ISBN: 978-3-99074-104-7
2. Auflage 2020, Marchtrenk, Österreich
© 2020 Verlag federfrei
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Umschlagabbildung: am, Adobe Stock
Lektorat: S. Bähr
Alle Rechte vorbehalten.
Personen und deren Handlungen sind frei erfunden. Sollte Ihnen, liebe LeserInnen doch einiges bekannt vorkommen, zeigt das nur, dass Sie über mehr Fantasie verfügen als ich.
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Der Ort Klein Schiessling, im niederösterreichischen Weinviertel an der Grenze zum Waldviertel gelegen, ist in letzter Zeit ein besonders gut gedüngter Boden für unnatürliche Todesfälle.
Liegt es am Klima, liegt es an der Mentalität der Bevölkerung, liegt es daran, dass Klein Schiessling am vor Jahrmillionen ausgetrockneten Urmeer liegt und dieses negative Strahlen aussendet, oder liegt es womöglich an der radioaktiven Granitmasse, die den Ort teilweise umgibt? Die umliegenden Weinberge können es doch nicht sein. Oder?
Alles unlogische Vermutungen, denn diese Gegebenheiten existieren, soweit man zurückdenken kann, die Todesfälle jedoch erst seit den letzten Jahren. Kein Mensch weiß Genaueres. Fest steht nur, dass es sich jedenfalls so und nicht anders verhält. Zu viele auf unnatürliche Weise ums Leben gekommene Einwohner des Ortes werden verzeichnet.
Statistisch gesehen, wurden in den letzten fünfzehn Jahren grad einmal sieben über Neunzigjährige, neun zwischen Achtzig- und Neunzigjährige und vier im siebzigsten Lebensjahr auf dem Klein Schiesslinger Friedhof feierlich zu Grabe getragen. Das gibt doch zu denken, wenn dagegen in knapp einem Jahr gleich fünfeinhalb Leichen das Konto der Todesfälle aufpeppen. Da muss man sich schon fragen, woher auf einmal der ungesunde Wind weht.
Was ist passiert?
Sind die Dörfler von Klein Schiessling ihren Mitmenschen gegenüber kritischer geworden und expedieren alle unliebsamen Zeitgenossen, die ihnen nicht in den Kram passen, brutal ins Jenseits? Oder grassiert zurzeit ein heimtückischer Ausrottungsvirus, der von der Wissenschaft bis heute nicht entdeckt wurde?
Wie man es dreht und wendet, die unnatürlichen Todesfälle sind mehr als bedenklich, zumal sie sich ausgerechnet nur auf diesen einen Ort beschränken. Kein einziger, nicht auf natürliche Weise zustande gekommener Todesfall ist in einem anderen Ort der Region während des letzten Jahres aufgetreten. Einzig und allein in Klein Schiessling! Und egal, was der Auslöser dafür ist, Tatsache bleibt, dass es in knapp einem Jahr fünf ganze und einen halben solcher unnatürlichen Todesfälle gegeben hat, deren Opfer gezwungenermaßen vor Ablauf ihrer Zeit »gegangen wurden«. Wohin auch immer.
Jeder einzelne Bewohner ist froh darüber, selber verschont geblieben zu sein und sich des Lebens erfreuen zu dürfen. So ganz nach dem Motto: Heiliger Florian, schütz unser Haus, zünd andre an.
Hingegen ist den Lokalpolitikern dieses Massensterben nicht egal, bekommen sie doch von der Bundesregierung pro Einwohner einen finanziellen Zuschuss, der verständlicherweise durch diese unerklärlichen gewaltsamen Reduzierungen der Menschenmasse immer weniger wird! Wie soll man einen Ort wie Klein Schiessling zur Zufriedenheit aller Einwohner verwalten, wenn dazu das nötige Kleingeld fehlt? Natürlich auch das Großgeld.
Dem Dorfboss von Klein Schiessling, Alfons Pummerl, stehen vor Verzweiflung die wenigen Haare zu Berge, was ihm aber nicht unbedingt schadet, wird er doch dadurch um ein paar Zentimeter größer, und das hat er bitter nötig. In die Breite hingegen dürfte er nicht mehr wachsen. Da ist genug Material vorhanden!
Auch Pummerls Gemeinderäte sind wegen dieser beunruhigenden Ereignisse hilf- und ratlos wie er selber.
