materializing feminism
Positionierungen zu
Ökonomie, Staat und Identität
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Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller, Lea Haneberg (Hg.)
materializing feminism
Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität
2. Auflage, März 2020
ebook UNRAST Verlag, April 2020
ISBN 978-3-95405-060-4
© UNRAST-Verlag, Münster 2018
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Satz: Andreas Hollender, Köln
Umschlag: cuore.berlin
Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller, Lea Haneberg
Plädoyer für einen materialistischen Feminismus
I. Feministische Räume und Differenzen
Gudrun-Axeli Knapp
Mut zur Kontroverse!
Feministische Kritik zwischen Antigenderismus und akademischer Spezialisierung
Friederike Beier und Meret Matthes
Raum für Feminismus: Stimmen aus der feministischen Praxis
II. Ökonomie und Staat
Lisa Yashodhara Haller
Kapital – Staat – Geschlecht
Eine theoretische Analyse der Vermittlungszusammenhänge
Friederike Beier
Soziale Reproduktion, doppelte Landnahme und internationale Politik
III. Identitäten und Materialitäten
Andrea Trumann
Von der Dekonstruktion der Identität hin zu ihrer Verfestigung
Eine Auseinandersetzung mit Judith Butler und ihren Adept*innen
Juliana Moreira Streva
Identitätspolitik postkolonial:
Zur Debatte um Identitätspolitik in Lateinamerika
Fabian Hennig
Feministische Kritik am New Materialism
Lucia Artner im Gespräch mit Lisa Yashodhara Haller
Die Materialität der Dinge in der Pflege
IV. Feministische Praxen und Perspektiven
Anna Stiede
Materializing Feminism?
Heißt: Um den sozio-erotischen Körper ringen!
Für eine leidenschaftliche feministische Klassenpolitik
oder Wie wir beginnen, das Tanzbein zu schwingen
Verena Letsch und Isabell Merkle
Anders zusammen, zusammen anders
Vom Differenzfeminismus lernen
Bini Adamczak im Gespräch mit Friederike Beier
Feminismus im Herzen der Revolution materialisieren
Die Autor*innen und Herausgeberinnen
Anmerkungen
I.
Feministische Räume und Differenzen
II.
Ökonomie und Staat
III.
Identitäten und Materialitäten
IV.
Feministische Praxen und
Perspektiven
Das Leben im Kapitalismus gleicht einem Markt: Sogar Wellness- und Abenteuer-Erlebnisse werden online gebucht, zeiteffizient konsumiert und anhand von Kosten-Nutzen-Kriterien evaluiert. Gleichermaßen werden soziale Beziehungen rationalisiert. Sie müssen sich lohnen, damit in sie emotional investiert wird. Liebesbeziehungen werden auf ihre Passgenauigkeit für den eigenen Lebensstil und auf ihren sozialen Mehrwert hin bewertet. Dabei helfen Online-Dating-Börsen, die durch Algorithmen Effizienz und Objektivität in der Suche nach Lebensabschnittsgefährt*innen versprechen. Wir leben in einer Zeit, in der kapitalistische Wirtschaftsweisen alle Lebensbereiche durchziehen. Sie dringen in unsere intimsten Bereiche ein und bestimmen unseren Alltag, unser Leben und unsere Gefühle. Sie vereinnahmen nicht nur Arbeitsweisen, was schlimm genug wäre, sondern prägen unsere Freundschaften, Familien und Liebesbeziehungen. Und obgleich die ökonomische Vereinnahmung aller Lebensbereiche in den Printmedien, den Universitäten oder in Twitter- und Facebook-Posts[1] tagtäglich kritisiert wird, scheint sie unangreifbar. Der homo oeconomicus ist allgegenwärtig und scheinbar geschlechtslos.
Dabei bleibt es uns überlassen, wie wir innerhalb dieser Wirtschaftsweisen unser Selbst formen. Kein Wunder also, dass unsere Identitäten zum heiß begehrten Betätigungsfeld werden. Dabei eröffnet sich uns eine schier grenzenlose Arena der Handlungsmöglichkeiten: Es wird uns[2] suggeriert, dass wir frei sind zu lieben, wen und wie wir möchten, und uns selbst so zu definieren, wie wir sein wollen. Und da die ökonomischen Verhältnisse kaum mehr gestaltbar erscheinen, ist es naheliegend, die eigene Handlungsfähigkeit in der Sphäre grenzenloser Selbstentfaltung und -optimierung zu erproben: durch ein neues Tattoo etwa oder vegane Ernährung. Unsere Identität hegen und pflegen wir als Ausdruck und Bestätigung unserer Handlungsmacht. In diesen gesellschaftlichen Trend reihen sich viele gegenwärtige feministische Theorien und ihre Praxen nahtlos ein. Je weniger die kapitalistische Verwertungslogik hinterfragt wird und sich so als das absolute Prinzip verallgemeinert, desto verheißender klingen ›einfache‹ Freiheitsversprechen – die nicht zuletzt auch im Feminismus dargeboten werden.
Eine Monopolstellung genießt derzeit das liberalfeministische Anliegen, an die Selbstermächtigung von Frauen zu appellieren. Die sich aus der Theorie des Liberalfeminismus ergebenden Handlungsempfehlungen rufen Frauen dazu auf, gesellschaftliche Zuschreibungen zurückzuweisen, Firmen zu leiten und als Mutter Karriere zu machen. Jede Frau, so die zentrale Botschaft, könne ihr Ziel durch eigene Kraft erreichen, als ob sich die geschlechtliche Benachteiligung allein durch die Leistung von Frauen von selbst erledigen würde (Haller / Fischer 2017). Sozialer Aufstieg, ökonomische Emanzipation und individuelles Glück scheinen in greifbarer Nähe, sofern es einem als Frau gelingt, sich gegen tradierte Zuschreibungen zur Wehr zu setzen. Diese verheißungsvolle Botschaft von individueller Handlungsmacht und Wahlfreiheit überdeckt, dass Strukturen Handlungsmacht eingrenzen, denn indem die Verantwortung an die Subjekte zurückgespielt wird, erscheint alles möglich. Die Ausblendung struktureller Faktoren sowie historischer und gesellschaftlicher Verhältnisse verdeckt die Hauptursachen, die eine gleichberechtigte Partizipation von Frauen am gesamten öffentlichen Leben verhindern. Was fehlt, ist die Einsicht, dass individueller Erfolg im kapitalistischen Wirtschaftssystem ebenso wie das System selbst auf einer zentralen Voraussetzung basiert: der Liebe, Fürsorge und Versorgung durch Andere. Die Tatsache, dass mehrheitlich Frauen diese Versorgung leisten, hindert sie daran, ein vermeintlich freies und selbstbestimmtes Leben nach den Normen eines fürsorgebefreiten Mannes zu führen.
