Daniel Odier
Meditations-Techniken
der buddhistischen und taoistischen Meister
Daniel Odier
Meditations-Techniken
der buddhistischen
und taoistischen Meister
FÜR KHEMPO KALU RINPOCHE
Khempo Kalu Rinpoche vom Kagyüpa Orden, einer der großen Weisen, die die Lehren und die mündliche Tradition von Milarepa weiterführen.
ISBN 978-3-96861-154-9
1. eBook-Auflage 2020
© 2011 Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1 • D-85567 Grafing
www.aquamarin-verlag.de
Titel der Originalausgabe:
MEDITATION TECHNIQUES OF THE BUDDHIST AND TAOIST MASTERS
© 1974 eDitions Robert Laffont
Inner Tradition, Rochester, Vermont 05767
German language edition arranged through Montse Cortazar Literary Agency.
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
unter Verwendung von © Piotr Bieniecki 1350069 – shutterstock.com
INHALT
Einführung
TEIL EINS • BUDDHISMUS
1 Die Leben Buddhas
2 Die Grundlagen des Buddhismus
3 Meditationsvorbereitung
4 Meditationstechniken des Hinayana
5 Kontemplative Techniken des Mahayana
6 Kontemplationstechniken des Vajrayana
7 Kontemplationstechniken des Ch’an (Zen)
TEIL II • TAOISMUS
8 Die Grundlagen des Taoismus
9 Taoistische Kontemplationstechniken
Anmerkungen
Bibliographie
EINFÜHRUNG
Diese Arbeit auf die Kontemplationstechniken des Buddhismus und Taoismus beschränkend, wende ich mich direkt dem Wesentlichen zu und lasse alles beiseite, was nicht in unmittelbarer Beziehung zu dem Weg steht, der zum Nirvana und zum Tao führt.
Die meisten Bücher, die sich mit dem Buddhismus befassen, konzentrieren sich auf eine einzige Schule. Sie legen die Lehre in allen Einzelheiten dar, ohne auf die verschiedenen Meditationstechniken einzugehen.
Während meiner zahlreichen Reisen in den Orient war ich bestrebt, in den Klöstern der jeweiligen Schule die Dinge zu verstehen und zu leben, die in den Büchern selten beschrieben werden, da sich die Orientalisten oft lieber den philosophischen Studien und weniger der unmittelbaren Erfahrung widmen.
Um die Essenz dieser Erfahrung wiederzugeben, werde ich das Thema möglichst eingehend untersuchen und anschaulich darlegen und gleichzeitig die Integrität meiner Untersuchung wahren.
Ziel der unmittelbaren physischen Erfahrung ist es, Bücher und Lehren beiseitezuschieben, um Menschen und Weisen zu begegnen, die eine Lehre verwirklicht haben und deren Gegenwart unersetzbar ist. Dies allein vermag einen mit Wissen belasteten Geist zur Erkenntnis der Leere zu führen.
Einem Meister zu begegnen, einem Mann, der alles durch seine schlichte Gegenwart zum Ausdruck bringt, heißt, sich für eine tiefgreifende Umwälzung zu öffnen, die wie eine Flutwelle über alle Vorstellungen hinwegrollt, die man sich von einer Lehre gemacht haben mag.
TEIL EINS BUDDHISMUS
Buddha-Statue in Svayambunath,
einer der bedeutendsten Pilger-Stätten in Nepal.
Sein Schädel ist vorgewölbt und sein über der rechten Schulter geflochtenes Haar azurblau. Auf seiner breiten, sanften Stirn liegt zwischen den Augenbrauen ein kleiner erhabener Kreis aus Silberhaar. Seine Augen, wie bei einer Färse von langen Wimpern überschattet, sind groß, weiß und schwarz. Seine Ohrläppchen sind dreimal länger als gewöhnlich. Er besitzt vierzig kräftige gleiche Zähne, die eine lange, schmale Zunge schützen, was ihm einen ausgezeichneten Geschmackssinn verleiht. Sein Kiefer besitzt die Kraft eines Löwen. Seine Haut schimmert zart golden. Sein geschmeidiger, fester Körper gleicht einem Aronstab und sein breiter Brustkorb dem eines Bullen. Er besitzt runde Schultern, kräftige Schenkel, die Beine einer Gazelle und sieben wohl verteilte vorspringende Konturen. Seine Hände sind groß. Die herabhängenden Arme berühren seine Knie. Die auffallend langen Finger und Zehen sind durch eine dünne Membran miteinander verbunden. Seine Haare wachsen in Strähnen. Die Haare auf seinen Armen sind nach oben gerichtet. Was es zu verbergen gilt, bleibt verborgen. Seine Fersen sind kräftig und seine Handflächen zusammengelegt. Unter jedem Fuß befindet sich ein Rad mit tausend Speichen. Er steht aufrecht auf seinen symmetrisch gleichen Füßen. Seine Sprache klingt wie die von Brahma.1
KAPITEL 1
Die Leben Buddhas
Sorgfältige Nachforschungen, eingehende Untersuchungen, ein Vergleich der Originaltexte sowie archäologische Forschungsergebnisse lassen einige definitive Aussagen über das Leben Buddhas zu.