In den letzten Wochen ist sogar die österreichische Bundesregierung zusammengetreten, um in einer eigens dafür abgehaltenen außerordentlichen Sitzung krampfhaft zu überlegen, wie man diesen enormen Anstieg des unnatürlichen Ablebens in Zukunft verhindern oder wenigstens eindämmen könnte. Sollte man vielleicht mehrere der Polizeiwachstuben, welche unverständlicherweise in den letzten paar Jahren geschlossen wurden, neuerlich einrichten oder sogar noch zusätzliche Posten schaffen? Könnte man eventuell die Lokalpolitiker auffordern, ihre Schäflein besser unter Kontrolle zu halten? Alles Fragen über Fragen ohne die dazugehörigen Antworten. Es herrscht pure Ratlosigkeit!
Vielleicht ist es ja ein Wink des Schicksals, und die Bevölkerung von Klein Schiessling wurde dazu auserkoren, ihr Scherflein zur Minderung der Menschenmasse auf unserem überbevölkerten Planeten beizutragen. Jedoch auch darauf hat im Moment keiner der Verantwortlichen eine passende Antwort parat. Das darf einen aber nicht wundern! Müssen unsere Politiker sich doch tatsächlich mit weit wichtigeren Dingen, wie zum Beispiel den Aufschriften auf Seifenspendern, Zahnpastatuben und Taschentüchern, ernsthaft befassen. Lediglich ein Einziger der Landeshauptmänner ist der festen Überzeugung, dass dieses Gemetzel in Klein Schiessling sicher bald von selber aufhören wird. Er sei guten Mutes. Das hat er zumindest in den Medien groß verkündet.
Ob der sich da mal nicht getäuscht hat!
»Wisst’s schon das Neueste? In unser altes 10er-Haus wird ein Künstler einziehen!«
Annerl Passer, die ehemalige Postbotin und amtlich anerkannte Dorftratschen von Klein Schiessling, sitzt, umringt von Hedwig Uhudler, Berta Pitzer und Sandra Weber, das bin ich, in der Eggenburger Bäckerei beim Kaffee. Jede haben wir einen Großen Braunen vor uns stehen und lauschen neugierig dem, was unsere Annerl gerade aufgeregt erzählt.
»Ein Künstler? Ins alte 10er-Haus? Geh, Annerl«, frage ich sie etwas verwundert, »woher willst denn du das schon wieder wissen?«
»Na, g’hört hab ich’s halt! Von der Liesel, unserer Pfarrersköchin. Der hat’s die Pfarrersköchin aus Grasdorf erzählt.«
Annerl Passer ist weit über siebzig Jahre alt, klein, überschlank, schon leicht verhutzelt, und seit ihr Mann vor vielen Jahren gestorben ist, trägt sie schwarze Kleidung. Das ist praktisch, meint sie, wenn man sie danach fragt. Und obendrein passt Schwarz zu einer Witwe in ihrem Alter besser. Das verkündet sie jedem, der es hören will, oder auch nicht.
»Ja, wirklich«, betont sie energisch. »Die Grasdorfer Pfarrersköchin erzählt’s doch überall herum!«
Grasdorf liegt ein paar Kilometer von Klein Schiessling entfernt und gehört zum Bezirk Horn. Es schmiegt sich an einen Berghang und ist stolzer Besitzer einer Burgruine. Diese diente im Mittelalter den Rittern als Behausung. Sie war natürlich damals in einem weit besseren Zustand als heute, ist weithin sichtbar und somit das Wahrzeichen der Marktgemeinde Grasdorf. Eine Kirche ziert den Hauptplatz, der wöchentlich einen gut besuchten Viktualienmarkt beherbergt. Von Honig über Schnäpse bis hin zu selbst gemachten Seifen ist dort alles erhältlich. Ebenso warme Unterhosen für den Winter und leichte T-Shirts für den Sommer. Mit einem Wort, alles, was Mann oder Frau braucht.
Nicht nur Annerl Passer ist eine Dorftratschen, sondern auch die Liesel, unsere Pfarrersköchin. Und wie man jetzt hört, auch die Pfarrersköchin von Grasdorf. Wahrscheinlich trifft das auf alle anderen Pfarrersköchinnen ebenfalls zu.
»Der Künstler ist angeblich ein berühmter Maler und wohnt am Ortsrand von Grasdorf in einem alten Bauernhaus, das er vor einigen Jahren von seinem Onkel geerbt hat. Und jetzt will der zu uns nach Klein Schiessling ziehen. Was sagt’s da dazu?« Annerl Passer verdreht zuerst ihre Augen, dann ihren Kopf und ist total empört über die Anmaßung dieses Künstlers, in unseren schönen Ort ziehen zu wollen.
