2. Kapitel
DIE GEBURT DER MARKTWIRTSCHAFT
Was stand am Anfang, als ich am 2. März 1948 im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Frankfurt zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt wurde? Diese Epoche vor der Währungsreform habe ich später einmal – am 31. Mai 1954 in Antwerpen – charakterisiert:
„Das war die Zeit, in der die meisten Menschen es nicht glauben wollten, daß dieses Experiment der Währungs- und Wirtschaftsreform gelingen könnte. Es war die Zeit, in welcher man in Deutschland errechnete, daß auf jeden Deutschen nur alle fünf Jahre ein Teller komme, alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe, nur alle fünfzig Jahre ein Anzug, daß nur jeder fünfte Säugling in eigenen Windeln liegen könnte und jeder dritte Deutsche die Chance hätte, in seinem eigenen Sarge beerdigt zu werden. Das schien auch tatsächlich die einzige Chance gewesen zu sein, die uns noch winkte. Es zeugte von dem grenzenlosen Illusionismus und der Verblendung planwirtschaftlichen Denkens, wenn man von Rohstoffbilanzen oder anderen statistischen Grundlagen her glaubte, das Schicksal eines Volkes für lange Zeit vorausbestimmen zu können. Diese Mechanisten und Dirigisten hatten nicht die geringste Vorstellung von der sich entzündenden dynamischen Kraft, sobald sich ein Volk nur wieder des Wertes und der Würde der Freiheit bewußt werden darf.“
Es würde die Laune des Lesers verderben, wollte man heute ein minutiöses Bild jener Tage der Währungsreform zu rekonstruieren versuchen. Nur einige Angaben seien deshalb zur Verdeutlichung der Ausgangslage skizziert:
Der erste Industrieplan, der auf Grund der Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945 erarbeitet wurde, wollte die deutsche Industriekapazität auf einem Niveau von 50 bis 55% des Standes von 1938 oder auf ca. 65% desjenigen von 1936 binden, wobei eine Wertung dieses Planes noch in Rechnung zu stellen hätte, daß die Bevölkerungszahl infolge des Flüchtlingsstromes zwischenzeitlich erheblich angestiegen war. Diese Absicht scheiterte zunächst allein an der Unmöglichkeit, die wirtschaftliche Einheit Deutschlands herzustellen.
Im zweiten Industrieplan, den die Britisch-Amerika-nische Militärregierung für ihre Zonen am 29. August 1947 verkündete, wurde der sogenannten Bizone im Grundsatz wohl die volle Kapazität des Jahres 1936 zugestanden, aber er war doch auch wieder mit mancherlei Einschränkungen im einzelnen belastet. Inzwischen waren aber die noch verfügbaren Kapazitäten auf etwa 60% von 1936 abgesunken.
Preisgestoppte Inflation lähmt die Wirtschaft
Die gesamte Industrieproduktion des Vereinigten Wirtschaftsgebietes betrug denn auch im Jahre 1947 nur noch 39% des Ausstoßes von 1936. Dieses düstere Bild zeigte sich auch in allen Teilbereichen. Man bedenke z. B. nur, daß seinerzeit die Textilproduktion knapp ein Siebentel der gegenwärtigen Erzeugung ausmachte.
