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Foto: Hannes Zaugg-Graf

Livia Anne Richard, 1969 in Bern geboren, arbeitete zuerst als Schauspielerin, dann begann sie Stücke zu inszenieren und auch selbst zu schreiben. Mit ihren Produktionen auf dem Gurten und auf dem Riffelberg oberhalb Zermatt hat sie sich weithin einen Namen geschaffen, mit «Dällebach Kari» etwa oder mit «The Matterhorn Story». «Anna der Indianer» ist ihr erster Roman.

«Livia Anne Richards präzise Arbeit, ihre Leidenschaft, ihre Sensibilität für Atmosphäre und ihr Sinn für das zutiefst Menschliche verraten eine Handschrift, die man als eine ganz persönliche erkennt: Fein und energisch zugleich ist sie.»

Beatrice Eichmann-Leutenegger
Neue Zürcher Zeitung

Umschlag: Stephan Bundi

Livia Anne Richard

Anna der Indianer

Roman

Cosmos Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Bundesamt für Kultur unterstützt
den Cosmos Verlag mit einem Strukturbeitrag
für die Jahre 2016–2020

www.cosmosverlag.ch

Jetzt steht Anna am offenen Grab und lacht.

Sie hat an Beerdigungen schon immer lachen müssen. Das ist ihr zuwider, weil es falsch interpretiert wird. Oft hat sie deshalb gehofft, dass sich das eines Tages auswachsen würde, aber die Dinge wachsen sich schwer aus bei Anna.

Dass eine Beerdigung und somit das Einzige, wovon man verbindlich weiss, dass es in jedem Fall irgendwann nach der Geburt eintreten wird, eine so rein ernsthafte Angelegenheit sein soll, bei der sich niemand zu lächeln traut, bei der sich alle viel länger als gewöhnlich die Hände schütteln und sich dabei mit Tiefgangblick in die Augen schauen, dass auch diejenigen tiefgängig schauen, welche den Verstorbenen gelinde gesagt nicht zum engsten Freundeskreis gezählt haben, dass es dann welche gibt, die zwar pietätvoll gucken und leise reden, sich dabei aber über das unpassende Wetter oder fehlende Parkplätze bei der Kirche ärgern – das alles erhellt Annas Gemüt durch sämtliche Finsternisse hindurch.

Es braucht dann jeweils nur noch eine homöopathische Dosis an Situationskomik.

Heute ist es die Amsel. Die Friedhofsamsel. Sie sitzt zuoberst auf der mächtigsten Tanne der ewigen Ruhe und balanciert stur auf deren Spitze. Weit unter ihr liegt das frisch ausgehobene Grab. Darin der Sarg. Man sieht es sofort: Diese Amsel ist die Königin des Totenreichs, und sie tut und lässt hier, was sie will. Denn gerade als der Pfarrer dazu auffordert, des lieben Verstorbenen in einem Moment der Stille zu gedenken, gerade als alle ihr Haupt senken und viele ihre Hände falten, gerade als diese seltene Ruhe eingetreten ist, die etwas Heiliges haben sollte, setzt die Amsel zum fröhlichsten Crescendo an.

Der Pfarrer hört die Amsel. Alle hören die Amsel. Der Pfarrer tut so, als würde er die Amsel nicht hören. Alle tun so, als würden sie die Amsel nicht hören. Fast alle.

Anna sieht langsam am Stamm der riesigen Tanne zur Königin empor. Sie sieht, wie die Amsel da oben in vollendeter Selbstüberschätzung den Kopf gen Himmel streckt, begeistert zu ihren eigenen Klängen wippt und von sich weiss: I’m the one, westlich des Urals pfeift kein verdammter Vogel besser als ich, Baby.

Der Kontrast dieser federleichten Lebensfreude auf der Tanne zur bleiernen Schwermut darunter ist umwerfend. Das Lachen befreit sich aus Annas Innerem wie ein Vulkanausbruch. Nichts zu machen.