Der Buddha wurde 556 v.Chr. in einem kleinen Dorf in Nepal in der Region von Tirai, Kapilavastu, geboren. Er gehörte dem Stamm der Shakya an, dessen König sein Vater war. Es gibt keine Information darüber, ob Buddha dem arischen oder dem gelben Volksstamm angehörte. Im Alter von etwa siebenundzwanzig Jahren verließ er Kapilavastu und wurde Wandermönch. Nahe dem Dörfchen Uruvela, Indien, etwa hundert Kilometer von Patna entfernt, unterzog er sich in einer Höhle einer außergewöhnlich strengen Askese. Im Alter von ungefähr siebenunddreißig Jahren fand er Erleuchtung und begab sich nach Benares, wo er fünf Asketen begegnete, die seine ersten Schüler wurden. In Benares hielt er seine erste Rede, in der er die Vier Wahrheiten und den Weg der Befreiung, den Edlen Achtfachen Pfad, darlegte. Er verbreitete seine Lehre unter einer immer größer werdenden Schar von Schülern und gründete den Sangha, eine Mönchsgemeinschaft. Spenden wohlhabender Leute erlaubten es ihm, im Gebiet von Patna mehrere Zentren einzurichten, in denen er und seine Schüler während der Monsunzeit, die ein Reisen unmöglich machte, Zuflucht fanden. Nach einem Leben des Lehrens starb Buddha im Alter von einundachtzig Jahren infolge von Krankheit oder Vergiftung. Seine Lehren wurden vierhundert Jahre lang mündlich überliefert, bevor man sie niederschrieb und im Laufe der folgenden Jahrhunderte mit Kommentaren versah.
Das legendäre Leben
Obwohl sich das Leben der großen Eingeweihten der Menschheit mehr innerlich als äußerlich abspielte, vermochten ihre Schüler die Lehren des Meisters recht genau wiederzugeben. Die unbekannten Einzelheiten seines Lebens mussten sie jedoch mittels ihrer Vorstellungskraft einfügen.
Dies trifft für Buddha ebenso zu wie für Jesus. Es beginnt mit einer jungfräulichen Geburt und findet seinen Höhepunkt in der Verheißung einer künftigen Wiederkehr.
Maya-Devi, rein und strahlend, heiratet nach einem prophetischen Traum und einer Reihe von wundersamen Vorzeichen König Shuddhodana und wird von den Göttern an einen Ort auf den Höhen des Himalaya versetzt, an dem plötzlich ein Baum emporwächst. Himmlische Wesen führen Maya-Devi in einen goldenen Palast. Dort sieht sie einen gelben Elefanten mit sechs Stoßzähnen aus Elfenbein und einem rosafarbigen Kopf. Nachdem er der Königin eine Lotosblüte überreicht hat, die er in seinem Rüssel trägt, stößt der übernatürliche Elefant die Königin mit einem seiner Stoßzähne in die rechte Seite. Sie fühlt nichts.
Zehn Monate später legt sich die Königin, verborgen in einem Blätterdickicht, am Fuße eines Feigenbaumes nieder. Augenblicklich überzieht ein dicker Grasteppich den Boden, aus dem tausende Lotosblüten hervorsprießen. Ohne den geringsten Schmerz zu empfinden, tritt der Buddha aus ihrer rechten Seite hervor. Eine riesige Lotosblüte bietet ihm ein Lager. Der Buddha erhebt sich, geht jeweils sieben Schritte gen Norden, Süden, Osten und Westen und ergreift Besitz von der Welt. Er gibt seine letzte Inkarnation bekannt und verkündet, dass er den Menschen von seinem durch Geburt, Alter und Tod verursachten Leiden befreien wird. Sobald er aufhört zu sprechen, wird er den anderen gleich.