Doch liberalfeministische Strömungen bleiben nicht unter sich, wenn es um das Versprechen geht, durch individuelle Handlungsweisen ›schnell‹ die ersehnte Freiheit zu erlangen. Auch konstruktivistische Ansätze, die deutlich machen, dass die herrschende Geschlechterordnung durch soziales Handeln entsteht, verlocken mit einer individuellen Dekonstruktion durch alternative Praxen. Auch hier ist es das eigene Handeln, mit dem unser Geschlecht und unsere Umwelt vermeintlich dekonstruiert werden können. Denn, so die frohe Botschaft, soziale Wirklichkeit ist immer ein Konstrukt – entsprechend bringt Dekonstruktion die ersehnte Befreiung und somit ist alles möglich. Auf diese Weise wird die Verwobenheit des Kapitalismus mit den Ungleichheitsverhältnissen Geschlecht, Race und Klasse in vielen feministischen Strömungen schlichtweg ignoriert.
Vor diesem Hintergrund kritisieren wir als Herausgeberinnen des Bandes den Rückzug auf individuelle Identitäten als eine restriktive und langfristig wenig emanzipatorische Bewältigungsstrategie. Die Widersprüche, die wir im Kapitalismus erleben, werden dabei als persönliche Unzulänglichkeiten gewertet, die durch Techniken der Optimierung, intensives Yoga, regelmäßige Achtsamkeitsübungen, proaktive Ignoranz, durch Leistung oder aber Entspannung behoben werden können. Je mehr Bereiche den Prinzipien kapitalistischer Verwertungslogik folgen, desto befreiender erscheint der Verweis auf das eigene Ich. Der Selbstbezug bringt Klarheit in der eigenen Positionierung und macht dadurch handlungsfähig. Aber verändert er auch unsere Gesellschaft, welche die Bedingungen, vor denen wir fliehen, erst hervorbringt?
Uns erscheint diese Form der Widerspruchsbewältigung als problematisch, weil sie die alltäglichen Konflikte nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückführt, weshalb deren Veränderung ausgeschlossen bleibt (Haug / Hauser 1986: 174). Das Streiten für die Freiheit von Frauen erachten wir nach wie vor als ein notwendiges und ehrenwertes Anliegen. Jedoch kommt bei dem Plädoyer an Frauen, ›einfach‹ die Zuschreibungen an das weibliche Geschlecht zurückzuweisen, etwas Wesentliches zu kurz: das Erkennen, dass wir als Subjekte durch und durch gesellschaftlich bestimmt sind. Umgekehrt wird ebenso die Gesellschaft von Menschen gemacht und kann daher auch von Menschen verändert werden. Aber eben erst dann, wenn wir aus der Vereinzelung heraus und in Kontakt zu anderen Menschen treten, Beziehungen aufbauen und uns organisieren. Erst in der Interaktion mit anderen wird Veränderung gegenständlich.
In Anlehnung an die Marx’sche Terminologie einer politischen Ökonomie benennen wir daher Gestaltungsspielräume und Perspektiven für einen materialistischen Feminismus. Ökonomie ist als Resultat einer Verallgemeinerung von Lebensweisen der Subjekte zu bestimmen. Um die materiellen Bedingungen des Lebens zu produzieren und zu reproduzieren, vollziehen Menschen Interaktionen, sie handeln in den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie vorfinden, in denen sie leben, arbeiten, für andere sorgen, lieben, denken und fühlen (Haller in diesem Band). Da sie in ihrem Handeln durch die gesellschaftlichen Verhältnisse begrenzt sind und sich bestimmte Handlungsweisen als effektiv erweisen, werden Lebens- und Wirtschaftsweisen unter kapitalistischen Bedingungen verallgemeinert, was sich für die beteiligten Subjekte jedoch als »unsichtbarer Mechanismus« (Marx 1962: 59) vollzieht.
In dieser Verallgemeinerung der Lebensweisen und ihrer Ausrichtung kommt dem Staat eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Staatliches Handeln stellt sicher, dass die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen erhalten bleiben. Damit trägt der Staat maßgeblich zur Stabilität von Geschlechterungleichheit bei, auch wenn er vorgibt, diese abschaffen zu wollen. Durch Gleichstellungspolitiken sollen etwa für bestimmte privilegierte Frauen Möglichkeiten geschaffen werden, in einer männlich dominierten Arbeitswelt zu bestehen und eine Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu finden. Dabei bleibt die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung im Haushalt jedoch unangetastet, was mit einer Individualisierung der Verantwortung und Kosten für Haus- und Sorgetätigkeiten einhergeht. In diesem Prozess werden feministische Themen und Ziele vereinnahmt, ohne jedoch die emanzipatorischen Grundlagen feministischer Anliegen zu übernehmen (Beier in diesem Band). Feministische Theorien und Praxen sind daher auf der einen Seite mit Vereinnahmungen ihrer Ideen durch staatliche Politik und mit den Zurichtungen ökonomischer Verhältnisse konfrontiert. Auf der anderen Seite stehen sie einer rechtspopulistischen und autoritären Wende gegenüber, die – allzu oft – im Namen ›der Frauen‹ betrieben wird.
Was also tun angesichts dieser vielfältigen Probleme und Herausforderungen unserer Zeit? Hier setzt materializing feminism an: materialize bedeutet manifestieren, verstofflichen, gegenständlich machen (TOP 2018). Der Sammelband macht Kontroversen und aktuelle Herausforderungen feministischer Theorie und Praxis sichtbar und verleiht ihnen gesellschaftliches Gewicht. Zugleich handelt es sich bei materializing feminism um einen Prozess, der feministische Ökonomie- und Gesellschaftskritik, also die Analyse der materiellen Grundlagen der Gesellschaft und ihrer Geschlechterverhältnisse, mitdenken und sichtbar machen will.