»Und warum grad zu uns?«, will Hedwig wissen.
»Weil er unser altes 10er-Haus einmal gesehen hat und es hat ihm angeblich gefallen. Aber wahrscheinlich eher deshalb, weil er sich in Grasdorf unmöglich gemacht hat. Die Liesel hat erfahren, dass der dort nur noch Feinde hat und es deshalb für ihn besser ist wegzuziehen. Was glaubt’s denn ihr, was der dort alles aufg’führt hat?! Mit Gott und der Welt hat der sich zerstritten. Die Grasdorfer hat er alle als Trottel bezeichnet. Sie sind rückständig, hat er g’sagt, und dass das ganze Dorf in der Steinzeit lebt!«
Jetzt muss unsere Dorftratschen erst einmal tief Luft holen, während Berta Pitzer dazu meint, dass das ja fürchterlich sei.
»Ein Künstler? Und so ein Streithansel?«
»Ist ja schrecklich!« Auch Hedwig Uhudler gibt sich äußerst ablehnend, obwohl ich glaube, dass die drei Weiber bisher noch nie näheren Kontakt mit der Spezies Künstler hatten.
»Was habt’s denn alle gegen Künstler?«, mische ich mich deshalb ein, »das sind doch auch nur Menschen.«
Ich versuche, ihnen zu erklären, dass die meisten Künstler sehr sympathische Leute sind, werde aber sofort von Annerl stürmisch unterbrochen.
»Sympathisch? Sympathisch? Der und sympathisch?«
Sie ist zwar unsere größte Klein Schiesslinger Dorftratschen und weiß alle Neuigkeiten, die wir ihr auch gerne glauben, aber dass jemand in das halb verfallene 10er-Haus einziehen will, noch dazu ein Künstler, wundert mich jetzt schon ein bisserl. In dem Haus steht doch kaum eine Wand gerade, und das Dach ist auch mehr als desolat. Beim leisesten Lüftchen hat man Angst, es könnte einem ein Ziegel auf den Kopf fallen. Von den Fensterscheiben gar nicht zu reden, die alle im Laufe der letzten Jahrzehnte, in denen sich niemand um das alte Haus gekümmert hat, aus den Rahmen gefallen sind. Wahrscheinlich ist die Bude innen genau so mies wie außen.
Ich möchte weder die Wasserleitungsrohre noch die elektrischen Leitungen sehen. Und da will einer einziehen, der keine Millionen auf der hohen Kante hat? Künstler zählen für mich ja nicht unbedingt zu dieser Kategorie. Die meisten von ihnen halten sich gerade einmal über Wasser, oder sie sind Angeber und sammeln neben unverkauften Bildern auch jede Menge Schulden.
»Und du weißt ganz genau, dass der Künstler in das alte Haus einziehen will?«, frage ich noch einmal nach. »Das gehört doch von Grund auf saniert. So, wie das jetzt dasteht, kann man doch nicht drin wohnen!«
Alle nicken zustimmend.
»Ein Künstler! Und ein Maler noch dazu!«
Berta Pitzer schüttelt ungläubig ihren Kopf und wendet sich Annerl Passer zu. »Und weißt du, Annerl, was der so malt?«
»Na, Farbe schmiert er halt auf irgendwas drauf«, platzt sie heraus und wundert sich über Bertas naive Frage.
»Was soll denn ein Maler sonst machen außer Farbe verschmieren?«
Sie wirft uns einen belehrenden Blick zu, wir schauen uns total belämmert an und wundern uns. Nicht nur über Annerl Passer, sondern auch über den Künstler, den es ausgerechnet zu uns nach Klein Schiessling ziehen soll.
»Und weißt du, wie dieser Künstler heißt, Annerl?«, frage ich nach einer Weile. Denn das würde mich jetzt schon brennend interessieren. Schließlich kenne ich viele Künstler, aber keinen aus Grasdorf. Annerl hört meine Frage, setzt sich kerzengerade auf, trinkt einen Schluck von ihrem Großen Braunen und schaut mich herausfordernd an.
