Sylvia Kling
Ab 40 wird’s einfach nicht schwer
Roman
I. Teil der Trilogie
LADIES LOUNGE
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.
Copyright © 2020 bei EDITION LadiesLounge, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, 1. Auflage
Korrektorat: Andreas März
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN 978-3-95669-149-2
www.bookspot.de
Impressum
Widmung
Vorrede
Prolog
1. Kapitel
Tränen auf Eis
2. Kapitel
Hans, der Träumer
3. Kapitel
14 Tage – Er
4. Kapitel
Das Leben geht immer weiter
5. Kapitel
Seltsame Überraschungen
6. Kapitel
Schröders Geschichten
7. Kapitel
Die Ü40-Party und Reini kehrt ein
8. Kapitel
Die Nachwehen
9. Kapitel
Reini, Dresden und neue Pläne
Rückblick
10. Kapitel
Schröders Diagnose
11. Kapitel
Der Ausflug und die Wiederbegegnung
12. Kapitel
Berlin, Berlin …
Sophia – Die Geschichte der guten Einsamkeit
13. Kapitel
Julian und Julia
Rückblick
13. Kapitel
Carola und »Anastasias Kolibri«
Auf ein Wort
Danksagung
Die Autorin
Weitere Titel im Bookspot-Verlag
Leseprobe: Sylvia Kling »Ab 40 wird’s eng«
Der Beginn vom schaurigen Ende meiner Spätpubertät
Für Stefanie Schmidt, meine liebe Freundin
Möge die Liebe, die du anderen schenkst,
zu dir zurückkehren.
In der guten Einsamkeit möge es dir gelingen,
die Monotonie nicht als hemmend zu betrachten,
sondern als angenehme Umkehr
zu den Kapriolen des Lebens.
Silke Liebmann wollte schon immer fliegen. Wenn es sein musste, auch allein.
»Du wirst schon noch fliegen«, meinte ihre Freundin Sandra aufmunternd. Sandra aß wieder, Gott sei Dank! Monatelang war sie in der Psychiatrie gewesen, weil sie gehungert und unter schweren Depressionen gelitten hatte. Viel gesünder sah sie heute noch nicht aus, aber immerhin.
Silke war neunundvierzig Jahre. Sie trug ihr kastanienbraunes Haar bis zur Taille, hatte eine umwerfende, weibliche Figur, braune Augen und einiges hinter sich. Als sie gerade selbst eine schwere Krankheit überstanden hatte, die ihr nach monatelangen Kortisoninfusionen dreißig Kilogramm mehr auf den Rippen einbrachte, war ihre geliebte Jugendfreundin Martina schwer erkrankt. Sie starb. Ihr Kolibri, den sie nicht fliegen lassen wollte. Diese unglaublich lebenslustige, blond gelockte und liebevolle Frau, ihr mutiger und zarter Engel Martina. Die Trauer hatte sie überwältigt. Doch damit nicht genug. Sie hatte ihren Ehemann Harry verloren, der an einem Herzinfarkt gestorben war. Einfach so. Mitten in der Nacht. Während sie geschlafen hatte. An einem Sonntagmorgen, sie kochte wie immer am Wochenende den Kaffee, hatte sie Harry wecken wollen, diesmal sogar mit dampfenden und duftenden Brötchen und in einem verführerischen Negligé.
»Ey, du Langschläfer!«, hatte sie fröhlich gerufen, als sie ins Schlafzimmer zurückgekommen war. Er schlief immer noch. Hatte sie geglaubt. Doch die Stille, die sie umgab, war stiller als sonst. Irgendetwas war anders, wirkte starr. Sie war stehen geblieben, hatte das Tablett mit dem Kaffee und den Brötchen leise auf Harrys Nachttisch abgesetzt, um ihn nicht zu stören. Sie starrte ihn an, auf das schlafende, unheimlich bleiche Gesicht. Ich gehe jetzt zu Harry, gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Wie immer, hatte sie gedacht, dieses aufsteigende Gefühl von Entsetzen missachtend. Sie war zu seinem Bett geschlichen. Wie eine Wachspuppe hatte er dagelegen, reglos. Sie hatte sich wie in Trance gebückt, küsste ihn mit geöffneten Augen auf die Wange – und schrie. Immer wieder schrie sie seinen Namen. Sie hatte es bereits begriffen, als sie das Zimmer betrat. Das Haus hatte nach Tod gerochen. Sie war Witwe geworden. Einfach so.
Lange Zeit schlief sie in seinen T-Shirts und trug sogar seine Socken. Sie musste weiter Kaffee kochen, jeden Tag. Sie musste weitermachen, denn ihr Sohn Julian war gerade erst zehn Jahre jung. Jeden Tag besuchte sie mit ihm Harrys Grab, tröstete den Sohn, sprach mit ihm. Sie weinte mit ihm, sie fing seinen Schmerz auf. Vier Wochen konnte Julian nicht zur Schule gehen, weil es ihm sehr schlecht ging. Vier lange Wochen erlebte sie den Schmerz doppelt, als ob sich ihrer noch mehr füllen, mit Steinen beschwert werden würde. Ihrer beider Schmerz wurde zu einer Insel, auf die sie nach diesen vier Wochen immer wieder zurückkehrten. Selbst nach sechs Monaten hatten sie Angst, er würde gehen. Mit dem Schmerz würde auch Harry für immer verschwinden, so dachten sie.
Für Julian gab sie alles. Jetzt sah sie Harry und Martina oft in ihrem Spiegel. Wenn es ihr besonders gut oder schlecht ging, stellte sie sich so lange im Bad vor den Spiegel, bis sie die beiden sah. Manchmal sprach nur sie mit ihnen, manchmal antworteten Harry und Martina. Manchmal nur einer der beiden. Der andere lächelte liebevoll. Das erzählte sie niemandem, denn es würde ihr niemand glauben.
Als ihr Sohn Julian eines Tages auszog, um das Leben zu lernen, verlor sie sich beinahe selbst. Erst mithilfe ihrer Freundinnen zog sie sich wieder aus dem Sumpf und lernte, von nun an endlich wieder Frau, nicht nur Mutter zu sein – besser gesagt: Glucke, denn zu nichts anderem war sie damals mutiert. Sie war Mutter und hatte den Vater ersetzt. Zumindest war das ihr Ziel gewesen. Ein Doppelleben. Ihre Zeit als Frau und eigenständiger Mensch begann. Genau jetzt.