Beim Menschen im Sarg handelt es sich um Annas vor drei Tagen verstorbenen Lieblingsmenschen Nico. Diese Tatsache hilft dem Verständnis für Annas Fröhlichkeit auch nicht auf die Sprünge. Schemenhaft, durch einen Schleier von Lachtränen und verflüssigter Wimperntusche hindurch sieht Anna die zu ihr hinschielenden Blicke der Trauergäste. Nur deren Augen bewegen sich angestrengt, isoliert von den Köpfen, welche weiterhin Richtung Boden und stillem Gedenken halten. Der Ausdruck dieser Augen, von denen man fast nur noch das Weisse sieht, schwankt zwischen Besorgnis und Entsetzen.

Wegen der schielenden Augen sehen die Trauernden alle aus wie nicht ganz durchgebacken. Anna schüttelt sich vor Lachen, sie ringt nach Atem. Die Königin auf der Tanne ihrerseits fühlt sich durch die ungewohnte Heiterkeit bestärkt und pfeift, als würde es kein Morgen geben. Langsam, aber sicher wirkt das Duett ansteckend. Die Trauergäste, knapp fünfzig an der Zahl, versuchen irgendwie mit dieser unerwarteten Herausforderung umzugehen. Einige starren weiterhin auf die Grube mit dem Sarg, andere starren ein Loch durch die Gemeinschaft hindurch zu einem unbekannten, mit Sicherheit aber unverfänglicheren Ort, doch starren tun sie alle, ausser Marc, der das mit Anna anlässlich anderer Beerdigungen schon erlebt hat. Auffällig viel wird auf Lippen herumgekaut, und ein paar Mutige schauen sich stumm fragend um, suchen den Geistlichen, suchen andere Mittrauernde auf der Jagd nach einer brauchbaren Idee, wie man sich angesichts der skurrilen Momentaufnahme wohl zu verhalten haben möge.

Der Pfarrer seinerseits, der in seinen sechsundvierzig Amtsjahren mit fast allem schon, noch nie aber mit solchem konfrontiert worden ist, wirft seinen Erfahrungsgenerator an und entschliesst sich dann, nach kurzer Rücksprache mit seinem Vorgesetzten, das Ereignis wie ein vorüberziehendes Gewitter zu behandeln. Also gar nicht.

Doch es wird nicht besser. Anna prustet, hechelt, brüllt. Und als des Pfarrers Gewitterstrategie nach weiteren langen zwei Minuten den erhofften Erfolg noch immer nicht bringt, beendet er die sowieso gar nie eingetretene Stille, indem er sich räuspert und trocken meint:

So soll es sein. Der Tod ist ja nicht nur traurig.

Die Toleranz des Klerikers hilft.

Noch ein paar Nachbeben, und es stellt sich auch bei Anna wieder ein angemessenes Verhalten ein. Alle sind froh, dass man die Sache doch noch zu einem guten Ende bringen kann, denn man hat langsam Durst an diesem heissen Junidonnerstag – für die Überlebenden geht der Stoffwechsel schliesslich weiter. Auch der Pfarrer will die Gunst der wiederhergestellten Ordnung nutzen und das Wort ergreifen, da erklingt ein weltlicher Ton, weltlich und sehr rockig, alle schauen sich mit strafendem Blick um, doch es ist der Pfarrer himself, der leicht verstört in seine linke Brusttasche greift, das Corpus Delicti mit spitzen Fingern herausklaubt, konsterniert in die Runde schaut, vermutlich eine Entschuldigung murmelt, sich dann abwendet, um etwas von «total ungünstig» in sein Handy zu zischen, das störende Element auf stumm stellt, es wieder in seiner Brusttasche versenkt und sofort zum Vaterunser ansetzen will.

Doch einer der Trauergäste kommt ihm zuvor. Er erachtet es als seine Pflicht, das ramponierte innere Gleichgewicht des Geistlichen wiederherzustellen. Lässt verlauten, dass das überhaupt nicht schlimm sei – überhaupt nicht, auch ein Pfarrer – also gerade ein Pfarrer müsse ja erreichbar sein, also noch mehr als jeder andere etc. etc. Der Pfarrer beginnt, dankbar für das aufbauende Geblöke seines Schafes und dieses Mal nach angemessener Zäsur, mit dem Vaterunser, alles erhält nun doch noch eine feierliche Note und hätte fortan eine Trauerfeier sein können, die den Namen verdient, wenn nicht, ungefähr bei Dein Wille geschehe, die Amsel ihren Schnabel wieder pfeifenderweise in die Angelegenheit gesteckt hätte, und zwar unter exakter Wiedergabe des pfarrerschen Handyklingeltons.

