WOHLSTAND FÜR ALLE – WAS DIESES VERSPRECHEN HEUTE BEDEUTET

Ein Vorwort
von Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Einleitung

Der Titel dieses Buches ist heute noch Provokation, zumindest lädt er zu Missverständnissen ein. Provokation ist er für diejenigen, die mit Ludwig Erhard die Realpolitik seit der Währungsreform des Jahres 1948 verbinden, ihn als Protagonisten christdemokratischer, quasi regierungsamtlicher Wirtschaftspolitik sehen und dem programmatischen Wohlstand für Alle die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbesserungspotenziale der heutigen Zeit entgegenhalten – frei nach der Devise, der Wohlstand für alle sei eine Schimäre. Missverstehen würde man Erhard, wenn man ihn als Vertreter einer Sozialpolitik wahrnähme, der stärker umverteilen wolle, sodass die wirtschaftlich Schwächeren einen größeren Wohlstand erreichen können. Missverstehen würde man ihn außerdem, wenn man ihn als plumpen Ökonomisten einordnete, als jemanden, für den Wirtschaftswachstum das wichtigste aller Ziele sei.

Als Wohlstand für Alle im Jahr 1957 erschien, war die Erhard’sche Wirtschaftspolitik keine Provokation mehr. Erhard wurde vielmehr als Vater des deutschen Wirtschaftswunders und Begründer des deutschen Wirtschaftsmodells, der Sozialen Marktwirtschaft, gefeiert. Er hatte als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes noch vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1948 die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark umgesetzt. Angesichts der Rolle, welche die amerikanische Besatzungsmacht bei der Einführung der neuen Währung spielte, rückt die eigentliche Leistung Erhards in den Mittelpunkt, nämlich die Verabschiedung des „Gesetzes über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“, des sogenannten Leitsätzegesetzes, mit dem die öffentliche Warenbewirtschaftung weitgehend beseitigt wurde. Dadurch konnten sich Marktpreise für eine Vielzahl von Produkten frei bilden. Von heute auf morgen konnten die Deutschen, die sich zuvor einer Mangelwirtschaft gegenübersahen, volle Schaufenster mit Waren bewundern. Die Preisfreigabe ohne Währungsreform hätte vermutlich nur Inflation zur Folge gehabt. Die Währungsreform ohne marktwirtschaftliche Preisbildung hätte die Mangelwirtschaft nicht beendet. Das Zusammentreffen beider Maßnahmen war entscheidend (Giersch et al. 1992).

Dabei setzte Erhard diese Reform gegen Widerstände aus den Reihen seiner Berater, nicht zuletzt aber gegen die amerikanische Besatzungsmacht durch. Regelmäßig wird eine Anekdote kolportiert, die Erhard dem Vernehmen nach selbst zum Besten gab (Sigler 2016). Als er sich wegen der weitgehenden Aufhebung der Warenbewirtschaftung gegen den Vorwurf des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay rechtfertigen musste, die Besatzungsvorschriften eigenmächtig abgeändert zu haben, soll Erhard geantwortet haben: „Herr General, ich habe die Vorschriften nicht abgeändert, ich habe sie abgeschafft.“ Allerdings warnten Erhard nicht alle seine Berater vor der Preisfreigabe durch das Leitsätzegesetz. Dessen Referentenentwurf stammte von Leonhard Miksch, einem Schüler Walter Euckens (Berndt und Goldschmidt 2000, Feld und Köhler 2015). Liest man Mikschs Tagebuch (Goldschmidt 2015), so werden die Auseinandersetzungen in der Verwaltung für Wirtschaft plastisch, und es wird deutlich, wie Erhard sich im Rückgriff auf die marktwirtschaftlichen Überzeugungen der Freiburger Schule durchsetzen konnte. Zudem waren die Reformen anfangs kein Selbstläufer. Erhard sah sich einem Generalstreik gegenüber, den er überstand, ohne in der Hauptsache zurückweichen zu müssen. Bis ins Jahr 1957 war diese Episode verblasst.