»Eine Frau, die viel liest, malt, Gitarre spielt
und gern lacht – die sollte nicht alleine sein.«
Hans, der Träumer
Sie spielte inzwischen wieder Gitarre und begann zu malen. Ihr war es gleich, ob ihre Bilder jemandem gefallen würden. Es steckten ihre Gefühle in ihnen, es waren ihre Farben; sie waren ein Teil ihrer Selbst. Wieder war ein neues Bild entstanden: »Tränen auf Eis«.
Warum auch immer, es war ihr danach, nach Tränen und nach Eis. Müde streckte sie ihre Glieder und ging zur Küche, um eine Flasche Rotwein zu öffnen. Es war Sommer und alles blühte. Als Silke auf die Terrasse trat, trällerte ihre nette Nachbarin Frau Schröder irgendeinen alten Schlager vor sich hin.
»Hallo, Frau Schröder, Sie sind aber gut gelaunt«, rief Silke hinüber. Die alte Dame trat an die Hecke und strahlte Silke an.
»Natürlich, ich habe allen Grund dazu. Wir sind gesund, die Sonne scheint und mein Mann hat mir heute zum Hochzeitstag einen großen Wunsch erfüllt.«
Silke lächelte und ertappte sich wieder bei diesem grässlichen Gefühl des Neids. Schnell wischte sie es weg, als ob sie auf ihrer Leinwand einen Farbklecks beseitigte, der hässliche Flecken hinterließ.
»Na, wenn das nicht genug Gründe sind, um zu singen«, stimmte Silke zu und nippte an ihrem Glas.
»Was trinken Sie denn da?«, fragte Frau Schröder.
»Einen Bordeaux natürlich.« Silke grinste breit.
»Das ist mein Lieblingswein! Ach, tun Sie mir doch den Gefallen, liebe Nachbarin, und besuchen Sie uns mal! Vielleicht gleich heute?«
Silke zögerte. Frau Schröder fügte rasch noch hinzu:
»Natürlich nur auf ein Gläschen Wein. Mein Mann würde sich auch freuen, ist er doch ein Verehrer von Ihnen.« Sie zwinkerte verschmitzt.
Das Haus der Schröders war entzückend eingerichtet. So viele Jahre wohnten sie nun schon nebeneinander und sie war noch nie in deren Haus gewesen. Als hätte Herr Schröder Silkes Gedanken gehört, strich er sich eine weiße Strähne aus dem Gesicht und flüsterte ihr bei der Begrüßung zu:
»Na, Silke, jetzt wird es aber mal Zeit, dass Sie uns in unseren heiligen Hallen beehren, oder?« Sie lachte. Herr Schröder war ein Gentleman, ganz alte Schule. Hatte er sich so schnell umgezogen, nachdem seine Frau ihm verkündete, dass die Nachbarin sie in wenigen Minuten besuchen würde, oder war er immer so gut gekleidet? Er trug eine moderne dunkelblaue Jeans, dazu ein weißes Shirt und darüber ein blau-weißes Holzfällerhemd. Andere in dem Alter trugen doch eher alte Jogginghosen zu Hause, oder irrte sie sich? Er rückte der »schönen Nachbarin«, wie er sie nannte, sogar den Stuhl zurecht, etwas, was Silke gar nicht mehr kannte. Der Feminismus, so erklärte sie sich, sei etwas Wunderbares, wenn man ihn nicht so maßlos übertreiben würde. Sie verstand diese »Überfrauen« nicht, die behaupteten, es sei diskriminierend, wenn ein Mann einer Frau in den Mantel helfe, »als ob wir das nicht alleine könnten«. Sie behaupteten doch nicht etwa, wir würden kleingehalten werden und als beschränkt dargestellt, nur weil ein Mann uns die Tür aufhalte. Was sollte dieser Quatsch? Frauen wollten Anerkennung und, verdammt noch mal, durchaus verwöhnt und hofiert werden. Was war daran falsch? In ihre Überlegungen hinein servierte Frau Schröder Salzgebäck in einer wunderschönen weißen Porzellanschale mit bemalten Rosen. Sie sah Silkes Blick.
»Echtes Meißner, schauen Sie mal drunter. Aber erst, wenn die Schale leer ist, wenn ich bitten darf«, und sie lachte über ihren eigenen Scherz am lautesten. Als Silke einstimmte und das Lachen verstummte, fügte Frau Schröder hinzu:
»Sie ist noch von meiner Mutter. Lange habe ich sie nicht benutzt, aus Angst, sie könnte kaputt gehen. Aber jetzt, wo ich alt bin, will ich sie sehen und mich dabei an meine Eltern erinnern.« Sie lächelte traurig in sich hinein.
»Mein Elternhaus traf eine Bombe, als ich gerade bei meiner Tante war«, flüsterte sie. Silke berührte sanft ihren Unterarm.
»Aber jetzt wollen wir nicht in Melancholie versinken, sonst vertreibe ich Sie gleich bei Ihrem ersten Besuch«, lachte Frau Schröder. Silke fühlte sich wohl in diesem Wohnzimmer und es roch unglaublich frisch. Wieso erwartete man bei alten Leuten eigentlich immer einen abgestandenen, unangenehmen Geruch? Angeblich hinge das ja mit dem Stoffwechsel zusammen, aber auch mit Medikamenten. Dazu kam noch, dass man alten Leuten nachsagte, sie lüfteten weniger, weil sie schneller froren. Das hatte Silke zumindest mal gelesen. Worüber sie sich aber auch immer Gedanken machte! Staunend sah sie sich um. Frau Schröder hatte Geschmack. Auf den zwei Anrichten standen nur wenige Schmuckstücke, dazwischen ein Strauß roter Rosen. Auch auf dem Echtholztisch vor der Couch thronte ein Strauß weißer Rosen. Die Couch schmückten nur zwei riesige, rot-weiße Kissen. Eigentlich war das kaum ein Wohnzimmer alter Leute, es hätte durchaus zu ihrem Alter gepasst. Einzig die vergilbten Fotos in braunen Rahmen deuteten darauf hin, dass hier Menschen wohnten, deren Verwandte noch den Krieg erlebt hatten.
Sie unterhielten sich über viele Dinge, auch über Kunst und Kultur. Silke war erstaunt, wie gebildet die beiden waren. Als Herr Schröder von der Musik Chopins und Beethovens erzählte und Details beschrieb, klappte Silke die Kinnlade runter.
