umstürze hervorrufen, die noch weitgehend unserer Aufmerksamkeit entgehen, während man schon beginnt, sie anzunehmen.
Natürlich möchte man zu jedem Jahresende an das neue Jahr, ans „Neujahr“ glauben: an die Möglichkeit eines „Neuanfangs“ – der Ausdruck selbst ist so verlockend; an die Macht der Resolution – der Revolution –, die auf einen Schlag alles neu beleben könnte. „Heute nun ändere ich mich …“ – wer hat sich das noch nie gesagt? Doch trotz all dieser Bemühungen und des guten Willens bleibt es dennoch beim „frommen“ Wunsch. Ich kann, wenn es auch nur symbolisch ist, das Datum dieses Neuanfangs fixieren, doch vergebens. Ich kann dekretieren, so wie es der Erzähler (aus Im Schatten junger Mädchenblüte2) Gilberte schreiben will, dass „wir vom 1. Januar an eine ganz neue Freundschaft aufbauen werden“, „so beständig, dass sie durch nichts zu zerstören ist …“. Ich kann glauben, wie in einem Glaubensakt, bei Null anzusetzen und alles neu zu beginnen: „Gilberte noch einmal neu kennenzulernen, so wie im Moment der Schöpfung“, also so, „als ob noch keine Vergangenheit existierte“. Gleichwohl bleibt das alte und quälende Begehren bestehen – das Begehren, sie zu lieben, oder bessergesagt das Begehren, dass sie mich liebe – ein starrköpfiges und dauerhaftes Begehren. Von ihm ausgehend, von diesem Sockel, der mich zum Lehnsmann der Vergangenheit macht, projektiere ich in utopischer Weise einen Einschnitt. Wenn man also, fährt Proust fort, „wie man die blinden Gesetze der Natur mit einer Religion überlagert“, versuchen will, „dem Neujahrstag die bestimmte Vorstellung aufzuprägen, die ich mir von ihm gemacht hatte“, bleibt das doch vergebens. In diesen Dämmerstunden des ersten Tages hatte ich, unterwegs auf der Straße, „die ewiggleiche, gewöhnliche Materie, die wohlbekannte Feuchtigkeit, die ahnungslose Fluidität der alten Tagen wiedererkannt“. Ein Ich-Subjekt, wie stark auch sein Wunsch sein mag, Neues in sein Leben einzuschreiben, und sogar wenn es sich auf seine Initiative versteift, kann weder die es umgebende, prägnante, stagnierende Verhüllung der Welt noch ihren „isotopischen“ Gehalt („Feuchtigkeit“, sagt Proust) durchbrechen. Das Leben, und zwar vor allem in mir selbst, bleibt nur allzu sehr sich selbst verhaftet.
Man kann also das Spiel nicht neu beginnen: zu glauben, ein „neues Leben“ anzuschneiden, die Szene von einem (ersten) Anfang weg neu zu spielen – „dé-but“: der Würfel (dé) fällt zum ersten Mal. Hat es aber tatsächlich einen ersten Anfang gegeben? Wenn sich die Frage stellt: Inwieweit kann man im Leben eine Initiative wiederfinden, indem man es von dem loslöst, was es gewesen ist? – dann verlangt dieses Fragen, selbst ins Vorher verschoben zu werden. Haben wir, wenn dieses „Wiederfinden der Initiative“ an sich problematisch ist, überhaupt je eine erste Initiative gekannt? Denn wenn es auch so etwas wie einen Anfang (ein initium) gegeben haben muss, wie viel „Initiative“ des Subjekts hat dieser zugelassen? Nicht nur stand ein solches „Subjekt“ bei diesem ersten Mal unter Einfluss (des Milieus, der Sprache, der Erziehung usw.: alles dessen, wovon sich Descartes’ cogito befreien will), vielmehr waren wir, als wir, wie man sagt, „ins Leben traten“, recht unfähig zu wählen, wie wir leben wollten, und machten kaum die Erfahrung eines ersten Beginnens. Wenngleich wir dabei durchaus etwas treffen mussten, was sich in Form von „Entscheidungen“ (über die Lebensweise, den Beruf, die Liebe …) vergegenständlichte, wählten wir zum größten Teil blind: Nicht nur wussten wir nicht, was wir wählten, sondern vor allem wussten wir nicht einmal, dass wir wählten. Es hat nie den ersten – furchtbar abstrakten – Augenblick gegeben, wo wir tatsächlich angefangen haben zu entscheiden, was für ein Leben wir „wollen“. Diese „ersten“ von uns getroffenen Entscheidungen nämlich stellten sich erst nachträglich als „Entscheidungen“ heraus, waren aber doch ziemlich endgültig; was uns zu diesen Entscheidungen veranlasst hat – und zunächst dahin geführt hat, dass da überhaupt eine Wahl (ein Anfang) war –, das ist uns entgangen.