Bald versetzt der junge Siddhartha Lehrer und Weise mit seinem ungewöhnlichen Wissen in Erstaunen. Niemand ist ihm gewachsen, weder in der Leichtathletik noch beim Pferderennen oder Bogenschießen. Viele Stunden verbringt der Prinz in den wunderbaren Palastgärten, in denen er an mit Lotosblüten übersäten Teichen in erbauende Betrachtungen versinkt. Eines Tages nimmt sein Vater ihn mit auf die Felder, damit er die riesigen Ackerfurchen, die der Pflug zieht, bewundere. Der junge Prinz sieht die Schönheit dieses Schauspiels, sieht aber auch das Leiden des Büffels, die Mühsal der Arbeiter und den Tod der Würmer, die der Pflug zerschneidet. Er erkennt in der Natur, dass für den Lebenskampf das Gesetz gilt, dass der Stärkere überlebt. Seine Liebe zu jedem Atemzug des Lebens ist so stark, dass er seinen Vater bittet, dort bleiben zu dürfen, um zu meditieren. Trotz des Laufes der Sonne bewegt sich der Baumschatten, der ihn schützt, nicht. Siddhartha erlebt seine erste Ekstase.
Beeindruckt von der Haltung seines Sohnes, erinnert sich sein Vater an die Weissagungen eines Brahmanen. „Als Wandermönch wird er nach meinem Tode Erleuchtung erlangen und die Welt retten!“ Hatte er die ersten Anzeichen dieser Kraft gesehen, die seinen Sohn aus seinem Königreich treiben würde?
Bei seiner Rückkehr ordnet der König an, jeden Anblick, der seinen Sohn zu einer solchen Betrachtung veranlassen könnte, von dem jungen Prinzen fernzuhalten. Er erbaut drei Paläste, in denen sich Siddhartha der edelsten Vergnügungen erfreuen kann. Manchmal entflieht er seinem überschwänglichen Umfeld und zieht sich in die Gärten zurück, um in einer Hütte aus Blätterwerk in tiefe Meditation zu versinken.
Eines Tages begibt er sich an den Rand des Parks und sieht jenseits der ordentlichen Blumenbeete die Fülle der Wildnis. Dort begegnet er zum ersten Mal Wandermönchen. Welche Kraft lebt in diesen Menschen, deren Blick leuchtender strahlt als der kostbarste Edelstein?
Der König, der die Schwermut seines Sohnes bemerkt, glaubt, es sei an der Zeit, eine Frau für ihn zu finden. Er wählt die schönsten jungen Frauen seiner Kaste, die dem Prinzen während eines Festes vorgestellt werden. Unter den 108 Kandidatinnen, von denen eine schöner als die andere ist, fühlt sich Siddhartha nur zu Gopa Yasodhara hingezogen.
„Wie nach langer Dürre der verborgene Same aus dem Boden sprießt, so erwachte augenblicklich ihre frühere Liebe. Sie waren bereits viele Male miteinander verbunden gewesen, als Mann und Frau, Tiger und Tigerin, Rebstock und Orchidee, Wind und Feder, Berg und Strom…
Eine Begegnung der Geister. Es war nicht nötig, sich an das Rehkitz zu erinnern, das er ihr zuliebe im Wald gefangen hatte, oder an den Sturm zu denken, der sie vor dreiunddreißig Tagen in einer über dem angeschwollenen Fluss vorspringende Höhle, trunken vor Liebe, zurückgehalten hatte. Solange sich das Rad der Wiedergeburt dreht, würde Gewesenes in ihnen fortleben.“2 Nachdem er seine Rivalen beim Wettlauf und im Wettkampf mit Bogen, Schwert und Wissen besiegt hat, heiratet er die schöne Gopa. Innerhalb von drei Monaten erbaut der König für das Liebesleben der beiden einen noch schöneren Palast als alle vorherigen. Nachts errichten Handwerker eine Mauer um das Paradies, so dass ein Wirbel von Jugend und Schönheit den Prinzen umfängt. Der König ordnet an, alles von seinem Sohn fernzuhalten, was den Eindruck von Krankheit, Alter und Tod vermittelt. Sobald eine Tänzerin die geringsten Ermüdungserscheinungen zeigt, muss sie unverzüglich ersetzt werden. Innerhalb der Palastmauern gibt es weder eine welkende Blume oder ein abgestorbenes Blatt noch eine flackernde Lampe.
Bald erfährt Gopa, dass sie einen Sohn gebären wird. In einer Vision erkennt Siddhartha die Bedeutung seiner Mission auf Erden. Der Prinz lässt anspannen, um die Stadt zu besuchen. Man hat sie mit Blumen geschmückt und alte Leute und Sklaven vor ihm versteckt. Das gesamte Reich ist in einen Ort des Glücks und der Schönheit verwandelt. Doch dann taucht vor seinem Wagen plötzlich ein abstoßend hässlicher Mensch auf, der an der Schwelle des Todes steht.