»Ich habe sogar mal die Klaviersonate Nr. 1 gespielt. Es glaubt mir nur niemand«, meinte Herr Schröder. Sie kam aus dem Staunen kaum mehr heraus.
»Er war mal Dozent an einer Hochschule für Musik«, erklärte Frau Schröder stolz. Silke lauschte Herrn Schröder gern, der oft überlegen musste, was er schon erzählt hatte und was noch nicht. Frau Schröder hing an seinen Lippen, obwohl sie das sicher schon sehr oft gehört hatte. Ein süßes Paar, dachte Silke, nicht ohne Wehmut. Nach über zwei Stunden verabschiedete sie sich erschöpft, aber glücklich. Die Schröders könnten im Laufe der Zeit zu lieben Vertrauten werden. Vielleicht sollte es so sein, denn mit ihrer Mutter konnte sie nichts anfangen. Und ihr Vater? Der lebte auf einer eigenen Insel und versiegelte seine Vergangenheit. Wahrscheinlich träumte er von Erich Honecker und Egon Krenz oder Mielke oder sonst welchen alten, roten Socken und fuhr wieder Trabi, um sich den Geruch der alten Zeit einzuverleiben. Ewig zurückgeblieben.
Als Silke wieder in ihr Haus hinüberging und die gewohnte Stille sie empfing, kamen ihr Tränen. Verdammt! Diese Einsamkeit. Es ist nichts hier. Nur diese Lautlosigkeit, die mir einen erneuten Abend ohne freundliche und liebevolle Augen einbringt. Immer wieder, dachte sie und ließ sich auf ihre weiße Ledercouch fallen. Ihr Kater kroch von seiner Lieblingsdecke auf der anderen Seite der Couch zu ihr. Hier waren Augen, Katzenaugen! Immerhin. Sie griff nach ihrem Laptop. Ohne viel darüber nachzudenken, öffnete sie eine kostenlose Kontaktbörse und meldete sich an.
»Lass uns reden«, hieß die Plattform, deren Name nicht sehr einfallsreich war, aber besser als nichts. Schnell hatte sie ein Profil angelegt und ein Foto von sich eingestellt. Vorlieben, Lieblingsessen, Lieblingsbücher, Lieblingsfilme, Charaktereigenschaften … Warum musste man eine Single-Plattform aufsuchen, um so intensiv über sich nachzudenken? Über eine Stunde beschäftigte sie sich mit den Fragen für ihr Profil. Dann sah sie es: fünfundzwanzig Nachrichten innerhalb weniger Minuten. Alle von Männern: junge Männer im Alter von Julian, Männer in ihrem Alter, Männer um die sechzig und Männer im Greisenalter. Um Himmels willen! So viel wollte sie nun auch wieder nicht reden. Sind die alle so einsam wie ich?, dachte sie und öffnete die Nachrichten, eine nach der anderen. Nach der zehnten loggte sie sich aus. Ihr Herz raste. Das durfte doch nicht wahr sein! Waren das die Männer von heute; die Welt von heute? War das die neue Kommunikation? Silke goss sich noch ein Glas Wein ein, machte es sich auf der Couch bequem und starrte vor sich hin. Einen liebevollen Partner finden – wie denn? So? In ihrem Kopf tauchten die Nachrichten wie auf einem Bildschirm auf, eine nach der anderen.
JOGI123: »Hey süße Frau schönes Pic« »Satzzeichen unbekannt« hätte sein Nickname lauten müssen.
Biertrinker6: »Alles klar bei dir? schöne Augen.« Autsch!
leckwilliger65: »Schreib mir mal oder komm gleich vorbei, ich zeig’s dir.« Niemals!
bunterhund: »Hallo« Aha.
montenbike59: »Wow! Hast Lust auf nen Sex-Chat?« Nö.
lehrjahre: »Bin alleine, du auch?« Du nicht, hast ja immer einen mitlaufen.
kraftprotz: »Brauche dich, bist du bereit?« Na klar, zum Abschießen.
lastminute: »Nichts los heute hier, außer dich.« Hilfe!
derandere: »Lass uns doch treffen, jetzt.« Noch was?
lebendigsein58: »Ey, Lust zu chatten?« Lieber will ich tot sein.
Das waren nur die ersten zehn. War’s das also für mich? Das ist unsere neue Welt? Keine Begrüßung, kein freundliches Wort, mit der Tür ins Haus fallen; stillos. Wo sind die Männer von damals, die mit den witzigen Frisuren, mit den Briefen, Anrufen, den ersten Dates?, dachte Silke verzweifelt. Wo waren die Jungs von damals, die sie zum Tanzen aufforderten, ihr Zettel mit »Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja/Nein/Vielleicht« in die Tasche steckten, wo die witzigen Einfälle der Männer vor fünfundzwanzig Jahren? Sie waren jetzt alle auch so alt wie sie – hatten sie inzwischen alles vergessen?
Am nächsten Tag öffnete sie wieder ihr Postfach der Singlebörse »Lass uns reden«. Und ihr graute. Vierzig Nachrichten! Sie hechelten hinter ihr her. Wie die Ausgebrannten, Vergessenen, Vereinsamten.
»Deine Möse ist bestimmt dauernass, oder?«, schrieb Hemmungsloser80. Igitt! Erster Kontakt … Es kam noch schlimmer.
»Hast du es schon mal mit einem Hund getrieben?«, fragte Planloser. Der Nickname war sicher berechtigt … Silke graute es. Doch es kam noch viel schlimmer. Legendärer schrieb eine lange Nachricht. Das war schon ein Höhepunkt, an dem sie nicht vorbeiklicken wollte:
»Simone …« (Wie bitte? Schon jetzt Namensverwechslungen oder nur copy und paste?)