Der Versuch, in jenen Nachkriegsjahren die Inflation – die Folge einer sehr bedenklichen Aufrüstungsfinanzierung von 1933 bis 1939 und vor allem der Kosten der Kriegführung in Höhe von ca. 560 Mrd. RM – durch Preisstopp und Bewirtschaftung aufhalten zu wollen, war immer offensichtlicher zum Scheitern verurteilt. Wir erlebten das Phänomen der „preisgestoppten Inflation“. Die überreichliche Geldfülle machte jede administrative Wirtschaftslenkung unmöglich. Die Umsätze spielten sich nicht mehr – oder doch nur noch zu einem geringen Teil – über den regulären Groß- und Einzelhandel ab. Die Waren blieben in immer größerem Umfange in der Lagerhortung stecken, soweit sie nicht im Wege der Kompensation die Voraussetzung für die Fortführung einer schmalen Produktion boten. Wir waren in Zustände eines primitiven Naturalaustausches zurückgesunken. Der allgemeine Produktionsindex (ohne Bauhauptgewerbe) bewegte sich im ersten Halbjahr 1948 um rund 50% von 1936. Anfang 1948 stellte denn auch Professor Dr. Wilhelm Röpke fest: Deutschland ist in einem Maße vernichtet und in ein derartiges Chaos verwandelt, daß niemand es sich vorstellen kann, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Dieser Niederbruch löste naturgemäß einen heftigen Streit um die Methoden zur Überwindung dieses Chaos aus. Hier gab es alles andere als die berühmte Einigkeit, die stark macht. Es tobte vielmehr in Westdeutschland der Kampf zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft, – ein Streit, der im übrigen nicht nur auf deutscher Seite, sondern auch auf seiten der Alliierten die Geister bewegte. Das Kapitel V „Marktwirtschaft überwindet Planwirtschaft“ vermittelt einen Eindruck von diesen Auseinandersetzungen. Die deutschen Planwirtschaftler neigten in dieser Situation zu einer engen Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden der britischen Zone, die den Weisungen und Vorstellungen der seinerzeitigen Labour-Regierung zu entsprechen hatten, um so mehr diese gerade in der Blütezeit ihrer planwirtschaftlichen Experimente stand. Die liberalen Kräfte Westdeutschlands fühlten sich hingegen stärker zu den „Amerikanern“ hingezogen. Es ist daher durchaus kein Zufall, daß Victor Agartz in Minden das Zentralamt für Wirtschaft leitete, während ich in der im Oktober 1945 gebildeten bayerischen Regierung auf besonderen Wunsch der amerikanischen Besatzungsbehörde das Wirtschaftsministerium übernahm.
Die große Chance
Mitte 1948 winkte dann die große deutsche Chance: Sie lag darin begründet, die Währungsreform mit einer ebenso entschiedenen Wirtschaftsreform zu verkoppeln, um der durch das unsinnige Überfordern der Menschen völlig wirklichkeitsfremden administrativen Wirtschaftslenkung – von der Produktion bis hin zum letzten Verbraucher – das verdiente unrühmliche Ende zu bereiten. Heute ist es nur noch wenigen bewußt, welches Maß an Mut und Verantwortungsfreudigkeit dazu gehörte, diesen Schritt zu vollziehen. Die Franzosen Jacques Rueff und André Piettre haben einige Zeit später über diese Einheit von Wirtschafts- und Währungsreform geurteilt:
„Der Schwarze Markt verschwand urplötzlich. Die Auslagen waren zum Bersten voll von Waren, die Fabrikschornsteine rauchten, und auf den Straßen wimmelte es von Lastkraftwagen. Wo es auch sei, überall statt der Totenstille der Ruinen das Gerassel der Baustellen. Aber war schon der Umfang dieses Wiederaufstiegs erstaunlich, so noch mehr seine Plötzlichkeit. Er setzte auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens auf den Glockenschlag mit dem Tage der Währungsreform ein. Nur Augenzeugen können einen Begriff von der buchstäblich augenblicklichen Wirkung geben, die die Währungsreform auf die Wiederauffüllung der Läger und die Reichhaltigkeit der Auslagen gehabt hat. Von einem Tag auf den anderen füllten sich die Läden mit Waren, fingen die Fabriken wieder an zu arbeiten. Noch am Abend vorher liefen die Deutschen ziellos in den Städten umher, um kärgliche zusätzliche Nahrungsmittel aufzutreiben. Am Tage darauf dachten sie nur noch daran, sie zu produzieren. Am Vorabend malte sich die Hoffnungslosigkeit auf ihren Gesichtern, am Tage darauf blickte eine ganze Nation hoffnungsfreudig in die Zukunft.“
(„Wirtschaft ohne Wunder“, 1953, Eugen - Rentsch - Verlag, Erlenbach/Zürich.)
Tatsächlich wurde die Marktwirtschaft in Deutschland – ein fast einzigartiger historischer Vorgang – durch einige wenige Gesetze und durch kompromißlose Entschlossenheit eingeführt. Der Wille, etwas gänzlich Neues zu schaffen, fand seinen Niederschlag in dem „Gesetzes- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ vom 7. Juli 1948, wo auf schlechtem, heute bereits vergilbtem Vorwährungsreformpapier das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ vom 24. Juni 1948 verkündet wurde. Mit diesem Gesetz wurde dem Direktor der Verwaltung für Wirtschaft das Recht eingeräumt, mittel- oder unmittelbar und in einem Zuge Hunderte von Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften in den Papierkorb zu befördern. Ich wurde beauftragt, im Rahmen der angefügten Leitsätze „die erforderlichen Maßnahmen auf dem Gebiete der Bewirtschaftung zu treffen“ und „die Waren und Leistungen im einzelnen zu bestimmen, die von den Preisvorschriften freigestellt werden sollen“ – dies bedeutete für mich, so schnell als möglich so viele Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften als möglich zu beseitigen.
Bereits einen Tag später wurde die „Anordnung über Preisbildung und Preisüberwachung nach der Währungsreform“ erlassen, mit der Dutzende von Preisvorschriften außer Kraft traten. Wir gingen hierbei den einzig möglichen Weg: Es wurde darauf verzichtet, all das aufzuführen, was ungültig wurde, und nur das namentlich und ausdrücklich genannt, was noch Geltung behalten sollte. Damit war ein gewaltiger Schritt in Richtung auf das Ziel der Beseitigung einer unmittelbaren Einflußnahme der Bürokratie auf die Wirtschaft getan. Auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone in Recklinghausen am 28. August 1948 erläuterte ich diese Maßnahmen:
„Es ist gar nicht so, als ob wir bei vernünftigem Handeln die freie Entscheidung gehabt hätten. Was wir in dieser Situation tun mußten, war, die Fesseln zu lösen. Wir mußten dazu bereit sein, um in unserem Volk endlich wieder moralische Grundsätze zur Anwendung zu bringen und den Beginn einer Läuterung unserer Gesellschaftswirtschaft einzuleiten.
Mit der wirtschaftspolitischen Wendung von der Zwangswirtschaft hin zur Marktwirtschaft haben wir mehr getan, als nur im engeren Sinne wirtschaftliche Maßnahmen getroffen. Wir haben vielmehr unser gesellschaft-wirtschaftliches und soziales Leben auf eine neue Grundlage und vor einen neuen Anfang gestellt. Wir mußten abschwören der Intoleranz, die über die geistige Unfreiheit zur Tyrannei und zum Totalitarismus führt. Wir mußten hin zu einer Ordnung, die durch freiwillige Einordnung, durch Verantwortungsbewußtsein in einer sinnvoll organischen Weise zum Ganzen strebt.“
Was sich im Hintergrund dieses Übergangs zur Marktwirtschaft abspielte, ist der breiten Öffentlichkeit nie voll bewußt geworden. Nur ein Beispiel: Strenge Vorschriften der amerikanischen und englischen Kontrollinstanzen verlangten vor jeder Änderung von Preisvorschriften deren ausdrückliche Genehmigung. Woran die Alliierten allerdings nicht gedacht hatten, war, daß jemand überhaupt auf die Idee kommen könnte, diese Preisvorschriften nicht zu ändern, sondern sie einfach aufzuheben. So viel Kühnheit von einem Deutschen so kurze Zeit nach dem Kriegsende anzunehmen, paßte nicht in die Denkkategorie einer Verwaltung, kurz nach einem überwältigenden Sieg.
Zugute kam mir, daß sich General Clay, die wohl stärkste Persönlichkeit der Hohen Kommission, hinter mich stellte und meine Anordnungen deckte. Die Preisbildung deutscher Konsumgüter und wichtigster Nahrungsmittel war damit der alliierten Preisaufsicht entzogen. Dieser erste Erfolg bedeutete zwar nicht, daß die Alliierten in den kommenden Monaten und Jahren nicht immer wieder versucht hätten, den deutschen Wiederaufbau nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen. Gerade in der Folgezeit löste eine Auseinandersetzung die andere ab. Es ging hier um die Demontagen, den Steuerabbau, die Gewerbefreiheit, die Preisbindung der zweiten Hand, die Errichtung der Fachstellen, die Neuordnung unserer Außenhandelspolitik u. s. f.
Diese kritischen Hinweise können und sollen allerdings nicht das Gefühl der Dankbarkeit schmälern, das die Bundesregierung und das ganze deutsche Volk den USA und seinen Bürgern für die Marshallplan-Hilfe schulden. Diese großzügige, ja großherzige Hilfe überstieg im Rahmen des Marshallplans und der Anschlußprogramme zwischen April 1948 und Ende 1954 den Betrag von 1,5 Mrd. Dollar. Hinzu kamen dann noch die schon vor Beginn des Marshallplanes angelaufenen beträchtlichen Lieferungen aus GARIOA-Mitteln, die in den Jahren 1946 bis 1950 noch einmal 1,62 Mrd. Dollar ausmachten.
Generalstreik gegen die Marktwirtschaft
Das zweite Halbjahr 1948 insbesondere wurde eines der dramatischsten in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Hier kämpfte die Idee der Marktbefreiung gegen die beharrenden Kräfte der Zwangswirtschaft. Manche Entwicklungen und Verhältnisse waren auch nicht dazu angetan, vorbehaltlos und unentwegt der Richtigkeit des Vorstoßes in die Freiheit zu vertrauen. Der Preisindex stieg in jenen ersten Monaten nach der Reform allenthalben erheblich an. Es half da auch nicht viel, immer wieder darauf hinzuweisen, daß es am 18. Juni 1948 zwar amtlich fixierte, relativ niedrige Preise, aber zu diesen Preisen keine Waren gab, und daß jeder nun in DM gewährte Preis nur einen Bruchteil des RM-Schwarzmarktpreises der Monate vor der Währungsreform ausmachte.
Es kam entscheidend darauf an, sich durch diese Turbulenz nicht beirren zu lassen; auch dann nicht, als die Gewerkschaften für den 12. November 1948 zum Generalstreik aufriefen, um auf diese drastische Weise der Marktwirtschaft ein Ende zu bereiten. Im Wirtschaftsrat stand das Barometer auf Sturm. Ja, in nahezu allen Schreibtischschubladen der Verwaltung für Wirtschaft, deren Chef doch eben jener energische Kämpfer gegen Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften war, lagen insgeheim Neufassungen der eben erst aufgehobenen Verordnungen griffbereit. Das Amt selbst war allenthalben an der Richtigkeit der Thesen seines Chefs irre geworden.
Ich erklärte damals – Ende August 1948 – :
„Ich bleibe dabei, und die Entwicklung wird mir recht geben, daß, wenn jetzt das Pendel der Preise unter dem einseitigen Druck kostenerhöhender Faktoren und unter dem psychologischen Druck dieses Kopfgeldrausches die Grenzen des Zulässigen und Moralischen allenthalben überschritten hat, wir doch bald in die Phase eintreten, in der über den Wettbewerb die Preise wieder auf das richtige Maß zurückgeführt werden, und zwar auf das Maß, das ein optimales Verhältnis zwischen Löhnen und Preisen, zwischen Nominaleinkommen und Preisniveau sicherstellt.“ [1]
Diese Aussage, die damals ganz und gar nicht in die Landschaft zu passen schien, trug mir den Ruf eines unverbesserlichen Optimisten ein. Als mir einige Monate später die Tatsachen recht gaben – wurde ich zum modernen Wirtschaftspropheten „befördert“.
Bestätigte die Entwicklung diese Prognose?
Nach der Reform sah sich die Wirtschaft zunächst einer unendlich scheinenden Verbrauchsbereitschaft der Konsumenten, d. h. einem schier grenzenlosen Nachholbedarf, gegenüber. Nicht minder stark war der Ersatz- und Nachholbedarf in allen Zweigen der Wirtschaft selbst. Im Bausektor z. B. hatte sich infolge der Kriegszerstörungen und der Notwendigkeit, acht Millionen Flüchtlinge unterzubringen, ein kaum zu bewältigender Bedarf angestaut. Wenn auch in den ersten Tagen nach der Reform Angebot und Nachfrage weitgehend ausgeglichen schienen, so änderte sich doch dieses Bild sehr bald. Die so viel diskutierte und moralisch verwerfliche Warenhortung gehörte in kurzem der Vergangenheit an. Das Geld hatte in gleicher Weise für den Unternehmer wie für den Konsumenten seine alte Bedeutung zurückerhalten. Insoweit erwies es sich auch als durchaus richtig, daß die Geldausstattung der Unternehmungen bewußt niedrig gehalten worden war. Dadurch war die Wirtschaft genötigt, die laufende Produktion schnell anzubieten und vorhandene Läger aufzulösen.