Erst in einer zweiten Phase also kann sich, selbst wenn ein „neuer“ Anfang folglich nicht möglich ist, etwas abzeichnen, was einem Anfang ähnelt; kann etwas, was einer Auswahl nahekommt, entstehen. Nur durch die Klärung unserer Erfahrung und ein Abstandnehmen von dem, was sie unaufhörlich impliziert und aufdrängt oder eindämmt, kann etwas, was einer Initiative wenigstens sehr nahe kommt, hervortreten. Denn erst in dem, was sich allmählich als mögliche zweite Phase abzeichnet, nachdem man begonnen hat, in der Feinzeichnung wahrzunehmen, worum es im Leben geht, das heißt, nachdem man auch begonnen hat, die möglichen Wirkkräfte eben in diesem Grundstoff des bereits begonnenen Lebens zu erkennen, kann man auf sein Leben zurückkommen und anfangen, dieses Leben effektiver zu leben. Wird die Bedingung, die ein solch spukhaftes Beginnen ermöglicht, nicht womöglich erst gegen Ende verwirklicht? Denn zum Zeitpunkt des berühmten Einstands im Leben hatten wir zu ihm keine Distanz und daher auch kein Bewusstsein vom (für das) Beginnen. Wenn wir nunmehr jedoch auf das vergangene Leben zurückblicken, kommen wir dieser Fähigkeit, etwas in Gang zu setzen, näher. Das „Neue“ („erste“) ist utopisch (der mythische Anfang); indes hat sich das zweite, das sich von diesem Anfang abhebt, der als solcher nie existiert hat, unter der Hand eingeschleust und sozusagen dazwischen-geschoben. Ein neues Leben mag es zwar nicht geben, doch in der Wiederaufnahme (reprise) des Lebens kann man sich nunmehr – indem man korrigiert, was im Leben womöglich schlecht gewählt worden war, vor allem aber indem man sich in die Lage versetzt, durch den erlangten Abstand dort wählen zu können, wo vorher keine Wahl bestand – „heraushalten“ (ex-sistere heißt es auf Latein), sich außerhalb dessen halten, was das Leben bestimmte und in Grenzen fasste, von denen man nicht einmal wusste, dass man ihnen unterworfen war: Man kann beginnen, aus den Begrenzungen hinauszutreten, die man für schicksalshaft oder wesenhaft abgesteckt hielt, und in der Folge kann man beginnen – im eigentlichen Sinn des Wortes, der hier aber zu begünstigen sein wird – zu „ex-istieren“.
Ich habe die Verwandlung, die geräuschlos vor sich geht und von der man nicht spricht – Stille auf beiden Seiten –, die stille Verwandlung genannt. Da sie umfassend und kontinuierlich ist, hebt sie sich vom Lauf unseres Lebens nicht ausreichend ab, als dass man sie sogleich bemerken würde. Dann, nachdem sie sich unaufhörlich weiter verzweigt und verfestigt, beginnt diese Verwandlung, wie eine Schaumspur eines Tages sichtbar zu werden: Endlich kommt ein Ergebnis zum Durchbruch, das unsere Aufmerksamkeit einfordert. Und dieses Hervortreten ist sogar umso geräuschvoller, als wir seine Entwicklung zuvor nicht wahrgenommen haben. Nun geschieht das Hervortreten eines zweiten Lebens aus dem Leben selbst auf folgende Art: Ausgehend vom winzig Kleinen, das sich ansammelt, vollzieht sich eine Biegung, die uns allmählich von dem wegführt, was dann rückblickend, mit gegebenem Abstand, als ein „erstes“ Leben erscheint. Man muss also diesen zweiten Aufbruch im Leben als Gegenteil eines plötzlichen Einbruchs denken und als Gegenteil all dessen, was das Prozesshafte der Erfahrung stören würde: Durch unterirdische Verschiebungen, die sich ohne unser Wissen vollziehen, beginnt eine Neuorientierung, durch stumme Neigung, die der Aufmerksamkeit und folglich dem Willen entgeht. Dann (aber), wenn sie sich hinreichend bestätigt hat, kommen – ausgehend von all den kleinen Verschiebungen, die durch gegenseitige Verstärkung ins Bewusstsein dringen – Entschluss und Verantwortung des Subjekts ins Spiel. Eine „Reform“ des Lebens kann beginnen.
Es handelt sich streng genommen also weder um eine Häutung noch um eine Mutation: Häutung ist zu kontinuierlich organisch, während Mutation die Immanenz dieser Entfaltung durchbrechen würde. Reifung (der ihre Bekundung auf den Fersen folgt: das berühmte „er ist reifer geworden“) gibt ebenso wenig Rechenschaft von dem, was eben innerhalb dieses Prozesshaften zwar nicht gebrochen ist, doch Risse bekommen und damit ein neues Mögliches ausgelöst hat, das zu diesem Kippen führte. Das zweite Leben hält durch Implikation Einzug in das erste, während zugleich ein Freiraum erkennbar wird (entsiegelt wird), der sich davon ablöst. Tatsächlich wird ein Freiraum nur soweit verwirklicht, als man sich nach und nach aus den zugemuteten, zugleich gegebenen und erduldeten, Bedingungen heraushebt und sich „draußen hält“ – das ist es, was ich „ex-istieren“ nennen werde.
Denn einerseits offenbart im Lauf der Jahre die Kohärenz, nach der sich mein Leben voreilig zu entwickeln begann, auf die ich mich blind tastend, ohne ausreichend darüber entscheiden zu können, eingelassen habe, von selbst ihre Grenzen und verlangt folglich nach ihrer Überwindung. Eine „primäre“ Logik, die man vielleicht die Logik des DrangsAnhaftungenentwickeltsekundärer