Ein materialistischer Feminismus nimmt Gesellschaft als Ganzes in den Blick und erklärt innerhalb dieses Gesamtgefüges die Materialisierung von geschlechtlichen Beziehungen und anderen Ungleichheitsverhältnissen. Mit dem historischen Materialismus hat er gemeinsam, die Verhältnisse nicht nur deskriptiv zu beschreiben, sondern auch verändern zu wollen. Mit dem marxistischen und sozialistischen Feminismus teilt er die Ansicht, dass die kapitalistische Arbeitsteilung zwischen Reproduktion und Produktion die Grundlage für Geschlechterungleichheit in ihrer heutigen Form bildet und dass soziale Kämpfe daher mit dem Kampf um die Verbesserung der Bedingungen für Reproduktionsarbeit verbunden gehören. Gleichzeitig sind im materialistischen Feminismus auch Ansätze einer postmodernen Theorie vertreten, die die Relevanz von Wissen, Bedeutungen und Ideologien für die Materialitäten der Subjekte herausstellt (Hennessy / Ingraham 1997: 7).
Materialistischer Feminismus begreift daher gesellschaftliche Bedingungen als konstruiert; als nicht durch individuelles Handeln, sondern durch Austauschbeziehungen und Bedeutungszuschreibungen hergestellt. Das bedeutet, dass Gesellschaft veränderbar ist. Ein materialistischer Feminismus benennt die Voraussetzungen, unter denen sich Subjekte jenseits gesellschaftlicher Hierarchien und sozialer Platzanweisungen zusammenschließen können, um Gesellschaft zu gestalten. Was es dazu unserer Ansicht nach braucht, ist eine lebendige Kollektivität, in der Aushandlungen darüber stattfinden, wie wir eigentlich leben, lieben und arbeiten möchten. Dazu gehört auch die Frage, wie wir unsere Identität und Geschlechtlichkeit leben und das Sorgen um uns und andere organisieren möchten. Denn unserer Überzeugung nach entsteht wirkliche Freiheit erst dann, wenn Menschen verbindliche Verantwortung füreinander übernehmen. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass sich die Beiträge des Bandes mit den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen beschäftigen, nach den Auswirkungen für gesellschaftliche und geschlechtliche Ungleichheit fragen sowie Perspektiven und kollektive Handlungspraxen aufzeigen.
Dieser Sammelband vereint feministische Ansätze und Debatten zu gesellschaftlichen Materialitäten. Damit wollen wir den Blick für die spezifische Verfasstheit und Funktionsweise der geschlechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse schärfen. Durch den Fokus auf die Bedingtheit der historischen und gesellschaftlichen Materialitäten können diese jedoch nicht nur erklärt, sondern auch angegriffen und verändert werden. Dieses »emanzipatorische Wissen« (Hennessy / Ingraham 1997: 5) bildet die Grundlage für jede gesellschaftliche Veränderung. Daher beschäftigt sich dieses Buch mit Theorien, Organisierungsformen sowie aktuellen Debatten und Kämpfen aus der Perspektive eines feministischen Materialismus.
Der Sammelband ist in unterschiedliche thematische Schwerpunkte unterteilt. Im ersten Teil des Buches geht es um feministische Räume und Differenzen. Gudrun-Axeli Knapp macht den Anfang und widmet sich dem aktuellen Stand feministischer Theorieentwicklung. Sie fragt, warum gegenwärtig keine Debatte im feministischen Theoriediskurs stattfindet und wie eine Öffentlichkeit gestaltet sein müsste, in der eine solche Kontroverse geführt werden könnte.
Eine (Teil-)Öffentlichkeit, in der feministische Theorie, politische Praxis und persönliche Erfahrungen diskutiert werden, schaffen Friederike Beier und Meret Matthes in ihrem Frauenraum auf Papier. In ihrer Interviewcollage mit Stimmen von Feministinnen aus der politischen Praxis zeigen sie, was Frauen heute dazu veranlasst, feministische Aktivistinnen zu werden, und welche Theorien und Organisationsformen ihnen dabei behilflich sind.
Die Beiträge des folgenden Themenschwerpunktes untersuchen die Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Staat. Der Beitrag von Lisa Yashodhara Haller begibt sich auf die Suche nach den ganz großen Zusammenhängen, indem sie der Frage nachgeht, wie Kapital, Staat und Geschlechterverhältnisse miteinander vermittelt sind. Sie zeigt auf, wie durch das Strukturproblem kapitalistischer Ökonomien, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht gewährleisten können, der Staat gefordert ist, Tätigkeitsbereiche voneinander abzuspalten. Und sie veranschaulicht, wie innerhalb dieser arbeitsteiligen Arrangements Geschlechter durch die Subjekte hergestellt und reproduziert werden.
Friederike Beier beschäftigt sich mit dem Theorem der Landnahme – also der Inwertsetzung von Allgemeinwesen im Kapitalismus – aus einer feministischen und intersektionalen Perspektive. Sie untersucht, wie internationale Organisationen soziale Reproduktionsarbeit anerkennen und wertschätzen wollen. Da damit eine zentrale Forderung der Frauenbewegung in die Praxis umgesetzt wird, fragt sie in ihrem Beitrag, ob internationale staatliche Politik die Bedingungen für unbezahlte Haus- und Sorgearbeit tatsächlich verbessert und inwiefern feministische Theorie und Praxis in diesem Prozess vereinnahmt werden.