Was zu viel ist, ist zu viel. Den Atem anhalten. Schielen. Verzerrte, immer röter werdende Gesichter, dicke Hälse, aufgepumpte Backen, unterdrückte Grunzer, ersticktes Prusten, krampfartige Zuckungen und dann ein kollektiver Lachkrampf.

Die wenigen Besucher, die gerade bei den Gebeinen ihrer Verstorbenen weilen, halten ein zweites Mal in ihrem Ritual inne. Eine ältere Dame, die gebückt und schwitzend frische Dipladenia setzt, steht jetzt da mit ihrer erdverdreckten Schaufel in der Gummihandschuhhand, den Mund weit geöffnet. Alle glotzen empört zur ausgelassenen Trauergemeinschaft hinüber. Der Pfarrer merkt es und beschliesst, diese Beerdigung kraft seines Amtes auf der Stelle zu beenden. Man verstummt beschämt, und erst jetzt wird bemerkt, dass Annas Lachen längst in ein Weinen übergegangen ist.

Man wirft rote Rosen auf den schwarzen Sarg und bewegt sich alsdann Richtung Südportal des grossen Friedhofs, einige wollen auf Anna warten, wollen trösten, aber sie schickt sie alle weg, ich will einen Abschied unter vier Augen, schluchzt sie leise. Man versucht, Annas emotionalen Wellengang innerlich einzuordnen, und zieht angemessenen Schrittes von dannen, der Pfarrer steht als Einziger noch da, gehen Sie bitte, sagt Anna, der Pfarrer sagt nichts mehr und umschliesst Annas Hand mit seinen knöchernen Fingern. Dann macht er einen Abgang Richtung Nordportal.

Anna klaubt ein Papiertaschentuch aus der Handtasche, putzt die Tränen, die letzten Trauergäste verlassen das Südportal, sie nimmt einen kleinen Handspiegel hervor, putzt sich die Lavaspuren der Wimperntusche aus dem Gesicht, versenkt den Spiegel und das Papiertaschentuch wieder in ihrer Tasche und wartet, bis auch der Pfarrer ausser Reichweite ist. Dann stellt sie sich, so nahe es geht, an das offene Grab.

Und wieder musste ich lachen – sogar auf deiner Beerdigung. Nicht übel nehmen, Nico. Du weisst es ja, ich kann einfach nichts dagegen tun, es wird mir zum Theater.

Da liegst du jetzt. Nein, du nicht, nur dein Gehäuse. Du bist an einem anderen – Ort? Gib mir bitte ein Zeichen, wo das ist. Vielleicht bist du ja noch auf der Reise. Gar nicht angekommen.

Anna schluchzt auf. Die Dame mit den Dipladenia hört es, schüttelt den Kopf, streift sich die Gummihandschuhe ab und giesst die frisch gesetzten Blumen.

Anna öffnet ihre Handtasche erneut. In einem Seitenfach liegt ein kleines Paket aus Haushaltpapier. Darin eingewickelt sind drei schwarze Scherben, darauf gelbe Buchstaben, die keinen Sinn ergeben. Sie küsst eine Scherbe und wirft sie auf den Sarg. Dann die zweite und die dritte.

Leb wohl, Nico.