Während der Nacht verkleidet sich Siddhartha und entflieht in das Dorf, das nun in seinem üblichen Zustand vor ihm liegt. Er folgt einem Leichenzug zum Verbrennungsplatz. Der Körper erhebt sich mitten im flammenden Feuerholz, und der Schädel explodiert im Gestank verbrannten Fleisches. Als der Prinz zurückkehrt, lastet Müdigkeit auf dem gesamten Palast. Die Blumen öffnen sich nicht, die Musikinstrumente schweigen, und die Frauen scheinen erschöpft zu sein.
Siddhartha meditiert über das, was er gesehen hat. Er hält Gopa in einem gewissen Abstand von seinem Bett. Trotz aller sinnlichen Ablenkungen gelingt es den Frauen nicht, ihren geliebten Prinzen seiner tiefen Meditation zu entreißen.
Eines Abends schläft Siddhartha ein, nachdem ihn Musiker und Tänzerinnen unterhalten haben. Mitten in der Nacht wacht er plötzlich auf und wird sich einer grauenvollen Szene bewusst. Die schläfrigen Frauen sehen wie Leichen aus. Die kostbaren Seidengewänder, die ihre verbrauchten Körper verhüllen, sind nichts weiter als farblose Stofffetzen. Ihre geöffneten Münder lassen ihre verfaulten Zähne sehen, ihre Köpfe sind kahl. Ihren Körpern entströmt ein schrecklicher Gestank. Siddhartha eilt zu Gopas Zimmer. Sie hat sich nicht verändert. Ihr Körper und ihr Antlitz strahlen wie immer.
In jener sternklaren Nacht verlässt Siddhartha den Palast auf einem Schimmel. Er durchquert das schlafende Dorf und lässt es rasch hinter sich. Nahe dem Fluss Anoma, am Rande des Königsreiches, steigt er bei Tagesanbruch vom Pferd und tauscht seine königlichen Gewänder gegen die Lumpen eines Jägers ein. Dann schneidet er seine Haarflechte mit einem einzigen Schwerthieb ab. In die Luft geschleudert, fliegt sie gen Himmel und verschwindet.
Befreit von den Fallstricken sinnlichen Vergnügens und der Reichtümer, wendet sich Siddhartha in Richtung Ganges. Er durchquert Urwälder, Wüsten und Äcker. Sein Geist, nun frei von jeglicher Erinnerung, öffnet sich für eine neue Glückseligkeit.
Nach mehreren Reisetagen erreicht er den Ort Vaishali, wo er den Lehren eines berühmten Brahmanen, Alara Kalama, lauscht. Als er die scharfsinnige Doktrin des Philosophen vernimmt, in der alles seinen festen Platz hat, fordert er seine Lehren heraus:
„Du hast mein Herz in keiner Weise durchdrungen, denn ich habe darin weder Mitgefühl für das Leiden noch einen Weg gefunden, es zu heilen. Ich suche die Befreiung des Menschen, und du, du kümmerst dich nicht einmal um die Notlage des Menschen. Du trachtest allein nach Macht. Nur die Unterwerfung der Götter ist dir wichtig.“3
Später begegnet er einem Weisen, den die Gläubigen aus ganz Asien aufsuchen und dessen Schüler ihn als die Inkarnation von Rama betrachten. Nachdem Siddhartha seinen Lehren gelauscht hat, spricht er zu dem Weisen Uddaka:
„Ich bin überzeugt, verehrter Meister, dass der Weg, den du darlegst, mich nicht dazu führen wird, den weltlichen Verlockungen gleichmütig gegenüberzustehen, mich von den Leidenschaften zu lösen oder die Heiterkeit der Seele zu erlangen. Ich werde darin kein Ende der Wechselfälle des Seins finden. Daher muss ich weiterziehen, bis ich den wahren Weg finde.“4
Fünf Männer folgen Buddha in dem Wissen, dass dieser Asket sie dem Jenseitigen zuführen wird. Da er noch nicht Erleuchtung erlangt hat, zieht er sich entschlossen in eine Höhle nahe Rajagriha zurück. Die Tiger, Geier und Schlangen dieser Gegend vergessend, stürzt er sich in eine solch strenge Askese, dass es ihn fast das Leben kostet. Des Wartens auf eine noch nicht formulierte Lehre müde, verlassen die fünf Gefährten Buddha und spotten über sein Vorhaben. Der Weise zieht weiter in die Gegend von Uruvela, deren liebliche Landschaft und grünen Wiesen zwischen den beiden Flüssen Nairanjana und Mohana im krassen Gegensatz zu der Kargheit der Höhle stehen. Eines Tages begegnet er einem Zitherspieler, der eine der Prinzipien seiner späteren Lehre inspiriert. Eine zu fest gespannte Saite wird brechen und eine zu lockere Saite nicht richtig schwingen. Die genaue Einstellung liegt in der Mitte. Das Gleiche gilt für den Körper. Strenge Askese wird ihn zerstören. Übermäßiges Vergnügen wird ihn daran hindern zu schwingen. Der wahre Weg ist der mittlere Weg.