Den thematischen Schwerpunkt zu Identitäten und Materialitäten beginnt Andrea Trumann. Sie befasst sich mit der feministischen Theorieentwicklung und ihren Fallstricken, indem sie fragt, wie eine Theorie, die einmal für die Dekonstruktion von Identitäten stand, zu einer Theorie der Vervielfältigung und Verfestigung derselben werden konnte. Juliana Streva nimmt feministische Debatten um Identität in Lateinamerika in Augenschein und zeigt auf, inwiefern Identitäten vor Ort entlang der Machtverhältnisse von Sexismus, Rassismus und Kapitalismus konstruiert werden. Fabian Hennig untersucht das Konzept des New Materialism. Er beleuchtet, inwiefern sich der neue Materialismus auf ältere feministisch-materialistische Theorien bezieht, die auf die materielle Gewalt herrschender Geschlechterverhältnisse – etwa geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und körperlicher sowie sexueller Gewalt – aufmerksam machten. Der neumaterialistische Einwand gegenüber den vorherrschenden diskurstheoretischen Paradigmen lautet, dass diese vor lauter Beschäftigung mit der kulturellen Deutung der Dinge die Materie selbst aus den Augen verloren hätten. Auch das Interview mit Lucia Artner dreht sich rund um die Materialitäten der Dinge. Genauer geht es darum, wie Materialitäten in der Pflege mit Geschlechterverhältnissen und sozialer Ungleichheit zusammenhängen.
Der letzte Themenschwerpunkt widmet sich feministischen Praxen und Perspektiven. Dort greift anna stiede die linke Forderung nach einer neuen Klassenpolitik auf und beschäftigt sich am Beispiel des Tanzen-Gehens mit der Rolle von Körpern für gesellschaftliche Veränderungen. Verena Letsch und Isabell Merkle schreiben aus einer differenzfeministischen Perspektive über die Notwendigkeit eines Austausches und Voneinander-Lernens unter Frauen für eine emanzipatorische Politik. Sie fragen, wie aus der Perspektive eines feministischen Materialismus Differenz hergestellt und damit Freiheit gewonnen werden kann. Darüber hinaus verdeutlichen sie das Befreiungspotenzial, das differenzfeministische Kollektive freizusetzen imstande sind. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Interview mit Bini Adamczak, in dem sie darüber spricht, warum Feminismus im Herzen der Revolutionen von 1917 und 1968 verankert ist, welche revolutionäre Kraft darin liegt, Queer-Feminismus und materialistische Ansätze zusammenzudenken und warum feministische Perspektiven darin bestehen, das gesellschaftliche Geschlecht radikal zu gestalten.
Die Idee zu diesem Buch hat sich nicht im Alleingang materialisiert, sondern ist ein kollektiver Denk- und Arbeitsprozess gewesen. Wir möchten uns daher bei allen, die an der Erstellung dieses Sammelbandes mitgewirkt haben, herzlich bedanken: Bei allen Autor*innen für ihre Beiträge und die inspirierende Zusammenarbeit, dem Unrast Verlag für sein Vertrauen in uns und insbesondere Marie Bickmann für ihre aufmerksame und geduldige Betreuung, bei unserer Lektorin Birgit Lulay für ihren Blick von außen und die konstruktive Textarbeit, bei der Übersetzerin Sarah Hönig für ihre gelungene Übersetzung von Juliana Strevas Beitrag und bei cuore.berlin für die grafische Umsetzung unserer Ideen für das Buch-Cover. Für diese großartige Erfahrung einer kollektiven Materialisierung sind wir sehr dankbar!
Danken möchten wir außerdem den Feminist*innen, die anlässlich des internationalen Frauenkampftages am 8. März 2018 ein Symposium mit dem Titel materialize feminism veranstaltet haben. Diese Veranstaltung und die dort geführten Diskussionen haben uns nicht nur zu unserem Buchtitel angeregt, sondern auch wertvolle Ideen zum Inhalt dieses Buches gegeben. Abschließend hoffen wir auf weitere Anlässe, die hier aufgeworfenen Themen im Sinne eines materialistischen Feminismus zu diskutieren und, wie es auch Koschka Linkerhand (2018) in ihrem jüngst veröffentlichten Sammelband fordert, mit Leidenschaft über diese feministisch zu streiten.
Haller, Lisa Yashodhara / Fischer, Diana (2017): Denn der Weg entsteht erst, wenn man ihn geht – Leistung als Antwort auf die neue alte Frauenfrage? Auf SOZIOPOLIS. Gesellschaft beobachten. https://soziopolis.de/lesen/netzwelten/artikel/denn-ein-weg-entsteht-erst-wenn-man-ihn-geht/.
Haug, Frigga / Hauser, Kornelia (1986): Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen 2. Argument-Sonderband 130. Berlin: Argument Verlag.
Hennessy, Rosemary / Ingraham, Chrys (1997): Materialist Feminism: A Reader in Class, Difference, and Women’s Lives. New York: Routledge.
Linkerhand, Koschka (Hg.) (2018): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin: Querverlag.
Marx, Karl (1962 [1867]): Das Kapital (MEW 23). Berlin: Dietz.
TOP (2018): Ankündigung des Symposiums mit dem Titel materialize feminism zum Frauenkampftag am 8. März 2018.
Ein Plädoyer für Mut zur Kontroverse kann sich im Feld feministischer Kritik grundsätzlich auf zwei Phänomene beziehen, die miteinander zusammenhängen: zum einen auf Kontroversen um Feminismus, zum anderen auf Kontroversen im Feminismus. Kontroversen um Feminismus gibt es reichlich, und es hat sie immer gegeben, wenn Frauen sich in Bewegung setzten. Das Irritationspotenzial, das der Problematisierung von Geschlechterverhältnissen innewohnt, ruft anscheinend mehr als andere Formen der Gesellschaftskritik Widerstand hervor.
In zeitspezifischen Ausprägungen mischen sich polemische Formen der Abwehr mit aggressiven Beschwichtigungen und dem Herunterspielen der Probleme, auf die feministische Kritik sich richtet. Zum Repertoire der Beschwichtigungsformeln gehören pauschale Behauptungen vom Veraltetsein des Feminismus und von der sinkenden gesellschaftlichen Bedeutung seiner zentralen Analysekategorie Geschlecht. Im merkwürdigen Kontrast dazu steht das gegenwärtig anschwellende Feminismus- und Gender-Bashing in Print-Medien und Internet-Foren, in dem sich ressentimentgeladene Äußerungen von rechts bis links zu einem dissonanten Chor formieren. Die jüngsten Ereignisse, an denen sich Kontroversen um Feminismus in all ihrer Widersprüchlichkeit entzündet haben, waren die sexualisierten Übergriffe der Silvesternacht 2015/16, für die ›Köln‹ zur Chiffre wurde, und die Kampagnen um Sexismus in der Filmbranche und im Kulturbetrieb. Dass Kontroversen um Feminismus sich im Feminismus auswirken, wird hier exemplarisch deutlich.