Der entscheidende Beitrag der Erhard’schen Reform und zugleich wesentlicher Teil seiner weiteren Wirtschaftspolitik war der damit eingeleitete Übergang zu einer Wettbewerbswirtschaft. Erhard erschien dieser Übergang, ganz im Sinne der Freiburger Schule, als das Soziale an der Marktwirtschaft, als grundlegendes Element des sozialen Ausgleichs. Weil die Wettbewerbswirtschaft private Machtkonzentration zu verhindern vermag, schafft sie die Voraussetzungen für eine bessere Chancenverteilung in der Gesellschaft (Feld 2020). Anlässlich des 70. Geburtstags Friedrich A. von Hayeks soll Erhard in diesem Sinne gesagt haben, Hayek solle ihn nicht missverstehen. Als Wettbewerbswirtschaft brauche die Soziale Marktwirtschaft den Zusatz „sozial“ nicht, schließlich sei sie bereits an sich sozial. Erhards Einsatz für ein neues Wettbewerbsrecht, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das erst im Jahr 1957 – wiederum gegen massive Widerstände, dieses Mal der deutschen Industrie – verabschiedet wurde, darf daher nicht geringgeschätzt werden.

In der wirtschaftshistorischen Literatur wird darüber diskutiert, wie sehr die Erhard’sche Wirtschaftspolitik als Zäsur, als Bruch mit der Zeit des Nationalsozialismus verstanden werden kann (Ritschl 2005, Spoerer 2019). Es gab vielfältige Kontinuitäten in der Wirtschaftspolitik zu den Jahren zuvor, aber der Übergang zur Wettbewerbswirtschaft stellte einen eigentlichen Paradigmenwechsel dar (Spoerer 2019). Diese Diskussion ist nicht zu Ende – genauso wenig wie die Debatte um die Person Erhard (Herrmann 2019, Issing und Koerfer 2019). Mein Beitrag in diesem Vorwort dreht sich nicht um diese historischen oder gar um dogmengeschichtliche Fragen anhand einer Exegese des ursprünglichen Textes. Letzteres mögen die geneigten Leser dieser neuen Ausgabe selbst unternehmen. Mir geht es um eine Einordnung der Erhard’schen Anliegen in diesem Buch, indem Schlaglichter auf ausgesuchte Entwicklungen gerichtet werden und aus der heutigen Sicht deutlich wird, wie sich Ludwig Erhards wirtschaftspolitische Vorstellungen verstehen lassen. Diese Interpretation beansprucht keine Exklusivität, gleichwohl stellt sie aus meiner Sicht eine plausible Interpretation dar.

Die Wirtschaftsentwicklung

Ludwig Erhard war Marktwirtschaftler und Ordnungspolitiker. Aber er war genauso ein Kind seiner Zeit, das die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit und den Zweiten Weltkrieg mit seinen desaströsen Auswirkungen miterlebt hatte. Es kann daher nicht verwundern, dass Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein hoher Beschäftigungsstand für Erhard als Voraussetzung für stetiges Wirtschaftswachstum wichtig waren. Diese vier Größen – bezüglich des Wirtschaftswachstums erweitert um das Attribut „angemessen“ – wurden ab dem Jahr 1967 als sogenanntes magisches Viereck dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als Prüfauftrag ins Gesetz geschrieben. In seinem Wohlstand für Alle greift Erhard in unterschiedlichen Kontexten auf Statistiken zurück, welche die wirtschaftliche Entwicklung in makroökonomischen Dimensionen seit der Währungsreform illustrieren. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass es ihm in diesem Buch somit auch um eine Rechtfertigung seiner Entscheidungen geht.

Abbildung 1 stellt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Zeitraum von 1870 bis 2016 dar. Die wesentlichen historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts sind dabei genauso markiert wie zwei Rezessionen zu Beginn und zum Ende der Zeitperiode, nämlich der Gründerkrach und die Finanzkrise (oder Große Rezession). Die massiven Auswirkungen der beiden Weltkriege, der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise auf das BIP sind nicht zu übersehen. Sie überschatten alle anderen Ereignisse; selbst die bis zum Jahr 2020 als schwerste Krise der Nachkriegszeit angesehene Große Rezession erscheint nur als kleine Unterbrechung eines stetigen Anstiegs der Wirtschaftskraft.

Versteht man das programmatische Wohlstand für Alle als Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens, so zeigt sich die Wettbewerbswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland als durchaus erfolgreich. Trotz aller Schwankungen weist der Trend ungebrochen nach oben. Die Erhard’schen Weichenstellungen für die Wettbewerbswirtschaft scheinen richtig getroffen. Voraussetzung für diese Entwicklung ist der Erhalt des Friedens; dazu gehören aber außerdem die richtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die dafür gesorgt haben, dass weder Hyperinflation noch Massenarbeitslosigkeit wie zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise aufgetreten sind. Dafür hat Erhard keine Meriten erworben, sind es doch die nach ihm kommenden Wirtschaftspolitiker, die ihren Teil dazu beigetragen haben.