Vor ihrem geistigen Auge sieht sie, wie Nico jetzt den Kopf leicht schräg stellen würde. Er würde sagen: Bist du sicher mit dem «Leb wohl»? Sie würde sagen: Natürlich! Irgendetwas wird ja sein, es gibt kein Nichts ohne ein Etwas. Und er würde stumm nicken. Die Bewegung übertrieben gross, langsam, unter Zuhilfenahme des ganzen eindrücklichen Schädels, so, wie er es immer getan hat, wenn er auf den Stockzähnen schmunzeln musste wegen Anna, die, wie er fand, meist schneller sprach, als sie denken konnte. Wenn er aber glaubte, dass er nur auf den Stockzähnen schmunzelte und sich mimisch in keiner Weise verriet, war er auf dem Holzweg: Seine tiefen Grübchen beidseits seines vollen Mundes, die sich gerade dann, wenn er nicht lachen wollte, vertieften, und die Falten, die dann von den Grübchen ausgehend sich ausbreiteten, waren für Anna immer ein untrügliches Zeichen, dass er sie nicht ganz ernst nahm. Das hatte zuweilen Eruptionen zur Folge, und gerade diese beschwörte Nico herauf. Anna, fand er, war am liebenswertesten, wenn sie vor Wut überschäumte.

Die Amsel singt jetzt wieder. Anna schaut nochmals zu ihr hoch und fühlt einen Moment lang Frieden.

Ich gehe jetzt, Nico. Ich werde nicht hierher zurückkommen. Ich finde dich dann schon. Ciao ciao ciao ciao ciao.

Sie gibt sich einen Ruck, dreht sich auf den Stilettoabsätzen um und geht Richtung Südportal über den nun menschenleeren Friedhof. Sie schaut nochmals zu Nico zurück, beschleunigt dann ihren Schritt auf dem langen, schnurgeraden Weg zwischen all den Grabsteinen hindurch. Dazu durchkämmt sie ihre Handtasche nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug. Ihre Finger differenzieren geschickt zwischen all den unglaublich vielen Gegenständen, die sie Tag für Tag durchs Leben schleppt. Da, die Zigarettenschachtel. Sie fingert in vollem Lauf eine Zigarette heraus, steckt sie sich in den Mund, sucht weiter nach einem Feuerzeug, das gibt es doch nicht, wo sich die Dinger nur immer verkriechen, also doch kurz stehenbleiben. Zweihändig maulwurfen.

Da hört sie ein kleines Geräusch. Das kleine Geräusch, wenn jemand den Daumen über die Rädchen eines Feuerzeugs bewegt. Anna schaut auf. Da steht einer. Genau vor ihr. Mit brennendem Feuerzeug. Sie hat ihn weder kommen sehen noch kommen hören.

Immer noch hat sie die Zigarette im Mund und überlegt im Moment gerade, was zu tun ist, und wenn der nicht näher kommt, dann gehe ich halt zu ihm hin, um mir Feuer zu holen, komischer Kerl, steht da und sagt nichts, früher hätte ich Angst gekriegt, hätte mich auf prophylaktisches Schreien vorbereitet, aber im Alter wird man ja nicht mehr so mir nichts, dir nichts vergewaltigt, Triebtäter haben ja auch Augen im Kopf, alles hat seine Vor- und Nachteile – hach, konzentrier dich, das tut jetzt gerade überhaupt nichts zu Sache! Da bemerkt Anna, dass ihre Zigarette brennt. Oder hatte sie doch? Nein, bestimmt nicht. In letzter Zeit war sie manchmal schon etwas – aber nein, sie war sich ganz sicher – und der da, der stand in einer Entfernung von mindestens drei Metern vor ihr. Auch gut. Sie mag sich jetzt nicht fragen. Sie will rauchen. Sie nimmt einen tiefen Zug und schaut ihn an. Er schaut sie an. Sie bläst den Rauch aus. Er schaut ihr direkt in die Augen. Das kann sie auch. Sie nimmt noch einen Zug.

Ein Mann in kerzengerader Aufrichtigkeit, das Gesicht zerfurcht, die Züge abgebrüht und doch weich, die Mundwinkel sogar ganz leicht nach oben gebogen, beinahe eine Spur von Lächeln. Langes Leben. Gelassen geworden. Er ist sehr ernsthaft gekleidet, schwarz lackierte Halbschuhe, ein weisses Hemd, eine schwarze Fliege, darüber ein schwarzer Anzug, alles frisch aufgebügelt.