»Dich möcht, will, muss ich unbedingt kennenlernen, um Dich im Optimalfall zu entsingeln … betrachte dich schon mal als vom Markt genommen … damit Du schon mal bissl weisst wie ich tick: ich bin selbstverständlich toll, wunderbar, dauerarm aber ansonsten ziemlich perfekt … die letzten Jahre mit nem ollen Bus, arbeitend, durch ganz Europa getingelt um wieder hier in der Gegend zu landen und mich in nen Minihexenhäusl zu verknallen welches ich grad zur ›Burg‹ ausbau. Ich hab der Berufe mehrere gelernt, trink kein Bier, geh liebend gern früh zum Bäcker … hasse allerdings ansonsten jedwedes Eingekaufe (der Job wird wohl an Dir hängen bleiben) … ich mag meinen Morgenkaffee mit ganz viel normaler Milch … was mich aber trotzdem nich zum augenbrauenzupfenden Betamännchen werden lässt. Ich liebe das Leben, steh auf Kurztrips und möcht teilen … ja tatsächlich nen Ankommen auch wenn’s arg nach Klischee klingen mag … ich will vögeln mit Vertrauen, Hingabe und Gefühl, wies nur in ner Partnerschaft geht. Fakt is, wir haben alle nur verdammt wenig Zeit zum Leben, so ists um jede verschenkte oder verzögerte Minute, welche nicht mit gemeinsam Glücklichsein verbracht wird … echt Schade.«
Bei der Nachricht hatte der Typ sicher schon drei Achtel auf dem Kessel! Das Dilemma war leider noch nicht beendet und überrascht von so viel unglaublicher Selbstüberschätzung, schlechtem Deutsch und dazu noch Dummheit, musste sie weiterlesen:
»… und bei allem Humor is das recht ernst gemeint … zumal so Internetkennlerngeschreibsel ja gar nicht so einfach is und Du gefällst mir nun mal … na irgend ne Gier nu geweckt … ich will ganz viel wissen … wie wohnst? Bunt? Ikea? Modern? Schwarz? Konservativ oder oder? Mit was bist zu begeistern? Mit was zu ärchern? Was hast für Vorlieben? Was für Nogos? Wie gehen wir das Ding mit dem Weltfrieden an? Wann stehste da, um sich zeitnah gegenseitig zu beriechen mit irgendwas aus Flaschen … im Optimalfall mit gegenseitig kosten? Was willst noch vom Leben? Was hast für Träume? Was für Ängste? Was Deine Schlechtigkeiten? Und und und … alles halt … all so Zeugs musst, darfst, mir berichten … mach was draus … ich würd mich einfach riesig freuen, wir sollen unprobiert aneinander vorbeilatschen?«
Was war das? Die Nachricht triefte nur so von Zwinker- und Lach-Smileys und Auslassungspunkten. Und wie kam dieser Mann zu seinem Nicknamen? Das war eine Frage, die sich nicht lohnte zu beantworten.
Gerade wollte sie den Laptop wieder zuklappen und die nächsten Nachrichten ungelesen löschen, als etwas ihre Aufmerksamkeit weckte: ein hübsches, zartes Männergesicht. Die anderen Fotos der User zeigten tätowierte Oberarme, prollige Gesichter mit Sonnenbrille, einer auf einem protzigen Motorrad, einer im offenen Cabrio, einer fotografierte gleich seinen unteren Bereich – zum Glück bedeckt mit einer – wenn auch mehr als knappen – Badehose. Aber nun, ein hübsches, sympathisches Männergesicht! Sie öffnete die Mail und atmete tief durch.
»Hallo, mein Name ist Ralf. Ich bin 46 Jahre alt (oder jung), habe zwei Kinder, die mich häufig besuchen und bin Elektriker. Ich wandere gern, lese auch mal ein gutes Buch, höre viel Musik und bin nicht gern länger allein. Wenn Du mit diesen ersten Infos was anfangen kannst, würde ich mich sehr über eine Nachricht von Dir freuen.«
Wow! Ganze Sätze mit vollständiger Grammatik, völlig ohne sexistischem Inhalt. Silke vergrößerte sein Bild und sah den schlanken Mann im Ganzen. Schon immer gefielen ihr die Sanften. Harry war beides gewesen: Er konnte zart und kraftvoll sein. Ralf war durchaus ein süßes Kerlchen. Sie antwortete ihm:
»Lieber Ralf, vielen Dank für Deine Mail und die vollständigen Sätze. Ich bin begeistert! Viele Grüße, Silke.«
Mehr fiel ihr nicht ein. Es stand ja fast alles von ihr im Profil und er fragte nichts. Schon eine Minute später kam seine Antwort.
»Jetzt habe ich gelacht. Ich kann mir vorstellen, was Du für Nachrichten hier bekommst, mit dem hübschen Gesicht. Eigentlich wollte ich mich schon längst abmelden und nun bin ich froh, damit noch gewartet zu haben …«
Silke lächelte.
»Ja, ich werde hier auch nicht alt. Was ist das hier – eine Pornoseite?«
Sie setzte einen Lach-Smiley dahinter. Prompt kam die Antwort von Ralf.
»Ich bekomme solche Nachrichten nicht, aber unsere Sekretärin hat die Mails, die sie hier bekam, ausgedruckt und uns mitgebracht. Da ging so manche Pause drauf. Es ist schon peinlich, was Männer so ablassen. Ich schäme mich …«
Okay, er schämte sich. Nicht schlecht.
»Du musst Dich nicht schämen. Hat die Sekretärin jetzt einen Mann gefunden?«
»Ja. Sie hätte es gleich leichter haben können, denn mein Kollege war schon lange in sie verknallt.« Lach-Smiley. Silke lachte.
Eine Frage wollte sie noch loswerden: »Frauen sind nicht so drauf hier – oder gibt es da auch welche? Das kann ja nur ein Mann beurteilen.« Auch darauf kam seine Antwort schnell. »Manche sind schon auch extrem – aber eher stellen Frauen schnell Fragen nach dem Beruf, von dem sie glauben, den Verdienst ableiten zu können. Und mit einem alten VW Golf muss man vielen auch nicht kommen.« Jetzt war sie an der Reihe. »Hm, jetzt schämen wir uns also synchron.« Daraufhin schickte Ralf einen Lach-Smiley. »So kann es sein, das Leben ist verrückt, oder?« Das war es tatsächlich; nach ihrem anschließenden Telefonat mit ihrer Freundin Anett war zumindest das sicher.
»Willst du Studien betreiben?«, fragte Sandra sie, als sie beim Shoppen eine Pause einlegten und ihren Latte Macchiato schlürften.
»Klar, warum nicht? Ich möchte wissen, ob es noch mehr solcher Filous gibt, noch so einer auf der Leitung steht wie Anetts und beinahe mein ›Ralfi‹!«, antwortete Silke vergnügt.
»Sagt mal, was bequatscht ihr so ohne mich? Wer ist ›Anetts Ralfi‹?«, maulte Sandra. Ach ja, das wusste sie noch nicht; Zeit für eine Aufklärung.
»Gestern habe ich noch mit Anett telefoniert und ihr von den Chats erzählt, auch von Ralf. Ihr war das gar nicht so fremd. Und erst recht nicht dieser Mann …«
»Erzähl!«
Sandra konnte es kaum erwarten.
»Anett hatte sich vor einigen Monaten mal mit dem getroffen. Ich habe ihr gestern ein Foto von Ralf per WhatsApp geschickt. Er war es wirklich.«
»Ja, was denn? Spann mich nicht so auf die Folter!«
Silke kostete Sandras Ungeduld aus. Dramatisch begann sie ihren Bericht:
»Anett und Ralf trafen sich an einem abgelegenen See, sahen sich in die Augen und schon war es klar. Sie wollten es beide. Also, Tür zu. Das Auto war groß genug. Als Anett nach vollzogenem Akt, der nur höchstens zwei Minuten gedauert hatte, nackt in seinem Auto lag, sah er sie mit skeptischem Ausdruck lange an, von oben nach unten, und wieder zurück. ›Was?‹, fragte Anett. ›Na ja, du bist etwas …‹, stotterte Ralf. ›Was bin ich etwas …?‹, bohrte sie. ›Etwas rund an den Hüften, finde ich.‹ ›In der Tat! Ich bin eine Frau. Schon bemerkt?‹, meinte Anett spitz. ›Ja, schon … aber auf dem Bild sahst du zierlicher aus. Auch deine Brüste, sie sind ehrlich gesagt nicht mein Ding, ich stehe auf die kleinen‹, rückte er mit der Sprache raus. ›Na, aber hoch gekriegt hast du deinen kleinen Freund trotzdem, sofern man das so bezeichnen kann …‹, konterte sie und schämte sich. Wie unglaublich erniedrigend! Sie meinte, in ihrem sexuell deutlich unterversorgten Zustand selbst schuld daran zu sein. Schließlich war sie mit dem netten Ralf gleich in die Kiste gestiegen, oder besser gesagt ins Auto und hatte sich danach beleidigen lassen. ›Und schon war Ralf hässlich. Aber so was von‹, sagte sie mir gestern.
›Also, kleiner Mann‹, er war immerhin kleiner als sie, ›das ist ja alles schön und gut. Ich wollte es dir erst nicht sagen, aber wenn wir hier so ehrlich miteinander umgehen, was ich total gut finde, muss ich dir sagen, dass dein Schwanz meinen Bedürfnissen nicht entspricht. Ich würde das, was da unten bammelt, eher als bewegliche Bügelfalte bezeichnen‹, warf sie ihm an den Kopf.«
Sandra prustete los.
»Weiter, weiter!«, bettelte sie.
»Ralf sah Anett an und kniff die Lippen zusammen, während sie sich in aller Ruhe anzog. Anett warf ihr Haar zurück, verließ seinen Transporter und schickte sich hocherhobenen Hauptes an, den Weg nach Hause zu Fuß anzutreten. Einige Meter von seinem Auto entfernt, drehte sie sich fröhlich um und winkte. Ralf war fertig. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Silke beendete den Bericht mit einem feierlichen Kopfnicken.
»Autsch! Das war Anett sicher Wasser auf den Mühlen, wo sie ständig gegen ihre Pfunde kämpft …«, konstatierte Sandra.
»Ja, das kann man sagen, aber sie ist tough, das verkraftet sie schon. Als sie zu Hause angekommen war, ging sie sofort ins Bad. Sie duschte und duschte und schimpfte laut; auf sich, auf Ralf, auf alle Männer, auf die ganze Welt.
»›Es ist schon peinlich, was Männer so ablassen‹«, hatte er geschrieben.
»Reihe dich ein, du Schwachstromelektriker!«, meinte Sandra, nachdem Silke ihr anschließend von ihrem Chat mit Ralf berichtete.
»Also meinst du, ich sollte mich mit meiner Figur an ihn ranschmeißen – meine Kindermaße imponieren ihm sicher …«, grinste Sandra. Silke imponierte auch etwas, und zwar an Sandra: Sie nahm sich selbst nicht zu ernst. Sandra trug inzwischen Gr. zweiunddreißig/vierunddreißig – oder eben Mädchengröße hundertsechsundsiebzig.
»Ein Kinderf…«, gluckste Sandra. War das lustig?
»Und dazu steht er sicher noch auf die kleinen Zuckertüten mit Bommel und Höfen so groß wie Scheinwerferlichter«, prustete Sandra los.
An diesem Abend öffnete sie ihren Laptop und es leuchtete ihr eine zweiunddreißig im Posteingang entgegen. Ach du lieber Himmel! Die Nachrichten der Kommunikationsverweigerer ließen sich schon in der Vorausschau vollständig lesen: »Hallo du« von Chauvinist oder »Hey, alles easy?« von Simson-Fan – sicher ein alter Ossi mit DDR-nostalgischer Rotzbremse. Schon waren ganze zweiundzwanzig Nachrichten verschwunden.
»Wow! Die Auslese ist leicht. Wir kämpfen uns zur Elite vor«, murmelte Silke und biss dabei herzhaft in einen Apfel.
»Hallo Aufbrechende«, schrieb einer der Übriggebliebenen. Zugegeben, ihr Nickname war auch nicht gerade eine ihrer besten Ideen.
»Ich weiß ja nicht, was oder wen du so aufbrichst, aber ich biete mich gerne an.«
Immerhin ein Satz mit vollständiger Grammatik und sogar die Kommasetzung war okay. Aber der Inhalt … Löschtaste. Zehn kleine – Männerlein und es waren nur noch neun.
»Dein Profil klingt ja mega spannend, schöne Frau. Mit dem Lesen habe ich es nicht so, aber für klassische Musik könnte ich mich begeistern. Irgendwo habe ich gelesen, dass Franz Liszt immerhin der erste Rockstar der Welt war! Würde mich freuen, mal mit dir zu einem Konzert zu gehen.«
Da hatte sich einer auf Webseiten getummelt, deren Geschäft es war, sich an Leute zu richten, die gern über Dinge Bescheid wussten … Hüstel. Wichtigtuer, Spinner. Löschtaste. Und es waren nur noch acht.
»Hallo, wunderschöne Frau. Ich suche neuen Schutzengel. Meiner ist mit den Nerven am Ende. Bist du bereit?«
Mit Begrüßung drei Sätze – das ist ja schon beinahe grandios. Das Späßchen mit dem Schutzengel hatte einen langen Bart.
»Bin ich vielleicht deine Mutter, du Piefke?«, schimpfte Silke vor sich hin und brauchte jetzt nur noch eins: Wein. Das konnte man nicht nüchtern ertragen. Sie schlurfte in die Küche, schenkte sich einen Roten ein und kehrte lustlos zu ihrem Couchtisch zurück. Jetzt aber – das Bild von dem Engel Suchenden musste sie sich ansehen. Ein Klick – vergrößern. Ein Foto wie aus dem Bilderbuch. Wieder einer auf seinem Liebling, dem Motorrad. Eine Honda, wenn sie es richtig erkennen konnte. Klar, der brauchte einen Schutzengel als potenzieller Organspender … Löschen. Und es waren nur noch sieben.
Die nächsten vier liefen nach ähnlichem Muster ab, nur die Rechtschreibung und der Inhalt waren noch grauenhafter. Und es blieben nur noch drei. Das Glas Wein war geleert, Silkes Kopf dröhnte. Aber der Rest musste jetzt noch sein. Vielleicht war einer dabei, den sie weder retten noch dem sie erklären musste, dass Franz Liszt kein Rockstar war, oder der gar aufgebrochen werden wollte. Der nächste war Tommy67.
»Hallo, ich heiße Tom und bin 52 Jahre alt – oder jung, das liegt im Auge des Betrachters. Ich fühle mich manchmal jung genug, um noch mal von vorn zu beginnen und manchmal zu alt, um meine Zeit einsam zu verbringen. Dein Profil gefällt mir sehr gut und ich würde mich freuen, wenn Du mir ein kleines Zeichen gibst. Es grüßt Dich aus Ebershofe, Tom.«
Wow, wow, wow! Was für eine Nachricht. Die Elite ist zu ihr durchgedrungen! Tom – ein schöner Name. Die anderen hatten ja nicht mal einen. Aber immer schön langsam, zwei warteten noch auf ihre müden Augen. Am Ende sollten die Fotos und die Sympathie entscheiden – vielleicht ein Lächeln, ein Grübchen, ein Strahlen in den Augen? Schnell noch ein Glas Rotwein geholt und weiter ging es mit DresdenMyLove. Der Name deutete auf einen Heimatliebenden hin.
»Eine Frau, die viel liest, malt, Gitarre spielt und gern lacht – die sollte nicht alleine sein. Solche Profile sind hier selten, das ist erst einmal festzustellen. Ich würde Sie gern kennenlernen. Aber zuvor – schreiben Sie mir bitte, ich freue mich riesig auf Post von Ihnen. Beste Grüße aus dem schönen Dresden, Markus.«
Wow, wow, wow, wow! Einer, der sie siezte, den hatte sie noch nicht. Einer, der eine gute Einleitung (wenn auch recht sülzig, aber immerhin bemüht) findet, der sich mit Respekt zu artikulieren verstand!
»Okay, ganz ruhig! Einen, einen habe ich noch. Mal schauen …«, flüsterte Silke und Bing – die nächste Nachricht sprang ihr regelrecht in die Augen.
Hans, der Träumer – schon der Nickname verursachte in ihr eine wohlige Wärme. Mein Gott, bin ich verkitscht, und das in meinem Alter …, dachte sie, verhaspelte sich vor Aufregung auf der Tastatur und flog aus dem Datingportal.
»Mist, verdammter!«
Fluchend grapschte sie nach der Maus und ihr Rotweinglas, inzwischen wieder gefüllt, kippte auf ihre weiße neue Hose. Salz, schnell! Fluchend wie ein Droschkenkutscher zog sie die Hose aus, rannte in die Küche und kippte die noch vorhandene halbe Packung Jodsalz auf die Hose, lief in ihr Schlafzimmer, packte in Windeseile eine schwarze Jogginghose (Karl Lagerfeld würde sich im Grabe umdrehen), schlüpfte hinein und flog beinahe zum Couchtisch. Denn Hans, der Träumer, wartete.
»Lass uns reden« im Lesezeichen öffnen, einloggen und schnell zu Hans.
»Ich heiße im realen Leben natürlich nicht ›Hans‹, aber ich bin real – ein Träumer. Hoffentlich übertrete ich jetzt nicht Regeln der Contenance, indem ich sogleich zum vertrauten ›Du‹ übergehe? Dein Profil ist sehr schön. Es hat etwas Weiches, zugleich Starkes, ist präzise, zugleich bleiben in mir viele Fragen offen. Welche Bücher liest Du gern? Malst Du auf Leinwand? Du spielst Gitarre – da schnappte ich nach Luft, denn ich spiele auch, mehr schlecht als recht allerdings (also bitte keinen Eric Clapton erwarten). Bitte verzeih mir, ich wäre kein Mann, wenn ich nicht bewundernd auf Deine ausdrucksstarken Augen sehen – und zu träumen beginnen würde. Wenn Du einen kleinen Teil Deiner geschätzten Aufmerksamkeit mir widmen würdest, so wäre das mein schönster Augenblick.«
Wow, wow, wow, wow, wow! Ein wenig gestelzt, aber mit Stil. So mochte sie es. Doch nun – immer noch war Besonnenheit von höchster Priorität, um die Elite der Elite zu finden. Zwei würde sie auswählen, damit ihr zur Not noch ein Rettungsanker zur Verfügung stünde. Die Fotos. Immer schön der Reihe nach. Zuerst Tom. Er saß auf einem Stuhl, mit dem rechten Arm auf einen Schreibtisch aufgestützt, auf dem sich einige Akten stapelten. Seine schmächtige Statur ließ den Schreibtisch massiver wirken. Eine Hornbrille saß auf dem auffällig kleinen Gesicht, eine riesige Hakennase zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ein Mann jedoch musste nicht schön sein; er sollte nur »wirken« – und er wirkte nicht auf sie. Nun zu Markus, dem Heimatliebenden. Ein kräftiger Mann mit schütterem ergrautem Haar und einem Achselshirt auf dem »Hilfe!« stand. Silke zoomte das Bild größer, denn schon im kleinen Modus verhieß die Zahnreihe nichts Gutes. Hinter ihm hing die legendäre Dynamofahne. No Chance. Ihm konnte sie nicht helfen. Sie wusste schon vorher, wer übrig blieb. Wahrscheinlich auch, wenn einer der Typen wie Richard Gere ausgesehen oder sie mit strahlenden Augen und umwerfenden Grübchen angestrahlt hätte: Hans, der Träumer. Er war die Elite der Elite, der Edelmann auf dieser Plattform. Wann war die Nachricht eingetroffen? Ah, ja, gestern. Okay, sie konnte ihm heute schon schreiben. Und es ging los. Gib alles, Silke, für diesen Charismatik-Bolzen! Alles!