»Natürlich weiß ich das! Was glaubst du denn, Sandra? Hat mir die Liesel erzählt. Ganz Grasdorf regt sich über den auf. Ein Ungustl ist das. Studd heißt der. Studd, Damian.«
»Studd«, wiederhole ich leise. »Und wie schaut der aus, dieser Damian Studd?«, frage ich weiter und muss über den Namen lachen.
Annerl Passer runzelt ihre Stirn und denkt eine Zeit lang angestrengt nach, dann platzt sie heraus: »Wie ein Koffer ohne Henkel!«
Sie schreit uns das entgegen, und wir platzen vor Lachen.
»Stimmt doch!«
Annerl wundert sich über unsere Lachexplosion.
»Hat mir die Liesel genau so beschrieben. Sie hat g’sagt, sie hat ihn öfters g’sehn, wenn sie bei der Pfarrersköchin in Grasdorf auf einen Tratsch war. Der hat kurze Haxen, einen bladen Körper und einen Quadratschädel ohne Hals.«
Unser schallendes Gelächter dringt durchs ganze Lokal, und alle Gäste drehen sich zu uns um. Aber das ist uns im Moment egal. Wir lachen schallend weiter, bis uns die Tränen kommen. Danach kläre ich Annerl auf: »Annerl, man sagt nicht blad, man sagt untergroß!«
Unser Gelächter nimmt kein Ende, in das Annerl nun zaghaft einstimmt.
Unsere Dorftratschen lässt sich jedoch nicht irritieren. Sie will uns den Künstler näher beschreiben und fragt deshalb weiter, ob wir den Schauspieler Heino von der Gstetten kennen.
Im Moment weiß ich nicht genau, wen sie meint, doch dann fällt es mir ein.
»Du meinst den Heio von Stetten, Annerl?«
»Ja, genau den. Den Schauspieler halt.«
»Und was hat der damit zu tun, Annerl?«, will Hedwig wissen und fixiert dabei eine Fliege, die um ihr Kaffeehäferl kreist.
»Na, der ist fesch, groß, schlank und sehr sympathisch.«
»Und schon a bisserl überwuzelt«, wende ich ein.
»Aber mir g’fallt er«, entgegnet sie äußerst energisch. Sie ist stur wie immer.
Berta und Hedwig fragen neugierig weiter. »Ja, und? Was hat der mit dem Maler zu tun?«
»Nix! Aber wenn ihr euch jetzt genau das Gegenteil davon vorstellt’s, dann wisst’s ihr, wie der Studd ausschaut! Hat auch die Liesel g’sagt.«
Na sauber!
Im Laufe unseres Gespräches erfahren wir von Annerl auch noch, dass seine Frau ihm vor ein paar Jahren davongelaufen ist, was uns nach dieser Schilderung von dem Kerl nicht wundert.
»Und das alles hat die Liesel von der Grasdorfer Pfarrersköchin erfahren, Annerl?« Berta zweifelt an Annerls Schilderung. Hat sie doch ebenso wie ich niemals von einem Maler Damian Studd gehört.
»Ja, glaubt’s des nur und grinst’s mich nicht so deppert an. Die Liesel hat auch erzählt, dass der dauernd mit allen Leuten im Ort streitet. Zuletzt wollt er auf seinem Hausdach einen Riesenscheinwerfer montieren, damit er im Hof in der Nacht seine Bilder anstrahlen kann.«
»Hat denn der seine Bilder im Freien stehen?«, frage ich interessiert. »Der wird doch dafür einen Raum haben, und dann nützt ihm ein Scheinwerfer auf dem Dach überhaupt nix. Was macht er denn, wenn’s regnet oder schneit?«
»Was weiß denn ich.« Annerl geht nicht weiter auf meine Frage ein und erzählt weiter. »Die Nachbarn wären durch die Scheinwerfer in der Nacht beim Schlafen gestört worden. Und wozu, frag ich euch, will der seine Bilder anstrahlen?«
»Vielleicht, dass sie dann besser ausschauen?«, meint Berta.
»Vielleicht hat er eine Open-Air-Ausstellung geplant?«, werfe ich ein.
»Eine was?« Annerl schaut mich fragend an.
»Eine Open-Air-Ausstellung«, wiederhole ich.
»Und was ist des, eine Operner Ausstellung?«
Ich zerkugle mich schön langsam mit unserer Annerl. Dann kläre ich sie auf. »Das ist eine Ausstellung im Freien.«
»Aha! Und warum sagst das nicht gleich? Mir aber wurscht. Die Nachbarn wären trotzdem gestört worden.« Annerl greift nach ihrem Kaffeehäferl und nimmt einen Schluck, dabei funkelt sie uns über den Häferlrand an, bis Berta sie aus ihren Gedanken reißt.