Die – diese – Augen. Wühlen. Wühlen, in den Erinnerungsfragmenten einer alten Schatzkiste, weiter nach rechts, kalt, links, wärmer, eine wilde Fahrt durch Billionen von Synapsen. Bruchstücke auseinandergefallener Bilder, halbleere Rahmen. Da! Nein – Töne von – Gelächter? Musik. Zurück, noch weiter – Gerüche, Geräusche – Wärme, Daheim, Heimat, Wasserschaum – Schaumwasser? Dieses Gesicht – diese Augen erinnern – erinnern – an – an – an –

Seine funkelnden Augen, überwuchert von einem Urwald dichter Brauen, haben einen blass-bläulichen Kreis um die bernsteinfarbene Pupille. Die Pupille ist auf merkwürdige Weise senkrecht gestellt. Das war schon immer so. Der blassbläuliche Kreis ist neu – er verrät das hohe Alter.

Bist du das? Ander?

Da steht Anna in ihrem dunkelorangen Deux-Pièces und den beigen Pumps, mit der Handtasche aus Wildleder, auch beige, den dichten, langen Haaren, die sie immer noch pechschwarz färbt und die sie heute nach hinten und zu einem festen Knoten gezähmt hat. Da steht sie mit ihren dezent dunkelrot geschminkten, einst sehr vollen Lippen und dem kleinen, dunkelbraunen Muttermal über der linken Oberlippe. Da steht Anna, die auf das Leben gefasst ist. Die sicher in ihrem Netz sitzt. Die die Fäden einfach erneut spinnt, wenn das Netz zerstört wird. Die sich nicht darüber aufhält, wer der Schuldige an der Zerstörung sein möge. Die sich die Antworten selber gibt. Doch jetzt entgleiten ihr die Gesichtszüge, jetzt fällt ihr die Zigarette aus der Hand, und sie sieht aus wie ein kleines, verdattertes Mädchen.

Ander macht geräuschlos ein paar Schritte auf sie zu und steht jetzt dicht vor ihr, so, dass sie seinen Atem spürt. Ein vertrauter Duft, würzig, archaisch. So vertraut wie die Melodie der Musikdrehdose aus Kindertagen.

Wie lange ist das her?, stammelt Anna schliesslich.

Kommt darauf an, weiss Ander.

Sie atmen einander ein.

Gehen wir, sagt Anna.

Endlich, da bist du ja!

Anna tritt in die Gaststube, die sie für die Trauergäste gemietet hat, dicht gefolgt von Ander, der ihr von hinten die Tür aufhält, die Trauergemeinde ist schon beim Essen, die Stimmung ist gut, der Wein tut das seinige.

Wir wollten dir noch etwas Zeit lassen mit Nico.

Schön, dass du da bist.

Komm hierher, Anna, da gibt’s noch Platz.

Anna baut sich vor der Gemeinschaft auf und ruft, indem sie Ander die Hand auf die Schulter legt:

Freunde! Das ist Ander. Wir brauchen zwei Stühle nebeneinander, wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Guten Appetit!

Der Saal mit den Menschen, die Anna anstarren, wirkt jetzt wie ein stehengebliebener Film. Damit, dass Annas Verhalten während der Beerdigung heute noch zu steigern wäre, hat nun wirklich niemand gerechnet. Man hat sich gleich nach Verlassen des Friedhofareals hinlänglich über den Vorfall ausgetauscht und zuletzt im allgemeinen Konsens die These aufgestellt, dass Annas Lachen eine typische Überreaktion darstelle, welche in Schockmomenten eintreten könne. Lachen statt Ohnmacht, das kann man irgendwie einordnen. Jetzt aber steht der Film still, und die Münder bleiben offen.

Was habt ihr denn?, will Anna wissen.

Da entscheidet sich einer, den Inhalt in seinem Mund endlich transportfähig zu zerkleinern. Wie der kaut und schluckt, ist nun überhaupt die einzige Bewegung, das einzige Geräusch im Saal. Nach erfolgreichem Herunterschlucken sagt er sinngemäss:

W – wo – wer?