Vorwort_Grafik1.pdf

Abbildung 1: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von 1870 bis 2016

Erhard irrt jedoch in seiner gleich zu Beginn des Buches geäußerten Hoffnung, der Konjunkturzyklus möge überwunden werden. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung des BIP mit den vom Sachverständigenrat vorgenommenen Datierungen der Rezessionsphasen. Dies ist bis zum aktuellen Rand gezogen, schließt also die Corona-Krise mit ein, ohne dass diese schon offiziell als Rezession datiert wäre, obwohl sie natürlich eine Rezessionsphase darstellt. Man erkennt die mehr oder weniger starken Schwankungen im Zeitablauf, zugleich aber die unregelmäßige Wiederkehr von wirtschaftlichen Schwächephasen. Die Ursachen für diese Schwankungen sind vielfältig, ob es sich um die beiden Ölpreisschocks der 1970er- und 1980er-Jahre, die Wiedervereinigung, die Finanzkrise oder die Corona-Krise handelt.

Die Wirtschaftspolitik ist unterschiedlich erfolgreich mit diesen Krisen umgegangen. In Abkehr von Erhard’schen Vorstellungen setzte Karl Schiller in Reaktion auf die Rezession von 1966/67 auf keynesianische Rezepte, insbesondere mit expansiver Fiskalpolitik. Diese keynesianische Rezeptur erwies sich in den 1970er- und 1980er-Jahren als Antwort auf die beiden Ölpreisschocks als falscher Ansatz. Beides waren Produktivitätsschocks, die sich zwar auf das gesamtwirtschaftliche Angebot und auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirkten, sich aber nicht durch reine Nachfragepolitik bekämpfen ließen. Vielmehr verschärfte eine falsche Lohnpolitik die damaligen Probleme noch. Hingegen war die Nachfragestimulierung nach der Finanzkrise zielgerichteter. Die Corona-Krise ist erneut ein schwerer Produktivitätsschock (SVR 2020). Jenseits der unmittelbaren Liquiditätshilfen sowie der weiteren expansiven Geld- und Fiskalpolitik am aktuellen Rand wird die richtige Antwort darauf in produktivitätssteigernden Maßnahmen liegen müssen.

Vorwort_Grafik2.pdf

Abbildung 2: Rezessionsphasen von 1950 bis 2021

Arbeitslosigkeit und Beschäftigung

Die unzureichende Antwort der Wirtschaftspolitik auf die Krisen der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre spiegelt sich vor allem in der Entwicklung am Arbeitsmarkt (Abbildung 3) wider. Während die Erhard’schen Jahre der Wirtschaftspolitik durch einen Rückgang der Arbeitslosenquote und einen Anstieg der Beschäftigung gekennzeichnet waren, Schiller mit seiner keynesianischen Wirtschaftspolitik der aus Sicht der darauffolgenden Jahre geringen Arbeitslosigkeit noch mit Erfolg begegnete, stieg die Arbeitslosenquote danach im Zeitablauf an. Es entstand das Phänomen der Sockelarbeitslosigkeit: Im Boom kehrte die Arbeitslosenquote nicht wieder auf das niedrigere Niveau vor der Rezession zurück.

Vorwort_Grafik3.pdf

Abbildung 3: Arbeitslosigkeit und Erwerbstätige von 1950 bis 2019

Erst durch die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und die Reformen der Regierung Gerhard Schröder, insbesondere ihre Arbeitsmarktreformen, gelang es, den steigenden Trend der Arbeitslosigkeit zu durchbrechen. Damit wurde ein hoher Beschäftigungsstand bei mäßiger Arbeitslosigkeit, in manchen Regionen Deutschlands sogar Vollbeschäftigung, bis zum Jahr 2019 erreicht. Dies kann man als Rückgriff auf Erhard’sche Vorstellungen begreifen. Es waren aber vor allem die schon von Otto Graf Lambsdorff geforderten Arbeitsmarktreformen, zu denen sich die Regierung Helmut Kohl nicht durchringen konnte, die erst von Schröder umgesetzt wurden (Feld 2013).