»Wahrscheinlich schauen dem seine Bilder im Finstern eh besser aus als bei Tag!«
»Du meinst, unter dem Motto: In der Nacht sind alle Kühe schwarz?« Dieser alte Spruch rutscht mir raus, und wir lachen schon wieder.
»Wäre doch möglich, oder?«
Ich muss Berta recht geben. Heutzutage ist alles möglich! Wir blödeln noch eine Weile und nippen dabei an unserem Kaffee, bis Hedwig uns unterbricht.
»Studd heißt der?« Sie wiegt bedächtig mit ihrem Kopf. »Doch nicht der Studd, der kürzlich in einem Leserbrief in der Zeitung alle anderen Maler der Region als Deppen, Dilettanten und Nichtskönner hingestellt hat?«
»Genau der«, schreit Annerl uns schon wieder an. Das Pärchen am Nebentisch dreht sich neugierig zu uns um, und ich deute Annerl, etwas leiser zu reden.
»Der hat in dem Leserbrief behauptet, Melanie Kronberger kann nichts, hat keine Ahnung von Proportionen und kopiert schamlos andere Künstler. Und was Engelbert Mühl macht, grenzt an Dilettantismus«, erzählt Hedwig weiter. »Und dass diese Hobbykleckser nicht ausgebildet sind. Am Schluss in diesem Leserbrief bietet er den beiden und allen anderen, die auch nix können, einen Kurs in seinem Atelier an!«
»Das ist ja ein Affront!«, empöre ich mich über diesen Leserbrief und fahre mit der Hand durch meine nun nicht mehr richtig sitzende Frisur.
»Ein was für ein Aff in Rom?«
Unser Gelächter steigert sich.
»Kein Aff, und auch nicht in Rom, Annerl«, belehre ich sie. »Ein Affront! Das ist eine herausfordernde Beleidigung.«
»Ach so. Warum sagst dann immer was anderes, als du meinst?«
Hoffnungsloser Fall, unsere Dorftratschen!
Wir lachen, doch irgendwie bin ich leicht verärgert. Ja, was glaubt denn dieser Kleckser? Mit welchem Recht stellt er solche Behauptungen auf? Ich kenne die Arbeiten von Melanie Kronberger und Engelbert Mühl. Keine einzige dieser Anschuldigungen trifft zu. Ganz im Gegenteil!
»Warum hat er denn seine Künstlerkollegen zu Idioten gemacht?«, wirft Hedwig nachdenklich ein.
Ich überlege kurz, bevor ich ihr antworte. »Wahrscheinlich deshalb, dass er dann gescheiter dasteht.«
Hedwig schaut mich entsetzt an. »Der glaubt, wenn er die anderen Künstler als unbedeutend hinstellt, steigt dadurch seine eigene Bedeutung?«
Annerl verdreht bei Hedwigs Feststellung ihre Augen und stiert ungläubig in meine Richtung.
»Glaub mir, Annerl, so was gibt’s«, nicke ich ihr bestätigend zu.
Genau so ist das nun einmal. Wenn man besser sein will als alle anderen, muss man es entweder wirklich sein oder einfach die anderen schlechter machen. Ist doch ein alter Hut! Jedenfalls weniger anstrengend, als selber besser zu werden. Oder?
»Und jetzt will der zu uns ziehen!«
Berta schüttelt ihren Kopf über dieses Unglück, das nun bald über Klein Schiessling hereinbrechen wird.
Na, das kann ja heiter werden, denke ich bei mir. So einer in unserem schönen Ort. Ich schaue durchs Fenster auf die Straße. Das Grätzel, der Hauptplatz von Eggenburg, liegt vor mir, die alten Häuserfassaden werden von ein paar Sonnenstrahlen beleuchtet und erzählen ihre Geschichten aus dem Mittelalter. Sehr schön! Aber Klein Schiessling ist ebenso schön, nur halt ein bisserl kleiner. Deshalb heißt es ja auch Klein Schiessling und nicht Groß Schiessling.
»Vielleicht stimmt das ja gar nicht, Annerl«, wende ich nach einer Weile ein, »vielleicht hast dich nur verhört.«
»Na, na! Ganz bestimmt nicht. Ich hab g’hört, dass er sich schon nach dem Preis von dem 10er-Haus erkundigt hat. Außerdem erzählt er überall herum, dass er Grasdorf bald verlassen wird, weil des ohnehin ein Drecksnest ist mit lauter rückständigen Bauern.«
Wir sind empört.
»Und dann kommt der grad zu uns?«, wirft Hedwig verständnislos ein. »Der sollt besser in die Stadt ziehen, nach Wien vielleicht, dort fallt er weniger auf. Aber sicher nicht zu uns nach Klein Schiessling!«
Sie trinkt einen großen Schluck von ihrem Wasser, das hier immer zum Kaffee serviert wird, und redet weiter. »Aber wahrscheinlich kann er sich das große Haus ohnehin nicht leisten. Bevor er dort einziehen will, muss er doch alles herrichten. Das ist nicht grad billig.«
Hedwig denkt realistisch wie immer und ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.
»Da wär ja das Puff, das unser Bürgermeister Pummerl seinerzeit in dem Haus einrichten wollte, auch nicht schlimmer g’wesen«, meint Berta Pitzer jetzt. »Weil Künstler sind doch bekannt dafür, dass sie Orgien feiern und alles mögliche Zeugs rauchen und schlucken, sonst kriegen die nix auf ihre Leinwand!«
Wir schauen sie ungläubig an.
»Aber, um wie viel schlimmer, Berta, kann der denn sein als unsere Massenkillerin, die drei unserer bravsten Männer unter die Erde brachte? Und außerdem, wer schert sich schon um dem seine unqualifizierte Meinung? Diese Leserbriefe schreibt er doch nur, damit er auch einmal in der Zeitung erwähnt wird.«
Mein Einwand wird von den drei Weibern fortgewischt wie ein Kuchenbröserl vom Tisch. Sie lassen sich nicht davon abbringen, dass ein Künstler im Ort schon schlimm genug ist, dieser spezielle Kerl jedoch der Schandfleck der Nation. Wir diskutieren noch eine Weile über Vor- und Nachteile von Künstlern, dabei trinken wir unseren Kaffee aus, der in der Zwischenzeit kalt geworden ist. Die freundliche Serviererin kommt abkassieren, und wir machen uns auf die Socken. Die Wintersonne scheint noch immer auf den Hauptplatz und den eingemotteten Schanigarten vor dem Lokal, und es ist kalt. Aus der Blumenhandlung neben der Bäckerei duftet es nach Frühling, auf den wir jedoch noch eine Zeit lang warten müssen.
Leider!
Und weil Annerl mit Berta im Auto hergekommen ist, diese jedoch nach Horn weiterfahren muss, nehme ich Annerl in meinem Auto mit heim. Unterwegs erzählt sie mir dann weitere Schauergeschichten über diesen Studd, dass es mich wundert, dass den noch keiner abgemurkst hat. Das sage ich Annerl auch, und sie meint dazu, dass der in Klein Schiessling nicht lange leben wird. Was immer das auch heißen mag, es klingt gar nicht gut!
Und es klingt nach einer Mordsgeschichte.
Wir fahren an brachen Feldern und kahlen Weinbergen vorbei. Die mächtige Buche an der Wegkreuzung zum Nachbarort von Klein Schiessling hat zwar kein Laub mehr, aber ihr prächtiger Kronenaufbau, der jetzt besser zu sehen ist als im Blattschmuck, ist ein kleines Wunder der Natur. Ein richtiges Kunstwerk! Ich liebe Bäume, und ich liebe dieses Land!
»Immerhin ist unser schöner Ort jetzt sauber«, unterbricht Annerl meine Schwärmerei, »und wir lassen ihn uns nicht von so einem wieder beschmutzen!«
Vielleicht hat Annerl ja recht. Wenn der in Grasdorf so ungut aufgefallen ist, dass es für ihn besser ist, von dort wegzuziehen, wird er sich bei uns auch nicht liebenswerter zeigen.
Währenddessen tauchen vor uns die ersten Häuser von Klein Schiessling auf, und ich überlege, ob ich von diesem Damian Studd überhaupt schon jemals eine Arbeit gesehen habe. Während meiner Überlegungen sind wir vor Annerls Haus angelangt. Ich stelle mein Auto auf dem Gehsteig ab und helfe ihr beim Aussteigen, trage ihr die Tasche mit Brot, Semmeln und Mohnstrudel ins Haus und verabschiede mich.