Anna sitzt in der Badewanne. Mama war grosszügig mit dem Badeschaum – Milch ohne Ende. Anna ist der Milchmann, und sein Laden läuft auf Hochtouren. Ständig klingelt es an der Tür des Milchmannladens, er hat alle Hände voll zu tun: Milch abfüllen – acht Liter will die Kundin –, schimpfen, weil sie die Milch nicht richtig entgegennimmt und das Halbe verschüttet, als Kundin reklamieren, weil man von der Kassiererin zu wenig Geld herausbekommt, als Kassiererin entgegnen, dass das gar nicht stimmt. Es ist ein emsig Treiben. Anna ist Milchmann, Kundinnen und deren Hunde und Kinder sowie Kassiererin in Personalunion. Sehr bald hätte es wohl einen kleinen grossen Krieg gegeben, doch da klingelt es an der Tür. An der richtigen Tür diesmal.

Mama, Türe klingelt. Ich geh öffnen!, schreit die Fünfjährige. Aus dem Wohnzimmer kommt Mamas Stimme, die vorher als Gemurmel eines Telefongesprächs wahrnehmbar gewesen ist, nun deutlich lauter:

Nein, Schatz, es hat nicht geklingelt, du bleibst schön in der warmen Badewanne.

Es ist zu spät. Anna ist jetzt Anna und schon über den Badewannenrand geklettert. Splitternackt und überall Häufchen von weissem Badeschaum hinter sich lassend, rennt sie durch den Flur über den grün-braunen Teppich Richtung Haustür. Dort stellt sie sich auf die Zehenspitzen, streckt den kurzen Arm und die kleine Hand mit ihren vom warmen Wasser aufgedunsenen Wurstfingerchen aus und zieht die Türfalle herunter. Ein eisiger Wind treibt ihr ein paar Schneeflocken entgegen.

Vor ihr steht ein kleiner Junge, exakt gleich gross wie sie. Er ist sehr ernsthaft gekleidet: schwarz lackierte Halbschuhe, ein weisses Hemd, eine schwarze Fliege, darüber ein schwarzer Anzug, alles frisch aufgebügelt. Das Erstaunlichste aber ist der Kopf, der schmale, sich zur Nase hin zuspitzende Kopf, aus dem zwei wachsame, bernsteinfarbene Augen freundlich zu Anna hingucken. Du siehst am Kopf ja aus wie ein Fuchs!, ruft Anna aus und lacht. Der Fuchs lacht nicht, er kommt ihr bis zur Türschwelle entgegen und streckt die Hand aus. Seine Hand trägt einen feinen, rötlichen Flaum.

Ich bin Ander.

Ich bin Anna.

Weiss ich.

Sie schütteln sich feierlich die Hand, lang, heftig und unter Zuhilfenahme der ganzen Arme, bis eine Art Wippe entsteht, eines ist immer in der Luft und das andere am Boden. Dabei schauen sie sich mit zusammengekniffenen Lippen in die Augen.

Anna, Himmel! Was tust du da, du erkältest dich doch!

Mama rennt ins Bad, kommt mit einem grossen Frottiertuch zurück und legt es um ihre Tochter.

Was führst du denn da für einen Tanz auf? – Siehst du, da ist niemand – ab ins Bad mit dir.

Mama will die Türe schliessen, doch Anna stellt sich neben Ander auf die Türschwelle.

Doch Mama, schau doch! Da ist Ander.

Mama schaut. Und ist nun ernsthaft besorgt. Sie befühlt die Stirn ihrer Tochter, die ist sehr warm, doch das kann auch von der Hitze des Badewassers herrühren. Sie drückt ihre Lippen auf Annas Nacken – nein, Fieber nein.

Komm, mein Schatz – rein mit dir jetzt.

Komm, Ander – rein mit dir jetzt, echot Anna.

Ander steht schon in der Wohnung, ohne dass Mama ihn beachtet. Kopfschüttelnd schliesst sie die Tür.

Im Badezimmer wird Anna von Mama zurück in die Badewanne gehievt. Anna staunt: Ander ist noch klein, aber auch schon gross, er nimmt ganz allein einen Sprung direkt ins Wasser.

Jetzt werden deine Kleider ja ganz nass!, lacht Anna.

Wessen Kleider?, will Mama wissen.

Mehr Schaum!, verlangt Anna. He – nicht über den Kopf von Ander schütten!