Die Schwierigkeit, über Sexismus in angemessener Weise zu sprechen, manifestiert sich im Kontext dieser Ereignisse in verschiedenen symptomatischen Formen: Vorwürfe moralisierender Political Correctness – ständige Begleiter jeder Skandalisierung sexualisierter Gewalt – stehen neben Vereinnahmungen feministischer Kritik im Dienste okzidentalistischer Überlegenheitsdiskurse einerseits und antirassistisch motivierten feministischen Vorschlägen eines strategischen Schweigens zu sexistischen Übergriffen durch junge zugewanderte Männer andererseits (vgl. Hark / Villa 2017; Dietze 2017). Dass die Rede vom toxischen Feminismus, eine im anti-feministischen Diskurs gängige Abwehrformel, inzwischen auch von Feministinnen zur Kritik und Abgrenzung im innerfeministischen Diskurs verwendet wird, deutet auf die Spannungen hin, denen das Feld derzeit ausgesetzt ist.
Vor diesem Hintergrund ist das Phänomen bemerkenswert, das im Folgenden im Zentrum stehen soll: der Mangel an artikuliertem Widerstreit im Feminismus. Damit meine ich nicht, dass Feministinnen nicht Feministinnen öffentlich kritisieren würden. Die Rassismusvorwürfe an Alice Schwarzer zum Beispiel kommen ja von Feministinnen. Mir geht es um den Mangel an artikuliertem Widerstreit im Feld der Theorie und in der Selbstreflexion des akademischen Feminismus als Form der Kritik von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Wenn man bedenkt, welche disziplinübergreifende Bedeutung klärende Grundsatz- und Grundlagendebatten zumindest bis zur Jahrtausendwende hatten, und wenn man, wie ich, gerade in dem charakteristischen debattenförmigen Verlauf kollektiver Lern- und wechselseitiger Abarbeitungsprozesse ein Zeichen der Vitalität des Feminismus als heißer epistemischer Kultur sieht, dann ist das Aussetzen des Widerstreits besorgniserregend.
Nun könnte man darüber spekulieren, dass die Nichtartikulation von Dissens eine Reaktion auf die sich formierenden Gegenkräfte sein könnte: ein Schulterschluss gegen Angriffe ›von außen‹, angesichts derer mögliche Differenzen ›nach innen‹ an Gewicht verlieren. Ich vermute aber andere Gründe hinter dem Status quo einer »Nicht-Kontroverse«, wie das Helga Nowotny bereits in den 70er-Jahren in einem Aufsatz über Controversies in Science genannt hat (Nowotny 1975: 34-45). Die Gründe für das Nicht-Stattfinden einer Kontroverse hängen mit der Erfolgsseite dessen zusammen, was schon früh Barbara Holland-Cunz als erfolgreiches Scheitern feministischer Kritik beschrieben hat (Holland-Cunz 1994). Eine Nicht-Kontroverse ist dadurch gekennzeichnet, dass auf vorhandene Differenzen indifferent, das heißt mit Gleichgültigkeit, reagiert wird: »the difference does not matter« (Nowotny 1975: 43), schreibt Helga Nowotny, sie wird nicht aktiviert. Dabei ist es die Performanz von Differenz, die den Konstitutionsprozess einer Kontroverse ausmacht.
Angesichts der basalen Aporie des feministischen Projekts, die sich ja in ihren Grundzügen nicht geändert hat, ist die gegenwärtige Lage erklärungsbedürftig.
Unter aporetischer Grundstruktur verstehe ich gleichzeitige Unverzichtbarkeit und Schwierigkeit des Bezugs auf ein Wir der Kritik. Unverzichtbar ist eine regulative Idee geteilter Interessen angesichts der – weltweit verbreiteten – Phänomene von Dominanz und Ungleichheit im Geschlechterverhältnis. Unmöglich oder zumindest schwierig ist es aber, diese Perspektive in der jeweiligen Konkretion ohne Brechungen aufrechtzuerhalten. Wenn in den 70er-Jahren von der unendlichen Monotonie und der gleichzeitig endlosen Variabilität von Unterdrückung im Geschlechterverhältnis gesprochen wurde (Rubin 1975: 160), dann spielte das auf diese Problematik an. Die politische oder epistemische Referenz auf ein Wir (seien das nun ›Frauen‹ oder ›Feminist*innen‹ oder ›Genders‹) treibt sowohl das Zur-Geltung-Bringen von Kontextvariation als auch von Ungleichheit und Differenz innerhalb des jeweiligen Referenzkollektivs systematisch hervor. Dies gilt für beide – oft miteinander verwobene – Dimensionen des Referenzkollektivs: Die Gemeinsamkeit eines Wir konstituiert sich, weil wir bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Konflikte politisch zum Problem machen und/oder die Gemeinsamkeit eines Wir basiert darauf, dass wir die sind, die wir sind. Zwar spielen Differenz und Ungleichheit unter Frauen schon seit den Anfängen der Frauenbewegung eine wichtige Rolle im feministischen Diskurs. Unter dem Stichwort ›Intersektionalität‹ ist die Frage nach den vielen Gesichtern von Unterdrückung und Diskriminierung – ausgehend von der Kritik des Black Feminism – jedoch radikalisiert worden (vgl. Lutz / Vivar/ Supik 2010).
Diese Dialektik muss reflektiert und ausgetragen werden, um den politischen Rahmen der »imagined community« (Anderson 1983: 6) feministischer Kritik überhaupt halten zu können. Und genau diese Struktur ist es letztlich, die in der Geschichte der zweiten Frauenbewegung und des akademischen Feminismus immer wieder das Feld organisierende Debatten und kollektive Lernprozesse angestachelt hat. Aber was ist heute los im deutschsprachigen[3] akademischen Feminismus und in der feministischen Theorie, die ja von Anfang an ein wesentlicher Generierungs- und Austragungsort solcher Kontroversen waren? Gibt es keine Anlässe zur Kontroverse, weil sich im Inneren so viel an unterschiedlich formatierten Differenzen artikuliert, dass sich die Kontur einer Kontroverse nicht herausbilden kann? Oder gibt es Angst vor Kontroversen, weil der Rahmen insgesamt fragiler oder diffuser geworden ist als zu den Zeiten, als Kontroversen noch als Schwesternstreit (Cramon-Daiber / Jaeckel / Köster 1987) gefasst wurden? Wie passt die Abwesenheit von Kontroversen zu den auseinanderweisenden Geschichtserzählungen über den Feminismus? Den Verlust- und Verfallserzählungen, die die Geschichte als Entwicklung von den radikalen Anfängen feministischer Kritik, in der Theorie und Praxis von Gesellschaftskritik zusammengehörten, hin zu Stillstand, Vereinnahmung und Komplizenschaft der Genderei mit dem gesellschaftlichen Status quo beschreiben? Oder den aus der Sicht einer gegenwärtigen Avantgarde verfassten Überwindungs- und Fortschrittserzählungen, die auf das Stereotyp eines universalistischen, essenzialistischen, differenzvergessenen Frauenemanzipationsprojekts der 70er- und 80er-Jahre angewiesen sind, um den Standpunkt der fortgeschrittenen eigenen Kritik umso strahlender erscheinen zu lassen. Wie passt die Abwesenheit von Kontroversen zu Einschätzungen, nach denen Kritik und kritische Wissensproduktion sich im akademischen Feminismus heute in zwei miteinander tendenziell unverträglichen Strömungen äußern: einer letztlich durch gleichstellungspolitische Intentionen gerahmten, wissenschaftlich weitgehend normalisierten Form der Produktion von Gender- und Diversity-Expertise auf der einen und einem geradezu differenzversessenen queer- und post-feministischen, post-strukturalistischen Kritiktypus auf der anderen Seite, der in seiner emphatischen Mischung aus identitätsbezogener Sexualpolitik und Dekonstruktion die überkommenen Fundierungen von Kritik verschoben oder sogar erschüttert habe, inklusive der Möglichkeit überhaupt noch von ›Frauen‹ und ›Männern‹ zu sprechen. Wäre das nicht geradezu eine Einladung zur Kontroverse? Warum findet sie nicht statt – oder findet sie statt, aber nicht da, wo ich gesucht habe: im feministischen Theoriediskurs? Und wie sähe oder sieht heute überhaupt die Öffentlichkeit aus, in der eine solche Kontroverse geführt werden könnte?
Ich habe dazu ein paar Thesen, aber doch deutlich mehr Fragen als Antworten. Und diese Fragen und Antwortversuche will ich hier vorstellen.
Verbirgt sich hinter der nicht-kontroversen Indifferenz die Haltung eines reflektierten Pluralismus, eine »Vielheitsfähigkeit« (Wolfgang Welsch), die sich wohltuend abhebt von den mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzungen der hochpolitisierten 68er? Steht also Gleichgültigkeit für Geltenlassenkönnen und ist sie Indikator einer Ent-Ideologisierung der Kritik? Oder ist sie Ausdruck und Resultat des epistemological turn der feministischen Theorie, der aus der Einsicht in die Partikularität und Situiertheit unserer Weltdeutungen Lehren gezogen hat? Wären dann Polyperspektivät und Vielstimmigkeit die Signaturen eines Post-Feminismus, der mit dieser Einsicht der Kondition der Gegenwart angemessen ist? Und wäre der sogenannte Post-Feminismus eine auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen ausgerichtete Variante von Politiken des Engendering, die den fortwirkenden geschlechtsvermittelten Disparitäten durch Kritik und korrektive Praktiken Rechnung zu tragen beanspruchen, oder ein queerfeministisches Projekt des De-Gendering? Waren die früheren Kontroversen, zum Beispiel die um Gleichheit und Differenz der 80er-Jahre, noch an Rahmungen, an Wissensdispositive gebunden, die durch die großen Erzählungen von Emanzipation und Fortschritt gestiftet wurden? Und ist die Situation in der Gegenwart nicht eher dadurch gekennzeichnet, dass beide der großen Auslegungen dieser Erzählung, die die politischen Lagerbildungen der Nachkriegszeit und auch die Frauenbewegung strukturierten, nicht mehr überzeugen, doch dass es ganz ohne Bezug auf sie oder zumindest auf einige ihrer Elemente auch nicht geht?
So viele Fragen!
Bevor ich einige Schlaglichter auf die feministische Konstellation und ihre Veränderung werfe, möchte ich wenigstens darauf verweisen, dass das Thema des Verlusts des Kontroversen und die Frage nach dem, was Kritik heute bedeutet, auch außerhalb des feministischen Kontexts intensiv diskutiert wird.
Im Fach Geschichte wird die Zeitgeschichte als Streitgeschichte (Sabrow / Jessen / Große Kracht 2003) rekonstruiert, es wird über die Kontroversenaffinität unterschiedlicher Wissenschaftskonzeptionen und -kulturen nachgedacht. In einem Blog auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) interpretiert der Münchener Soziologe Armin Nassehi unter der Überschrift Mehr Einseitigkeit, bitte! die auffallende Abwesenheit von großen Kontroversen als Regressionsphänomen eines Faches, das an gesellschaftlicher Bedeutung verliert (Nassehi 2012). Was dabei Ursache und was Wirkung ist, wird in dem Blog allerdings offengelassen.
In einem 2007 erschienen Band der Zeitschrift für Germanistik wird die Kontroverse als eigenes epistemisches Genre beschrieben und die Herausgeber plädieren für eine wissenschaftshistorische Kontroversenforschung (Klausnitzer / Spoerhase 2007). Diese könne, so Carlos Spoerhase in seinem programmatischen Beitrag zur Formenlehre des epistemischen Genres der Kontroverse, als »methodologischer Standpunkt rekonstruiert werden, dass Ideen oder Probleme nie für sich bestehen, sondern immer nur als Standortbestimmungen innerhalb umfassender historischer Konfliktkonstellationen auftreten, die selbst institutionell vermittelt sind.« (Spoerhase 2017: 79)
Anregend fand ich vor allem die performanztheoretische Akzentuierung im Blick auf Kontroverse. Zur Konstitution einer Kontroverse reicht es demnach nicht aus, dass Wissensansprüche voneinander abweichen. Sie müssen auch auf einen gemeinsamen Gegenstand beziehbar sein und darüber hinaus als problematisch, d.h. kontroversenwürdig wahrgenommen und beschrieben werden.
Dieser Prozess des Kontroverswerdens ist einer des Kontroversmachens und die Beschreibung einer Situation als kontrovers ist ein wichtiger Schritt der Kontroversenkonstitution (Spoerhase 2017: 77). Um Kontroversen zu konstituieren müssen die in einem Feld vorhandenen Dissense wahrgenommen, ernstgenommen, aktualisiert und öffentlich zur Sprache gebracht werden. Für die Untersuchung der feministischen Konstellation ist besonders der Gesichtspunkt relevant, dass Kontroversen in Diskursen, die an die Diskursteilnehmer keine Konsenserfordernisse stellen, grundsätzlich unproblematischer seien als in Diskursen, die unter Konsensdruck stünden (Spoerhase 2017: 76).
Überträgt man diese Überlegungen auf den Diskurs des Feminismus, so stößt man wieder auf die aporetische Struktur feministischer Kritik als Rahmenbedingung. Einen Großkonsens zu erwarten war schon immer illusionär und wäre es auch heute, nichtsdestotrotz bedarf es zumindest eines geteilten Grundverständnisses über kritikwürdige Problemlagen und darüber, um was es gehen soll.
Im Weiteren werde ich wesentliche Züge der aktuellen Kritikkonstellation im geschlechterpolitischen Feld umreißen, um sie dann ausblickend noch einmal auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kontroversen im Feminismus zu beziehen. Ich umreiße die Kritikkonstellation zum einen mit Schlaglichtern auf die unterschiedlichen Perspektivierungen, die klassische feministische Kritik von im weiten Sinne intersektionellen und von queeren Kritikprojekten unterscheiden. Worin besteht ihr wechselseitiges Korrektur- und Erweiterungspotenzial und wo liegen potenzielle Spannungen oder sogar Unvereinbarkeiten? Dabei pointiere ich die Zentralperspektiven, um Gegenläufigkeiten und Spannungen besser sichtbar machen zu können.
Zum anderen beschreibe ich die Kritikkonstellation mit Blick auf die veränderten institutionellen Rahmenbedingungen, die feministische Kritik an den Hochschulen sowohl weiterhin ermöglichen, die sie aber auch einhegen und ihr sogar entgegenstehen.[4]
Die Zentralperspektive feministischer Kritik ist ausgerichtet auf die Relation Mann-Frau und ihr kritischer Impetus besteht in einer Politisierung dieser Vergleichsrelation. Methodisch heißt das: Wann immer Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen festgestellt und skandalisiert werden, liegen dem Mann-Frau-Vergleiche zugrunde. Bei Vergleichen in der Geschlechterrelation sind zwei systematische Vergleichshinsichten im Spiel:
Erstens der Vergleich der relativen Positionierung der beiden Geschlechter innerhalb bestimmter Sozialkategorien, Soziallagen oder soziogeografischer Räume und zweitens der Vergleich der relativen Positionierung von Frauen und Männern quer durch unterschiedliche Sozialkategorien, Soziallagen oder soziogeografische Räume hindurch. Beides zusammen ermöglicht es zu erkennen, ob und in welcher Weise sich bestimmte Problemlagen erhalten und unter welchen Bedingungen sie variieren oder sich wandeln können. Eine historische Perspektivierung dieser Vergleichsrelation erlaubt es darüber hinaus, sowohl die Kulturgeschichte des Unterscheidens von Frauen und Männern (Laqueur 1992; Hausen 1978) als auch die soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses (Beer 1990) in den Blick zu nehmen.
Die jeweiligen Organisationsformen des Geschlechterverhältnisses variieren mehr oder weniger stark mit den soziogeografischen und politischen Rahmenbedingungen. Die klassische feministische Kritik geht von einer vorherrschend dualen Geschlechterklassifikation und von einer verbreiteten Dominanz von Männern gegenüber Frauen aus. Bei aller Verschiedenheit ihrer Erscheinungsformen im Einzelnen und von einigen in der Ethnologie beschriebenen Ausnahmen (Lenz / Luig 1990) abgesehen, sei die männliche Vormachtstellung von einer gewissen Durchgängigkeit, Zählebigkeit und Anpassungsfähigkeit geprägt.
Intersektionelle und queerfeministische Kritik haben die perspektivischen Relationierungen, auf die der Feminismus als kritische Politisierung des Geschlechtervergleichs verwiesen ist und bleibt, sowohl erweitert als auch dezentriert.
Schwerpunkt intersektioneller Kritik ist nicht der Vergleich von Genus-Gruppen und die Bestimmung der Charakteristika von Geschlechterverhältnissen. Ihre Spezialität ist vielmehr die Frage von Intragruppendifferenzen. Im Zusammenhang der feministischen Grundlagenreflexion hat intersektionelle Kritik die Form einer Frage nach Unterschieden und Ungleichheiten unter Frauen angenommen. Während die klassisch-feministischen Kritikkonzepte (das Patriarchats-, das Androzentrismus- und das Sexismuskonzept) eher das hervorheben, worin Frauen als negativ Betroffene verbunden sind, ungeachtet aller sonstigen Unterschiede, liegt das Schubmoment intersektioneller Ansätze eher auf der Frage, was sie unterscheidet, was sie potenziell voneinander trennt und sogar in hierarchisch angeordneten Privilegienstrukturen zueinander positioniert.
Die meisten intersektionellen Ansätze sind, in der Terminologie von Leslie McCall, als »intra-kategoriale« Zugänge ausgearbeitet worden (McCall 2005: 1782). Sie fragen nach Unterschieden innerhalb einer sozialen Kategorie (»intra-group-differences«), nach Differenzierungen oder sogar Dominanzverhältnissen innerhalb diskriminierter Gruppen (Crenshaw 1989).