Diese Entwicklung wirft ein anderes Schlaglicht auf den Wohlstand für alle. Bei Arbeitslosigkeit sorgt selbst die Einkommenssicherung über den Sozialstaat nicht dafür, dass die Bürger ein Wohlstandsgefühl haben. Einerseits sorgt Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen jenseits des Einkommensverlustes für einen kräftigen Rückgang der Lebenszufriedenheit, sie fühlen sich abgehängt und gesellschaftlich ausgeschlossen, jedenfalls nicht wohl. Andererseits sorgt hohe Arbeitslosigkeit selbst bei den nicht unmittelbar Betroffenen für eine Wohlfahrtseinschränkung. Die Sorge vor Arbeitslosigkeit ist dann weiter verbreitet, selbst in Milieus, die keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, arbeitslos zu werden. Nun war die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Gründung der Bundesrepublik zwar weit entfernt von den Niveaus der Weltwirtschaftskrise. Aber gleichwohl blieb sie ein Makel der Wirtschaftspolitik seit den 1970er-Jahren.

Verteilung der Einkommen

Die Lage am Arbeitsmarkt ist verbunden mit sozialpolitischen Fragen. Erhards Wohlstand für Alle legt schon im Titel das Missverständnis an, dass es ihm um eine Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung ginge, selbst wenn diese Teilhabe durch staatliche Umverteilung der Einkommen erreicht werden müsste. Wie bereits betont, stehen Verteilungsfragen nicht im Mittelpunkt der Erhard’schen Wirtschaftspolitik. Dies wird beispielsweise im Abschnitt ‚Die Hamburger Erklärung‘ des 6. Kapitels des Wohlstands für Alle deutlich, aber ebenso an vielen anderen Stellen.

Die Frage, inwiefern eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts in der Einkommensverteilung durchsickert, sodass alle Einkommensschichten etwas davon haben, ist komplex und kann hier nur angedeutet werden. Die Entwicklung in Deutschland ist vor allem von der Arbeitsmarktentwicklung geprägt. Dies illustriert Abbildung 4, in der Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung zusammen mit der Arbeitslosenquote abgebildet sind. Der Gini-Koeffizient misst die Einkommensungleichheit durch ein zwischen 0 und 1 variierendes Maß, bei dem eine 0 perfekte Gleichverteilung und eine 1 perfekte Ungleichverteilung anzeigt. Je höher der Koeffizient, desto ungleicher ist also die Einkommensverteilung.

Vorwort_Grafik4.pdf

Abbildung 4: Gini-Koeffizienten für Markt- und Haushaltsnettoeinkommen sowie Arbeitslosenquote im Zeitverlauf, Quelle: Feld et al. (2020)

Die Einkommensverteilung in Deutschland wird erst seit den 1980er-Jahren konsistent mithilfe des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) gemessen. In Abbildung 4 werden die Verteilung der Markteinkommen, also vor Einsatz des Steuer-Transfer-Systems des Staates, und der Haushaltsnettoeinkommen, also nach Umverteilung durch den Staat, abgebildet. Die Differenz zwischen beiden Indikatoren zeigt das Ausmaß der effektiven Umverteilung an. Diese Differenz ist nennenswert, wie unschwer zu erkennen ist. Im Zeitablauf lässt sich seit der Wiedervereinigung ein Anstieg der Einkommensungleichheit bis etwa ins Jahr 2005 feststellen. Dieser Anstieg setzt den seit den 1980er-Jahren in Westdeutschland bestehenden Trend fort. Seit dem Jahr 2005, also seit den Reformen der Regierung Schröder, lässt sich kein signifikanter Anstieg mehr beobachten, obwohl soziologische Faktoren, wie etwa die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte, die für sich genommen die Einkommensungleichheit erhöhen, danach weiterhin ungleichheitsverstärkend gewirkt haben. Der weitere Anstieg der Gini-Koeffizienten im Aggregat wurde vor allem durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit verhindert. Sozial ist, was Arbeit schafft.