Sobald Buddha sich von der strengen Enthaltsamkeit, die ihn beinahe den Tod gekostet hätte, erholt hatte, durchwandert er verschiedene Regionen.
Einem günstigen Vorzeichen folgend, wählt er einen Feigenbaum, unter den er sich am Ende des Tages niederlässt, und beschließt, an diesem Ort zu sterben, falls seine Meditation nicht dazu führt, das Leiden zu beenden. Die Waldtiere, von denen nur die Augen am Rande der Lichtung zu sehen sind, beobachten den Weisen. Alles ist verstummt und verharrt bewegungslos. Das gesamte Universum erwartet die Offenbarung Buddhas, der auf kühlem Gras sitzt, das unter ihm gewachsen ist.
Dort erlebt er die dämonischen Kräfte von Mara, der ihn zu verleiten sucht, seiner Aufgabe abzuschwören. Warum die Welt retten? Genügt es nicht, dich selbst zu retten? Da alle seine Kräfte die Entschlossenheit des Asketen nicht zu brechen vermögen, schickt Mara ihm Kama, den Gott sinnlichen Begehrens, der ihm die Schönheit seiner eigenen Töchter anbietet.
Angesichts dieser nicht wankenden Entschlossenheit entfesselt Mara einen fürchterlichen Sturm mit heftigem Regen, Donner und Blitz, um die Meditation zu stören. Meteoriten fallen vom Himmel. Pfeile verwandeln sich in Blumen, ehe sie um den Asketen herum niederfallen.
Während der ersten Nacht sieht der Weise fünfhundertfünfzig frühere Existenzen. Jede wird in den Jataka-Märchen erzählt, einer in Asien sehr populären Geschichtssammlung, derer man sich bedient, um Kinder in die Lehren des Buddhismus einzuführen:
„Vor langer Zeit, als König Brahmadatta in Varanasi regierte, wurde der Bodhisattva in einer Bauernfamilie wiedergeboren. Als Erwachsener verdiente er seinen Lebensunterhalt als Bauer.
Zu jener Zeit gab es einen Händler, der seine Waren auf einem Esel zum Markt brachte. Hatte er einen bestimmten Platz erreicht, befreite er das Tier von seiner Last, bedeckte es mit einem Löwenfell und entließ es in die nahegelegenen Reis- und Gerstenfelder.
Beim Anblick des Esels riefen die Arbeiter auf dem Feld:
„Es ist ein Löwe!“ Und sie wagten nicht, sich ihm zu nähern.
Eines Tages kochte der Händler am Dorfrand sein Morgenmahl, bedeckte den Esel mit dem Löwenfell und entließ ihn in das Gerstenfeld.
Die Arbeiter, die ihn für einen Löwen hielten, wagten nicht, sich ihm zu nähern. Sie rannten davon, um die Dorfbewohner zu warnen. Diese bewaffneten sich, bliesen ins Horn, schlugen die Trommel und machten viel Lärm, als sie zurück zum Feld liefen.
Der zu Tode erschrockene Esel begann zu schreien. Als er sah, dass es ein Esel war, verkündete der Bodhisattva seine erste Stanze:
Es ist weder der Schrei eines Löwen,
Noch eines Tigers oder Panthers!
Gekleidet in ein Löwenfell,
Ist es ein armseliger Esel, der schreit.
Die Dorfbewohner erkannten, dass es ein Esel war, und als sie ihm mit Knüppelschlägen die Knochen gebrochen hatten, blieb ihnen nur noch das Löwenfell.
Als der Händler hinzukam und seinen Esel im Sterben liegen sah, verkündete er seine zweite Stanze:
Dieser Esel vermochte lange Zeit
Die grüne Gerste abzugrasen,
Gekleidet in ein Löwenfell.
Aber sein Aufschrei führte ihn in sein Verderben.