»Pfiat di, Annerl!« Ich drehe mich um und gehe zurück zu meinem Auto.
»Ja, pfiat di! Willst vielleicht noch einen G’spritzten mit mir trinken, Sandra?«, ruft sie mir hinterher.
»Nein danke, Annerl, ich muss heim.«
Die Fahrt von Annerl ihrem Haus durch die Kellergasse ist leicht deprimierend, weil alle Nussbäume links und rechts der Straße kahl sind, schließlich ist es Anfang Dezember. Und ich mag den Winter überhaupt nicht. Am liebsten würde ich wie alle Igel einen ausgiebigen Winterschlaf halten und erst im Frühling mit den ersten grünen Blattspitzen wieder aufwachen. Aber leider bin ich kein Igel, und so muss ich irgendwie durch diesen blöden Winter kommen.
Daheim angelangt, setze ich mich gemütlich in meinen Wintergarten und schaue in den tristen Garten. Aber so trist ist er ja gar nicht, versuche ich mich selber zu trösten. Alle Rhododendren, Buchskugeln und Eibenhecken sind grün, der große Kirschlorbeer hat noch einige blaue Früchte, welche die Amseln vergessen haben abzuklauben, und ein bisserl Farbe hat die Wiese ja auch noch. Wenn’s jedoch erst einmal schneit und alles weiß ist, schaut’s wieder ganz anders aus. Aber schöner wird es für mich dadurch trotzdem nicht.
Und während ich über den bevorstehenden Winter sinniere, fällt mir ein, dass ich von diesem Damian Studd, dabei muss ich über den Namen neuerlich lachen, schon einmal Bilder gesehen habe. Ich glaube, es war bei einer Ausstellung in einem Heurigenlokal. Wo genau, fällt mir im Moment nicht ein. Ich erinnere mich nur ganz dunkel an eigenartige Farbkombinationen und grobe Pinselstriche. Auch die Motive waren fremd anmutend. Liegende Frauenakte mit derben Pinselstrichen gefühllos auf zahlreiche Leinwände aufgebracht, dunkles Magentarot mit Giftgrün, Grau und dazwischen schwarze Striche. Nicht gerade mein Geschmack, aber man muss allen Künstlern das Recht einräumen, das zu malen, was ihr Können zulässt und was sie selber für Kunst halten. Auch wenn’s den Betrachtern nicht gefällt. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten, doch ich glaube, mit meiner Meinung stehe ich nicht allein da.
Aber wurscht!
Schließlich steht in goldenen Buchstaben auf der Wiener Sezession, unserem »Krauthappel«:
Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit!
Und das sollte man schon respektieren!
Auch Damian Studd!
Ich setze mich an meinen Laptop und durchforste das Internet, ob ich irgendetwas von dem großartigen Künstler finde. Und ich werde fündig!
Na, prack!
Je mehr Bilder ich von ihm anklicke, umso mehr komme ich zu der Überzeugung, dass der selbst der größte Ab- und Nachmaler der Gegenwart ist. Alles, was er Melanie Kronberger vorwirft, macht er selber. In seinen Arbeiten, die er als seine Ideen anpreist, erkenne ich Frühwerke von Vincent van Gogh, nur leicht abgewandelt oder nicht so exakt hingekriegt. Begonnen von dessen Kartoffelessern bis hin zu seinen Blumenbildern. Und wie der kopiert! Ja, hat sie der noch alle? Hat der Kerl überhaupt keinen Genierer? Hat der keine eigenen Ideen? In seine letzten Bilder hat er ein paarmal den Simpl-Hund hineinkopiert. Das Logo vom Kabarett Simpl, obwohl dieser Hund gar nicht zum Rest des Bildes passt! Je länger ich diese Arbeiten studiere, umso mehr fallen mir Motive auf, die ich aus Werken anderer Künstler kenne und die sich unser selbst ernannter Oberkunstmaler schamlos einverleibt hat.
Ist ja toll!
Und genau dieses Plagiat wirft er in den Leserbriefen seinen Künstlerkollegen vor!
Ganz schön hinterhältig, der Kerl!
Und provokant!
Ich finde unter »Pressestimmen« einen Artikel aus unserer Wochenzeitung. Der Obermaler machte in Thailand Urlaub. Zwei Wochen. Und in diesen zwei Wochen will er, laut Zeitungstext, über fünfzig Bilder gemalt und mehr als hundert Gedichte geschrieben haben!
Fließbandarbeit sozusagen!
Man sieht ihn auf dem nebenstehenden Foto inmitten zierlicher, braun gebrannter Einheimischer, die seine umfangreiche Malerausrüstung schleppen. Er selber steht, Hände in den Hosentaschen einer überlangen Short und dämlich grinsend, daneben. Nichts könnte seinen miesen Charakter deutlicher beschreiben als dieses Foto!
Auf, ihr Lakaien! Schuftet für mich!
Auch Zeichnen dürfte nicht seine Stärke sein. Denn trotz Kopien hervorragender Werke kann man erkennen, dass er vom Zeichnen null Ahnung hat. Alles, was er seinen Kolleginnen und Kollegen vorwirft, ist seine eigene Unzulänglichkeit und Inkompetenz. Außer einer großen Klappe hat er, so, wie es ausschaut, nichts zu bieten. Er kann nicht einmal zeichnen, was doch die Grundlage jeder Malerei, auch der abstrakten, ist. Aber, muss man zeichnen überhaupt können? Genügt es nicht, einen Strich auf eine Leinwand zu setzen und starr zu behaupten, das sei ein Kunstwerk? Irgendwelche selbst ernannten Kunstpäpste finden sich immer, um so eine Arbeit hoch zu loben.
Obwohl man sagt: Kunst kommt von Können!.
Diesen Ausspruch, so erinnere ich mich plötzlich wieder, zitierte Studd damals bei seiner Ausstellung in dem Heurigenlokal. Und jetzt fällt mir auch wieder ein, wie er ausschaut. Annerl hat ihn ganz richtig beschrieben. Zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, nicht allzu groß, bullig, feistes Gesicht, Stiergnack, fast Glatze und löchriger Dreitagebart. Könnte auch ein Viertagebärtchen sein. Überhebliches, selbstsicheres Auftreten.
Mit einem Wort, viel Fassade und nix dahinter!
Genau so, wie unsere Dorftratschen ihn beschrieben hat.
Unsympathisch!
Der geniale Ausspruch, dass Kunst von Können kommt, enthält sicher einen tieferen Sinn, als der erste Anschein es vermuten lässt. Aber genau das hat Johann Nestroy widerlegt, indem er sagte:
»Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst.«
Auch richtig!
Nach Nestroys Worten wäre demnach dieser Studd ein wahrer Künstler!
Entschuldigung! Ich maße mir schon wieder ein Urteil an, das mir nicht zusteht … der Kunst ihre Freiheit!
Trotzdem sollte Kunst schon ein bisserl was mit Können zu tun haben. Es gibt viel mehr Menschen, als dieser Studd glaubt, die von Kunst was verstehen und diese auch beurteilen können.
In dem von Hedwig erwähnten Leserbrief hat dieser Kerl seine Künstlerkollegen ordentlich herabgesetzt, während er sich selbst zum Oberkunstmaler der Nation gekürt hat. Und das ist wiederum keine Kunst!
Das kann jeder.
Selbst der größte Depp!
Übrigens, einen Titel, den man sich selber aufsetzt, kann der nächste Regenguss schnell wieder runterwaschen, und dann steht man da wie ein begossener Pudel. Oder wie ein belämmerter Oberkunstmaler.
Und die Folgen aus dem zitierten Ausspruch hätte Oberkunstmaler Damian Studd sich auch nie und nimmer in seinem Leben vorstellen können. Wobei bemerkt werden muss, dass der Genannte sich offensichtlich überhaupt nicht viel vorstellen kann, was ihm bei seinem Beruf nicht gerade förderlich ist, denn Fantasie gehört allemal zu diesem Handwerk. Hätte er sich zum Beispiel vorgestellt, was die von ihm ständig beleidigten und herabgewürdigten Künstler möglicherweise eines Tages anstellen könnten, um sich nur ein bisschen für seine ungerechtfertigten und anmaßenden Nörgeleien an ihren Arbeiten zu rächen, hätte er wahrscheinlich eher seine Pinselspitze abgebissen und dazu alle seine Farben geschluckt, als einen dummen Spruch in das Gästebuch von Sonja Schönbichler, einer angesehenen und erfolgreichen Künstlerin, zu schreiben.
Und jetzt haben wir den womöglich bald bei uns in Klein Schiessling.
Na, super!
Uns bleibt nix erspart!
Es lebe die Kunst!