Solide öffentliche Finanzen

Interessanterweise ergibt sich diese Entwicklung der Einkommensverteilung ohne besondere Veränderungen der finanzpolitischen Kennziffern. Abbildung 5 stellt die Entwicklung der Einnahme- und der Steuerquote sowie die Staatsquote von 1950 bis 2019 dar. Die kräftige Reduktion der Steuerquote zu Beginn des Beobachtungszeitraums ist einer Änderung in den statistischen Abgrenzungen geschuldet, nachdem die Einnahmequote exakter gemessen und differenziert wurde. Die Einnahme- und die Staatsquote steigen bis in die zweite Hälfte der 1970er-Jahre an. Die Einnahmequote zeigt in der Zeit danach bis heute aber im Wesentlichen eine Seitwärtsbewegung. Die Staatseinnahmen in Prozent des BIP verändern sich somit wenig. Die Staatsquote, also die Staatsausgaben (inkl. der Transfers) in Prozent des BIP, geht bis zum Vorabend der Wiedervereinigung zurück, steigt bedingt durch diese wieder an, sogar schlagartig mit Überführung der mit der Wiedervereinigung eingerichteten Fonds in den Staatshaushalt Mitte der 1990er-Jahre, und geht danach wieder trendmäßig bis zum aktuellen Rand zurück.

Die Steuerquote, also die Steuereinnahmen in Prozent des BIP, verändert sich im Zeitablauf aber nur wenig. Seit dem Jahr 1960 sinkt sie trendmäßig bis Mitte der 2000er-Jahre. Seit dem Jahr 2010 steigt sie wieder an. Beide Trends sind jedoch moderat. Diese Entwicklung kaschiert die vielfältigen steuerpolitischen Veränderungen, etwa bei den Steuersätzen, in der Steuerstruktur von direkten zu den indirekten Steuern usw. Allerdings kann die Steuerquote als effektive Steuerbelastung der Steuerzahler ex post interpretiert werden, und so gesehen ist sie erstaunlich stabil. Außerdem geht diese Entwicklung mit nur geringen Veränderungen in der effektiven Umverteilung, gemessen in der Differenz der Verteilung der Markteinkommen und der Haushaltsnettoeinkommen in Abbildung 4, einher. Dies vermittelt den Eindruck, dass das Steuer-Transfer-System in Deutschland im Zeitablauf zielgenauer ausgestaltet worden ist.

Vorwort_Grafik5.pdf

Abbildung 5: Einnahme-, Steuer- und Staatsquoten von 1950 bis 2019

Die Differenz zwischen Einnahme- und Staatsquote in Abbildung 5 lässt die Finanzierungssalden der öffentlichen Haushalte aufscheinen. Liegt die Staatsquote über der Einnahmequote, so resultiert für den öffentlichen Gesamthaushalt ein Defizit in Prozent des BIP. Abbildung 6 verdeutlicht diese Entwicklung der Staatsverschuldung in Prozent des BIP von 1950 bis 2019 und zeigt einen trendmäßigen Anstieg der Staatsschuldenquote ab den 1970er-Jahren bis ins Jahr 2010. Erst nach Verabschiedung der Schuldenbremse konnte dieser Trend durchbrochen werden. Zu Zeiten Ludwig Erhards herrschte eine solide Finanzpolitik vor. Es hat relativ lange gedauert, bis Deutschland wieder zu dieser soliden Finanzpolitik zurückgekehrt ist.

Vorwort_Grafik6.pdf

Abbildung 6: Schuldenstandsquoten (in % des BIP) Deutschlands, 1950 – 2019

Fazit

Wohlstand für Alle – das mag manche provozieren, manche zu Missverständnissen anregen. Wohl verstanden, nämlich im Sinne der in diesem Band von Erhard dargelegten Interpretation, bietet dieses Konzept wichtige Anhaltspunkte für die Wirtschaftspolitik. Der Wohlstand muss zunächst erarbeitet werden, bevor man über seine Verteilung nachdenken kann. Die Wirtschaftspolitik muss daher auf Produktivitätssteigerungen als Voraussetzung für das Wirtschaftswachstum und auf eine geringe Arbeitslosigkeit – allerdings bei Preisniveaustabilität – abzielen. Die Finanzpolitik sollte einerseits durch eine moderate Staatsverschuldung Voraussetzungen schaffen, um in Krisenzeiten expansiv sein zu können. Die Steuer- und Sozialpolitik muss andererseits die von ihr gesetzten Anreize im Blick haben, sodass Verteilungsziele möglichst effektiv erreicht werden, ohne die damit verbundenen Fehlanreize dominant werden zu lassen. Die hier gezeigten Illustrationen können dazu anregen, in verschiedener Hinsicht über die Erhard’schen Ansätze hinauszugehen. Sie lassen aber ebenso erkennen, dass die Erhard’schen Vorstellungen einer Wettbewerbswirtschaft nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben.