1. Kapitel
DER ROTE FADEN
Geraume Zeit, bevor ich das Wirtschaftsressort in der ersten westdeutschen Bundesregierung übernahm, legte ich auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone Ende August 1948 in Recklinghausen dar, daß ich es für abwegig halte und mich deshalb auch weigere, die hergebrachten Vorstellungen der früheren Einkommensgliederung neu aufleben zu lassen. So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, daß ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden.
Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet. Die Neugestaltung unserer Wirtschaftsordnung mußte also die Voraussetzung dafür schaffen, daß dieser einer fortschrittlichen Entwicklung entgegenstehende Zustand und damit zugleich auch endlich das Ressentiment zwischen „arm“ und „reich“ überwunden werden konnten. Ich habe keinerlei Anlaß, weder die materielle noch die sittliche Grundlage meiner Bemühungen mittlerweile zu verleugnen. Sie bestimmt heute wie damals mein Denken und Handeln.
Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstandes ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugute kommen zu lassen, und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen.
Auf dem Wege über den Wettbewerb wird – im besten Sinne des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten. Immanenter Bestandteil der Überzeugung, auf solche Art den Wohlstand am besten mehren zu können, ist das Verlangen, allen arbeitenden Menschen nach Maßgabe der fortschreitenden Produktivität auch einen ständig wachsenden Lohn zukommen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wichtige Voraussetzungen erfüllt werden.
Wir dürfen über dem sich ausweitenden Konsum die Mehrung der Produktivität der Wirtschaft nicht vergessen. Dabei lag am Anfang dieser Wirtschaftspolitik das Schwergewicht auf der Expansion der Wirtschaft, um zunächst einmal das Güterangebot überhaupt zu steigern und auch auf diesem Wege dem Wettbewerb laufend Auftrieb zu geben. Vor allem galt es, der wachsenden Zahl von Arbeitsuchenden auch Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Konjunkturzyklus überwunden
Diese zwingenden Notwendigkeiten verlangen aber auch danach, das alte und bisher für unumstößlich gehaltene Gesetz vom konjunkturzyklischen Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens zu überwinden. Man glaubte bekanntlich, daß sich die Wirtschaft in rhythmischen Wellen fortentwickle. Sieben Jahre sollten dabei etwa den Zeitabschnitt darstellen, in dem sich Aufschwung, Hochkonjunktur, Niedergang und Krise vollenden, bis sich aus ihr wieder die heilenden Kräfte zum positiven Ansatz für den nächsten Zyklus entzünden. In den nun fast neun Jahren aber, in denen ich die Verantwortung für die deutsche Wirtschaftspolitik trage, ist es immerhin gelungen, diesen starren Rhythmus zu sprengen und über einen kontinuierlichen Aufstieg der Wirtschaft die Koppelung von voller Beschäftigung und Mengenkonjunktur zu erreichen.
In Anbetracht dieser Entwicklung sind wohl auch mein Streben und meine Hoffnung verständlich, daß es der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftstheorie gelingen möge, zur Bewältigung dieses Problems systematische Lösungen zu finden. Alle dahin zielenden Bemühungen werden allerdings nur von Erfolg gekrönt sein können, wenn und solange der Wettbewerb nicht durch künstliche oder rechtliche Manipulationen behindert oder gar ausgeschaltet wird.
Die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wettbewerbs droht sozusagen ständig und von den verschiedensten Seiten her. Es ist darum eine der wichtigsten Aufgaben des auf einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung beruhenden Staates, die Erhaltung des freien Wettbewerbs sicherzustellen. Es bedeutet wirklich keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß ein auf Verbot gegründetes Kartellgesetz als das unentbehrliche „wirtschaftliche Grundgesetz“ zu gelten hat. Versagt der Staat auf diesem Felde, dann ist es auch bald um die „Soziale Marktwirtschaft“ geschehen. Dieses hier verkündete Prinzip zwingt dazu, keinem Staatsbürger die Macht einzuräumen, die individuelle Freiheit unterdrücken oder sie namens einer falsch verstandenen Freiheit einschränken zu dürfen. „Wohlstand für alle“ und „Wohlstand durch Wettbewerb“ gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.
Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits den fundamentalen Unterschied zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und der liberalistischen Wirtschaft alter Prägung. Unternehmer, die unter Hinweis auf neuzeitliche wirtschaftliche Entwicklungstendenzen Kartelle fordern zu können glauben, stellen sich mit jenen Sozialdemokraten auf eine geistige Ebene, die aus der Automation auf die Notwendigkeit einer staatlichen Planwirtschaft schließen.
Diese Überlegung macht wohl auch deutlich, wie ungleich nützlicher es mir erscheint, die Wohlstandsmehrung durch die Expansion zu vollziehen, als Wohlstand aus einem unfruchtbaren Streit über eine andere Verteilung des Sozialproduktes erhoffen zu wollen.
Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die jetzige Verteilung des Sozialprodukts etwa die einzig richtige und auf ewig gültige sei. Ein Zahlenbeispiel mag jedoch kurz erläutern, was hier gemeint ist: Zwischen 1950 und 1962 gelang es, das Bruttosozialprodukt (zur Ausklammerung aller Preisveränderungen in Preisen von 1954 ausgedrückt) um über 167 Mrd. DM auf 280,3 Mrd. DM zu erhöhen.
Dieser Hinweis auf den unbestreitbaren Erfolg dieser Politik lehrt, wie ungleich sinnvoller es ist, alle einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrung des Ertrages der Volkswirtschaft zu richten, als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben und sich dadurch von dem allein fruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktes abdrängen zu lassen. Es ist sehr viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen, weil auf solche Weise jeder Vorteil mit einem Nachteil bezahlt werden muß.
Wettbewerb contra Egoismus
Man mag mich manches Mal gescholten haben, weil mir für diese sterile Denkweise jedes Verständnis fehlte. Der Erfolg hat mir recht gegeben. Die deutsche Wirtschaftspolitik hat dahin geführt, daß der Ertrag, den alle aus der Wirtschaft ziehen, ohne jede Unterbrechung von Jahr zu Jahr angestiegen ist. Der private Verbrauch z. B. erhöhte sich von 1950 bis 1962 – wohlgemerkt wieder in Preisen von 1954 ausgedrückt – von 69 auf 175 Mrd. DM. Diese beachtliche Steigerung steht im internationalen Vergleich mit an erster Stelle. Nach Ermittlungen des Statistischen Bundesamtes stieg der Index des privaten Verbrauchs – preisbereinigt (1950 = 100) – in Westdeutschland im Jahre 1961 auf 236; in diesem Zeitraum erhöhte sich die Indexzahl in Großbritannien auf 127, in Schweden auf 137, in Frankreich auf 162 und in den USA auf 139. Auch wenn man die Vorkriegszeit als Basis wählt, übersteigt die westdeutsche Entwicklung diejenige des Durchschnitts aller OEEC-Länder bei weitem. Selbst die revolutionärste Umgestaltung unserer Gesellschaftsordnung hätte es niemals vermocht, den privaten Verbrauch dieser oder jener Gruppe auch nur um Bruchteile der tatsächlich erreichten Steigerung zu erhöhen; denn gerade ein solcher Versuch hätte zu einer Lähmung und Stagnation der Volkswirtschaft geführt.
Diese Skepsis gegenüber allen Streitigkeiten über die „gerechte“ Verteilung des Sozialprodukts erwächst auch aus der Überzeugung, daß so begründete Lohnkämpfe in enger geistiger Nachbarschaft zu vielfältigen Bemühungen auch anderer Interessenten, ja ganzer Volksteile stehen, sich auf Kosten anderer Vorteile verschaffen zu wollen. Dabei wird in leichtfertiger Weise verkannt, daß jedes geforderte Mehr immer eine größere Leistung voraussetzt. Ein derartiges geradezu kindisch zu nennendes Verhalten gefährdet in illusionistischer Verblendung zuletzt sogar die Grundlagen unseres Fortschritts. Auch hier ist vor allem die Bejahung des Wettbewerbs geeignet, dem Egoismus einen Riegel vorzuschieben. So wie es in einer gesunden Wettbewerbswirtschaft dem einzelnen nicht erlaubt ist, Sondervorteile für sich zu beanspruchen, so ist diese Art der Bereicherung auch ganzen Gruppen zu versagen.
Mein ständiges Drängen, alle Anstrengungen auf eine Expansion ohne Gefährdung der gesunden Grundlage unserer Wirtschaft und Währung zu richten, gründet sich gerade auf die Überzeugung, daß es mir auf solche Weise möglich sein kann, all denen, die ohne eigenes Verschulden wegen Alter, Krankheit oder als Opfer zweier Weltkriege nicht mehr unmittelbar am Produktionsprozeß teilhaben können, einen angemessenen, würdigen Lebensstandard zu garantieren.
Das Anwachsen der Sozialleistungen in den letzten Jahren erweist die Richtigkeit dieser These. Die Steigerung der öffentlichen Sozialleistungen in der Bundesrepublik von 9,8 Mrd. DM im Jahre 1949 auf über 47 Mrd. DM im Jahre 1962 war, wie auch die Rentenreform, nur über den wirtschaftlichen Fortschritt zu bewerkstelligen. Nur die Expansion hat es ermöglicht, auch die Armen mehr und mehr an der Wohlstandssteigerung teilhaben zu lassen. Wenn, wie gesagt, die Bundesregierung jetzt sogar eine weitere und wesentliche Erhöhung der Sozialleistungen gewähren kann, dann ist sie dazu nur deshalb in der Lage, weil die Wirtschaftspolitik auch für die Zukunft eine Steigerung unseres Sozialproduktes erwarten läßt.
Der Schlüssel zur Steuersenkung
Diese Bejahung einer Expansionspolitik wird auch noch unter anderen Gesichtspunkten zu einem zwingenden Gebot. Der realpolitische Betrachter wird akzeptieren müssen, daß der moderne Staat heute Riesenaufgaben zu bewältigen hat. Wenn sicher auch alles getan werden sollte, um eine Einschränkung artfremder Staatsfunktionen zu erreichen – mit dem konsequenten Abbau von Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften habe ich meinen Beitrag hierzu geleistet –, so wird man sich doch damit abfinden müssen, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Entlastung des Staates nicht sehr wahrscheinlich ist. Andererseits aber wird man das sehr berechtigte Anliegen aller Staatsbürger wie auch der Wirtschaft anerkennen wollen, dennoch zu einer Senkung der steuerlichen Belastung zu gelangen.
Dieses Ziel kann aber auch nur erreicht werden, wenn wir die Staatsausgaben wenigstens auf der gegenwärtigen, ja keineswegs unbeträchtlichen Höhe zu halten vermögen. Wenn nur dieses gelingt, dann wird in Zukunft die steuerliche Entlastung des Staatsbürgers und der Wirtschaft bei einer weiteren Steigerung des Sozialproduktes gleichwohl als Befreiung spürbar werden. Es eröffnen sich hoffnungsvolle Aspekte! Man bedenke doch nur, wie wesentlich geringer die steuerliche Belastung in zehn Jahren sein kann, wenn wir dann ein ganz wesentlich größeres Sozialprodukt gegenüber 87 Mrd. DM im Jahre 1950 und 224 Mrd. DM im Jahre 1959 erreicht haben werden (Nettosozialprodukt).
Dieser Ausblick mag durch nüchterne Tatsachen der jüngsten Vergangenheit belegt werden. Niemand wird behaupten mögen, daß die steuerliche Individualbelastung seit 1949 relativ gestiegen ist. Trotzdem erhöhten sich die Einnahmen der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden) von 23,7 Mrd. DM im Jahre 1949 auf 69,6 Mrd. DM im Rechnungsjahr 1958/59. Diese Steigerung beruht ausschließlich auf der rasanten Erhöhung unseres Sozialproduktes.
Wenn der von mir geforderte Ausgabenstop durchgesetzt und die Entwicklung des Sozialproduktes in ähnlicher Weise fortschreiten würde, dann ist leicht einzusehen und auszurechnen, welche Senkung der steuerlichen Belastung vorgenommen werden könnte. Nur auf diese Weise auch ist eine echte und wirklichkeitsnahe Lösung des uns alle bedrückenden Steuerproblems denkbar.
Mit dieser allgemeinen Wohlstandssteigerung leistet die Wirtschaftspolitik einen gewiß wertvollen Beitrag zu der Demokratisierung Westdeutschlands. Der deutsche Wähler hat anläßlich der Bundestagswahlen diese sehr betonte Absage an den Klassenkampf in überzeugender Weise honoriert.
Wenn sich somit als roter Faden durch jahrelange Bemühungen der Wunsch nach einer Steigerung des allgemeinen Wohlstands und als einzig möglicher Weg zu diesem Ziel der konsequente Ausbau der Wettbewerbswirtschaft zieht, dann schließt diese Wirtschaftspolitik auch eine Erweiterung des Katalogs der traditionellen menschlichen Grundfreiheiten ein.
Die wirtschaftlichen Grundrechte
Hierbei ist zuvorderst an die Freiheit jedes Staatsbürgers gedacht, das zu konsumieren, sein Leben so zu gestalten, wie dies im Rahmen der finanziellen Verfügbarkeiten den persönlichen Wünschen und Vorstellungen des einzelnen entspricht. Dieses demokratische Grundrecht der Konsumfreiheit muß seine logische Ergänzung in der Freiheit des Unternehmers finden, das zu produzieren oder zu vertreiben, was er aus den Gegebenheiten des Marktes, d. h. aus den Äußerungen der Bedürfnisse aller Individuen, als notwendig und erfolgversprechend erachtet. Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewußtsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden. Gegen sie zu verstoßen sollte als ein Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen wie Diktatur und Staatswirtschaft.
Die Verwirklichung des Gedankens der Wohlstandsmehrung zwingt zum Verzicht auf jede unredliche Politik, die dem nur optischen Scheinerfolg den Vorzug vor dem echten Fortschritt gibt. Wem dieses Anliegen ernst ist, muß bereit sein, sich jedweden Angriffen auf die Stabilität unserer Währung energisch zu widersetzen. Die soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar. Nur diese Politik gewährleistet auch, daß sich nicht einzelne Bevölkerungskreise zu Lasten anderer bereichern.
Solche Versuche haben gerade in jüngster Vergangenheit vielfache Ausprägungen erfahren. Hier seien z. B. die Vereinbarungen der Sozialpartner erwähnt, deren Effekt bereits dahin geführt hat, daß Lohnerhöhungen den Produktivitätsfortschritt übersprungen haben und damit gegen den Grundsatz der Preisstabilität verstoßen. Der gleiche Vorwurf trifft die Unternehmer, wenn sie aus solchem Anlaß oder aus Eigennutz in höhere Preise glauben ausweichen zu können. Die Schuld würde sogar zum Fluch werden, wenn da jemand eine bewußt inflationäre Entwicklung fördern wollte, um auf solche Weise zu leichterer Rückzahlung aufgenommener Kredit befähigt zu werden. Es liegt mir fern, einen solchen Verdacht zu äußern, um so mehr, als wohl niemand daran zweifeln kann, daß bereits ein solcher Versuch zur politischen Katastrophe führen müßte.
Die Gewerkschaften sollten sich deshalb auch fragen, ob sie mit ihrer aktiven Lohnpolitik nicht die Geschäfte verantwortungsloser Spekulanten besorgen, wenn diese zu Preissteigerungen führen muß. Die Reaktion des deutschen Volkes selbst auf die geringen Preiserhöhungen zeigt sich in einem deutlichen Rückgang der Sparrate von beispielsweise einem Einzahlungsüberschuß von 188 Mill. DM im Juli 1955 zu einem Auszahlungsüberschuß von 109 Mill. DM im Juli 1956. Diese bedenkliche Entwicklung konnte erst durch energische Maßnahmen der Bundesregierung gewendet werden.
Es sind aber nicht nur ökonomische, sondern auch soziologische und politische Gefahren, die uns von einer solchen Fehlentwicklung her bedrohen müßten. Solche Gedanken konsequent zu Ende gedacht, sollten uns veranlassen, die Währungsstabilität in die Reihe der menschlichen Grundrechte aufzunehmen, auf deren Wahrung durch den Staat jeder Staatsbürger Anspruch hat.
Kostspielige Pyrrhussiege
Diese Prinzipien sind indessen nur dann zu verwirklichen, wenn die öffentliche Meinung entschlossen ist, ihnen den Vorrang vor allen egoistischen Sonderinteressen einzuräumen. Es bedarf keiner weiteren Beweise, um zu erkennen, wie sehr die Demokratie durch das Ausspielen und Durchsetzen von Machtpositionen gefährdet ist. Man braucht noch nicht einmal Pessimist zu sein, um zu der Feststellung gelangen zu müssen, daß viele Demokratien sich insoweit in einer ernsten Krise befinden. Das Problem der Einordnung der organisierten Gruppeninteressen in das Gesamtgefüge von Volk und Staat ist jedenfalls noch lange nicht befriedigend gelöst. Diese also noch nicht bewältigte Aufgabe verleitete in jüngster Zeit in wachsender Zahl immer mehr Gruppen dazu, der Volkswirtschaft im ganzen mehr abzuverlangen, als diese zu leisten und zu geben vermag. Alle so erzielten Erfolge erweisen sich schon heute dem Wissenden als Pyrrhussiege. Jeder einzelne Staatsbürger bezahlt sie in Form leicht ansteigender Preise täglich und stündlich buchstäblich in Mark und Pfennig.
Es ist kein Trost, sondern mehr eine Schande, daß diese fragwürdigen Erfolge zum größten Teil auf Kosten jener Bevölkerungsschichten erzielt werden, die aus soziologischen Gründen nicht in der Lage sind, ihren Standpunkt in ähnlich massiver Weise durchzusetzen. Die jüngsten Preissteigerungen sind nahezu ausschließlich darauf zurückzuführen, daß man allenthalben wider besseres Wissen handelte und alle Mahnungen und Beschwörungen, Maß zu halten, mißachtet wurden.
Es ist hohe Zeit, sich im Hinblick auf eine gesicherte Zukunft unseres jungen demokratischen Staates wieder auf den Pfad der Tugend zurückzubegeben. In dieser Forderung verschmelzen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu einer Einheit. In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist das Gedeihen der Wirtschaft auf das engste mit dem Schicksal des Staates verwoben, wie umgekehrt die Anerkennung jeder Regierung und des Staates von dem Erfolg oder Mißerfolg der Wirtschaftspolitik unmittelbar berührt wird. Diese Interdependenz von Politik und Wirtschaft verbietet es, in „Kästchen“ zu denken. So wie sich der Wirtschaftspolitiker dem Leben des demokratischen Staates verpflichtet fühlen muß, hat umgekehrt auch der Politiker die überragende Bedeutung des wirtschaftlichen Seins der Völker anzuerkennen und dementsprechend zu handeln.
Die in der Bundesrepublik praktizierte soziale Marktwirtschaft hat Anspruch darauf, von den Politikern als mitbestimmender und mitgestaltender Faktor bei dem Aufbau unseres demokratischen Staates anerkannt zu werden; diese Wirtschaftspolitik hat in kürzester Frist eine geschichtlich einmalige Wiederaufbauarbeit zu vollbringen vermocht. Es ist ihr nicht nur gelungen, einer um ein Viertel vermehrten Bevölkerung Arbeit und Brot zu geben, sondern diese Menschen auch über das Wohlstandsniveau der besten Vorkriegsjahre hinauszuführen. Die soziale Marktwirtschaft ist den harten, aber redlichen Weg des Wiederaufbaues gegangen – aber gerade damit hat sie das Vertrauen der Welt zurückgewonnen.