Der Kampf um die guten Nerven
Damals gingen die Wellen der Empörung über die nun allen sichtbar werdende, aber allen Einsichtigen längst bekannte Hortung sehr hoch. Es gehörte einiger Mut dazu, das auszusprechen, was volkswirtschaftlich vernünftig war:
„Sie wissen, daß mir vorgeworfen wird, ich wäre der Schutzheilige der Horter. Mich fechten derartige Verleumdungen nicht an. Sosehr ich die Hortung als individuelle Maßnahme verabscheue, sosehr fühle ich mich doch verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß eine radikale Entleerung unserer volkswirtschaftlichen Läger notwendig dahin geführt haben würde, daß die aus der Währungsreform freigewordene Kaufkraft hätte ins Leere stoßen müssen. Dann aber wäre die Währungsreform entweder vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt gewesen, oder man hätte noch einmal mit Mitteln der staatlichen Bewirtschaftung und Preisbildung das Volk unter der Knute und der Fron der Bürokratie halten müssen. Man mag doch bedenken, daß diese Hortung als solche, d. h. als volkswirtschaftliches Phänomen betrachtet, eben doch ein unvermeidbares Phänomen der ganzen Währungsreform war; sie gehörte gewissermaßen zum Kalkül der Reform. Es ist unehrlich, sich zu entrüsten, wenn man ganz genau weiß, daß, hätte uns dieses Polster nicht zur Verfügung gestanden, die Währungsreform vielleicht sogar Schiffbruch erlitten hätte.“
Die Schwierigkeiten gingen auf klar erkennbare Ursachen zurück. Die laufenden Einkommen wie auch die Gelder aus der Kopfquote und der Umstellung der RM-Sparguthaben – die letzten beiden in Höhe von 3,5 Mrd. DM – strömten unverzüglich und ausschließlich in den Verbrauch. Leonhard Miksch, mein 1950 allzu früh verstorbener enger Mitarbeiter, machte im Oktober 1948 darauf aufmerksam, daß die Entwicklung seit der Währungsreform durch eine starke Ausweitung der Geldmenge – unbeeinflußbar durch deutsche Stellen – gekennzeichnet ist. Er schrieb:
Das Gesicht der D-Mark
(Entnommen mit freundlicher Genehmigung des „Hamburger Abendblatt“. Zeichnung: Rolf Brinkmann)
„Es ist Zeit, die Augen der Öffentlichkeit auf diese Tatsache zu lenken, die mit der Erwartung einer radikalen, durch außerordentlich große Opfer der Sparer erkauften Sanierung im Widerspruch steht. Während in den ersten Monaten nach der Stabilisierung von 1923 der gesamte Geldumlauf von 1488 Millionen am 30. November auf 2824 Millionen am 31. März 1924, d. h. also um rund 90%, gestiegen ist, hat er sich 1948 in dreieinhalb Monaten von 2174 Millionen am 30. Juni auf 5560 Millionen am 15. Oktober erhöht, was einer Steigerung von 156% entspricht“. [2]
Der Zahlungsmittelumlauf war bis zum 31. Dezember 1948 sogar auf 6,641 Mrd. DM (einschließlich Berlin) angewachsen. Es bedeutete die natürliche Konsequenz dieser Geldverflüssigung, daß die Nachfrage rascher als das Angebot steigen mußte, um so mehr dieses infolge der Knappheit an Importstoffen zunächst ziemlich unelastisch war. Hinzu kam, daß der bestehende Zwang zum Lagerabbau mit zunehmender Liquidität tendenziell geringer wurde. Selbst die Tatsache, daß die Befreiung der Wirtschaft hinreichte, die Produktion von Mitte 1948 bis zum Jahresende im Durchschnitt um 50% zu erhöhen – gewiß ein erstaunlicher Erfolg der Marktwirtschaft –, vermochte es doch nicht zu verhindern, daß die Preise in jenen Herbstmonaten stärker anstiegen. Viele waren daher geneigt, die erst jüngst zurückgewonnenen Freiheiten wieder über Bord zu werfen. Auf derartige Versuchungen ließ sich nur erwidern:
„Entweder wir verlieren die Nerven und geben der gehässigen, demagogischen Kritik nach, dann sinken wir in den Zustand der Sklaverei zurück. Dann verliert der deutsche Mensch die Freiheit aufs neue, die wir ihm jetzt glücklich zurückgegeben haben; dann kommen wir wieder zurück in die Planwirtschaft, die stufenweise, aber sicher zur Zwangswirtschaft, zur Behördenwirtschaft bis zum Totalitarismus führt.“ [1]
Die Preisentwicklung war in der Tat erregend. Zum Jahresende waren alle Preise gegenüber dem Juni 1948 kräftig angestiegen.
Aber wie so oft im wirtschaftlichen Leben hatte das Unpopuläre und hier auch sozial Unerfreuliche seine ökonomisch gute Seite. Zwar mögen diese Preisberichtigungen zum Teil weit über das notwendige Maß einer Anpassung an ein verändertes Kostengefüge hinausgegangen sein, woraus naturgemäß beträchtliche Unternehmergewinne erwuchsen. Diese selbst lösten Ärgernis aus und führten zu einer unerfreulichen sozialen Optik. Solche Gewinne wurden jedoch nur zu einem Bruchteil für den privaten Konsum der Unternehmer verwandt; sie ersetzten vielmehr das seinerzeit noch nicht mobilisierbare neue Sparkapital, und das alte war durch die Geldreform weitestgehend vernichtet. Man mag diese Art der Kapitalbildung kritisieren, aber seinerzeit bildete sie die Grundlage für den Wiederaufbau der verlorengegangenen bzw. vernichteten Kapazitäten.
Falsche Weichenstellung für die Steuerpolitik
Die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hat immerhin dazu geführt, daß in dieser ersten Phase nach der Reform zunehmend mehr produziert werden konnte und das steigende Einkommen güterwirtschaftliche Befriedigung fand. Die Notwendigkeit des Investieren-Müssens, das solcherart über den Preis durchgesetzt wurde, fand auch in der Steuergesetzgebung ihren Niederschlag. Das Militärregierungs-Gesetz Nr. 64 vom 20. Juni 1948 sah relativ großzügige Abschreibungsmöglichkeiten und eine Reihe sonstiger Vergünstigungen an Stelle effektiver Steuersenkungen vor.
Dieser Weg der Steuergesetzgebung wurde auch dann fortgesetzt, als diese in die deutsche Zuständigkeit zurückgegeben wurde. Ständig wurden neue Anreize für Investitionen geschaffen, wie auch die Mehrarbeit dadurch belohnt wurde, daß Überstundenverdienste steuerfrei blieben. Diese Impulse bedeuteten eine willkommene Ergänzung der endlich wiedergewonnenen Freude an der Arbeit, für deren Lohn man sich nun wieder etwas kaufen, sein Leben frei gestalten konnte.
Ein Blick auf die Statistik der Wochenarbeitszeit der Industriearbeiter offenbart die Auswirkungen des hier vollzogenen Wandels. Die wiedergewonnene Arbeitsfreude führte sehr bald zu einer Verlängerung der Arbeitszeit, welche erst in jüngster Vergangenheit sinkende Tendenz zeigt. Die seit 1950 um 100% gestiegene Produktivität in der Industrie gestattet jetzt die sozial sicherlich erwünschte Verkürzung der Arbeitszeit, wenngleich dieser Vorgang sich auch in ruhigen Bahnen bewegen muß, um nicht von dieser Seite her die volkswirtschaftliche Gesamtleistung und die Stabilität der Währung zu gefährden, eine Feststellung, die gerade für die jüngste Vergangenheit gilt.
Trotz dieser der Wirtschaftspolitik zunächst durchaus adäquaten Ergänzung des Wiederaufbaus durch die Steuergesetze war hier doch eine Richtung der Steuerpolitik eingeschlagen worden, die im weiteren Verlauf häufig auch in einen Gegensatz zur Wirtschaftspolitik geriet, d. h. mit anderen Worten, die Steuer wurde zu einem Instrument vielfacher staatlicher Begünstigungen und auch unerwünschter Einflußnahmen.
Die Preise sinken