»Hallo, Hans, auch wenn du nicht ›Hans‹ im realen Leben heißt …«
Nein, das war blöd. So vielleicht:
»Hallo, Träumer, der nicht ›Hans‹ heißt, danke für Deine bezaubernde Nachricht. Wie Du siehst, macht es mir nichts aus, wenn wir gleich die Regeln der Contenance brechen – gibt es diese heute überhaupt noch?«
Das war gut, es ließ gleich durchblicken, dass sie die eingezogene KommunikationsAsozialität kritisierte.
»Ich beantworte Dir gern alle Fragen aus Deiner Nachricht. Ich lese alles, was es wert ist – bin da nicht festgelegt. Besonders mag ich historische Romane oder Biographien. Ich male meist auf Leinwand, mit Acryl und oft abstrakt. Ich spiele auch nicht Gitarre wie Jennifer Batten, also keine Sorge. Vielen lieben Dank für das Kompliment zu meinen Augen. Nun kommt der Augen-Blick (wie passend), auch ich habe Fragen an Dich. Meinst Du, ich könnte diese bald im Realen stellen?«
»Ein Wink. Gut so, mutig. Wir leben immerhin im 21. Jahrhundert«, führte sie halblaut aus, als müsste sie sich überzeugen, es richtig gemacht zu haben. Silke war guter Dinge, denn sein Foto – das war er. Mit dem gewissen Etwas, was sie fesselte. Viel konnte sie nicht erkennen, nur einen Mann mit wenig Haaren, einer Nickelbrille und schlanker Statur. Ein Intellektueller – sehr gut. Absenden. »Nachricht an Hans, der Träumer gesendet« blinkte auf. Was für ein Tag!
Die Hose! Silke rannte in die Küche. Das Salz war eingezogen. Die rote Wunde klaffte. Es kam ihr vor, als sähe die Hose sie vorwurfsvoll an.
»Für Hans, den Träumer, Hose. Ich verspreche dir, dafür hast du ein großes Opfer gebracht. Danke.«
Während sie mit ihrer Lieblingshaushose sprach, versuchte sie mit aller Kraft, die Flecken zu scheuern. Ohne Erfolg. Das Ende der Hose war besiegelt. Für ihren Traum.
»Leben! Das strahlen deine Bilder aus.
Leben und Sinn, ja, sogar Sinnlichkeit!«
Peter Meyer
An einem sonnigen Mittwochvormittag war es so weit. Silkes Kater Whiskey schlich ihr zuvor die ganze Zeit um die Beine, als ob er mit ihr gemeinsam aufgeregt wäre.
»Mensch, Tier, störe mich jetzt nicht! Ich muss perfekt aussehen, verstehst du? Und mach mich jetzt nur nicht mit Katzenhaaren voll!«
Rote Katzenhaare auf einer weißen Sommerjeans, welch ein Grauen. Whiskey schien zu verstehen. Beleidigt zog er sich in den Flur zurück und starrte sie aus der Ecke heraus an. Silke überprüfte ihr Make-up, puschte ihre vollen Haare immer wieder auf und stellte fest, dass sie wieder mal zugenommen hatte. Egal jetzt. Darum konnte sie sich später kümmern.
Endlich klingelte es. Sie ging betont langsam zur Tür. Whiskey schlängelte sich an ihren Hosenbeinen an ihr vorbei und während sie die Tür öffnete, sagte sie laut:
»Geh weg, du Doofer!«
»Was für eine zauberhafte Begrüßung!«, lächelte sie der Träumer an.
»Nein, nein, ich meinte Whiskey …«, stotterte Silke, peinlich berührt, auf den davonlaufenden Kater zeigend.
»Und was für ein zauberhafter Name für einen Kater!«, konterte er wieder. Das Eis war gebrochen. Silke lachte. Sie erinnerte sich an die Bemerkung des Nachbarn von gegenüber, als sie eines Abends ihr Tier ins Haus rufen wollte.
»Whiskey!? Whiskey!? Wo ist mein feiner Whiskey, ja, wo ist er denn?!«
Der Nachbar, der mit ein paar Freunden gegrillt hatte, schrie rüber:
»Bist wohl schon zum Alki mutiert, hä?«, und seine Gäste hatten sich schiefgelacht. Aber das wollte sie dem träumenden Hans vielleicht später erzählen. Sie hatten ja Zeit. Hoffentlich.
»Komm erst mal rein.« Mit einer einladenden Geste öffnete sie die Tür.
»Gern doch, sehr nett«, entgegnete er galant und trat ein. Während sie ihn in ihr Wohnzimmer führte, betrachtete sie ihn genauer. Er war einige Zentimeter größer als sie, auf jeden Fall über eins achtzig, und von sehr schlanker Gestalt. Das gefiel ihr. Wie bei vielen Männern dieses Alters musste er sich keine Mühe mehr beim Haarekämmen geben, denn da war nicht viel zu richten und wie sie an den wenigen Muzeln, die sich wie ein Kranz um seinen Kopf legten, erkennen konnte, war sein Haar rot. Was ihr aber besonders ins Auge fiel, war seine ausgesprochene Blässe, typisch für Rothaarige. Die Nickelbrille passte zu ihm. Während sie ihn musterte, betrachtete er ihr Wohnzimmer.
»Schön hast du es hier, wirklich sehr geschmackvoll«, lobte er und sah sich sehr genau um.
»Setz dich doch«, meinte sie. Jetzt wäre es angebracht, sich gemütlich zu unterhalten.
»Bitte sei nicht böse, lass mich noch einige Minuten stehen. Ich saß gerade eine Stunde im Auto«, bat er und betrachtete den Inhalt der Glasvitrine an ihrer antiken Kommode an.
»›Warum wir hemmungslos verblöden‹, ›Einigkeit und Recht und Doofheit‹ und ›Generation Doof‹ – ich habe es gewusst.« Er lächelte versonnen.
»Was hast du gewusst?«, fragte sie nach.