Bei diesen Worten verendete der Esel, und der Händler ging davon.“5
In der zweiten Nacht entdeckt Buddha die Komplexität des Universums. Er sieht die Galaxien, die verschiedenen Sonnen, Raum, Zeit, Materie und die Leere, aus der es hervorging. Er sieht riesige verlöschende Körper, Meteoren, Kometen, lebende Sterne und tote Sterne. Wie sich ein Regenbogen am Himmel entfaltet, so entfalten sich vor ihm die Unendlichkeit der Zeit, die Vergangenheit und die Zukunft, die kosmischen Perioden der Evolution und des Verfalls. Der Lebenszyklus erscheint ihm auf kosmischer Ebene. Er sieht den Tod Leben, die Dunkelheit Licht hervorbringen und die unbestimmte Form in der Kontinuität der Wiedergeburten.
Im Laufe der dritten Nacht erkennt er deutlich das Naturreich und seine Gesetzmäßigkeit. Die Zerstörung von Leben, um Leben zu bewahren. Was ihm einst sein Vater zeigte, als der Pflug sich durch das Erdreich grub, sieht er nun in einem anderen Licht. Die Löwin, die eine Gazelle reißt, um ihre Jungen zu ernähren, handelt in Harmonie mit der eigenen Natur. Der Vogel, der den Wurm frisst, und die Schlange, die ein kleines Säugetier verschlingt, handeln ihrer eigenen Natur nicht zuwider.
Während der vierten Nacht ergeben sich aus den vorangegangenen Visionen neue Bilder. Sie offenbaren das Leiden, eine Folge menschlichen Daseins, untrennbar begleitet von der Wahrnehmung. Er sieht die Furcht des Menschen vor seiner eigenen inneren Natur. Indem er dem Leiden zu entfliehen sucht, frönt der Mensch sinnlichem und geistigem Vergnügen und schafft dadurch nur noch größeres Leid. Seine Suche gilt allein einem einzigen Ziel, der Befreiung vom Leid. Die Wege, die er wählt, sind oberflächlich. Selbst wenn er sich der Religion hingibt, findet er keinen Frieden. Dann offenbaren sich Buddha die Vier Edlen Wahrheiten.
1. Unheil ist die Beziehung von Körper, Geist und Bewusstsein, aus der die trügerische Sicht der Welt hervorgeht.
2. Der Ursprung des Unheils ist das Schicksal, die Ursache der Wiedergeburt.
3. Das Ende des Unheils wird erreicht, wenn das Verlangen aufhört.
4. Das Leben, das zum Ende von Unheil führt, ist das des Achtfachen Pfades: Rechte Sichtweise, rechte Gesinnung, rechte Handlung, rechtes Reden, rechter Lebenswandel, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit, rechte Sammlung.
Erneut durchlebt Buddha die Zwölf Hindernisse, die Leiden verursachen. Den umgekehrten Weg nehmend, zeigt er den Pfad der Befreiung.
Der Pfad vollkommener Befreiung liegt vor ihm. Der Buddha versinkt in höchste Ekstase. Die Erleuchtung bedeutet, von Leid und Wiedergeburt für immer befreit zu sein.
Die Erde erzittert zwölf Mal. Ein Atemhauch durchdringt die Welt, und ein Licht lässt sie aufleuchten. In diesem Augenblick findet alles unrechte Handeln sein Ende. Jeder nimmt ein inneres Licht wahr. Die Tierwelt verharrt in Frieden, und während die Gottheiten jubeln, wehklagen die Dämonen. In ihrem Palast weiß Gopa, dass der Prinz die höchste Befreiung erlangt hat.
In Verzückung versunken, bleiben Körper und Bewusstsein des Buddha sieben Wochen lang vollkommen unbewegt. Doch die boshaften Gottheiten versuchen ihn bereits, seine Lehre aufzugeben. Er hat sein Ziel erreicht, warum also auf dieser Erde bleiben, um eine Botschaft der Befreiung zu verkünden? Nirvana wartet auf ihn!
Nach neunundvierzig Tagen beendet Buddha seine Meditation und beschließt, der Welt das Geheimnis der Befreiung zu verkünden. Auf der Suche nach einem Mann mit einem fähigen Geist, alles zu begreifen, denkt er an den Weisen Alara, dessen Lehre er gefolgt war. Er muss feststellen, dass dieser nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es fallen ihm die fünf Schüler ein, die ihn sechs Jahre lang treu begleitet hatten. Sie halten sich im Deer Park, in Benares, auf.
Sie begrüßen ihn kühl. Hat er irgendetwas gelernt? Seine Worte lassen sie schließlich seine Einfachheit erkennen. Sie öffnen sich für das Licht.
„Ich bin der Heilige, der Vollkommene, der höchste Buddha. Hört auf mich, oh Mönche! Der Weg der vollkommenen Befreiung wurde gefunden.“ Er offenbart ihnen die Vier Edlen Wahrheiten, den Achtfachen Pfad und die Hindernisse von Ursache und Wirkung.