Aus meiner Sicht liegt hierin ein systematisches Problem, weil die sogenannte ›intra-kategoriale‹ Perspektive zwar wichtige Fragen aufzuwerfen erlaubt, diese aber letztlich nur auf einem inter-kategorial ausgearbeiteten theoretischen Hintergrund beantwortet werden können.[5] Nur dieser ermöglicht es, auf angemessene Weise zwischen Differenzen zu differenzieren und vor allem, sie zu gewichten. Klassenverhältnisse sind anders verfasst und auf andere Weise gesellschaftlich eingebettet als Geschlechterverhältnisse oder rassistische oder ethnisierende Teilungs- und Dominanzverhältnisse. Solche Unterschiede müssen theoretisch spezifiziert werden, um der Frage ihrer Vermittlungen und ihrer spezifischen Situierung im Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse nachgehen zu können. An der Genus-Gruppe Frauen allein lassen diese sich ebenso wenig ablesen wie an anderen Gruppen[6]. Die viel diskutierte Frage, wie viele Differenzen kritisch in Anschlag zu bringen sind, erscheint auf dieser Folie sowohl falsch gestellt als auch in dieser Pauschalität nicht beantwortbar. Nur als in je spezifischen Hinsichten formulierte Frage wird sie auf sinnvolle Weise verhandelbar: Geht es um Probleme der Diskriminierung bestimmter Gruppen von Menschen in einer Gesellschaft oder um subjektive Identifikationen mit kategorialen Zuschreibungen, wird die Antwort (und Anzahl) anders ausfallen müssen als im Zusammenhang des Problems der zentralen historischen Strukturgeber in der Konstitution moderner kapitalistischer Gesellschaften und deren Verflechtungsgeschichte. »Some differences are playful, others are poles of world historical systems of domination«, schreibt Donna Haraway: »Epistemology is about knowing the difference«. (Haraway 1991: 27)
Während die intersektionelle Perspektive (zumindest in ihren ›inter-kategorialen‹ Ausarbeitungen) das Geschlechterverhältnis als eine mit anderen sozialen Verhältnissen vermittelte hierarchische Relationierung von Männern und Frauen als Genus-Gruppen im Blick behält, nimmt die queerfeministische Kritik eine einschneidende und folgenreiche Perspektivverschiebung vor: weg von der politisierten Vergleichsrelation Mann-Frau hin zur Frage nach Differenzsetzungen an den normalisierenden Rändern der Geschlechtsunterscheidung selbst. Ins Zentrum der Problematisierungen geraten nun eher all diejenigen, die durch die Raster des Normalmodells von heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit fallen.
Der politisierte Vergleich verlagert sich damit auf andere Relationierungen: Mehrheit/Minderheit, normal/unnormal, außen/innen, sichtbar/unsichtbar, intelligibel/nicht-intelligibel. Das ist zweifellos eine legitime, eine für die Analyse moderner Regierungsformen auch wichtige, aber doch ganz andere Kritikperspektive als jene, die zwei Geschlechter – als wie immer auch unterschiedene – voraussetzt und auf dieser Basis die Implikationen und großen gesellschaftlichen Folgen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit untersucht.
Aus queerfeministischer Perspektive sind nicht die Dominanz von Männern über Frauen und deren gesellschaftsstrukturelle Manifestationen das zentrale Problem, sondern die Art der Unterscheidung und die heterosexuelle Normierung von zwei Geschlechtern oder von Geschlechtern überhaupt.
Der englische Gender-Begriff verwischt sprachlich die perspektivische Differenz, dass nicht das Geschlechterverhältnis, sondern die Geschlechtsunterscheidung im Mittelpunkt des Interesses und der Problematisierungen queerer Kritik steht.
Manche verführte die Auseinandersetzung mit der Geschlechtsunterscheidung zu der Idee, dass nicht die Erweiterung, sondern nur eine Abschaffung von Geschlechtsunterscheidungen eine radikale und stimmige Programmatik darstellen könnte. An ihren Extrempolen schließen sich die klassisch-feministische und die queere Kritikperspektive schon aus begriffslogischen Gründen wechselseitig aus. Das Kompositum ›queer-feministisch‹ wäre von hier aus gesehen ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber ebenso wie der klassische Feminismus stellt auch die queere Kritik ein inhaltlich heterogenes Feld dar. Queere Kritik kann den Feminismus bereichern und hat es bereits getan, zum Beispiel indem sie als evident Vorausgesetztes der Reflexion zugänglich macht. Damit besitzt sie ein Aufklärungspotenzial, das fruchtbar (zu machen) ist.
Zu den klassischen feministischen Fragen nach Herrschaft und Ungleichheit im Verhältnis von Männern und Frauen, nach der Struktur der Vergesellschaftung im Geschlechterverhältnis sowie nach der Einbindung des Geschlechterverhältnisses in die Gesamtgesellschaft und deren Reproduktion tragen queerfeministische Arbeiten meiner Wahrnehmung nach eher wenig bei.[7]
Insofern lässt sich argumentieren, dass beide Kritikströmungen, die intersektionelle und auch die queere, unumgänglich sind in der Auseinandersetzung mit den Prämissen und Ausblendungen feministischer Kritik. Dabei sind sie nicht bloß anregend: Unter der Prämisse seiner aporetischen Struktur gehören sie sogar zu den Bedingungen der Möglichkeit der Fortexistenz des Feldes. Gleichzeitig gilt, dass sie feministische Kritik ihrerseits aber auch in Sackgassen führen können. Zum einen, wenn sie sich zu weit entfernen oder isolieren von den Analyse- und Kritikansprüchen des klassischen Feminismus verstanden als Artikulationsraum von Wissenschafts-, Kultur- und Gesellschaftskritik. In der intersektionellen Forschung droht diese Gefahr durch die weitgehende Konzentration auf ›intra-kategoriale‹ Fragen, die zu unzureichenden und verkürzten Problembestimmungen verleiten. In der queeren Kritik und Forschung geschieht dies durch Priorisierung von Fragen der Geschlechtsunterscheidung und -zugehörigkeit und von Fragen der Anerkennung.