»Das passt. Es passt zu deiner Beschreibung im Profil. Ich bin begeistert.«
Silke stutzte. Okay, fein. Das hätten wir geklärt. Jetzt bin ich dran, dachte sie und startete.
»Na, komm, setz dich jetzt mal und wir unterhalten uns. Immerhin lasse ich dich in mein Haus und kenne noch nicht einmal deinen richtigen Namen.«
Sie wollte lächeln, aber eigentlich auch nicht, denn sie meinte das ernst. Und es saß. Er beendete abrupt seine Vitrinen-Beschau.
»Entschuldige, natürlich hast du recht. Wie unhöflich von mir. Ich bitte, es mir nachzusehen, denn ich bin geflasht.«
Sie setzte sich auf ihre Couch und deutete auf den Platz neben sich. Der Träumer folgte ihr.
»Ich heiße Peter. Peter Meyer.«
Na, das war ja schon mal ein Anfang.
»Schön, angenehm«, versuchte sie, die Situation zu entschärfen und reichte ihm die Hand.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja, sehr gern, wenn ich dich begleiten darf. So kann ich wieder ein paar Schritte gehen.«
Er lächelte sein Träumerlächeln.
»Klar, du darfst.«
Gemeinsam gingen sie in die Küche und er half ihr, als sei es das Selbstverständlichste. Es fühlte sich gut an. Silke konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann ihr jemand zum letzten Mal beim Kaffeekochen zur Hand gegangen war. Während der Kaffee lief, holte sie zwei Tassen, Milch und Zucker hervor und stellte alles auf den Couchtisch. Beim Kaffeetrinken schien der letzte Eisbrocken zu schmelzen. Eine Unterhaltung kam in Gang, so vertraut, wie sie es das letzte Mal mit Harry hatte erleben dürfen. Sie schwelgte nicht in Erinnerungen an ihren Mann, sie befand sich im Hier und Jetzt, bei Peter. Beim Träumer. Und träumte mit ihm.
Peter erzählte von sich, der Trennung von seiner langjährigen Lebenspartnerin Beate. Fast dreißig Jahre waren sie zusammen gewesen.
»Ich möchte gleich ehrlich zu dir sein. Ich bin Erwerbsunfähigkeitsrentner.«
Er sah sie erwartungsvoll an. Dachte er, sie würde in Ohnmacht fallen? Silke war so gefesselt von ihm, dass ihr das nichts ausmachte. Warum auch? Was sagten ein Beruf oder ein sozialer Stand schon über einen Menschen aus?
»Du sagst das, als sei es etwas Verwerfliches«, meinte sie und sah ihm tief in seine klaren, blauen Augen.
»Nun ja, offenbar ist es das in dieser Gesellschaft. Du glaubst nicht, wie viele Frauen sich nicht mehr meldeten, wenn ich diese Botschaft verkündete!«
Seine Augen vergrößerten sich, drückten mehr aus, als sein Mund sagte. Sie stutzte kurz. Um gleich darauf dahinzuschmelzen.
»Verstehe ich nicht!« Das war alles, was sie zunächst sagen konnte. »Warum bist du erwerbsunfähig? Magst du es mir erzählen?«
Er mochte.
»Als junger Mann studierte ich, wollte Ingenieur werden. Doch ich schaffte es nicht. Darüber ärgere ich mich bis heute. Dann war ich viele Jahre als Optiker tätig. Irgendwann lief meine Beziehung zu Beate nicht mehr gut, um es vorsichtig auszudrücken. Sie war, mit Verlaub gesagt, eine Bestie. Ich weiß nicht, warum es so war, aber ich konnte mich nie angemessen gegen sie wehren. Sie attackierte mich, nichts war ihr recht; sie beschimpfte mich. So bekam ich Depressionen, die leider über mehrere Jahre anhielten. Aus der Beziehung zu ihr konnte ich mich nicht mehr befreien. Ich war zu schwach. Zunächst ging ich noch arbeiten, immer mal wieder. Dann aber kam der Zeitpunkt, da stellte man eine psychische Erkrankung fest und ich wurde in Erwerbsunfähigkeit geschickt. Keine gute Vita, ich weiß.«
Er senkte den Blick. Silke wurde es heiß und kalt. Sie verstand die Menschen schon lange nicht mehr, aber nun vor allem nicht das Verhalten dieser Beate. Ihr schossen Tränen in die Augen. Oh mein Gott! Sie jammerte um ihr Schicksal und dieser ehrliche und liebe Mann konnte sich gegen eine Frau nicht wehren! Gegen eine Frau! Er war in allem, was er sagte, so klar und kompetent. Und was er alles wusste! Hinter seinem Allgemeinwissen konnte sie sich nur verstecken. Ein kluger Kopf. Er wirkte traurig und sie überlegte, wie sie ihn ein wenig ablenken könnte von seinen Erinnerungen, die ihn bedrückten.
»Darf ich dir etwas zeigen?«, fragte sie ihn und lächelte ihr schönstes Lächeln.
»Ja gern«, antwortete Peter dankbar. Sie ging mit ihm auf den Dachboden, um ihm ihre gemalten Bilder zu zeigen.
Minarik Guitar.
»Und?«
Sie schluckte.
»Gefällt es dir?«
Für den Träumer schwindelte sie.
»Ja, schöööööön! Was ist das eigentlich, was du spielst?«
Das wollte sie schon wissen.
»Ich improvisiere nur. Kennst du Estas Tonne?«
Natürlich kannte sie den. Da kippten die Spirituellen, Yoga-Tanten und Reismilchfanatiker reihenweise um. Sie nicht.
»Ja, den kenne ich.«
Wenigstens war das nicht gelogen.
»Estas ist mein großes Vorbild«, schwärmte er und seine Augen wurden wieder größer, schienen sich im Radius zu verdoppeln. Wie machte er das? Okay, das alles war ein Minuspunkt, aber eben nur einer. Jeder hatte seine Macken.
Als er endlich zu spielen aufhörte und Silkes Ohren zu rauschen begannen, der Kaffee ausgetrunken war und es draußen zu dämmern begann, schwiegen sie. Silke legte ihren Kopf an seine Schulter. Wenige Minuten später neigte Peter seinen Kopf in ihre Richtung. Sie sah zu ihm auf und ihre Lippen fanden sich. Es war besiegelt. Der Träumer und die Träumerin hatten sich gefunden. Peter blieb. Vierzehn Tage lang.