Dort, im Deer Park, in Benares, verkündet Buddha zum ersten Mal seine Lehre. Tag und Nacht versammeln sich die Anhänger, um dieser bahnbrechenden Botschaft zu lauschen.
Bald folgen Buddha sechzig Schüler. Er verlässt Deer Park und macht sich auf den Weg nach Uruvela. Unterwegs legt er drei Musikern seine Lehre dar, die ihn fortan begleiten und seine Predigten mit erbauender Musik untermalen. Schenkungen von Laien ermöglichen die Errichtung eines Standortes in Sarvasti und in Rajagriha, von denen aus Buddha und seine Schüler die Lehre unermüdlich im Norden und Süden verbreiten.
Im Laufe seiner vierzigjährigen Lehrtätigkeit wächst die Zahl seiner Schüler. Von Dorf zu Dorf und begleitet von wundersamen Heilungen, führt der Buddha die Menschen, die ihm zuhören, zum Verständnis der Leerheit der Welt und der Leerheit der Phänomene. Mit fortschreitender Entwicklung seiner Schüler erläutert und vertieft er seine Lehre, was seinen Höhepunkt in den Konzentrationsund Meditationsübungen findet. Für jene, die ihm zuhören, formt er das reinste Instrument, dessen sich der Mensch für seine Befreiung bedienen kann. Er offenbart das Gesetz der meditativen Praktiken, denen er sich selbst hingibt. Der beachtliche Erfolg, den der Erleuchtete erlangt, erregt Hass und Neid. Devadatta, unglücklich über seine Niederlage in jenem Wettstreit, der der Heirat von Gopa und Siddhartha vorausging, strengt sich besonders stark an, den Meister zu verunglimpfen. Seine Bemühungen schlagen fehl. Er versucht, den Buddha zu töten, indem er einen wilden Elefanten auf ihn loslässt, der die Schädel der zum Tode Verdammten zu zertrümmern pflegte. Auf ein Zeichen des Weisen beruhigt sich das Tier. Devadatta versucht es auf verschiedene andere Weisen, aber jedes Mal erfolglos.
Er ist nicht der einzige Feind Buddhas. Die Jainisten bekämpfen den Buddhismus, der sich parallel zu ihrer Religion entwickelt.
Eines Tages erhält der Vollkommene eine Nachricht, dass sein Vater befürchtet zu sterben, ohne seinen Sohn nochmals gesehen und von dessen Lehre profitiert zu haben. Begleitet von zahlreichen Schülern, macht sich Buddha nach Kapilavastu auf. Zwanzigtausend nähern sich dem kleinen Königreich. Herausgeputzt erwartet das Dorf die Rückkehr des Prinzen, der die letzte Strecke in der Luft zurücklegt. Die Menge erwartet einen irdischen König und sieht sich stattdessen einem ärmlich gekleideten Mann gegenüber, ermüdet von einem Leben des Lehrens und einer mühsamen Reise. Die Erscheinung seines Sohnes beunruhigt selbst den König. Allein Gopa begreift die Herrlichkeit ihres Ehemannes. In der Nacht, in der sie ihn wiedersieht, wird ihr Erleuchtung zuteil, ohne dass Buddha ihr seine Lehre offenbaren muss. (In den Anfängen des Buddhismus geschah eine solche Übertragung recht häufig. Den Tibetern zufolge ereignet sie sich in außergewöhnlichen Fällen auch heute noch, wenn Meister und Schüler in derselben Leerheit miteinander verbunden werden.) Buddhas Sohn wird ebenfalls in die Lehre eingeführt. Nach und nach entsagen auch die anderen Prinzen den künstlichen Freuden des Hoflebens, um dem Weg des Weisen zu folgen. Das Volk lauscht seinen Lehren. Viele werden vom Licht berührt. Der Buddha nimmt Frauen in die Gemeinschaft auf und setzt strenge Regeln für sie fest. Bevor er Kapilavastu verlässt, formuliert er das Gesetz der Fünf Paramita, das seine Schüler beachten müssen:
„Seid mitfühlend und respektiert alles Leben, sei es noch so winzig. Erstickt in euch Hass, Gier und Groll.
Gebt und empfangt frei, aber nehmt nichts zu unrecht durch Gewalt, Betrug oder falsche Aussagen.
Lügt niemals, selbst nicht in Situationen, die es zu rechtfertigen scheinen.
Vermeidet Drogen und Getränke, die den Geist beunruhigen.
Respektiert des anderen Frau und begeht keine unrechtmäßigen sexuellen oder unnatürlichen Handlungen.
Dies sind die fünf täglichen Lebensregeln für euch.“
Nach vierzigjähriger Lehrtätigkeit fühlt sich der einundachtzigjährige Buddha erschöpft, lehrt aber trotz einsetzender Krankheit weiter. Nahe der kleinen Ansiedlung Kushinara legt er sich zwischen zwei allein stehenden Bäumen mitten auf dem Feld nieder. Ein Schmied bereitet für Buddha und die Mönche ein Mahl. Zu Ehren des Weisen serviert er diesem Fleisch. Es heißt, dieses Essen habe den Tod des Meisters herbeigeführt. Buddha fühlt sein Ende nahen und bleibt allein mit Ananda, seinem Lieblingsschüler. Dies sind seine letzen Worte, die im Mahaparanirvanasutra wiedergegeben sind:
„Fürwahr, der Gesegnete sprach zu dem ehrwürdigen Ananda: „Oh Ananda, denke nicht, wir haben nicht länger das Wort unseres verstorbenen Meisters und den Meister. Oh Ananda, ziehe Derartiges nicht in Betracht. Die Lehre und die Disziplin, die ich euch gelehrt und erläutert habe, werden euer Meister sein, wenn ich gegangen bin. Zudem, oh Ananda, werden sich die Mönche nach meinem Dahinscheiden nicht mehr verbeugen und sich gegenseitig „Freund“ nennen, wie dies heute der Fall ist. Ein junger Mönch wird von einem älteren Mönch mit seinem Vor- oder Familiennamen oder der Bezeichnung „Freund“ angeredet werden. Ein älterer Mönch muss von einem jüngeren mit „Ehrwürdiger“ oder „Herr“ angesprochen werden. Falls die Gemeinschaft es wünscht, kann sie nach meinem Dahinscheiden die untergeordneten oder geringfügigen Regeln abschaffen, oh Ananda.“
Dann wandte sich der Gesegnete an die Mönche: „Außerdem, oh Mönche, wenn einer unter euch noch an Buddha, der Lehre, der Gemeinschaft, dem Weg oder Pfad zweifelt, so fragt mich, damit ihr es später nicht bereut, und sprecht:
„Als unser Meister noch hier war, haben wir uns nicht getraut, ihn von Angesicht zu Angesicht zu fragen.“
Die Mönche schwiegen. Dreimal forderte der Gesegnete sie auf. Dreimal schwiegen sie, und er fragte:
„Hindert euch der Respekt vor dem Meister daran, ihn infrage zu stellen, und redet ihr lieber mit einem eurer Gefährten?“
Die Mönche schwiegen erneut. Da sprach der ehrwürdige Ananda zu dem Gesegneten:
„Es ist wunderbar, Ehrwürdiger, es ist erstaunlich, Ehrwürdiger! Welches Vertrauen setze ich in diese Mönchsgemeinschaft! Kein einziger Mönch hegt Zweifel oder Unsicherheit in Bezug auf Buddha, die Lehre, die Gemeinschaft oder den Weg oder Pfad.“
„Das Vertrauen, das du zum Ausdruck bringst, oh Ananda, ist dem Wissen des Tathagata untergeordnet. Es gibt wahrhaftig keinen Mönch in dieser Gemeinschaft, der Zweifel an dem Buddha, der Lehre, der Gemeinschaft oder dem Weg oder Pfad hegt oder sich unsicher fühlt, weil der letzte der fünfhundert Mönche in die Wahrheit eingedrungen ist. Das Gesetz der Wiedergeburt hat ihn in die Unzufriedenheit geführt, weshalb er an dem Weg der Befreiung festhält und als einziges Ziel das vollständige Erwachen verfolgt.“
Dann sprach der Gesegnete zu den Mönchen:
„Nun, oh Mönche, sage ich euch dieses: Die Kräfte des Selbst sind der Auflösung unterworfen. Strebt eifrig danach, euer Ziel zu erreichen!“
Dann ging der Gesegnete ein in die erste Versenkung, gefolgt von der zweiten … der dritten … der vierten Stufe … in den unendlichen Raum… das Reich grenzenloser Bewusstheit … das Reich der Auslöschung… das Reich, in dem es die Wahrnehmung weder gibt noch nicht gibt … das Reich, in dem Empfindung und Wahrnehmung aufhören.
Da fragte der ehrwürdige Ananda den ehrwürdigen Anuruddha:
„Ehrwürdiger Anuruddha, ist der Gesegnete vollständig ausgelöscht?“
„Nein, Freund Ananda, der Gesegnete ist nicht vollständig ausgelöscht. Er hat die Stufe erreicht, auf der Empfindung und Wahrnehmung ein Ende finden.“